image

Für Almut

Störungen systemisch behandeln

Band 12

Herausgegeben von

Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Roland Schleiffer

Dissoziales Handeln
von Kindern und
Jugendlichen

2018

image

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Reihe »Störungen systemisch behandeln«, Band 12

hrsg. von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Reihendesign: Uwe Göbel

Umschlag und Satz: Heinrich Eiermann

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2018

ISBN 978-4-8497-0100-0 (Printausgabe)

ISBN 978-4-8497-8150-7 (ePUB)

© 2018 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de.

Wenn Sie Interesse an unseren monatlichen Nachrichten aus der Vangerowstraße haben, abonnieren Sie den Newsletter unter http://www.carl-auer.de/newsletter.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

info@carl-auer.de

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

1Einleitung

1.1Ein exemplarischer Fall

1.2Überblick

2Kinder und Jugendliche, die sich dissozial verhalten – eine schwierige Klientel

2.1Terminologie

2.2Dissozialität und Interventionsbedarf

2.3Eine schwierige Hilfekommunikation

2.4Die therapeutische Allianz

2.5Fragen der Moral

2.6Zuständigkeitsfragen

2.7Ist Dissozialität eine Krankheit?

3Erscheinungsbild

3.1Störung des Sozialverhaltens: eine psychiatrische Diagnose

3.2Komorbidität

3.3Psychopathie

4Entwicklungspsychopathologie

4.1Risikofaktoren

4.1.1Biologische Risikofaktoren

4.1.2Soziale Risikofaktoren

4.1.3Bindung

4.1.4Peers

5Erklärungsmodelle

5.1Psychodynamisches Problemverständnis

5.2Lerntheoretisches Problemverständnis

5.3Systemisches Problemverständnis

5.3.1Risikofaktoren und die Frage der Kausalität

5.3.2Die Great-Smoky-Mountains-Studie

5.3.3Funktionale Analyse

5.3.4Das Dissozialitätsspektrum

5.3.5Problem oder Problemlösung?

6Interventionen

6.1Zur Funktion der funktionalen Analyse

6.2Pharmakotherapeutische Interventionen

6.3Psychotherapeutische Interventionen

6.3.1Störungsunspezifische Probleme

6.3.2Dissozialitätsspezifische Probleme

6.4Psychodynamische Psychotherapieverfahren

6.5Verhaltenstherapeutische Verfahren

6.6Mehrpersonentherapien

6.6.1Elterntraining

6.6.2Familientherapien

6.7Systemische Praxis

6.7.1Auftragsklärung

6.7.2Therapie unter Bedingungen der Unfreiwilligkeit

6.7.3Stationäre systemische Therapie

6.7.4Die Gestaltung der therapeutischen Beziehung

6.7.5Systemische Arbeitsweisen und Methoden

6.7.6Der dissoziale Beobachtungsstil

6.7.7Erhöhung der Unsicherheitstoleranz

7Schlussbemerkung

8Literatur

9Über den Autor

Vorwort der Herausgeber

Ursprünglich ein querdenkendes Außenseiterkonzept, hat sich der systemische Ansatz heute in vielen Bereichen der Therapie und der Beratung theoretisch wie praktisch etabliert. Auch Vertreter anderer Schulen bereichert er mittlerweile in ihrer Arbeit. Die Etablierung eines Paradigmas birgt für dieses selbst aber auch Risiken, weil sie stets mit der Verfestigung von Denk- und Handlungsgewohnheiten einhergeht. Die Reihe Störungen systemisch behandeln stellt sich vor diesem Hintergrund zwei Herausforderungen: Nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Therapierichtungen soll sie komprimiert und praxisorientiert vorstellen, was die systemische Welt im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder zu bieten hat. Innerhalb der Systemtherapie steht sie für eine neue Phase im Umgang mit dem Konzept von »Störung« und »Krankheit«.

Historisch gesehen war einer ersten Phase mit erfolgreichen Konzepten zu Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Essstörungen, psychosomatischen Krankheiten und affektiven Störungen eine zweite Phase gefolgt, die geprägt war von einem gezielten Verzicht oder einer definitiven Ablehnung aller Formen störungsspezifischer Codierungen. In jüngerer Zeit wenden sich manche Vertreter der systemischen Welt wieder störungsspezifischen Konzepten und Fragen zu – und werden von anderen dafür deutlich attackiert. Diese neue Welle ist bedingt durch die Anerkennung der Systemtherapie als wissenschaftliches Heilverfahren, durch den Antrag auf deren sozialrechtliche Anerkennung und nicht zuletzt dadurch, dass viele im klinischen Sektor systemisch arbeitende Kollegen täglich gezwungen sind, sich zu störungsspezifischen Konzepten zu positionieren.

Die systemische Welt hat hierzu einiges anzubieten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden – ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nicht-systemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden.

Verlag, Herausgeber und Autoren bemühen sich, einerseits eine für alle Bände gleiche Gliederung einzuhalten und andererseits kreativen systemischen Querdenkern die Freiheit des Gestaltens zu lassen.

An die Stelle der Abgrenzung und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapieschulen ist heute der Austausch zwischen ihnen getreten. Die Reihe »Störungen systemisch behandeln« versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.

Dr. Hans Lieb, Dr. Wilhelm Rotthaus

1Einleitung

1.1Ein exemplarischer Fall

Für den 17-jährigen Axel sollte ein jugendpsychiatrisches Gutachten angefertigt werden. Der Jugendliche war zum wiederholten Mal wegen gemeinschaftlich begangener Einbruchdiebstähle und Autoaufbrüche aufgefallen. Laut Anklage hat er zusammen mit anderen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen aus dem Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt gilt, Autos aufgebrochen und diese kurzgeschlossen. Beim letzten Mal seien die jungen Leute aber nicht weit gekommen, da Axel das Auto bei einem Wendemanöver gegen einen Baum gesetzt habe. Dabei sei ein beträchtlicher Sachschaden entstanden.

