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In diesem Band

freuen sich die sechs Freunde – Manne, Moni, Meli, Müppi, Maria und Felicitas – auf gemeinsame Sommerferien auf Rügen. Doch schon bei ihrer Ankunft spürt Maria, dass Felicitas großen Kummer haben muss. Bald stellt sich auch der Grund heraus: ein weißes Haus in Binz mit blauen Fensterläden und roter Tür. In dieser sorgenvollen Zeit erreicht Manne eine unerwartete Nachricht vom 12-jährigen Finn, der an der westlichen Ostseeküste lebt. Dessen Großvater fand vor mehr als 50 Jahren eine Flaschenpost aus dem Jahr 1941; und zwar von dem jüdischen Mädchen, das nun eine alte Dame ist und die die Freunde seit über drei Monaten hoffen zu finden. Mit Finns Hilfe, seiner Mutter Milla und der alten Nonne Klara fügt sich nun Puzzleteil an Puzzleteil. Im einwöchigen Besuch von Didi und Mick – ihren Freunde aus dem Rheinland – platzen dann gleich zwei Bomben: Das Rätsel um Judith wird sich klären, aber es wird auch ein Familiengeheimnis von Felicitas ans Licht kommen. Bei der anschließenden Hochzeit von Traudi und Hiero denken dann alle, dass die Aufregungen endlich überstanden sind. Aber! – mit den Überraschungen des Lebens muss man immer rechnen!

Die „Glückskinder“ vermitteln christliche Werte, die alltagstauglich gelebt werden; mit Spannung, Humor und voller Inspirationen.

über die Autorin

Brigitte Lehnemann wurde 1959 in NRW geboren und war als ausgebildete Erzieherin tätig.

Seit 2000 arbeitet sie als Gesundheitsberaterin und Seminarleiterin für Stressbewältigung in einer eigenen Praxis.

2005 wurde Rügen ihre neue Heimat.

Brigitte Lehnemann

Glückskinder

„Helden und Heldinnen“

Band IV

(Fortsetzung von Band III)

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© 2017 Brigitte Lehnemann

Coverillustration / Einband: Katharina Kelting / Atelier Schneepfote

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:978-3-7439-3663-8
Hardcover:978-3-7439-3664-5
e-Book:978-3-7439-3665-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Dich

- aus der tiefsten Überzeugung meines Herzens erzählt - dass Liebe immer alle Zeiten überdauern wird, und dass keine Umstände in dieser Welt sie jemals
werden auslöschen können.

Das Kleine „wer ist wer?“

Die „Steins“: Thomas und Marie-Luise sind die Eltern von Maria; Oma Johanna und Opa Heinrich ihre Großeltern väterlicherseits. Alle leben in Düsseldorf.

Gertrude Waldmann, genannt Traudi: ist Thomas Steins Schwester und sie lebt seit mehreren Jahren in der Pension „Oase“ auf Rügen.

Hieronimus Busch, genannt Hiero: ist seit einem Jahr Traudis Lebensgefährte und sie werden bald heiraten.

Die „Lehmanns“: Opa Willem, genannt der „Professor“, und Oma Trudchen sind die Großeltern von Manfred und Elisabeth Schaaf – genannt Manne und Meli.

Die Schillings: Opa Hinnerk (besitzt mit Freund Krause das Kojenhäuschen) und Oma Greta sind die Großeltern von Monika und Christina – genannt Moni und Müppi.

Klara und Philomena: sind die alten Nonnen aus dem Kloster im Rheinland.

Dilara - genannt Didi: ist Marias Schulfreundin aus Düsseldorf.

Michael - genannt Mick: hat Maria im Winter auf einer Zugfahrt kennengelernt und er lebt in Dortmund.

Beide - Didi und Mick - sind seit einer Freundeszusammenführung in Steins Villa zu Ostern ebenfalls mit den „Küstenkindern“ befreundet.

Kapitel 1

Mensch Luischen! Kannst du dich nicht auch ein bisschen leiser aufregen?“, zischt Thomas Stein spannungsgeladen, während er die Wohnzimmertür der Düsseldorfer Villa schließt. „Oder willst du, dass Maria aufwacht? Dann sind nämlich die ganzen Ferien versaut. Das prophezeie ich dir.“

„Und ich prophezeie dir, dass ich das nicht einfach so hinnehmen werde, dass du für ein Jahr ohne uns nach Amerika gehst“, entgegnet seine Frau weiterhin lautstark, indem sie mit Karacho eins der großen Schiebelemente zur Terrasse öffnet in der Hoffnung ein Lüftchen könnte die drohenden Gewitterwolken im Raum vertreiben. Doch leider! An diesem schwülen Juniabend bewegen sich die weißen, luftigseidigen Übergardinen ebenso wenig, wie ihr Mann von seinem Standpunkt - nämlich keinen Zentimeter.

