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Eulenspiegel Verlag –
eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-359-50088-9

ISBN Print 978-3-359-01144-6

1. Auflage 2019

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin,
unter Verwendung eines Motivs von Peter Brasch

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Berlin-Prenzlauer Berg, neunziger Jahre: Der seine Wohnung nicht mehr verlassende Schriftsteller Brasch trifft unter ungeklärten Umständen auf den sizilianischen Totengräber und Kirchturmglöckner Gianluca. Dieser musste seine Arbeit aufgeben, weil die Höhenangst von ihm Besitz ergriffen hatte. Womöglich ist das auch der Grund, warum ihn auf seiner Auslandsreise das Rotkehlchen Giorgina, ein junges, abenteuersuchendes und rotweinverliebtes Vögelchen, begleitet. Gianluca macht Brasch ein diabolisches Angebot, das dieser nicht ablehnen kann.

Über den Autor

Peter Brasch wurde 1955 in Cottbus geboren, legte 1974 in Berlin das Abitur ab, nahm ein Germanistikstudium in Leipzig auf und wurde wegen Protests gegen die Biermann-Ausbürgerung exmatrikuliert. Er war als Dramaturg beim Rundfunk, als Regisseur und Übersetzer tätig, schrieb Kinderhörspiele und Stücke; 1999 erschien mit »Schön hausen« sein erster und einziger Roman. Im Juni 2001 wurde Peter Brasch tot in seiner Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg aufgefunden. Er ist der Bruder des Schriftstellers Thomas Brasch, des Schauspielers Klaus Brasch und der Rundfunkjournalistin und Autorin Marion Brasch, die für die Neuausgabe dieses Romans ein Nachwort geschrieben hat.

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1

Am fünfundzwanzigsten Juni neunzehnhundertsechsundneunzig um sechs Uhr und einunddreißig Minuten fiel Gianluca Cardinale auf, dass er an diesem Sonntag nicht zur Arbeit gehen musste. Er hatte seine Anstellung als Kirchturmsglöckner von Checosabello aufgegeben, da er seit einiger Zeit an chronischer Höhenangst litt.

Doch weil es seine Gewohnheit war, zog sich Gianluca trotzdem an, verließ sein Haus und ging die stille Dorfstraße hinunter. Einige nachtschwärmerische Tauben und ein völlig übermüdeter Straßenhund waren die einzigen lebendigen Wesen, denen er begegnete. Gianluca versuchte dem Hund einen Kieselstein in den Hintern zu schießen, aber der Hund kannte auch diese Gewohnheit schon zur Genüge und war außerdem noch nicht müde genug, um dem Stein nicht ausweichen zu können.

Im Nordosten lag die Sonne, färbte den Nebel rot und kündigte einen heißen Tag an.

Warum scheint die Sonne eigentlich nicht nachts? Tagsüber ist es doch sowieso schon hell, dachte Gianluca und schoss einen zweiten Stein, diesmal in Richtung Taubenschwarm. Die Tauben gurrten kaum erschreckt auf, erhoben sich kurz, um sich einige Sekunden später auf demselben Platz niederzulassen.

Gianluca setzte sich auf eine Bank und dachte über seinen Nachfolger nach. Wenn für die Arbeit an der Glocke überhaupt noch ein Nachfolger nötig war, denn wie Gianluca es aus dem Kirchenvorstand hatte läuten hören, sollte bald ein elektronisch betriebenes Glockenspiel eingebaut werden.

Gianluca schlug die Beine übereinander und beobachtete eine einsame Ameise, die versuchte, einen für ihre Statur viel zu großen Zweig aus der Bruchrinne einer Steinplatte zu transportieren. Jeder andere hätte diese Sisyphosarbeit der Ameise laut verlacht und sie vielleicht aus Übermut totgetreten.

Nicht Gianluca. Er versetzte sich in das Innenleben dieser Ameise, und nach längerem Überlegen fiel ihm ein, dass auch seine Arbeit jeglichen Sinns entbehrte: Leute zu einem Dienst für einen Gott in die Kirche zu rufen, einem Gott, der sich nicht mal persönlich zeigte, weiterhin Gräber zu schaufeln, um diese Leute, wenn sie gestorben waren, dem Blick dieses Himmelsgeschöpfes zu entziehen und sie herzurichten, als wären sie nicht tot, sondern würden sich auf ihre Hochzeitsreise begeben. So musste er am kommenden Montag die Signorina Annetta Conspiranza Machiavelli für die Beerdigung präparieren: Waschen, Pudern, Schminken und Kämmen. Ihr schwerbrokatenes Hochzeitskleid hatte er bereits gestern ausgebessert, Eiscremeflecken entfernt, lockere Pailletten festgenäht, den Kragen gesäubert, und zum Schluss hatte er das Kleid gebügelt.