Axel war bereits vorbestraft. Die letzten Delikte hatte er während seiner Bewährungszeit begangen. Im Jahr zuvor war er »wegen gemeinschaftlich begangenen Diebstahls in einem besonders schweren Fall« zu einer Jugendstrafe von 10 Monaten verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt worden war. Axel hatte zusammen mit zwei anderen Mitgliedern seiner Clique, mit einer Gaspistole bewaffnet, ein Reisebüro überfallen. Dabei wurde nur ein kleiner Geldbetrag erbeutet. In das Urteil einbezogen wurden Urteile aus zwei früheren Verfahren, in denen es um ähnlich gelagerte Delikte gegangen war. Die jungen Leute waren eingebrochen, unter anderem in eine Gartenlaube und in ein Eiscafé, wobei sie jeweils nur geringfügige Geldbeträge sowie Zigaretten entwendet hatten.

Axel war bereits bei der Einschulungsuntersuchung aufgefallen. Die Schulärztin hatte seinerzeit bei dem Jungen die Diagnose »leichte frühkindliche Hirnschädigung« gestellt. Diese Diagnose stützte sich auf die Anamnese, die durch eine Risikoschwangerschaft, eine vorzeitige Geburtseinleitung und eine in der Neugeborenenzeit notwendig gewordene Intensivbehandlung belastet war, sowie auf Symptome einer zentralen Koordinationsstörung, einer Störung der visuellen Wahrnehmung und der visuomotorischen Koordination wie auf eine deutliche Verminderung der Konzentrations- und Merkfähigkeit.

Der Junge wurde in den folgenden Jahren regelmäßig schulärztlich und sozialpädagogisch betreut. Im 2. Grundschuljahr wurde ein Sonderschulaufnahmeverfahren in Gang gesetzt. Axel wurde daraufhin wegen »erheblicher Verhaltensstörungen, neurogener Teilleistungsschwächen und generalisierter Lernstörung« in die Sonderschule für Erziehungshilfe umgeschult. Bei der seinerzeit durchgeführten psychologischen Untersuchung erreichte der Junge im Intelligenztest ein insgesamt unterdurchschnittliches Ergebnis. Seine sprachfreie Intelligenz wurde als knapp durchschnittlich eingeschätzt. Er zeigte besondere Schwächen im Bereich des rechnerischen Denkens, beim Kurzzeitgedächtnis, im Bereich der praktischen Urteilsfähigkeit und bei der visuomotorischen Koordination. Es habe eine Artikulationsstörung bestanden.

Axels deutliche emotionale Unausgeglichenheit und seine geringe Frustrationstoleranz wurden damals durch die »schwierige familiäre Situation« erklärt. Als der Junge 8 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Seitdem wohnt der Junge mit seiner Mutter und seinen zwei älteren Geschwistern in einer Wohnung in einem ausgesprochenen Problemviertel einer Großstadt. Eine Reihe ambulanter Hilfemaßnahmen wurden eingesetzt, so eine Legasthenie-Therapie, eine Hausaufgabenhilfe sowie eine sonderpädagogische Einzelbetreuung. Nach Beendigung der Grundschulzeit war Axel dann in eine Sonderschule für Lernbehinderte gewechselt.

Im Alter von 14 Jahren hörte Axel auf, die Schule zu besuchen. Nachdem er ein Jahr lang nicht mehr in der Schule erschienen war, stellte seine Mutter, die inzwischen auch infolge ihrer eigenen behindernden, chronischen Erkrankung nahezu jeden erzieherischen Einfluss verloren hatte, beim Jugendamt der Stadt einen Antrag auf Erziehungshilfe. Von kinderpsychiatrischer Seite wurde eine Fremdplatzierung in einem Heim vorgeschlagen, gegen die sich der Junge erfolgreich wehrte. Jedenfalls erfolgte keine Heimunterbringung. Aber auch andere Hilfemaßnahmen erfolgten nicht.

Stattdessen suchte und fand Axel Anschluss an eine delinquente Gleichaltrigengruppe seiner Nachbarschaft. Dort soll es ihm allerdings nicht leichtgefallen sein, die gewünschte Anerkennung zu erreichen. Nach Angaben der Mutter habe sich ihr Sohn lange Zeit von seinen Kameraden schlagen lassen. Erst seit Kurzem habe er es geschafft, sich erfolgreich zu wehren. Er komme nun mit den Gleichaltrigen besser zurecht. Axel habe sich vor geraumer Zeit nach einem Streit mit ihr mit Tabletten umbringen wollen. Früher sei der Junge sehr schüchtern gewesen. Er habe vor allem Neuen Angst gehabt. Schnell habe er sich geschämt.

Axel sei nun sehr aggressiv. Zu Hause demoliere ihr Sohn bisweilen die Wohnung. Die Mutter äußerte die Angst, dass er sich einmal nicht mehr würde steuern können. Diesbezüglich sei er seinem Vater, den sie als aggressiv und spielsüchtig schilderte, doch sehr ähnlich. Schon im Alter von 6 Jahren sei Axel gegen seinen Vater »mit dem Messer losgegangen«. Erst auf Nachfrage ergänzte die Mutter, dass Axel sie bei diesem Vorfall vor ihrem gewalttätigen Ehemann habe schützen wollen.

Der erste Kontakt mit Axel fand in der Behinderteneinrichtung statt, in welcher der Jugendliche die Sozialstunden, zu denen er in einem vorausgegangenen Verfahren verurteilt worden war, gerade ableistete. Axel überraschte den Sachverständigen mit seinem Verhalten. Er empfing diesen an der Tür ausgesprochen freundlich, geleitete ihn zur Leiterin der Einrichtung, machte ihn mit dieser bekannt und servierte beiden später Kaffee und Gebäck. Von der Leiterin der Einrichtung war zu erfahren, dass Axel bei den dort betreuten Kindern sehr beliebt sei. Vor allem bei der Arbeit mit Kindern mit einer Mehrfachbehinderung engagiere sich Axel. Er habe sich inzwischen in der Einrichtung geradezu unersetzlich gemacht.