„Aber Luischen! Hast du überhaupt eine Vorstellung, welche Veränderungen Maria in kurzer Zeit durchmachen müsste? Fremdes Land, fremde Menschen, anderes Schulsystem mit dem bisschen Englisch, was sie kann. Ich meine, das musst du doch einsehen.“

„Ach!“ Unwirsch winkt sie ab. „Andere Kinder müssen sich auch damit abfinden, dass das Leben nun mal nicht immer so verläuft, wie man es möchte.“

„Ich habe mich aber entschlossen“, sagt er streng in ungewohntem Tonfall. „Und das fällt mir ganz sicher nicht leicht. Das kannst du mir glauben.“

„Aber ich kann nicht glauben, was du mir da aufbürdest mit … mit deinem sogenannten Entschluss. Und den präsentiert mir der Herr einfach mal so … so nebenbei.“

„Einfach so nebenbei. Dass ich nicht lache. Wochenlang schon laufe ich dir hinterher, wie wir das regeln können, aber du, du weichst ja immer wieder aus.“

Dass sich seine Gesichtszüge verhärten, kriegt seine Frau zwar nicht unmittelbar mit, aber sie weiß, wie er jetzt aussieht. Und noch eins weiß sie: Er hat recht. Und genau das macht sie wütend - wütend auf sich selber. Aufgebracht stöckelt sie auf und ab und schmettert ihm um die Ohren: „Und was bitteschön machen wir, wenn die Firmenauflösung dort länger dauert? Hast du mal daran gedacht, was in einem Jahr alles passieren kann?“

Thomas Stein reckt den Hals, lockert den Knoten seiner Krawatte und holt tief Luft. Wie konnte er auch annehmen, dass sie ihm so ohne Widerspruch beipflichten würde? Dafür kennt er sie doch nur allzu gut. Als könne er die Probleme, die für ihn unausweichlich sein werden, aus seinen Gedanken verbannen, streift er sein helles, leicht gewelltes Haar zurück.

„Thomas!“ Energisch wie der Presslufthammer, der soeben hinter ihren Schläfen seine Arbeit aufgenommen hat, tippt sie ihm von hinten auf die Schulter. „Jetzt sag doch was!“

„Solange du nicht zur Vernunft gekommen bist, sag ich gar nichts mehr“, kontert er und erhebt sich. „Aber über eins sei dir im Klaren, Marie-Luise: Wenn du deine Meinung nicht änderst, dann bist du es auch, die Maria die Hiobsbotschaft beibringt.“

RUMMS!

Das war die Tür, die nach dieser Ansage leidenschaftlich von der anderen Seite ins Schloss flog, und sekundenlang starrt sie aufs Türblatt und presst verkniffen hervor: „Na schön, du Blödmann! Dann wird eben aus Luischen wieder Marie-Luise. Damit muss ich dann wohl leben.“ Und ganz undamenhaft, wie die Tochter zu ihren besten Zeiten, stampft sie mit dem Fuß auf.

Aua! Schönen Gruß ans Gehirn! Jetzt ist die Schmerztablette fällig!

Als Thomas Stein schwerfällig den Korridor entlang zu seinem Zimmer geht, fällt sein Blick auf die letzte Tür am Ende des langen Ganges. Dahinter schlummert Maria. Hofft ihr Vater jedenfalls. Denn wenn sie gerade von den Plänen der Eltern, die völlig gegensätzlich sind, etwas mitgekriegt hätte, na dann: Prost Mahlzeit!

Und er beschließt in diesem Augenblick: Wenn seine Frau sich tatsächlich nicht umstimmen lässt, dann sollen Marias Ferien nicht überschattet sein von dem Ereignis, das vielleicht schon bald für sie ansteht. Dann muss es reichen, wenn sie erst nach dem Rügenaufenthalt davon erfährt. Jedoch bei diesem Drama will er nicht mit auf der Bühne stehen. Das schwört er sich, als er in innerer Aufruhr die Klinke zu seinem Zimmer herunterdrückt.

Kapitel 2

Reisefieber!

