Cover

Über dieses Buch

Also, ich will ja jetzt nicht total philosophisch rüberkommen und die Stimmung zerstören, aber es gibt doch dieses Sprichwort, das alte Leute gerne benutzen: Lachen ist die beste Medizin, und dann denkt man, nein, ist es nicht, aus einem hartnäckigen Fall von Fußpilz kann man sich ja nicht einfach herauslachen, richtig? (Und ich weiß, wovon ich spreche.) Also, obwohl mir klar ist, dass ich niemals irgendjemanden mit Witzen heilen würde … Vielleicht steckt in der ganzen Lachen-ist-die-beste-Medizin-Geschichte doch ein kleines Körnchen Wahrheit?

Die Autorin

Christine Hamill lebt mit ihrem Sohn in Belfast und lehrt dort Kreatives Schreiben an einer Hochschule für Erwachsenenbildung. »Die beste Medizin« ist ihr erster Roman und gleichzeitig ihr erstes Buch für Kinder. Sie ist außerdem Autorin eines Sachbuches für Erwachsene – »B is for Breast Cancer«.

Die Übersetzerin

Eva Jaeschke studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaften in Leipzig und Berlin. Sie arbeitete viele Jahre als Verlagslektorin, bevor sie sich als freie Lektorin und Übersetzerin selbstständig machte. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Die Illustratorin

Felicitas Horstschäfer, 1983 in Ostwestfalen geboren, hat Design an der FH Münster studiert und arbeitet seit 2009 als freischaffende Illustratorin für verschiedene Verlage. Außerdem entwickelt sie mit großer Begeisterung Buchkonzepte. Felicitas Horstschäfer lebt und arbeitet in Berlin.

Diese Ausgabe (von »The Best Medicine«)
ist dem deutschen Teil der Familie gewidmet:
Clara, Ciarán, Yannick, Anna und Edmund.

Christine Hamill

1
Ein Yeti kommt selten allein

Am Anfang passierten die schlimmen Sachen noch nach und nach.

Zuerst ist es mir gar nicht aufgefallen. Es waren nur Kleinigkeiten, wie zum Beispiel, dass meine Ma die falschen Frühstücksflocken eingekauft hatte – Haferflocken statt Schoko-Pops. Dann war es der Saft – sie hatte aus Versehen Mineralwasser gekauft. Kurz danach fing sie an, ein merkwürdiges Buch zu lesen. Darin wurde erklärt, wie man ruhig bleibt, und dazu gab es Übungen, bei denen ich ihr helfen sollte. Ich musste alle fünfzehn Sekunden mit einem klitzekleinen Glöckchen bimmeln, während sie auf die winzigen gelben Punkte einer Erdbeere starrte und ihr »inneres Selbst zur Ruhe brachte«. Die gelben Erdbeerpunkte wirkten anscheinend sehr beruhigend. Aber nicht beruhigend genug; nach ungefähr einer Woche feuerte Ma ihre Ausgabe von 101 Wege zur Gelassenheit quer durch den Raum in meine Richtung und sagte, wenn ich nicht sofort aufhören würde, die Melodie von Harry Hills [1] Comedy-Show mit dem Glöckchen zu klingeln, würde sie mich zur Adoption freigeben. Aber das glaubte ich ihr nicht: Jeder mag diese Melodie.

Ich ging in mein Zimmer, um eine Pause zu machen und den Weg zur Gelassenheit Nr. 89 zu üben. In dem Buch stand, man solle negative Sätze wie Ich mag keinen Käsetoast vermeiden; man solle üben zu sagen, was man mag. Ich gab mir große Mühe, die Übung zu machen, aber es klappte nicht: Was kann man an Käsetoast nicht mögen?

Trotzdem habe ich das Buch behalten. Ich dachte, es könnte vielleicht später nützlich sein, falls noch andere Dinge schief gehen würden. Und da lag ich ganz richtig, denn gleich am nächsten Tag nahm das Unglück seinen Lauf.