Annetta Conspiranza Machiavelli war die Schwester des Schwagers des Stellvertretenden Bürgermeisters von Checosabello, und dieser wiederum hatte viele enge Verwandte im Ort Corleone, berühmt und berüchtigt als Herkunftsort der Mitglieder einer auf der ganzen Welt bekannten Geheimorganisation. Diese Leute legten größten Wert auf die Kostümierung Annetta Conspiranzas als Braut, obwohl sie in ihrem Erdenleben nie verheiratet war.

Auch ihr Tod hatte eine seltsame Ursache. Auf dem Totenschein, den der Neffe des Bürgermeisters ausgestellt hatte, stand: Ersticken infolge Verschluckens einer Schollengräte.

Gianluca wusste genau, dass das nicht die Ursache war, denn Annetta hatte außer kleinen Sardinen, die sie stets penibel entgrätete, keinen Fisch gegessen. Hätte er jedoch diese Zweifel laut geäußert, hätte er sich gleich neben Annetta legen können – allerdings ungeschminkt und ungewaschen, mit dreckigen Schuhen, einem Loch in der Stirn und einem Zettel auf der Brust: Herzliche Grüße aus Corleone.

Die arbeitslose Ameise, die offensichtlich aus ihrem Staatsverband ausgeschlossen worden war, hatte ihren Zweig humpelnd etwa zwanzig Zentimeter weit getragen und ließ ihn zu Gianlucas Füßen fallen. Dann drehte sie sich um, spreizte ein Bein ab, als sei es ihr beim Tragen eingeschlafen, und ging zurück zu der Stelle, an der noch andere Zweige lagen. Beschäftigung ist alles, dachte Gianluca, man sollte sich nur nicht zu oft Gedanken darüber machen, wozu das gut ist.

Annetta Conspiranza blieben diese Wirrnisse künftig erspart. Unerfindlicher Tod mit knapp achtunddreißig Jahren, sinnlos, wie die allgemeine Rede war, aber gibt es eigentlich einen sinnvollen Tod?

Weitsichtig war sie ihr Leben lang, kurzsichtig ebenso, so dass sie stets mit zwei Brillen durch das Dorf gegangen war, eine für die Gesellschaftsspalte im Bello-Giornale und die andere für die Ferne, wenn sich das, was in der Spalte vorhergesagt wurde, hundert Meter vom Dorfplatz entfernt wirklich zutrug. So verbringt eine bebrillte Jungfrau in Sizilien ihren Lebenszenit, bis der Tod, getarnt als Fischgräte, sie um den Abend bringt, an dem sie vielleicht erfahren hätte, dass sie im fernen Chicago Erbin von drei Millionen Dollar geworden war. Irgendeinen Grund musste dieser Tod schließlich haben, denn nicht mal die beiden Brillen wollten die Verwandten Annetta für das Grab lassen, aus Angst, sie könne bei ihrer Auferstehung etwas sehen, das sie nicht sehen durfte.

Das dachte Gianluca, als er die immer klarer werdende Sonne gegen den Nebel kämpfen sah und beobachtete, wie die Einsameise den nächsten Zweig vor seine Füße schleifte, dort fallen ließ und sich zum dritten Mal der gleichen Tätigkeit zuwandte.

Wenn ich weiter hier sitzen bleibe, werde ich irgendwann glauben, die Einsameise baue im Auftrag der Cosa Nostra einen Scheiterhaufen für die tote Conspiranza, dachte Gianluca und stand auf. Er nahm sich vor, Annetta Conspiranza die beiden Brillen nach der Beerdigung wieder aufzusetzen, sie jeden Tag an ihrem Grab zu besuchen und ihr den Klatsch aus der Zeitung vorzulesen, einschließlich der Basket- und Fußballdivisionsergebnisse, dem Wetterbericht mit Pollenflugalarmstudien (Annetta war Allergikerin und empfindsam gegen Gräser und Linden ) und allgemeiner Weltlage.