Anders konnte man das nicht nennen, was Maria in der letzten Woche vor den Ferien erwischte wie eine Sommergrippe – und ebenso ansteckend war es, denn innerhalb kürzester Zeit waren ihre Eltern, Katharina und Nadine gleich mitinfiziert.

Jetzt, am späten Freitagnachmittag, liegen auf dem Fußboden in ihrem Zimmer zwei aufgeklappte, beinahe fertig gepackte Trolleys mit Sachen, die man so als elfjähriges Mädchen für eine sechswöchige Reise braucht.

„Bitte Maria! Ich werde noch ganz wuschig von deiner ewigen Hin- und Herlauferei.“ Katharina, die schon seit einer geraumen Weile wie Häschen in der Grube zwischen den Koffern hockt, stopft eine kleine Tasche mit Waschutensilien irgendwo zwischen ein gelbes T-Shirt und ein Paar Sommersandalen.

„Nein, Kathinka! Falsch!“, äußert Maria ruppig. „Die muss in den blauen Koffer. Den grünen bringen doch Oma und Opa in zwei Wochen mit.“

„Jetzt blaff mich nicht so an. Kannst du mir auch in Ruhe erklären.“

„Dann verreise du mal in meinem Alter ganz allein so eine weite Strecke. Da ist nix mehr mit ruhig. Und das nur, weil Opa ganz plötzlich den Rentnerüberflieger bekam den Hochzeitstag mit seinem Hannchen am Gardasee zu feiern. Drunter ging’s wohl nicht. Und das ausgerechnet nächste Woche.“ Gereizt hastet Maria ins angrenzende Bad und Katharina wechselt lieber das Gesprächsthema. „Eh, sag mal, wie ist denn heute dein Zeugnis ausgefallen?“

„Geht so!“

„Geht’s vielleicht auch ein bisschen genauer?“

Keine Antwort! Nur ein schepperndes Geräusch von der Tür des Badschränkchens.

„Hier!“ Maria hält ihr eine Tube hin. „Jetzt sag nicht, dass du mir schon welches eingepackt hast. Das ist nämlich mein Lieblingsduschgel und das muss mit.“

„Okay, okay! Ich sag ja gar nichts.“ Katharina atmet durch. „Aber in die Kulturtasche passt das nicht mehr.“

„Egal! Dann eben daneben!“ Maria winkt ab, eilt auf den Korridor und ruft durchs Treppenhaus: „Mama! Wann wollten uns Oma und Opa noch mal zum Essen abholen?“

Katharina steht auf und drückt den Rücken durch. Schön und gut! Auch ihr Urlaub beginnt morgen, aber andererseits ist der auch begleitet von Unsicherheit. Denn sollten die Steins aus Düsseldorf wegziehen, dann müsste sie sich wohl oder übel von Maria verabschieden und das wäre sehr traurig! Wo sie sich doch so an ihre kleine Oberzicke gewöhnt hat.

Auch Maria spuken in der Nacht Gedanken durch den Kopf, die sich mit der Zukunft beschäftigen. Klar! Einerseits freut sie sich irrsinnig auf die Wochen mit den Freunden, aber auf Dauer ständig so lange getrennt zu sein, ist echt Mist. Und an keinem der Geburtstage sind sie zusammen. Ach doch! An Fees! Der fällt glücklicherweise immer in die Sommerferien.

Ach Fee. Irgendwas hat sie seit gestern. Jedenfalls kam sie am Telefon so komisch rüber. Gesagt hat sie aber nix. Wenn’s doch nur möglich wär, durch den Umzug näher an Rügen ranzukommen. Ach! Wird wahrscheinlich wegen Papas Firma sowieso nix. Aber vielleicht ging ja Hamburg oder so? Na ja, wegen Didi und Mick wär’s zwar nicht so prickelnd, aber auf jeden Fall cool, dass sie ’ne Woche nach Rügen kommen können. Ja, und gleich danach dann die Hochzeit. Das wird mega! Und dann dauert’s nicht mehr lange und wir haben unseren Fernsehauftritt. Maria seufzt. Mensch Judith! Wenn wir dich im Web durch unser Suchvideo finden würden, das wär zurzeit echt das Weltbeste. Für Klara natürlich auch. Wir beten alle, dass sie der liebe Gott noch länger leben lässt, damit sie eine Chance hat, dich vielleicht wiederzusehen.