Ich war gerade auf dem Weg zum Kunstunterricht und ahnte nichts Böses, als es passierte. Die Hände eines Yeti legten sich um meinen Hals und schnürten mir die Luft ab. Ich versuchte, ruhig zu bleiben und zu überlegen, was ich Positives sagen könnte. Aber wie soll man positiv denken, wenn einem gerade dicke, fette Wurstfinger die Kehle zudrücken? Da kommt man nicht weit. Ehrlich gesagt esse ich Würstchen sehr gerne und das wollte ich auch sagen: ›Ich liebe Würstchen‹, aber dann stellte ich mir vor, wie ich die Finger des Yeti aß (mit Ketchup und Pommes). Und das hatte die umgekehrte Wirkung und machte mich sehr, sehr unruhig.

Doch bevor ich weitererzähle, möchte ich mich hier und jetzt bei allen Yetis auf der ganzen Welt entschuldigen. Sie kommen immer schlecht weg und ich will da nicht noch einen drauflegen. Aber Tatsache ist, dass ich von einem Yeti-Doppelgänger schikaniert werde. Eddie Klain.

Eddie Klain ist einer dieser dicken, fetten Riesen-Fieslinge, dem die Haare so vor dem Gesicht hängen, dass man seine Augen nicht sieht. Und er hat nichts anderes zu tun, als normale Menschen, die sich die Haare schneiden, weil sie tatsächlich sehen wollen, wo sie hinlaufen, in Angst und Schrecken zu versetzen. Wenn Der Yeti eine Brille tragen würde, so wie ich, würde er seine Sehkraft stärker zu schätzen wissen. Aber egal, zurück zum Thema Gewürgt werden.

Es kann sehr gut sein, dass ich gerade in mich hineinlachte, als der Angriff losging. Und nein, ich bin keiner dieser vor sich hin kichernden Superfreaks; ich bin ein Comedian. Na gut, jetzt bin ich noch kein Comedian, aber ich werde einer sein, wenn ich erwachsen bin, genau wie Harry Hill (nur vielleicht ohne Glatze). Dafür muss ich natürlich sehr viel üben und darum erzähle ich mir selbst immer Witze. Yetis allerdings mögen keine Witze. Sie erwürgen lieber andere Leute. Ich weiß noch nicht mal, woher Der Yeti kam. Ein Fiesling mit Tarnkappe, genau das ist er. Was eigentlich beeindruckend ist, denn er ist zwar erst vierzehn, aber schon fast einen Meter neunzig groß und bestimmt auch einen Meter neunzig breit, also muss es für ihn ganz schön schwierig sein, sich unsichtbar zu machen.

»Worüber lachst du?«, grunzte er.

Warum müssen Fieslinge immer grunzen? Lernen sie so etwas im Club der Fieslinge? Regel Nummer eins: Sprich auf gar keinen Fall deutlich, damit dein Opfer dich verstehen und dir geben kann, was du willst. Regel Nummer zwei: Grunze immer, um die Qualen deines Opfers zu verstärken.

Das ist psychologische Kriegsführung, nichts anderes. Ich überlegte, ob ich ihm erklären sollte, dass seine Grunz-Taktik nach der Genfer Konvention bestimmt illegal ist. Aber er drückte meine Kehle so fest zusammen, dass ich befürchtete, meine Mandeln würden mir zur Nase herausschießen. Es war also wirklich nicht der richtige Moment für eine Lektion in Gesellschaftskunde.

»Urg, Ähgäd än, urrg Täch«, sagte ich stattdessen, was übersetzt aus dem Gewürgischen bedeutet: »Essensgeld ist in der Tasche. Nimm es.«

Der Yeti verstand genau, was ich meinte. Er ließ mich los, durchwühlte meinen Rucksack, steckte mein Essensgeld ein und stapfte weiter.

Und ich war zu spät dran für den Kunstunterricht.

»Du bist zu spät«, sagte meine Lehrerin.

Ist euch schon mal aufgefallen, dass Lehrer Meister darin sind, immer das festzustellen, was sowieso klar ist?

»Nicht, dass das zur Gewohnheit wird, Philip«, sagte Miss Frank.

»Es tut mir wirklich leid, Miss«, sagte ich mit einer Stimme, die eigentlich normal klingen sollte, aber die Worte kamen als schrilles Quieken heraus, so wie dieses hohe Signal, mit dem man Delfine und andere Meeresbewohner aufspürt.