Im Gespräch mit dem Sachverständigen verhielt sich Axel anfangs sehr schüchtern, ängstlich, auch misstrauisch, insgesamt aber keineswegs situationsinadäquat. Es bestand eine deutliche Artikulationsstörung. Bei emotional brisanten Themen war der Jugendliche nur schwer zu verstehen, sodass man nachfragen musste. Schnell wurde deutlich, dass Axel nur über einen niedrigen Selbstwert verfügte. Er schäme sich, nur mit Mühe schreiben und lesen zu können. Die Frage, ob denn alle anderen Schüler der Berufsschule, die er im Übrigen nur selten aufsuchte, lesen und schreiben könnten, beantwortete er mit der resignativen Aussage: »Manche sind auch so doof wie ich und können nicht richtig lesen.«

Axel machte keinen Hehl daraus, wie sehr er sich derzeit bei der Arbeit in der Behinderteneinrichtung wohlfühlte. Er wirkte geradezu glücklich. Seit einigen Wochen laufe für ihn eine Arbeitserkundungsmaßnahme im handwerklichen Bereich. Das mache ihm richtig Spaß. Allerdings schaffe es die Mutter manchmal nicht, ihn morgens aus dem Bett zu bringen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs stellte sich heraus, dass Axel vorzugsweise an solchen Tagen nicht aufstand, an denen der Besuch der Berufsschule anstand. Es wurde deutlich, wie sehr sich Axel schämte, nicht richtig lesen zu können, und wie wichtig es ihm war, diese Tatsache zu verbergen. So frage er auch nie nach, um sich nicht offenbaren zu müssen. Im Zweifelsfall würde er vieles unterschreiben, auch ohne den Text gelesen zu haben. Auch würde er sich keiner Ausbildung unterziehen, bei der man rechnen müsse. Mit dem Rechnen habe er es nämlich nicht so.

Axel schätzte sich selbst als »eigentlich friedlichen Typ« ein. »Aber nicht, wenn man mich nervt«, ergänzte er. Es dauere aber schon lange, bis es so weit sei. Auf die Frage, was denn passieren müsse, dass er sich schlage, antwortete Axel, dass es dazu komme, wenn man ihn »Hurensohn« nenne oder wenn man ihn auf seine Leseschwäche anspreche. Überhaupt solle dies niemand erfahren. Früher hätten sich seine Kumpel über ihn lustig gemacht. Das passiere aber nun nicht mehr.

Zu den ihm vorgeworfenen Delikten befragt, gab Axel an, dass die Anklage so nicht stimme. Er sei zwar dabei gewesen, sei aber nie selbst gefahren. Er habe immer nur »Schmiere gestanden«. Die kurze Zeit in der Untersuchungshaft sei für ihn ganz schlimm gewesen. Er habe sich vorgenommen, nunmehr »keinen Scheiß« mehr zu machen. Auch mit seiner Clique wolle er nichts mehr zu tun haben.

Der Sinn bzw. die Funktion von Axels delinquentem Handeln war dem Gericht unschwer zu vermitteln. Axel versuchte offensichtlich mit seinen Delikten, sich der eigenen Handlungskompetenz zu versichern und die Anerkennung vonseiten seiner Gleichaltrigengruppe zu erreichen. Dies gelang ihm allerdings nur ansatzweise. Axel dürfte vorzugsweise doch nur zum Schmierestehen abkommandiert worden sein. Bei der Ausübung dieser eigentlich durchaus verantwortungsvollen Tätigkeit, mit der allerdings nur die eher weniger cleveren Mitglieder einer delinquenten Clique betraut werden, ließ sich Axel denn auch von der Polizei erwischen. Im Unterschied zu seinen Kumpanen gelang es ihm nicht, sich rechtzeitig davonzumachen.

Dem dissozialen Verhalten war mithin die Funktion zuzuschreiben, das Selbstkonzept zu stärken, das nicht zuletzt durch das schulische Versagen deutlich beeinträchtigt war. Axels Delinquenz lässt sich als Selbsthilfeversuch ansehen, gelang es ihm doch dadurch, von den Mitgliedern seiner Clique als durchaus ernst zu nehmender Gesprächspartner akzeptiert zu werden. Zumindest in der Kommunikation dort erlebte sich Axel als ausreichend sicher adressiert. Dieses Erleben eignete sich nur allzu gut, sein Selbstwertgefühl zu steigern, hängt doch der Selbstwert entscheidend ab von der Einschätzung der eigenen Adressabilität (vgl. Fuchs 1997). Die gleiche Funktion kam allerdings auch seinem prosozialen Verhalten anlässlich der Ableistung der ihm auferlegten Sozialstunden in der Behinderteneinrichtung zu. Diese Tätigkeit brachte ihm offensichtlich die Anerkennung aller Beteiligten ein. Hierbei bewies der Jugendliche eine in Anbetracht der Aktenlage überraschend hohe soziale Kompetenz. Hätte die Möglichkeit bestanden, dass Axel weiterhin in der Behinderteneinrichtung hätte tätig sein können, wäre seine Weiterbeschäftigung dort sicherlich eine Erfolg versprechende therapeutische bzw. präventive Intervention gewesen.

Aufgrund der eindrücklichen funktionalen Äquivalenz von dissozialen, delinquenten Verhaltensweisen einerseits und prosozialen Handlungen andererseits verzichtete das Jugendgericht in seinem Urteil auf eine härtere Bestrafung, zumal die Durchführung einer Berufsfindungsmaßnahme im sozialen Bereich gesichert schien.

1.2Überblick

Die Geschichte des 17-jährigen Axel lässt sich durchaus als exemplarisch für eine dissoziale Entwicklung ansehen. An ihr lassen sich einige zentral bedeutsame Themenbereiche diskutieren, die zum Verständnis der Entstehung von Dissozialität und zur Planung von Interventionen mit ihr beitragen und auf die in den folgenden Kapiteln eingegangen werden soll.

In Kapitel 2 geht es neben terminologischen Fragen um die Überlegung, in welchen Funktionssystemen eine dissoziale Problematik thematisiert wird. Bei Axel handelt es sich um einen Jungen, der mit seinem dissozialen Handeln gegen die Normen verstößt. Um diese Normen wusste der Junge zweifellos. Sein von den etablierten Verhaltensregeln abweichendes Verhalten wird in mehreren Subsystemen der Gesellschaft nach den dort jeweils geltenden Kommunikationsregeln unterschiedlich thematisiert. So wurde im Erziehungssystem bei dem Jungen ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. Im Medizinsystem erhielt er die Diagnose Störung des Sozialverhaltens bei multiplen Teilleistungsschwächen. Im Funktionssystem der Sozialen Hilfe wurde der Mutter Erziehungshilfe angeboten. Die kostenintensive Fremdplatzierung scheiterte allerdings am hinhaltenden Widerstand des Jungen.