Maria dreht sich auf die andere Seite, mit dem Gesicht zum Nachtisch. Die Leuchtziffern des Weckers sind unerbittlich:

0.49 Uhr. Ach du dickes Ei!

Sie legt eine Hand auf ihren Bauch, in dem sich das üppige Restaurantessen hörbar durch die Gedärme schiebt. Der Gedanke, dass sie Omas Portion Pommes lieber nicht mehr hätte essen sollen, macht sich in Form eines dicken Rülpsers Luft und es schmeckt nach altem Fett. Na bravo! Ausgerechnet! Aber ist jetzt nicht mehr zu ändern.

Um den Wecker zu ignorieren, kehrt sie ihm den Rücken zu. Vor ihrem geistigen Auge erscheinen Hiero, Traudi und Felicitas auf dem Binzer Bahnsteig und breiten strahlend ihre Arme aus. Maria spürt, wie sich ihre Muskeln entspannen. Ach Jesus! Schiss vor der Fahrt hab ich schon trotzdem, aber morgen früh, da nehme ich ganz fest deine Hand und dann geht’s bestimmt schneller, mit dem Gewöhnen an die lange Zugfahrt meine ich.

Und mit einem Lächeln auf dem Gesicht schläft sie ein paar Minuten später endlich ein.

Kapitel 3

Während Maria sich in Düsseldorf mühselig aus ihren Federn pellt, sitzt, in einem weit entfernten Fischerort an der Küste Südfinnlands, der Schiffbaumeister Matti Pääkkonen bereits seit einer Stunde an seinem Schreibtisch. Er liebt diese frühen Morgenstunden des Sommers, in der die Sonne nach einem kurzen Dämmerschlaf schon wieder erwacht, aber alles andere um ihn herum noch ruht. Jetzt, da auch sein Holzhaus noch in diese wunderbare Stille eingebettet ist, kann er am besten nachdenken. Im nächsten Jahr, wenn er sechzig wird, will er sich einen Jugendtraum erfüllen und eine eigene kleine Firma gründen. Er will nämlich Boote aus Holz bauen. Solche, wie damals sein Großvater eines besaß, um als Fischer die Brötchen für seine Familie zu verdienen. Schon in jungen Jahren durfte Matti ihn oft begleiten und die Liebe und die Sehnsucht seines Großvaters zur Natur und zum Meer hatten sich auf ihn übertragen. Ja, mehr noch! Das Meer sprach zu Matti - und tut es heutzutage immer noch, obwohl er mittlerweile selber Großvater ist - und nie konnte er sich vorstellen woanders zu leben, als hier in diesem etwas verträumten Ort, in der Bucht seiner Kindheit.

Heute pustet ein steifer Ostwind übers Wasser. Matti tritt ans Fenster, öffnet es und beobachtet die Brandung, deren Rauschen wie Musik in seinen Ohren klingt. Ja! Haargenau so ein Tag war es, als er als Knirps mit seinem Großvater und einem Netz voller Fische frühmorgens in die Bucht einfuhr und plötzlich auf etwas aufmerksam wurde, das an die Bordwand stieß. Inmitten der Wellen torkelte eine Flasche beinahe schwebend auf und ab. Na ja! Achtlos weggeworfene Dinge gab es ja leider genug im Meer, allerdings natürlich auch die Dinge, die von Tragödien berichteten. Was hatten sie nicht schon alles mit den Fischen aus dem Wasser gezogen: Jede Menge Treibholz sowieso, aber auch einmal eine kaputte Schwimmweste, eine Taucherflosse, Konservendosen, Glasscherben, nicht mehr erkennbare Teile von irgendwas, bis hin zu einem Gummientchen.

Aber dieses Mal flüsterte das Meer ihm eindringlich zu: Da wartet etwas Besonderes auf dich! Und als Matti die Flasche, deren breiter Hals an eine Milchflasche erinnerte, mit dem Kescher an Bord holte, machte er den Fang, der sein Leben nachhaltig beeinflussen sollte. Natürlich nicht im geldlichen Sinne, denn ein Brief in einer Flasche hatte keinen Wert in Markka und Penni. Sein Wert steckte in dem Geheimnis der Worte auf dem schon etwas verblichenen Papier. Voller Ungeduld und aufgeregt bis in die Fingerspitzen versuchte Matti seine erste Flaschenpost noch auf dem Kutter zu öffnen. Doch das erwies sich als äußerst schwierig, denn der Korken proppte so fest im Hals, sodass ihm der Gedanke kam, die Flasche am Bordrand zu zerschellen. Aber sein Großvater ermahnte ihn, der Wind könnte die vom Wasser beförderte Fracht auf Nimmerwiedersehen in den Fluten verschwinden lassen. Nein! Dieses Risiko war Matti dann doch zu groß.