Wo liegt diese Welt nur, dachte Gianluca. Irgendwo, an einem Ort, der Checosabello heißt, benannt nach irgendeinem Schönen, der nicht weiß, was los ist, an einem Ort, in dem ich mir morgens früh um sechs Uhr am Sonntag die Stille um die Ohren schlage, einer Einsameise zusehe und über die Folgen des mysteriösen Todes einer potenziellen Braut nachdenke. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Conspiranza mich je im Leben eines ihrer weit- oder kurzsichtigen Blicke gewürdigt hat.

Auf dem Kirchturm hatte sich Gianluca nie gelangweilt. Irgendwelche Kirchturmstiere wie Fledermäuse und Seilfraßratten fanden sich jeden Tag ein, um mit ihm gemeinsam den Blick über Sizilien zu genießen und das Wetter für den kommenden Tag vorherzusagen.

Aber was nützte es Gianluca jetzt, die Weltlage und das Wetter vorhersagen zu können, wenn ihm auf diesem erhöhten Standpunkt schlecht und schwindlig wurde? Woher kam diese plötzliche Höhenangst mit nicht mal vierzig Jahren? War er nicht bescheiden genug? Zum Himmel hoch betrübt und zu Tode jauchzend. Höhenangst und Tiefenkoller. Vielleicht sollte ich besser Streckenwärter bei der höllischen Eisenbahn werden, sang Gianluca, während er über den leeren Platz hüpfte. Noch einmal versuchte er, mit einem Stein eine sich versammelnde Gruppe gurrender Tauben auseinanderzutreiben. Alle flogen auf, nur eine blieb. Sie schien etwas flügellahm und schon sehr alt zu sein, lüpfte gelangweilt und tieftraurig ein Augenlid, klimperte etwas kokett mit einer dreckverklebten Schwanzfeder, als wollte sie sagen: Nimm mich auf deinen Arm, Glockenläuter, und lass uns ein letztes Mal auf deinen Turm steigen, denn allein schaffe ich es nicht mehr. Lass uns zusammen zum letzten Mal einen Blick auf Sizilien werfen, bevor wir für alle Zeiten auf den Boden verdammt werden.

Gianluca wollte der Taube einen Vogel zeigen, doch die Taube neigte den Kopf ein wenig zur Seite und blinzelte in die große Morgensonne.

Ein letztes Mal werde ich es über mich bringen, auch wenn ich den Marktplatz vollkotzen muss, dachte er, nahm die Taube vorsichtig auf den Arm und betrat die Kirche.

Tante Grazie, hauchte eine tiefe, heisere Stimme. Gianluca wollte zurück auf den Platz gehen, weil er Angst bekam, aber die Taube schmiegte sich bettelnd an sein Ohr. Es war keine akustische Täuschung. Die Stimme kam allem Anhör nach aus dem Bauch der Taube.

Es ist mir völlig egal, wer deine Tante ist und wie graziös sie sich in ihrem Leben benommen haben mag. Bitte erschreck mich nicht noch einmal, sonst bringe ich dich statt auf den Turm in die tiefsten Gebeinsgrüfte.

Die Taube gurrte zufrieden und verhielt sich von jetzt an still.

Die Sonne turnte bereits im scharlachroten Tanzkleid über dem Mittelmeer herum, als sie auf dem Kirchturm ankamen. Gianluca setzte sich sofort auf eine Zinne und atmete tief ein. Einen Blick auf die Landschaft zu werfen traute er sich noch nicht. Die Taube dagegen genoss die Aussicht und dachte: Jetzt erst verstehe ich die weitgereisten Zugvögel und ihre scheelen, misstrauischen Blicke auf uns Tauben. Wir haben keine Weitsicht und kümmern uns nur um unseren eigenen Dreck. Wo aber keine Übersicht ist, kann sich ein Vogel keinen Überblick verschaffen.

Sollte dieses Tier laut denken oder hat mir der Aufstieg auf den Turm das Gehör vernebelt, dachte Gianluca. Die Taube drehte den Kopf zu ihm, und es sah so aus, als nickte sie.

Eine dunkle Ahnung wächst in mir, die nähert sich wie diese dunkle Wolke, die da hinten über Arabiens Himmel ihre Freiübungen macht. Ich ahne, da kommt etwas Ungeheures auf uns zu.

Wie bitte, dachte Gianluca, und zog sich vorsichtig an der Zinne hoch, um das Nahen der Wolke zu verfolgen. Er vermied es immer noch, auf den Platz zu sehen.