Da es in diesem Band um therapeutische Interventionen geht, mithin um Operationen des Krankenbehandlungssystems, soll in Kapitel 3 das »klinische« Erscheinungsbild von Dissozialität beschrieben werden. Axels dissoziales Verhalten umfasst neben einer offen geäußerten Aggressivität auch Diebstähle und Einbrüche. Diese heimlichen Delikte beging der Junge niemals alleine, sondern jeweils in Gesellschaft einer delinquenten Clique. Bei Axel bestanden weitere psychische Auffälligkeiten oder Störungen im Sinne einer Komorbidität, wie etwa die Teilleistungsschwächen, aber auch seine zumindest zeitweilig subdepressive Verfassung, die sich in einem parasuizidalen Handeln ausdrückte.

In Kapitel 4 geht es aus einer entwicklungspsychopathologischen Perspektive vor allem um die Risikofaktoren, die eine dissoziale Entwicklung begünstigen. Bei Axel war es der fast vollständige Vaterverlust nach der Trennung seiner Eltern. In der Folgezeit zeigte der Junge Verhaltensauffälligkeiten, die seine Mutter mit dem Verhalten ihres geschiedenen Mannes verglich. Axel hatte augenscheinlich die Rolle seines nunmehr abwesenden Vaters im Sinne eines kollusiven Partnersubstituts übernommen. Auch das Aufwachsen in einer kriminalitätsbelasteten Nachbarschaft seines Stadtviertels begünstigte seine dissoziale Entwicklung. Axel suchte die Nähe zu einer delinquenten Peergruppe. Auch seine gravierenden Teilleistungsschwächen sind als bedeutsame Risikofaktoren zu nennen.

Kapitel 5 thematisiert die unterschiedlichen Erklärungsmodelle für dissoziale Verhaltensstörungen. Die Methode der funktionalen Analyse wird vorgestellt, die ein systemtheoretisches Problemverständnis für dissoziales Handeln ermöglicht. Dieser Methode, die das Schema Problem/Problemlösung einsetzt, kommt ein zentraler Stellenwert in der vom Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann vorgelegten differenztheoretisch konzipierten Theorie autopoietischer Systeme zu. Dabei geht es darum, das Problem zu beschreiben, für welches das dissoziale Verhalten als Problemlösungsversuch infrage kommt. Dieses Vorgehen ermöglicht es, nach Alternativen zu suchen, die zwar funktional äquivalent, aber für die betreffende Person wie auch für ihre Umgebung weniger schädlich sind. So bestand bei Axel ein gravierendes Selbstwertproblem. Mit seinen dissozialen und kriminellen Aktivitäten suchte er den selbstwertsteigernden Anschluss an die Gleichaltrigengruppe. So sollte die Delinquenz ihm als Selbsthilfeversuch eine ausreichend sichere Adresse in der Kommunikation garantieren. In diesem Fall ließ sich zudem eine bemerkenswerte funktionale Äquivalenz von dissozialem und prosozialem Verhalten beobachten.

Das Kapitel 6 beginnt mit einer knappen Übersicht über die Interventionen, die von unterschiedlichen Therapierichtungen in unterschiedlichen Settings angeboten werden. Die funktionale Analyse macht verständlich, warum Interventionsformen oder Therapieprogramme erfolgsversprechend sind, vermag aber auch zu erklären, warum sich Probleme mit Dissozialität immer wieder, wie auch im Falle von Axel, als therapieresistent erweisen. Es schließen sich Vorschläge für eine systemische Psychotherapie beim Vorliegen einer dissozialen Problematik an, wobei sich die funktionale Analyse als handlungsleitend erweist. Diese Form der Psychotherapie versteht sich insofern als systemisch, als sich ihre Methoden und Techniken, gleich ob individual- oder familientherapeutisch eingesetzt, systemtheoretisch begründen lassen.

Anmerkungen zum Nutzen der funktionalen Analyse beschließen in Kapitel 7 den Band.

2Kinder und Jugendliche, die sich dissozial verhalten – eine schwierige Klientel

Kinder und Jugendliche, die sich dissozial verhalten, stellen ihre Mitmenschen mit ihrem Tun vor beträchtliche Probleme. Das erschwert schon den alltäglichen Umgang mit ihnen, der daher nach Möglichkeit gemieden wird. Sofern dies nicht gänzlich möglich ist, empfiehlt es sich jedenfalls, Vorsicht walten zu lassen. Das Thema Dissozialität lässt denn auch kaum jemanden kalt. Geht es um Dissozialität bei Minderjährigen, kommt es noch zu einer weiteren Emotionalisierung, als ob man gerade von jungen Menschen ein solches, die normativen Erwartungen enttäuschendes Verhalten nicht erwarten würde. Werden wir mit deren abweichendem, delinquentem oder kriminellem Verhalten konfrontiert, empören wir uns. Offensichtlich erleichtert es diese affektive Aufladung, an den eigenen normativen Erwartungen auch in einem solchen Enttäuschungsfall festhalten zu können. Man darf sich dann versichern, ein sozial angemessenes Verhalten erwartet zu haben, und wird seine Erwartungen nicht zur Disposition stellen müssen. Schließlich hat sich doch der andere falsch verhalten.

Affekte bewirken einen Handlungsdruck. Maßnahmen werden vorgeschlagen, Sanktionen gefordert. Die Emotionalisierung lässt den Grad der »gefühlten« Bedrohung ansteigen mit der Folge, dass die Häufigkeit von Dissozialität und Delinquenz überschätzt wird. Den sachlichen, um Objektivität bemühten Angaben etwa von sozialwissenschaftlicher Seite wird dann mit Misstrauen begegnet. Mit seinen Ängsten und Sorgen fühlt man sich nicht ernst genommen. Vor allem sogenannte Intensivtäter fesseln die Aufmerksamkeit, erst recht wenn sie das Alter der Strafmündigkeit von 14 Jahren noch nicht erreicht haben. Die skandalisierende Berichterstattung lässt denn auch die Auflagen der einschlägigen Massenmedien vorhersehbar in die Höhe schnellen.