Kaum bei Großmuttern in der Küche, war man sich schnell einig sie zu erhalten, und Großvaters starke Hände schafften es nach einigen Minuten, dass der Korken sich etwas bewegte. Dann klemmte er die Flasche zwischen seine Knie und plötzlich ging’s ganz leicht. Es machte PLOPP! – und die zusammengerollte Botschaft konnte entnommen werden. Großmutter holte ein Messer und bedächtig, um den Brief nicht zu beschädigen, zerschnitt sie dann dessen Kordel und rollte ihn auseinander. Es waren zwei ineinanderliegende Papierbögen, wobei der äußere wohl Schutz vor zu viel Lichteinwirkung geben sollte. Der innere war von beiden Seiten dicht mit blauer Tinte beschrieben – aber bedauerlicherweise in einer Schrift und in einer Sprache, die niemand kannte. Nur das Datum, rechts oben in der Ecke, das war gut zu lesen und gab allen ein Rätsel auf: 14. 12. 1941

„Aber das würde ja bedeuten, dass die Flasche zwanzig Jahre unterwegs war“, stellte die Großmutter fest und im Großvater wurde sofort das Seebärenherz geweckt. „Wie viele Stürme hat sie da wohl in den unzähligen Seemeilen überstanden?“, sinnierte er, indem er sich den schneeweißen Kinnbart kratzte und den Kopf hin und her wiegte. „Und nirgendwo an Land gegangen und in keinem Netz gelandet.“

„Doch! In meinem!“, sagte Matti strahlend und sein Großvater strich ihm über den strohblonden Schopf und meinte: „Dann sieh mal zu, ob du herausfindest, was da steht.“

Und Mattis Ehrgeiz war extrem geweckt. Zu Weihnachten hatte er nicht nur die fremde Sprache, nämlich deutsch, sondern auch die fremden Buchstaben, die man „Sütterlin Schrift“ nannte, entschlüsselt. Natürlich nicht Wort für Wort, aber doch so, dass man den Sinn gut erfassen konnte.

Ja! So war das damals, denkt Matti jetzt und kippt das Fenster an. Beim Umdrehen bleibt sein Blick an der rechten oberen Ecke seines Schreibtischs hängen; derselbe Tisch, an dem vor über fünfzig Jahren seine Großmutter die mysteriöse Botschaft von der Kordel befreite. Dort steht, neben einem Foto seines Großvaters, die mittlerweile über siebzig Jahre alte Flasche. Mit einem Gefühl, als ob er sie erst gestern aus dem Wasser gefischt hätte, nimmt er sie in die Hand. Immer noch klar und sauber beherbergt sie inzwischen drei aufgewickelte Briefe: den originalen, Mattis kindliche Übersetzung … tja, und dann hatte er Glück, dass sich seine spätere Tochter Milla bei einem Jugendaustausch in Deutschland in den Sohn ihrer Gasteltern verliebte. Und seit fast zwanzig Jahren gibt es deshalb den dritten, den „Wort für Wort Brief“, wie Matti ihn nennt.

Ohne weiter darüber nachzudenken, setzt er sich mit einer Pobacke auf eine Tischkante. Es macht wieder PLOPP! und er schüttelt die drei Briefe heraus. Und jedes Mal beim Auseinanderrollen des Originals klopft sein Herz ein bisschen schneller, denn er spürt förmlich die Angst, mit der das Mädchen diese Zeilen schrieb. Darüber täuscht auch nicht ihre zierliche Handschrift hinweg, denn Matti weiß seit über fünfzig Jahren: Noch in derselben Nacht gingen sie und ihre Mutter in ein unbekanntes Schicksal. Und deshalb bewegte ihn im Laufe der Jahre immer wieder die Frage: Was mag aus den beiden wohl geworden sein? Sicherlich! Zwischendurch geriet dies auch mal in den Hintergrund, denn andere Dinge in seinem Leben wurden wichtiger - das ist ganz normal - aber vergessen, vergessen konnte Matti nie. Dafür gab’s ja diese Flasche, deren schicksalhafte Reise sie über den langen Weg über die Ostsee zu ihm führte.

Nun rollt er die deutsche Übersetzung seines Schwiegersohnes auseinander, setzt seine Lesebrille auf und fängt den Brief noch einmal von vorne an.