Die Wolke näherte sich, obwohl kein Wind wehte. Sie wuchs mit dem Näherkommen. Gianluca und die Taube verfolgten dieses Naturereignis mit aufgerissenem Mund beziehungsweise Schnabel. Beide versuchten sich an etwas zu erinnern, aber es gelang ihnen nicht, herauszubekommen, was es war. Die Möglichkeit reichte vom Tag der Geburt, an den sich niemand erinnern kann, bis zu einem Vatermord, den keiner je vergessen würde.

Als die Wolke über dem Kirchturm stehenblieb, staunten sie nicht. Sie erstarrten für den Bruchteil einer Sekunde. Ebenso erstarrte die Luft. Jedes Geräusch verstummte, und die Sonne war für einen Moment nicht zu sehen. Der gesamte Himmel war mit den graublauen Unmassen der Wolke bedeckt. Dann zuckte etwas Blitzartiges durch die Atmosphäre. Eine Mischung aus Orkan und Gewitter, Regen und Schneesturm.

Checosabello, was willst du denn, mein Schöner, brüllte eine Stimme aus der Wolke.

Alles, was wir nicht können, schrie Gianluca.

Und alles, was wir vermissen, kam es aus dem Bauch der Taube.

Die Wolke platzte über ihnen, die gesamte undefinierbare Weisheit, alle existierenden Weltsprachen ergossen sich über die Köpfe Gianlucas und der Taube und verschafften sich darin allen Platz, der zur Verfügung stand. Kurz roch es auch nach achtzigprozentigem gefuselten Schnaps.

Hiermit erhaltet ihr die unbegrenzbare Erkenntnis- und Sprechfähigkeit der Welt, und nützen sollt ihr sie so, dass ihr sterbend sagen könnt …

Die Stimme und die Wolke schrumpften plötzlich zu dünnem Echo und Nebel.

Was sollen wir sterbend sagen können? schrien beide in die wiedererstandene Azurbläue des Himmels. Aber Stimme wie Wolke verschwanden im Nirgendwo, als hätte es sie nie gegeben.

Gianluca konnte sich jetzt ohne Schwindel den Platz ansehen. Er spuckte hinunter, traf einen Hund und drehte sich zur Taube.

Aber da war keine Taube mehr. Auf der Zinne saß ein kleines Rotkehlchen, jung an Jahren und mit leicht benebeltem Blick, und lächelte ihn träumerisch an.

Lange nicht gesehen, sagte das Rotkehlchen. Und jetzt?

Eine kurze Starre zog sich durch Gianlucas Körper, dann riss ein Faden in seinem Kopf, und er sagte: Ich weiß, du bist Giorgina und es ist wirklich Zeit, hier abzuhauen.

Das Rotkehlchen flog auf seine Schulter, und langsam ging Gianluca die Stufen ins Kirchenschiff hinunter. Vor dem Kreuz machte er statt sich zu bekreuzigen einen Diener, vor dem großen Marienbild einen Knicks, beträufelte dann Giorgina mit geweihtem Wasser aus dem Weihwasserbecken und ging langsam über den Platz. Vorbei am schlafenden Hund, den neidisch glotzenden Tauben und der ignorant in den Himmel starrenden Transportarbeiterameise auf die Landstraße in Richtung Messina nach Norden.

2

Kehrmaschinen fuhren auf dem Alexanderplatz herum, um nach einer vereinzelten Schneeflocke zu fahnden. Es war der einunddreißigste Oktober, als Gianluca früh um vier auf einer Bank in der Nähe des Berliner Fernsehturms aufwachte. Das Funkeln des kreisenden Signallichts und eine feuchte Kälte weckten ihn aus einem schweren Schlaf. Er sah ungläubig an sich hinunter, denn statt seines alten, verschlissenen Leinenanzugs trug er jetzt einen silbergrauen Seidenanzug, eine mit Pailletten besetzte Fliege und handgefertigte Lederschuhe, alles Sachen, wie er sie nur bei höhergestellten Leuten gesehen hatte.

Er griff sich an den Kopf, als könne er daraus irgendeine Art von Erinnerung holen, fand aber statt der Erinnerung nur einen fremden Hut. Er nahm ihn ab, als könne er so Luft in seinen Kopf bekommen, aber es flog nur kalter Wind um ihn herum.