Nicht nur »Normalbürger«, sondern auch professionelle Helfer, seien es Erzieher, Lehrer, Sonderpädagogen, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten und/oder Kinderpsychiater, haben mit dissozialen Kindern und Jugendlichen ihre liebe Not, werden doch die Erfolgsaussichten ihrer erzieherischen und therapeutischen Bemühungen in der wissenschaftlichen Literatur zumeist als bescheiden eingeschätzt. Verhalten sich die Kinder und Jugendlichen im Erwachsenenalter immer noch dissozial, soll ihnen denn kaum noch zu helfen sein. Da Erwachsene, bei denen wegen ihres gewohnheitsmäßigen dissozialen Verhaltens die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung gestellt wird, meist bereits im Kindesalter auffällig waren, stellt sich die Frage, ob und durch welche Hilfemaßnahmen sich ein solch prekärer Verlauf verhindern ließe. Dass eine frühzeitige Prävention im frühen Kindesalter wünschenswert wäre, bedarf dabei keiner weiteren Ausführungen.

2.1Terminologie

Schon begrifflich bereitet dissoziales Verhalten bzw. Handeln von Kindern und Jugendlichen einige Probleme. Unter Dissozialität wird im Allgemeinen eine lang anhaltende bis stabile und sich auf weite Verhaltensbereiche erstreckende Neigung verstanden, fundamentale Rechte anderer Menschen zu verletzen und somit von den in der Gesellschaft bestehenden normativen Verhaltenserwartungen in negativer Weise abzuweichen. Als dissozial wird mithin eine Person nur dann bezeichnet, wenn sie nicht nur einmalig oder gelegentlich in ihrem Handeln gegen die gesellschaftlichen Normen verstößt, sondern wenn sie dies häufig oder gar gewohnheitsmäßig tut, sodass auf das Bestehen einer Neigung oder Verhaltenstendenz bzw. auf ein Persönlichkeitsmerkmal geschlossen werden kann. Daher erscheint es auch nicht angebracht, Kinder und Jugendliche als dissozial zu bezeichnen, da in einem jungen Alter noch nicht von einem stabilen Persönlichkeitsmerkmal bei abgeschlossener Persönlichkeitsentwicklung gesprochen werden kann. Im Folgenden soll es daher um Kinder und Jugendliche gehen, die sich dissozial verhalten und bei denen ein beträchtliches Risiko besteht, dass sie sich zu dissozialen Erwachsenen entwickeln. Zudem erhalten Personen auch nur dann das Etikett »dissozial«, wenn sie umfassend gegen die Normen verstoßen, d. h., wenn ihr abweichendes Handeln nicht nur auf einen eng umschriebenen Bereich begrenzt ist. Daher rechtfertigt etwa das kriminelle Handeln von Bankern oder Automobilherstellern alleine nicht das Persönlichkeitsmerkmal der Dissozialität.

Dissoziales Handeln verletzt und enttäuscht normative Erwartungen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass an ihnen auch im Enttäuschungsfalle festgehalten wird. Im Unterschied dazu zeigt man sich bei kognitiven Erwartungen im Enttäuschungsfalle durchaus lernwillig und ist bereit, diese zu ändern. Typischerweise betrifft dissoziales Handeln Erwartungen, an deren Normativität nicht zu zweifeln ist und deren Berechtigung daher weder der dissozial Handelnde noch ein außenstehender Beobachter infrage stellt. In der Tat weiß »schon jedes kleine Kind«, dass es beispielsweise das Eigentum eines anderen Kindes nicht »einfach so« wegnehmen darf, dass es die körperliche Unversehrtheit der Spielkameraden zu achten hat oder dass Tiere nicht zu quälen sind. Wie in Kapitel 5 noch ausgeführt wird, ist der Sinn, ist die Funktionalität von Dissozialität gerade an das Wissen um die Nichtnormativität dieses Handelns gebunden.

Der Begriff Dissozialität bezieht sich also auf eine Verhaltenstendenz oder auf ein Persönlichkeitsmerkmal. Insofern unterscheidet er sich von den Begriffen Auffälligkeit und Abweichung wie auch von den beiden juristischen Begriffen Delinquenz und Kriminalität, mit denen jeweils ein Verhaltensmerkmal bezeichnet wird (Specht 1985, S. 276 ff.). Dort werden Verhaltensweisen als auffällig bezeichnet,

»wenn sie den Erwartungen maßgeblicher Beziehungspartner oder Bezugsgruppen derart zuwiderlaufen, dass diese sich aufgrund ihrer subjektiven Einschätzung beunruhigt fühlen und entsprechend reagieren«.

Als abweichend oder deviant werden solche Verhaltensweisen benannt,

»die nach Meinung der Mehrheit innerhalb einer Gesellschaft oder innerhalb eines ihrer Subsysteme als unerwünscht missbilligt werden«.

Als delinquent gelten Handlungen,

»die als sozialschädlich beurteilt werden und deswegen ein Eingreifen notwendig erscheinen lassen«.

Schulschwänzen, das Komasaufen von Schülern oder das inzwischen ebenfalls populäre Bullying wären Beispiele für delinquentes Handeln. Handlungen, die zudem noch

»nach den Gesetzen mit Strafe bedroht sind«,

werden als kriminell bezeichnet. Haben dissoziale Kinder mit 14 Jahren das Alter der Strafmündigkeit erreicht, wird mit ihnen – und oft genug nur über sie – im Rechtssystem verhandelt, sofern sie mit ihrem dann kriminellen Handeln gegen gesetzliche Normen verstoßen haben.

Weitgehend synonym mit Dissozialität wurde früher der heute allerdings sozialpädagogisch nicht mehr korrekte, weil offenbar doch allzu diskriminierende Begriff der »Verwahrlosung« verwendet, der für ein »fortgesetztes und allgemeines Sozialversagen« (Hartmann 1970, S. 5) steht. Diese Sprachregelung mag man insofern bedauern, als dieser Begriff doch auf eine ätiologisch wichtige Einsicht verwies. Das Wort »Verwahren« leitet sich nämlich vom althochdeutschen »wara« ab, das »Acht« oder eben »Aufmerksamkeit« bedeutet. Daher bezeichnete das Verb »verwahrlosen« ursprünglich einen transitiven, aktiven Vorgang. Mithin verwahrlosen Eltern ihre Kinder dann, wenn sie diesen nicht die ihnen zustehende Sorge, Achtung und Aufmerksamkeit entgegenbringen. Ein solcher Sachverhalt liegt bei sich dissozial entwickelnden Kindern und Jugendlichen zumeist vor. Der Begriff »verwahrlost« findet sich zudem auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. So heißt es im § 6 Abs. 3 GG:

»Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.«

Diesen Bedeutungswandel kommentiert Hartmann (1973, S. 557) schon seinerzeit, es scheine,

»als ob das Bewußtsein für die Verantwortlichkeit der Erzieher im Laufe der Zeit aus dem Bedeutungsfeld der Verwahrlosung verdrängt worden«

sei.