Und dann geschah das nächste Unglück: Lucy Wells brach in schallendes Gelächter aus.

Mädchen müssen wohl dieselben Frequenzen wie Delfine wahrnehmen, denn sie hatten mich alle gehört und prusteten jetzt los, und schließlich lachte die ganze Klasse auf meine Kosten. Aber es war Lucy Wells’ Lachen, das mich traf. Sie ist eine blonde Göttin und beherrscht meinen Kunstunterricht. Ich weiß, das klingt total dämlich, und keiner soll denken, ich wäre einer von diesen liebeskranken Volltrotteln, aber man muss sie einfach gesehen haben: Sie ist perfekt.

Sie hat schöne Haare, schöne Zähne, schöne Augen, schöne Ohren und schöne Hände, sogar ihre Fingerknöchel sind schön. Und selbst wenn sie einen auslacht, weil man zu spät kommt und ausgeschimpft wird, ist ihr Lachen trotzdem wunderschön.

Oh ja, und noch eine Sache: Sie hasst mich.

Mein bester Freund Ang (merkwürdiger Name, erkläre ich später) ist der Einzige, der von Lucy und mir weiß. Ich habe es ihm einmal beim Mittagessen erzählt, weil ich dachte, sie würde mich anlächeln. Allerdings stellte sich dann heraus, dass sie den Typ hinter mir, der ein Jahr über mir ist, angelächelt hatte.

»Hinter dir und über dir?« Ang lachte. »Das könnte schwierig werden.«

»Es ist eine Herausforderung des Ortes«, sagte ich.

»Eine örtliche Herausforderung für einen Jungen aus diesem Ort«, erwiderte Ang.

»Ihhh«, sagte ich, »du bist auch so ein Örtchen.« Und wir schütteten uns beide aus vor Lachen.

Gute Zeiten.

»Philip!«, mahnte Miss Frank. »Hörst du mir zu? Du siehst aus, als wärst du in eine andere Welt abgetaucht.«

»Ja. Nein. Stimmt«, sagte ich. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mich sehr präzise ausdrücken.

»Das geht jetzt schon seit drei Wochen so«, fuhr Miss Frank fort. »Es tut mir leid, Philip, aber ich muss dich wieder nachsitzen lassen. So sind die Regeln.«

»Es tut mir leid, Miss Frank«, sagte ich. »Ich bin aufgehalten worden.«

»Wirklich«, flüsterte ich Ang zu, während ich auf den Platz neben ihm rutschte.

»Der Yeti?«, flüsterte er zurück.

Ich nickte.

»Er hat meinen Rucksack ausgeraubt.«

»Er hat deinen Ruckraub eingesackt?«

»Nein, er hat meinen Rabkack rückgeruckt.«

»Deinen Kackrack! Ist der eklig!«

Dann mussten wir beide losprusten und beide nachsitzen. Und noch so ein Unglück.
 


[1] Harry Hill, geboren als Matthew Keith Hall am 1. Oktober 1964, ist ein englischer Comedian, Autor und Fernsehmoderator. Von 2001 bis 2012 führte er durch die Comedy-Show »Harry Hill’s TV Burp«.

Harry Hill’s Comedy-Show brachte Christine Hamill auf die Idee für »Die beste Medizin«. Während ihrer Krebsbehandlung sah sie zusammen mit ihrem Sohn Callan regelmäßig Harry Hills’ Show im Fernsehen. Das Lachen half ihnen durch die schwere Zeit der Krankheit.

2
Kommissar Ahnungslos

Als ich nach Hause kam, war es schon kurz vor fünf. Ich war müde und fast am Verhungern, weil Der Yeti mich um mein Geld fürs Mittagessen gebracht hatte. Auf jeden Fall war ich nicht in der Stimmung für Mas Vortrag zum Thema Schulzeit ist die schönste Zeit im Leben – ihre übliche Reaktion darauf, wenn ich nachsitzen muss. Ich finde, Erwachsene sollten so was nicht erzählen. Sie geben Kindern damit eine ganz verzerrte Vorstellung davon, was es heißt, erwachsen zu sein. Sie könnten doch wenigstens so tun, als ob da etwas wäre, worauf man sich freuen kann in den über sechzig Jahren, die man später nicht mehr in die Schule geht! Jedenfalls sollte man eher sagen: Kindergartenzeit ist die schönste Zeit, denn da hat noch keiner was von Hausaufgaben, fiesen Typen oder Göttinnen gehört.