Hier bin ich, piepste eine Stimme von einem Baum neben der Bank.

Er entdeckte Giorgina, die auf einem Ast schaukelte und mit etwas glasigen Augen genauso irritiert aussah wie er.

Wie sind wir hierhergekommen, Giorgina? fragte Gianluca.

Mit dem Zug, mit dem Bus, mit dem Taxi. Geflogen bin ich, und gelaufen bist du, und wenn ich besoffen war, habe ich in deiner Tasche geschlafen, und wenn ich nicht besoffen war, habe ich dich in den Schlaf gesungen … Was willst du noch wissen?

Wann du besoffen warst, will ich nicht wissen. Ich will wissen, wie es uns auf diesen kalten, zugigen Platz verschlagen hat.

Giorgina flog auf den Kopf eines steinernen Denkmals, das zwei starre Herren in altmodischen Anzügen darstellte. Sie sahen in Richtung Osten, als warteten sie ungeduldig auf den Sonnenaufgang. Dann fing sie an zu zwitschern: Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Dursten zwingt.

Zum Hungern muss es heißen, Giorgina, zum Hungern.

Gianluca schloss die Augen und sah sich in Mailand im Giuseppe-Meazza-Stadion auf einer Bank sitzen und einer unbekannten Fußballmannschaft von Bauern aus dem Norden zujubeln, die mit Traktoren und Mähdreschern auf einem vom Regen durchweichten Fußballfeld herumfuhr, gegen die weltberühmte Mannschaft von Inter Mailand fünf Tore schoss und so den italienischen Vereinspokal gewann. Er sah sich im Wettbüro einen Gewinn von mehreren Millionen Lire einstreichen, denn niemand hatte auf diese Unbekannten gesetzt.

Er sah sich mit dem Gesicht des lange verstorbenen Regisseurs Vittorio de Sica im Vatikan bei einer Papstaudienz, aber auf dem Heiligen Stuhl saß nicht der berühmte zittrige Pole, sondern dort drängelten sich Marcello Mastroianni und Sophia Loren um ein Mikrofon und versuchten zweistimmig Verdi-Arien zu singen.

Durch San Marino wurde er von Soldaten eskortiert, die ihm zu Ehren Blumentöpfe auf den Köpfen trugen. Man hielt ihn dort für Giuseppe Garibaldi und bot ihm ewiges politisches Asyl an.

In Venedig sah Gianluca sich in einer Gondel Casanova gegenübersitzen, der versuchte, die Pornokönigin Ilona Staller alias Cicciolina davon zu überzeugen, nicht in die Politik einzusteigen, sondern armen Waisenkindern ihre Honorare zu spenden. Bei dem Versuch, sich in das Gespräch einzumischen, zerfielen die beiden zu Staub, die Gondel befand sich nicht mehr in Venedig, sondern auf dem Zürichsee. Für kurze Zeit trat Ruhe ein, dann verschoben sich in der Ferne die Alpenberge ineinander und er sah für einen kurzen Moment zum letzten Mal das Mittelmeer, in dem die Sonne versank.

Gianluca kniff sich in den Arm, um die Bilder zu verscheuchen. Außer einem kurzen Schmerz spürte er nichts. Er sah den roten Abdruck seines Fingernagels in der Haut, aber die Reise ging weiter.

Ein kurzes Alpenglühen. Danach hielten sie nur noch Zwiesprache mit Steinen und anderen scheinbar leblosen Figuren. Die kleine Heinebüste in Düsseldorf äußerte den Wunsch, nach Frankreich entführt zu werden, in Stuttgart räsonierte ein Gebilde aus Glas und Elektronik über die Zukunft des speiseölbetriebenen Kleinkraftwagens, der Loreleifelsen formte sich in eine weinende Frau und versuchte vergeblich, rheinische Ausflugsdampfer mit Blicken zum Kentern zu bringen. Auf dem Kyffhäuser trafen sie einen alten Mann mit einem langen roten Bart. Rumpelstilzchen, mutmaßte Giorgina, worauf der Mann sich beleidigt in seine Tropfsteinhöhle zurückzog. Gianluca versuchte, sich an den Weg zu erinnern, den sie gekommen waren, aber ihm fiel nichts ein als Worte und Bilder aus dicken Büchern, die sich mit Träumen vermischten, und diese Träume waren so, als hätte sie ihm eine andere Person erzählt.