In der Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaft wird für die dissozialen Verhaltensauffälligkeiten zumeist der Begriff »Verhaltensstörung« verwendet, der sich definieren lässt als

»ein von den zeit- und kulturspezifischen Erwartungsnormen abweichendes maladaptives Verhalten, das organogen und/oder milieureaktiv bedingt ist, wegen der Mehrdimensionalität, der Häufigkeit und des Schweregrades die Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie das Interaktionsgeschehen in der Umwelt beeinträchtigt und ohne besondere pädagogisch-therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend überwunden werden kann« (Myschker u. Stein 2014, S. 51).

Im Schulsektor des Erziehungssystems äußert sich die terminologische Unübersichtlichkeit schon in den unterschiedlichen Bezeichnungen für die besondere Schulform, die Schülern zugedacht ist, die das Unterrichtsgeschehen in der Regelschule allzu sehr stören und deren Anwesenheit daher ihren Mitschülern wie auch ihren Lehrern nicht zugemutet werden soll. Je nach Bundesland sollten solche Schüler zumindest die Schule oder Förderschule für Erziehungshilfe, die Sonderschule für Verhaltensgestörte, die Schule für Erziehungsschwierige oder die Schule mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung besuchen. Gerade bei der zuletzt genannten Bezeichnung wird deutlich, wie sehr die unvermeidlich stigmatisierende Exklusion aus der Regelschule das pädagogische Gewissen strapaziert. Zumindest der Bezeichnung für diese Form der Sonderschule ist eine inklusive Konnotation nicht abzusprechen. Schließlich wird die Zahl derjenigen Schüler doch überschaubar sein, bei denen sich ein Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung ausschließen ließe, wobei auch hier das bekannte Haribo-Motto (»… und Erwachsene ebenso«) gelten dürfte.

Mit den Schwierigkeiten, das Verhalten dissozialer Kinder und Jugendlicher in einem Begriff zu fassen, korrespondieren die Probleme, die sich im Umgang mit diesen auftun. Erweist sich schon der bloße Umgang, die alltägliche Kommunikation mit den betreffenden Kindern und Jugendlichen als problematisch, nehmen die Probleme noch zu, wenn es darum geht, ihnen professionell helfen zu sollen, sei es in einem pädagogischen, sei es in einem therapeutischen Kontext. Bei Kindern und Jugendlichen, die sich dissozial verhalten, handelt es sich denn auch um eine ausgesprochen schwierige Klientel.

2.2Dissozialität und Interventionsbedarf

Ohne Zweifel begründet Dissozialität einen hohen Interventionsbedarf. Das dissoziale Handeln schädigt nicht nur die psychosoziale Entwicklung der betreffenden Kinder und Jugendlichen, sondern ist mit seelischem und materiellem Leid bei den geschädigten Mitmenschen innerhalb und außerhalb ihrer Familien verbunden. Darüber hinaus bedeuten die dissozialen und aggressiven Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen enorme volkswirtschaftliche Kosten. Kein anderes Problemverhalten dürfte letztlich so schädlich sein. Insofern besteht bei diesen Kindern und Jugendlichen »objektiv« ein großer Hilfebedarf trotz oder vielleicht wegen der oft fehlenden Problemeinsicht und vor allem einer fehlenden Bereitschaft, das eigene Verhalten zu ändern.

Als individuelle negative Folgen dissozialen Handelns seien Schulprobleme bis hin zu einem völligen Schulversagen genannt. So macht eine externalisierende Störung bei Jugendlichen das Erreichen eines Bildungsabschlusses deutlich weniger wahrscheinlich. Arbeitslosigkeit droht. Dissoziale Jugendliche sind in hohem Maße somatisch krankheitsanfällig. Auch finden sich bei ihnen häufig Drogenprobleme und andere psychische Störungen. Bisweilen spricht man von komorbiden Störungen, wobei allerdings zu bedenken ist, dass der Begriff Komorbidität1 impliziert, dass es sich bei Dissozialität um eine Krankheit handelt.

Dissozialität ist von erheblicher gesundheitsökonomischer Relevanz. Die Lebenserwartung bei dissozialen Menschen ist insgesamt deutlich verkürzt. Durch Dissozialität entstehen immense Kosten, denkt man an die Ausgaben für Fachpersonal in Förderschulen, Heimeinrichtungen, Haftanstalten oder psychiatrischen Kliniken, wenn der betreffende Jugendliche erst einmal eine delinquente und kriminelle Karriere eingeschlagen hat. In einer englischen Längsschnittuntersuchung wurden die Kosten geschätzt, die der Gemeinschaft durch Kinder, die im Alter von 10 Jahren wegen ihres dissozialen Verhaltens auffällig wurden, bis zum Alter von 28 Jahren entstehen, im Vergleich zu den Kosten, die sich bei der Versorgung unauffälliger Kinder ergeben (Scott et al. 2001). Demnach waren die Ausgaben der öffentlichen Hand für die Gruppe der Kinder, die mit dissozialem Verhalten auffielen, um ein 10-Faches höher. Als besonders kostenintensiv erwies sich das kriminelle Verhalten, gefolgt von den Kosten für sondererzieherische Maßnahmen wie auch für eine Fremdplatzierung in einer Pflegefamilie oder Heimeinrichtung.

2.3Eine schwierige Hilfekommunikation

Es besteht die Gefahr, dass Hilfekommunikation bei diesen Kindern entweder gar nicht erst zustande kommt oder dass sie verzerrt abläuft. Dabei können sich die Kommunikationsprobleme zum einen intrasystemisch im Kommunikationssystem der Sozialen Hilfe bzw. des Medizinsystems jeweils zwischen den professionellen Helfern und ihren Klienten oder Patienten bemerkbar machen. Zum anderen kann es auch zu intersystemischen Kommunikationsproblemen kommen, so etwa zwischen den Helfern aus der Sozialen Arbeit, dem Erziehungssystem oder dem Gesundheits- bzw. Medizinsystem, das sich auch als Krankenbehandlungssystem bezeichnen lässt, in welchem unter anderem Psychotherapie stattfindet.