14.12.1941

Lieber Finder,

Man hat mir den Namen Adelheid gegeben, weil ich mit meinem richtigen nicht mehr existieren darf, denn ich bin Jüdin. Aber hoffen darf ich, das kann mir keiner nehmen. Und deshalb hoffe ich, wenn du diesen Brief liest, dass dieser verdammte Krieg endlich vorbei ist. Hitler ist ein schrecklich grausamer Mensch, denn er hat bislang so vielen Menschen Leid angetan, dass ich immerzu weinen möchte. Schon 1938 haben wir uns aus Lübeck wegstehlen müssen, weil man uns umbringen wollte. Da waren wir noch zu viert: Meine Eltern und ich und mein kleiner Bruder N. (den Rest des Namens hatte sie mit einem dicken blauen Klecks übermalt) Über drei Jahre hat uns hier an der Ostsee eine liebe Familie versteckt, aber die Angst vor Entdeckung war immer da! Bei uns, aber auch bei ihnen. Mein Bruder ist im Sommer gestorben und jetzt ist noch was Schlimmes passiert: Am Nikolaustag ist auch Papa verschwunden. Er wollte uns nur ein Stück Fleisch besorgen und kam nicht wieder. Einer aus dem Dorf muss ihn wohl verraten haben und die ganze Zeit frage ich mich: Was kann ein Mensch dafür, wo oder wann oder als was er geboren wird? Aber Mama hat gesagt die Antwort darauf ist so weit weg, wie der Weg, der morgen vor uns liegt. Denn wenn wir nicht woanders Schutz suchen, dann würden uns sonst bestimmt die Soldaten finden. Dann wären wir dran. Ich hab so Angst, weil ich nicht weiß, wohin es geht und ob Mama und ich es schaffen können. Aber wir haben keine Wahl. Ch. hat mir Schreiben beigebracht, weil ich ja in keine Schule mehr gehen konnte. Und ihren Füllfederhalter hat sie mir eben geliehen, damit ich diesen Brief schreiben kann. Mama schläft und Ch. hat mir versprochen mit mir an den Strand zu gehen, um die Flasche ins Wasser zu werfen. Ich werde wohl ein Stück rausschwimmen müssen, damit sie nicht zurückkommt. Aber ich muss es tun, damit diese Zeit nicht vergessen wird und vielleicht ist es das Einzige, was noch von uns übrig bleibt. Das Wasser ist bestimmt genauso kalt wie die Luft, und auch in meinem Herzen ist es kalt geworden und wenn ich an morgen denke, wird es noch kälter. Aber ich schwöre, ganz kalt wird es nie da drinnen sein. Das schafft der Hitler nicht. Darauf passe ich auf, denn „der Ewige“ und Mama und mein Wundergartenbuch trösten mich. Und wer auch immer du bist, lieber unbekannter Finder, bitte versprich mir: Gib nie auf, tu keinem Menschen oder Tier ein Leid an und bitte!! hör nie auf zu lieben.

Dafür umarmt dich Judith. (8 Jahre)

Tja! Warum sie sich zum Schluss dann doch entschied ihren richtigen Namen zu nennen, das weiß Matti nicht, aber an Judiths letzten Satz hatte er sich sein Leben lang gehalten: An diese Botschaft, die sie ihm mit auf den Weg gegeben hatte und die er an andere Menschen, die sein Leben teilten, weitergegeben hat. Ein bisschen in sich gekehrt sitzt er so da, bis er bemerkt, dass sich vorsichtig die Tür bewegt und seine Frau Mielikki kommt ins Zimmer.

„Na, mein geliebter Tiefseetaucher“, meint sie lächelnd, tritt an ihn heran und fährt ihm durch sein strohblondes, etwas längeres Haar, das sich im Nacken zu kleinen Locken kräuselt. Matti lächelt zurück und nimmt sie wortlos in seine Arme. Tiefseetaucher, so nennt sie ihn immer zärtlich, wenn sie mit einem kurzen Blick erkannte, dass er sich mal wieder in seinen Erinnerungen verloren hat. Dafür muss er ihr das gar nicht mitteilen. Er steht auf, küsst sie auf die Stirn und sie fasst seine Hand, zieht ihn ans Fenster und gemeinsam blicken sie auf die brausenden Wellen und hören dem Meer zu, was es ihnen heute wohl erzählen will.