Er erhob sich von seiner Bank und sah in den Himmel, als könnte von dort eine klärende blaue Wolke kommen, die ihm eine Erinnerung wiedergeben würde, die nicht aus Büchern und Träumen kam. Aber es gab nichts als Dunkelheit, und auch diese Dunkelheit war vernebelt.

Einatmen, ausatmen. Der Ort ist relativ wie die Zeit, die dort vergeht, und die Zeit ist verhältnismäßig genauso kurz wie lang an dem Ort, an dem sie vergeht.

Ich habe Durst, Gianluca, schrie Giorgina.

Ich will wissen, wie, woher und warum ich hierher gekommen bin! Wirklich war jetzt nur dieser Platz mit seinen sinnlos fahrenden Kehrmaschinen ohne Fahrer. Ziellos fahndende Motoren, die ihre Zeit damit verbrachten, auf eine vereinzelte Schneeflocke zu warten, die in einem dreist lügenden Wetterbericht angekündigt worden war und den bevorstehenden Winter einläuten sollte.

Wir könnten friedlich in Checosabello dem Gottesdienst entgegenschlummern, sagte Giorgina, Padre Padrone mit einem freundlichen Milchkaffee wecken, dann den Sonntag einläuten, statt uns hier auf diesem zugigen Platz die Beine in den kalten Bauch zu stehen und auf Dinge zu warten, die sowieso nicht passieren. Gianluca, ich will wieder zurück in die sizilianische Sonne. Ich will wieder nach Hause!

Zuhause, wann war das? Gianluca drehte sich auf der Mitte des Platzes einmal im Kreis. Eine Schneeflocke flog, fast flüssig schon, auf seinen Hut und schmolz dort. Die Kehrmaschinen drehten unverrichteter Dinge wieder ab.

Hör auf zu heulen, mein Vögelchen. Mir schwant, wir erleben heute noch etwas Ungewöhnliches, auch wenn es bis jetzt nicht so aussieht.

Dann kauf mir wenigstens was zu trinken, Totengräber. Ich habe seit Nürnberg nicht einen Tropfen mehr gehabt.

Was ist Nürnberg? wollte Gianluca wissen.

Nürnberg ist die Stadt, wo die Lebkuchenautomaten standen, die auch chinesisch sprechen konnten, sagte Giorgina.

Das habe ich schon vergessen, und ich glaube auch nicht, solchen Automaten jemals begegnet zu sein.

Dann hast du wohl auch vergessen, dass wir heute Nacht in diesem großen Haus fast deine sämtlichen Ersparnisse beim Black Jack und beim Roulette verspielt haben.

Giorgina wies mit der Kralle auf das Hotelgebäude, auf dem mit leuchtenden Buchstaben Casino geschrieben stand.

Ich weiß nichts mehr, Giorgina, mir ist, als hätte ich seit unserem Aufstieg auf den Turm tief geschlafen, als könnte ich dort hinten um die Ecke gehen und wäre zu Hause. Unser Zuhause scheint jetzt hier zu sein.

Es ist November, es ist kalt und neblig, und ich habe einen mörderischen Schwelbrand auf meiner Kehle glühen. Der muss gelöscht werden, jammerte Giorgina.

Giorgina flog auf Gianlucas Schulter und schmiegte sich an sein Ohr.

Willst du, dass dein Vögelchen im tiefen Herbst fernab der mediterranen Sonne jämmerlich verdurstet?

Mir scheint, diese merkwürdige Wolke aus dem Süden hat mir nicht ein niedliches Rotkehlchen an die Seite gestellt, sondern eine Saufdrossel. Aber ich werde heute mal Gnade vor Recht ergehen lassen und dir den Kampf gegen das Zittern ersparen. Dort hinten sehe ich einen Imbissstand seine Planen zurückschlagen. Gehen wir frühstücken.

Die Uhr vom Roten Rathaus schlug sechs Mal.

3

Ausnahmsweise mal kein Penner, sagte die Verkäuferin hinter dem Tresen, als sie Gianlucas Seidenanzug sah. Wohl übrig geblieben vom letzten Spieleinsatz im neununddreißigsten Stock, was?

So ungefähr, sagte Gianluca. Zwei Grog, bitte, und zwei heiße Hunde.

Was ist das denn? fragte die Frau.

Hot Dogs. Steht doch an Ihrer Tafel. Hot Dogs. Heiße Hunde heißt das doch auf Deutsch.