Und, na ja, wenn ich ganz ehrlich bin, war mir danach, meinen alten Teddybären, Herrn von Puschelkuschel, zu holen und mich mit ihm unter meiner Bettdecke zu verkriechen, wo es dann so schön nach früher riecht. Aber dazu kam es nicht, denn Ma hatte schon im Flur auf mich gewartet.

Sie führte mich ins Wohnzimmer und setzte mich vor ein Tablett mit Tee und selbst gebackenen Muffins. Moment mal: Tee plus Muffins plus Nachsitzen ergibt keinen Sinn. Und noch was: Ma machte ein Gesicht, als würde sie mir gleich etwas ganz Ernstes sagen, oder noch schlimmer, etwas ganz Peinliches. Es sah verdächtig nach ihrem Woher-kommen-die-Babys-Gesicht aus. Ein Gesicht, das ich niemals vergessen werde. Ob sie etwa vergessen hatte, dass ich schon Bescheid wusste? Bitte nicht. Alles, nur nicht noch mal das Woher-kommen-die-Babys-Gespräch!

Ich starrte auf die Muffins. Sie waren aus den Formen explodiert und hatten eine schwarze Kruste. Ein paar waren mit Zuckerguss überzogen worden, vermutlich, um ihre Beinahe-Einäscherung zu überdecken. Ma backt normalerweise nie. Ich sah sie an und versuchte herauszufinden, was los war. Sie sagte nichts. Sie musterte mich nur auf eine merkwürdige Weise, so als würde sie mich zum allerersten Mal sehen.

»Was ist los?«, fragte ich, weil ich dachte, je schneller wir anfingen, umso schneller wäre es vorbei.

»Nichts ist los«, sagte sie.

Also das stimmte schon mal nicht. Irgendetwas war definitiv los. Dass Ma versucht hatte etwas zu backen, war ja schon ein klares Indiz.

»Du hast doch irgendwas vor«, sagte ich.

Ma sagte: »Vor Ihnen kann ich auch nichts geheim halten, Herr Kommissar.«

Dabei lachte sie, aber es klang ein bisschen wackelig, so als würde sie gleich singen wollen, aber wäre noch nicht richtig bereit. Ja, meine Ma fängt oft grundlos an lauthals zu singen, und ja, das ist total nervig. Sie öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber heraus kam nur ein Krächzen, und sie machte den Mund wieder zu.

»Du brauchst Öl«, sagte ich, »du quietschst.«

Na ja, ich weiß, dass das nicht der witzigste Spruch der Welt war. Aber meine Ma ist mein größter Fan, und ich darf doch wohl erwarten, dass mein größter Fan über meine Witze lacht, egal wie lahm sie auch sein mögen. Aber stattdessen brach sie in Tränen aus, stürzte die Treppe hoch und schloss sich im Badezimmer ein.

Moment mal, wir haben doch gar keinen Schlüssel in der Badezimmertür. Ich hatte Ma schon tausendmal erklärt, dass ich kein kleiner Junge mehr bin und meine Privatsphäre brauche und dass sie eine alternde Frau ist und auch ihre Privatsphäre braucht, aber nie hatte sie auf mich gehört. Bis jetzt.

Ich stieg die Treppe hoch und drückte die Klinke der Badezimmertür hinunter; definitiv abgeschlossen. Es war so weit: Sie hatte meinen Rat ausnahmsweise angenommen, und das, ohne es mir zu sagen.

Ich hörte, wie sie sich die Nase putzte. Es klang, als würde sie ihr gesamtes Hirnschmalz zu den Nasenlöchern herausschnauben. Weil ich weiß, dass man jemanden auf der Toilette nicht belauscht, rüttelte ich an der Klinke. Nur damit sie wusste, dass ich da war.

»Ich bin gleich draußen«, ertönte Mas Stimme durch einen Schwall von Schnodder. »Nimm dir einen Muffin. Sie sind aus Vollkornmehl.«

Ich ging zurück nach unten und pulte den Zuckerguss von einem der Muffins ab und versuchte dabei, mir ein paar neue Witze auszudenken, die sie aufmuntern würden.