Kapitel 4

Nachhausekommen - das hat nicht immer zwangsläufig etwas mit der Adresse zu tun, wo man wohnt. Vielmehr ist Nachhausekommen eine ganz besondere Empfindung.

Und genauso ein Feeling, das sie so noch nicht kannte, stellt sich jetzt bei Maria ein, als die Räder des Zuges über die alte Zugbrücke des Strelasunds rattern. Diese, nur wenige hundert Meter Schienen zur Überfahrt über das Wasser, sind für sie wie der Schlussakkord eines langen Musikstückes, dessen Noten aus Liebe, tiefer Freundschaft und Vertrauen bestehen. Bald, in weniger als einer Stunde, wird sie in Binz sein, und zur Vorfreude kommt jetzt auch ein bisschen Stolz dazu. Ihre erste alleinige und vor allem ziemlich weite Reise hatte sie doch super gewuppt. Der Rest ist ein Klacks. Von ihrem Fensterplatz, auf der rechten Seite in Fahrtrichtung, schaut sie auf die glitzernde Wasseroberfläche, auf deren sanften Wellen sich Segelboote treiben lassen.

Die ältere Dame ihr gegenüber, die sich in Rostock zu ihnen gesellt und das ganze Abteil erst einmal mit selbstgebackenen Keksen versorgt hatte, betrachtet teilnahmsvoll die bläulichen Schatten um Marias Augen. „Na! Willst du nicht doch noch ein Nickerchen machen?“

Maria reckt sich und schüttelt den Kopf. „Nee! Geht nicht!“

„Du bist aufgeregt, was?“

„Wenn Sie wüssten!“ Maria rollt mit den Augen. „Aufgeregt, erleichtert … Ach! Ich weiß nicht, was noch alles, und das alles zusammen und davon ganz viel.“

Katzenförmige, dunkelbraune Augen blicken die ältere Dame fest an und die liest darin:

Auch wenn ich das nach außen nicht so zeigen kann, aber ich bin glücklich und das bisschen Schlafmangel ist üüüberhaupt nicht wichtig.

Würde Matti ungefähr tausend Kilometer einmal quer über die Ostsee Richtung Westen nach Rügen reisen, so würde er dort auf Menschen treffen, die sich seit April ebenfalls mit Judiths Schicksal beschäftigen. Doch das kann er natürlich nicht wissen. Wie auch!

Genau in derselben Minute, als er mit Mielikki an diesem Samstagnachmittag zum Einkaufen startet, stoppt Opa Hinnerk den Kleinbus vom Kojenhäuschen-Freund Krause vor Traudis

„Oase“. Die seitliche Tür wird eilig aufgeschoben und Kumpel, der schon vorm Gartentörchen ausgeharrt hat, hüpft hinein.

„So Hinnerk! Nu musst du aber auf die Tube drücken!“, fordert Oma Greta ihn auf.

„Na denn! Wat mut, dat mut!“, grinst er sie an, denn mit hochoffizieller Erlaubnis seiner Frau bereitet das Ganze doppelt so viel Spaß. Ansonsten kann er das ja nur heimlich machen.

Es ist 15.13 Uhr. Bereits seit über zehn Minuten hat sich die nette Keksdame auf dem Bahnhofsvorplatz verabschiedet und genauso lange hält Maria nach bekannten Gesichtern Ausschau. Seufzend schultert sie ihren Rucksack ab, hockt sich auf die unterste Treppenstufe und nimmt aus der Wasserflasche den letzten Schluck.

Um 15.22 Uhr mischt sich zu den Haufen von Gefühlen noch eins dazu: Ratlosigkeit!, denn Traudi hatte vor Kurzem eine SMS geschickt: Alles okay, nur dass Fee dich mit Opa Hinnerk und Oma Greta abholt, weil Hiero ein verletztes Reh retten muss und meine Gäste sind auch noch nicht da.

Maria atmet durch. Und was jetzt? Ist auf einmal doch nicht alles okay? Jesus, was meinst du denn? Soll ich noch länger warten?

Ihr Blick schweift über die Taxis. Vor einem Bahnhof stehen ja immer welche herum. Sie tastet nach dem Brustbeutel unter dem T-Shirt ihrer Latzhose. Wie gut, dass sie 50 Euro dabei hat. Die reichen locker. Und nach einem intensiven Rundum-Check fällt ihre Wahl auf die junge Fahrerin, die, an ihr Taxi gelehnt, einen Döner futtert. Bleibt nur zu hoffen, dass sie auch die Adresse kennt. Bei dem Dorf mit den zweiunddreißig Häusern und vier Sträßchen weiß man ja nie. Noch ein Blick aufs Handy. Okay, Jesus! Bis halb vier noch, aber dann rufe ich Traudi an … Was … was war jetzt das? Das hört sich fast an wie …? Abrupt beendet Maria ihre innere Zwiesprache mit dem himmlischen Freund und stellt sich auf die Füße, um einen besseren Überblick zu haben.