Helfen ist absichtsvolle Kommunikation. Diese Kommunikation erfolgt, um beim Adressaten eine Veränderung herbeizuführen, und zwar die Behebung oder Linderung einer bestehenden Mangelsituation. Dabei handelt es sich letztlich um eine »defizitäre Teilnahmechance in gesellschaftlicher Kommunikation« (Baecker 1994), welche es dem betreffenden Individuum erschwert oder unmöglich macht, an den unterschiedlichen Funktionssystemen der Gesellschaft teilzunehmen. Die Leistung der Sozialen Arbeit besteht darin, die Inklusionschancen des Adressaten zu rehabilitieren und/oder dessen Adressabilität zu reorganisieren (Fuchs 2000, S. 162).

Die differenztheoretische Systemtheorie postuliert eine streng überschneidungsfreie Operationsweise der autopoietischen Systeme, die sich mithilfe ihrer Elemente, aus denen sie bestehen, immer selbst reproduzieren. Daraus folgt, dass ein autopoietisches System wie etwa das kommunikative Hilfesystem ein anderes autopoietisches System nicht direkt zu instruieren vermag. Wenn aber die Aufgabe der Sozialen Arbeit gerade darin besteht, Probleme zu bearbeiten, die in anderen Funktionssystemen anfallen, muss sich die Frage stellen, wie sich die Bearbeitung von Inklusionsproblemen und damit erfolgreiche Hilfe überhaupt vorstellen lässt. Hierfür bietet sich der Begriff der »strukturellen Kopplung« an, der auf die spezifischen Zusammenhänge zwischen einem System, in diesem Fall dem System Soziale Arbeit, und einem anderen System in dessen Umwelt, hier dem psychischen System des als hilfsbedürftig beobachteten Adressaten, abzielt. Soll die Hilfekommunikation erfolgreich sein, muss sich das an diese Kommunikation strukturell gekoppelte psychische System des Hilfsbedürftigen irritieren lassen und diese Irritation zum Anlass nehmen, sich helfen zu lassen. Es muss sich mithin an seine kommunikative Umwelt anpassen, d. h. seine Erwartungsstrukturen so verändern, dass seine Inklusionschancen verbessert und die Gefahr einer sich generalisierenden Exklusion (vgl. Fuchs u. Schneider 1995) gebannt wird.

Somit ist Helfen aus systemtheoretischer Sicht

»eine Kommunikation, die darüber informiert, dass ein Defizit besteht, mitteilt, dass dieses Defizit behoben werden soll, und verständlich macht, dass zwischen dem Bestehen eines Defizits und seiner Behebung nicht etwa ein kausal verlässlicher, sondern ein höchst kontingenter Zusammenhang besteht« (Baecker 1994, S. 99).2

Da das psychische System des Klienten die Kriterien vorgibt, »unter denen es bereit ist, sich beeindrucken zu lassen« (Willke 1987, S. 333), entscheidet über den Erfolg von Hilfsbemühungen mithin in erster Linie das an die Hilfekommunikation strukturell gekoppelte psychische System des Adressaten. Wechselt man auf die psychologische Referenzebene, hat man zu akzeptieren, dass der Erfolg seiner Bemühungen für den Helfer letztlich unkalkulierbar ist. Dadurch bleibt Hilfe unsicher und kontingent, ist ihre Zielerreichung nicht zu kontrollieren. Schließlich lassen sich psychische Systeme nicht als Trivialmaschinen auffassen, welche auf den gleichen Input stereotyp den gleichen Output produzieren, sondern sind allenfalls mit nichttrivialen Maschinen zu vergleichen, deren Reaktionen bestimmt werden von ihren jeweiligen inneren Zuständen, mithin von ihrer Lerngeschichte und dem sich entlang der Biografie entwickelnden Selbstkonzept. Daher sind die Reaktionen der Hilfeadressaten grundsätzlich nicht vorherzusehen.

Allerdings können es sich professionelle Helfer kaum leisten, ihre Klienten stets als nichttriviale Maschinen zu behandeln. Schließlich sind sie schon zur Aufrechterhaltung ihrer eigenen Motivation und der ihrer Geldgeber auf einen Erfolgsnachweis bezüglich ihrer Hilfebemühungen angewiesen. Sie sind also letztlich davon abhängig, dass sich ihre Klienten helfen lassen. Sie müssen mithin davon ausgehen können, dass diese sich hinreichend trivialisieren lassen bzw. sich selbst trivialisieren, mit anderen Worten, dass deren psychisches System nicht gegen die ihm mitgeteilte Hilfeabsicht interveniert. Stößt schon jede professionelle Intervention »aufgrund ihrer Zielgerichtetheit sogleich an die Rezeptionsbarrieren seiner Klienten« (Merten 2000, S. 194), dürfte sich dieses Problem bei der Arbeit mit sich dissozial verhaltenden Kindern und Jugendlichen besonders nachdrücklich bemerkbar machen.

Da sich Hilfe aus einer systemtheoretischen Perspektive immer nur als Selbsthilfe verstehen lässt, kann es für die professionellen Helfer nur nützlich sein, sich über den Adressaten der Hilfekommunikation zu informieren, um die Erfolgswahrscheinlichkeit der eigenen Bemühungen zu erhöhen. So dürfte bei dissozialen Kindern und Jugendlichen gerade eine erfolgreiche Motivierung darüber entscheiden, ob die Intervention sich als hilfreich erweisen wird. Nach Fuchs (2000, S. 164) besteht die Spezifik sozialer Arbeit darin, dass sie ihr Augenmerk darauf richtet, wie in der Hilfekommunikation mit der Mitteilung, es solle geholfen werden, umgegangen wird. Diese Beobachtung ist ausgesprochen informativ. Insofern gehört zum Helfen auch die Förderung der Motivation zur Annahme von Hilfe.