Als Ma herunterkam, waren ihre Augen ganz verquollen und so klein wie bei einem Schweinchen. Da wusste ich, die Dinge standen schlecht. Ich erinnerte mich noch gut an diese Schweineäuglein, aus der Zeit, als Dad uns verlassen hatte.

»Was gibt’s?«, sagte ich mit meiner besten falschen Fröhlichkeitsstimme. Ich dachte, vielleicht sei Dad zurückgekommen und hätte sie so durcheinandergebracht. Und ich überlegte schon, wie ich ihn umhauen, k. o. schlagen und entsorgen könnte.

»Heuschnupfen«, sagte Ma und versuchte, mir noch einen Muffin aufzudrängen.

Heuschnupfen? Hm, das war neu. Ich musterte sie auf eine übertrieben dramatische Weise, die ich ziemlich gut kann, von oben bis unten. Dann richtete ich meinen Zeigefinger auf sie und sagte mit meiner Kommissar-Detektiv-Stimme: »Ich sehe kein Heu.« Ich strich über ihre Nase. »Und das ist kein echter Schnupfen. Das führt mich zu der Schlussfolgerung, dass Sie lügen, meine werte Dame.«

Ma lachte nicht. Ich ließ wohl wirklich nach. Sie blickte zur Seite und starrte die Vorhänge an, als wären sie das Spannendste, was sie je gesehen hatte.

»Du kannst eine Harry-Hill-DVD gucken, wenn du möchtest«, sagte sie.

Ma lässt mich NIEMALS fernsehen, bevor ich alle meine Hausaufgaben gemacht habe. Irgendetwas war hier richtig faul.

Normalerweise lache ich mich krank, wenn ich Harry Hill schaue, aber an diesem Tag konnte ich mich nicht konzentrieren. Meine Gedanken rasten: Ma hatte die Badezimmertür abgeschlossen, Muffins gebacken und, was das Allerschlimmste war, über meine Witze geweint. Was hatte das alles zu bedeuten? Und was sollte nun aus mir werden? Wenn ich niemanden mehr zum Lachen bringen konnte, war mein Lebensplan gescheitert: die Tourneen als Stand-up-Comedian, die Fernsehauftritte, das große Haus auf dem Land mit der Einliegerwohnung als Alterssitz für Ma. Das alles würde ich neu überdenken müssen.

Ich schaute noch zehn Minuten weiter Harry Hill und hoffte, mir würde etwas einfallen. Irgendwann schaltete ich den Fernseher aus und ging in mein Zimmer, um Hausaufgaben zu machen. Wir sollten in Geschichte etwas über die Reformation recherchieren, aber ich war viel zu durcheinander und abgelenkt und saß einfach nur vor meinem Computer und googelte Harry Hill. Ich klickte mich durch seine Website in der Hoffnung, dass etwas von seiner Genialität auf mich abfärben würde. Ma sagt immer: »Wer groß werden will, muss sich an die Großen halten«, also hätte sie mir das bestimmt erlaubt. Ich war mir sicher, wenn es mir nur gelingen würde, nah genug an Harry Hill heranzukommen, dann würden meine komödiantischen Fähigkeiten wieder zurückkehren.

Und da hatte ich eine großartige Idee.

Es dauerte noch eine Weile, bis ich die richtige Adresse gefunden hatte, an die ich schreiben konnte. Es gab einmal die Adresse seines Agenten und einmal die für Fanpost. Ich entschied mich für den Agenten. Ich vermutete, dass Harry Hill wahrscheinlich jede Woche tonnenweise Fan-E-Mails bekam und es ewig dauern würde, bis er auf meine stieß. Aber wer würde schon auf die Idee kommen, seinem Agenten zu schreiben? Ich nahm mir ein Papier aus dem Drucker und begann mit dem Brief.