Laut bellend und mit einem wild routierenden Schwanz, sprintet Kumpel auf langen Beinen auf sie zu und wirft sie fast um. Gleich dahinter grölt es: „JIPPI JÄÄÄH!“ Und fünf Paar Beine spurten weltrekordverdächtig über den Asphalt.

„Was … was macht ihr denn hier?“ Maria ist so perplex, dass sie gar nichts anderes fragen kann.

„Lasst uns an das Gute denken und heute ganz viel Freude schenken“, tönt es da auf den letzten Metern und vier Mädchen stürzen sich gleichzeitig auf sie. Nur Manne hält sich etwas zurück. Marias Anspannung weicht einem Wahnsinns-Glücksgefühl und noch während sie zur Straße vorgehen - die Parklücken am Bahnhof waren Opa Hinnerk zu eng, denn er ist zwar ein ausgezeichneter Autofahrer, aber ein miserabler Einparker - will Maria natürlich als Erstes wissen: „Wieso habt ihr denn nix gesagt, dass ihr auch kommt?“ Neckisch zieht sie an einem von Melis blonden Zöpfen und die zeigt ihre Grübchen und Müppi äußert triumphierend: „Ja, voll gut gell unser Überraschungsplan! Da biste platt, was? Und gleich nachdem wir das beschlossen hatten, da hab ich den Rest von meinem Zettelkalender in den Müll gepfeffert, denn die Woche, die wir ja wegen Schule noch mal nach Stralsund zurückmüssen, die machen den Kohl nicht fett.“

Maria schmunzelt. „Aber wieso seid ihr so spät? Ich dachte schon sonst was.“

Monis Blick zu Müppi ist eindeutig. „Kannst dich bei meiner holden Schwester bedanken. Deren Blase spielte nämlich so verrückt, dass wir schon auf dem Weg zu Traudi zweimal in ein Waldstück fahren mussten, denn Madame geht ja nicht am Straßenrand, und dann …“

„Neee! Geh ich auch nicht! Weil mir sonst nämlich komisch wird, wenn man mir beim Pullern zuguckt.“ Müppi schürzt die Lippen und verschränkt die Arme vor der Brust. Sicherheitshalber! Denn am liebsten würde sie Moni eine titschen, weil sie das verraten hat.

Maria versucht ernst zu bleiben und sieht Moni auffordernd an. „Und dann?“

„Waren wir sowieso schon auf den letzten Peng und dann war auch noch blöderweise die Straße hierhin dermaßen durch Bummelanten verstopft, weil die wohl vergessen hatten, dass ein Auto mehr als zwei Gänge hat. Mensch! Ich sag’s dir. Wir saßen alle auf heißen Kohlen und Meli hatte schon etliche Male die Finger auf den Tasten, um dich anzufunken. Aber dann wär ja auch die Überraschung hin gewesen.“ Moni pustet unter den Pony ihres fast schwarzen Pagenkopfes und rückt ihre randlose Brille zurecht.

„Unser Fräulein Oberlehrerin.“ Manne klopft ihr auf die Schulter. „Ohne Luft zu holen, aber alles drin.“

„Eben!“, betont sie mit spitzbübischem Gesicht.

„Leider!“, knirscht Müppi, noch immer schmollend. Maria lacht und Kumpels samtigbraune Augen fragen: Und was ist mit mir?

„Oh entschuldige! Na klaro, mein Kumpel!“ Maria geht in die Hocke und krault seinen Kopf. „Und wo hast du deinen Kumpel gelassen?“

„Wenn du deinen abgelatschten Turnschuh meinst, der liegt im Auto“, flachst Felicitas und lässt ihre Zahnlücke blitzen. Ja, die blitzt, und die Sommersprossen leuchten von der Sonne gelockt. Aber was ist mit ihren strahlend graublauen Augen? fragt sich Maria. Da drin sieht’s ja so aus, als ob man das Licht ausgeknipst hätte. Ja, haben denn die anderen Tomaten auf den Augen, dass sie das nicht sehen?

Kapitel 5

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