Kinder und Jugendliche, bei denen wegen ihrer dissozialen Verhaltensauffälligkeiten eine Hilfemaßnahme für indiziert gehalten wird, sind in der Regel wenig oder gar nicht motiviert, sich helfen zu lassen. Hilfsbedürftigkeit konzedieren sie kaum jemals. Sie halten sich schließlich keineswegs für »Opfer«. Diese Kinder und Jugendlichen verhalten sich immer wieder ausgesprochen hilfeaversiv. Da ohne eine Problemeinsicht auch keine Veränderungsabsicht bestehen dürfte, gehören sie zu den eher unbeliebten Klienten. Überdies missachten sie häufig die Regeln einer Hilfekommunikation, die asymmetrisch konfiguriert ist. So tun sie sich ebenso schwer damit, in einer Praxis oder Beratungsstelle die Rolle von Rat- oder Hilfesuchenden bzw. gar von Patienten zu übernehmen, wie sie sich in der Schule schwertun, die Schülerrolle zu übernehmen. Kinder und Jugendliche, die sich dissozial verhalten, eignen sich auch deshalb nur schlecht als Klientel einer freien Praxis, weil der Therapeut nie sicher sein kann, ob diese den vereinbarten Termin tatsächlich wahrnehmen. Es drohen insofern finanzielle Verluste. Mitarbeiter einer Institution können sich ein solch riskantes Hilfsangebot eher leisten.

Insofern können professionelle Helfer davon ausgehen, dass eine Hilfekommunikation dann zustande kommt, wenn sie ihre Hilfe im Rahmen eines unfreiwilligen Aufenthalts anbieten, wie vor allem in Heimen der Erziehungshilfe, in psychiatrischen Kliniken oder in Haftanstalten. Da die kommunikativen Möglichkeiten in einer solchen Umgebung jedoch mehr oder weniger eingeschränkt sind, kann sich der Psychotherapeut allerdings nie sicher sein, ob das von seinem Klienten gegebenenfalls bekundete Interesse an einer Beteiligung an der Hilfekommunikation nicht nur dem Mangel an hinlänglich attraktiven Alternativen geschuldet ist, ob mithin tatsächlich eine echte Motivation und eine ernst gemeinte, »authentische« Absicht besteht, sich helfen lassen zu wollen. Auch befördert gerade der Zwangskontext den Verdacht auf das Vorliegen einer eher opportunistischen Motivlage beim Klienten im Sinne eines »Anschleimens«.

In solchen Institutionen gefährden dissoziale Kinder und Jugendliche die narzisstische Balance ihrer Helfer, besteht doch für diese ein besonders hohes Risiko, als Helfer nicht anerkannt zu werden und in der Hilfekommunikation unadressiert zu bleiben. Diese Nichtanerkennung als Helfer kann beschämen. Solchermaßen am Helfen gehinderte Helfer werden sich schnell selbst hilflos vorkommen, können sie doch ihr Hilfsangebot nicht erfolgreich adressieren. Eine unsichere Adressierung als Helfer dürfte der Motivation zu helfen nicht gerade förderlich sein. Verschärft werden diese Motivationsprobleme aufseiten der Helfer, wenn sie von ihren dissozialen »Nicht-Klienten« zwar schon adressiert werden, dies allerdings in negativer, abwertender Hinsicht. Ihr Hilfeangebot mag brüsk abgelehnt oder gar lächerlich gemacht werden.

Offensichtlich bereitet das Hilfsangebot mit der für Hilfe konstitutiven Asymmetrie manchen Kindern und Jugendlichen so große Probleme, dass sie meinen, zur Problemlösung den »Spieß umdrehen« zu müssen, und ihre bereits frustrierten Helfer kränken und verletzen. Diesbezüglich demonstrieren sie immer wieder durchaus beachtliche Fähigkeiten, persönliche Schwachpunkte bei ihren Helfer aufzuspüren und diesen Fund für ihre Ziele zu nutzen.

2.4Die therapeutische Allianz

Aus alledem lässt sich schließen, dass der Psychotherapeut auch für den Fall, dass am »objektiv« bestehenden Hilfebedarf bei seinem sich dissozial verhaltenden Klienten nicht zu zweifeln ist, gut daran tut, bei diesem nicht ohne Weiteres die Annahmebereitschaft bezüglich seines Hilfsangebotes oder gar die Existenz eines Arbeitsbündnisses anzunehmen. Nun lassen aber die Ergebnisse der empirischen Psychotherapieforschung keinen Zweifel daran, dass der Erfolg von Psychotherapien in hohem Maße von der Qualität der therapeutischen Beziehung abhängt, für die auch die Begriffe der hilfreichen oder therapeutischen Allianz stehen. Die therapeutische Allianz, unter der eine intensive, emotional geladene und vertrauensvolle Beziehung zu einer hilfreichen Person zu verstehen ist, gehört zu den sogenannten kommunalen, d. h. allen unterschiedlichen Verfahren gemeinsam zugrunde liegenden Wirkfaktoren von Psychotherapie. Eine solche vertrauensvolle Beziehung ist nicht nur für den Erfolg psychodynamisch orientierter Psychotherapieformen eine kritische Variable, sondern offensichtlich für den Erfolg aller psychotherapeutischen Interventionen, mithin auch der systemischen Psychotherapie (Loth a. von Schlippe 2004). Insofern lässt sich für die therapeutische Allianz ein »pantheoretischer« Anspruch (Bordin 1979) reklamieren.

Bei der psychotherapeutischen Arbeit mit sich dissozial verhaltenden Kindern und Jugendlichen sollte deshalb besonders sorgsam geprüft werden, inwieweit eine tragfähige therapeutische Allianz besteht oder ob sich die Herstellung einer solchen zumindest erwarten lässt. Dabei ist davon auszugehen, dass sich diese besondere therapeutische Arbeitsbeziehung bei Kindern und Jugendlichen in mancher Hinsicht von der bei erwachsenen Klienten unterscheidet. Im Unterschied zur Psychotherapie mit Erwachsenen suchen Kinder und Jugendliche doch eher selten von sich aus einen professionellen Helfer auf. Vielmehr werden sie in der Regel geschickt, zumeist von ihren Eltern, aber bisweilen auch von professionellen Pädagogen. Daher lässt sich eine Übereinstimmung zwischen dem Helfer und seinem jungen Klienten bezüglich des Ziels dieses Hilfeunternehmens nicht unbedingt voraussetzen. Umso wichtiger ist daher der affektive Beziehungsaspekt des therapeutischen Arbeitsbündnisses: »Die Chemie muss stimmen!«