Ihr habt ja keine Ahnung, wie schwierig es ist, seinem Idol zu schreiben, ohne wie ein kompletter Vollidiot zu klingen. Meinen ersten Versuch begann ich mit den Worten: Lieber Harry Hill, Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie. Das klang eher wie der Drohbrief eines völlig irren Psycho-Stalkers und nicht nach dem charmanten Hilferuf eines witzigen zwölfjährigen Jungen. Aber schließlich habe ich es, glaube ich, doch noch ganz gut hinbekommen.

Lieber Harry Hill,

ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt sind, mit all dem Fernsehen und den DVDs, die Sie gucken müssen. Aber bitte, bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um mir zu helfen. Ich bin zwölf Jahre alt und will Comedian werden, wenn ich erwachsen bin. Allerdings habe ich vor Kurzem mein komödiantisches Talent verloren. Hat schon einmal jemand geweint, als Sie einen Witz erzählt haben? Wenn ja, wie haben Sie das Problem gelöst? Bitte antworten Sie mir, denn ich brauche wirklich Ihre Hilfe.

Hochachtungsvoll

Philip Wright

3
Wir sind keine Engel

Ich habe ja versprochen, euch noch etwas zu Angs Namen zu erklären. Haltet euch fest: Er heißt eigentlich Angel. Das wird An-chell ausgesprochen und heißt »Engel«. Was für Eltern nennen ihr Kind »Engel«?

»Spanische Eltern«, sagte er, »mein Vater heißt auch Angel. Ich bin nach ihm benannt.«

»Ich werd verrückt«, sagte ich, »und wie heißt deine Mutter – Sankta?«

»Encarnación«, antwortete er.

Den Namen fand ich auch merkwürdig, sagte aber lieber nichts, denn da kannte ich Ang noch nicht so gut. Er war gerade in unsere Straße gezogen und ich wollte freundlich sein. Zum einen, weil meine Mutter will, dass ich freundlich bin, und zum anderen, weil Sommerferien waren und niemand anders zum Fußballspielen da war.

»An-chell«, sagte ich, »das ist hart.«

»Wieso denn?«, fragte er.

»Ist irgendwie so heilig«, sagte ich, »und, äh, geflügelt.«

Ich habe den Schlag gar nicht kommen sehen. Er traf mich voll in den Bauch.

Oh Mann! Diese An-chell-Geschichte schien ihn ganz schön aufzuregen. Und dann, um noch einen draufzusetzen, schlug er mich wieder. Daraufhin schlug ich zurück. Und ehe wir’s uns versahen, waren wir mitten in einem richtigen Boxkampf. Nette Art, seinen neuen Nachbarn zu begrüßen!

Danach waren wir beste Freunde. Ich hatte eine blutige Nase und Ang ein blaues Auge. Darauf war ich ein bisschen neidisch. Eine blutige Nase ist schließlich nicht mehr besonders spannend, wenn das Bluten erst einmal aufgehört hat. Ein blaues Auge aber schon.

Tagelang fragten die Leute Ang nach seinem blauen Auge. Alle waren voller Anteilnahme. Das war unfair. Schließlich hatte ich ihm das blaue Auge verpasst und nun kassierte er den ganzen Ruhm dafür.

Schließlich machten wir uns daran, das An-chell-Problem zu lösen. Wir gingen ab September beide auf das gleiche Gymnasium, und er meinte, er könne keine weiteren Wo-sind-deine-Flügel-Witze mehr ertragen.

Also überlegten wir, ihn in Brian umzubenennen. Aber immer, wenn ich ihn Brian rief, reagierte er gar nicht, weil er nicht daran dachte, dass er Brian war. Also überlegten wir, dass ein Name besser wäre, der näher an seinem tatsächlichen Namen lag.

»Wie wäre es mit Angus?«, schlug ich vor. Ich hatte den Namen Angus immer schon gemocht.

»Nee«, sagte Ang, »das ist doch ein Name für eine Kuh!«

»Die heißen Aberdeen Angus. Ist was ganz anderes«, sagte ich, überzeugt, diese Angus-Sache könnte funktionieren.

»Mag ich trotzdem nicht«, sagte Ang, »zu kuhmäßig.«

»Du könntest den Namen abkürzen«, schlug ich vor, »zum Beispiel zu Ang.«

Er hörte auf, den Schokoriegel zu zerkauen, den er (ohne etwas abzugeben) gerade aß, und sah mich mit so kalter Verachtung an, dass es schon wieder beeindruckend war.

»Hallo-ho«, sagte er, »ich könnte meinen eigenen Namen zu Ang abkürzen.«

»Ja, warum nicht?«, sagte ich.

»Ja, warum nicht?«

»Dann mach’s doch.«

»Pass auf«, sagte er und stapfte los, um seine Eltern zu suchen.

Seiner Mutter gefiel die Idee nicht. Sie fand sie »loco« und fragte ihn, warum er seinen Namen in Ang ändern wolle.

»Weil Ang nichts bedeutet«, sagte er mit ruhiger Stimme. Es klang so, als würde er einem Kleinkind erklären, was zwei plus zwei ergibt.

Keine gute Idee. Seine Mutter schimpfte in rasend schnellem Spanisch mit ihm. Es hörte sich an wie ein Maschinengewehr. Bestimmt würde sie bei einer Schnellrede-Weltmeisterschaft den ersten Platz machen.

Es dauerte nicht lange, bis Ang genauso losknatterte. Dann kam sein Vater ins Zimmer, knatterte ebenfalls, und es hörte sich an wie ein riesengroßer Streit. Sehr beunruhigend. Das einzige Wort, das ich verstand, war »An-chell«. Meiner Meinung nach benutzten sie es ein bisschen zu oft. Ich meine, hey, Ang ist nicht gerade tausend Kilometer weit weg von Angel. Eigentlich ist es doch dasselbe.

Auf einmal hörten sie auf zu schreien und sahen mich an. Da merkte ich, dass ich den Satz wohl etwas zu laut ausgesprochen hatte.

Nach einer langen Pause sagte Angs Mutter: »Sí«, und selbst ich wusste, dass das Ja auf Spanisch bedeutet.

Da gab Angs Vater einen rasselnden Ton von sich, der von ganz unten aus der Kehle kam, so als würde er panisch nach Luft schnappen. Er warf die Arme in die Luft, als wollte er sagen: »Erschießt mich, ich bin bereit zu sterben!« Das war ziemlich beeindruckend, aber auch ein bisschen melodramatisch.

Doch er verschwendete seine Zeit. Angs Mutter hatte es sich überlegt und alles Luftschnappen der Welt konnte sie nicht mehr von ihrer Entscheidung abbringen. Sie tätschelte Angs Wange und sagte etwas entschlossen Klingendes auf Spanisch (das mit dem Wort »Ang« endete) und das war’s dann. Problem gelöst. Ang war kein Engel mehr.

4
Peeping Tom

Es dauerte eine Woche, bis ich Die Göttin, Lucy, wiedersah. Eine ganze Woche! Es war die reinste Folter. Ang sagt, ich würde an unerwiderter Liebe leiden. Er sagt, unsere Englischlehrerin, Mrs Gray, habe – als ich am Donnerstag nicht da war, weil ich eine neue Brille bekam – ein Gedicht darüber vorgelesen, und es bedeute, dass man jemanden liebe, der einen nicht zurückliebt. Klingt für mich nach ziemlichem Blabla. Aber, und das war einfach unglaublich, Ang sagte, dass eins der Gedichte, die sie gelesen hatten, von einem Mädchen namens Lucy handelte! Das ist doch auf jeden Fall ein Zeichen. Wenn man sich das mal überlegt: Liebe, ich, Gedicht, Lucy. Es passte alles zusammen. Wir waren füreinander bestimmt.

Das Problem war, dass sie mit mir nur zusammen im Kunstunterricht war, und Kunst haben wir bloß einmal in der Woche. Aber normalerweise sah ich sie auch in den Pausen. Ich hielt nach ihr Ausschau, aber entdeckte sie kein einziges Mal. Erhaschte noch nicht mal einen flüchtigen Blick auf sie. Vielleicht lag sie krank zu Hause? Oh nein! Hoffentlich war es nichts Ernstes.

»Und wenn es etwas Ernstes ist?«, fragte ich Ang.

»Du hast etwas Ernstes«, sagte er. »Lucy hat dein Gehirn zu Milchreis weich gekocht.«

»Was hast du gegen Milchreis?«, fragte ich. Ich mag Milchreis. Mit Zimt und Zucker.