Kann sein, antwortete die Frau, schmecken tun sie eher wie tote Hunde. Aber nichts für ungut. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Man gönnt sich ja sonst nichts, seufzte auch Giorgina und nippte an ihrem Heißgetränk.

Mit großen Augen verfolgte die Verkäuferin diesen Vorgang.

Ich kenne biertrinkende Hunde und weintrinkende Katzen, aber schnapstrinkende Vögel habe ich noch nie gesehen, sagte die Verkäuferin. Exotisch eben. Wohl aus dem Zoo ausgebrochen, was?

So ähnlich, sagte Gianluca.

Aber von hier sind Sie nicht. Mehr von woanders? fragte die Verkäuferin.

Mehr von woanders. Aus Italien. Aus Sizilien.

Iss das nich da, wo die Mafia …?

Genau da. Ihre toten Hunde schmecken aber gar nicht so schlecht, junge Frau.

Danke für das Kompliment, junger Mann, sagte die Verkäuferin, die mit immer größer werdenden Augen zusah, wie Gianluca bereits den siebenten heißen Hund aß. Giorgina schlief auf seiner Schulter den verdienten Schlaf des ruhiggestellten Grogvogels.

Sehr gesprächig sind Sie aber nicht, junger Mann. Wenn Sie von so weit her kommen, müssen Sie doch was zu erzählen haben.

Vielleicht bin ich grade von weit her gekommen, sagte Gianluca, um nichts mehr zu erzählen zu haben.

Er zeigte auf den nächsten Hot Dog.

Wenn Sie so weitermachen, habe ich bald mein Tagessoll erfüllt, sagte die Verkäuferin. Und kann mir einen netten Sonntag machen.

Gianluca nickte.

Und mir geben Sie noch einen Grog, sagte Giorgina, auf diesem zugigen Platz friert man sich glatt die schönen Federn ab.

Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, junger Mann, sagte die Verkäuferin, aber der Vogel auf Ihrer Schulter ist weder ein Papagei noch ein Wellensittich, noch ein Kanarienvogel, kann aber trotzdem sprechen.

So ist es, sagte Gianluca.

Was isser denn dann?

Das ist kompliziert, liebe Frau. Früher war sie mal eine Taube, sehr krank und mit einem gefühlten Alter von einhundertsiebzig Jahren, und plötzlich gab es da innerhalb von Sekunden eine Verwandlung infolge eines sehr rätselhaften Wetterumschwungs, den ich mir bis heute nicht erklären kann. Und so ist sie das geworden, was sie heute ist, ein junges Rotkehlchen, das gerne Grog trinkt und sehr schnell vorlaut wird.

Wunder gibt es eben immer wieder. Man muss nur dran glauben, Geduld haben und drauf warten können, sagte die Verkäuferin. Sie lächelte geheimnisvoll in sich hinein und legte ein weiteres Würstchen in ein Brötchen. Nummer zwölf.

Haben Sie heute noch was vor, junger Mann? fragte die Verkäuferin.

Eigentlich nicht.

Na gut, dann schließe ich den Laden für heute wirklich und lade Sie und ihr merkwürdiges Wundervögelchen zu mir nach Hause ein.

Etwas in den blauen Augen der alten Frau zog Gianluca magisch an, etwas, das nicht auf diesen tristen, grauen Platz passte.

Schickedanz, las Gianluca an der Eingangstür der Wohnung, die sie betraten. Das Balkonzimmer, in das Frau Schickedanz sie führte, glich einem kleinen Museum. Die Wände waren mit Regalen und Glasvitrinen vollgestellt. Überall standen und hingen Souvenirs aus aller Welt: Elfenbeinkamele aus Afrika, bunt angemalte Holzvögel aus Südamerika, asiatische Glücksgötter, Hirtenkäppis aus der Mongolei und Miniaturen von Musikinstrumenten, die Gianluca völlig unbekannt waren. Und über der Tür hing ein sehr alter tatarischer Krummsäbel.

Sie sind in Ihrem Leben schon weit herumgekommen, sagte er.

Margarete Schickedanz war in einem großen Ohrensessel versunken und wirkte jetzt sehr klein und bedrückt.

Nein. Das bin ich nicht. Das war mein verstorbener Mann. Der war Vorsitzender des Afro-Asiatischen Solidaritätskomitees und ist so durch die halbe Welt gekommen.

Giorgina flog neben die Nachbildung eines Kondors und knabberte an seinem Schnabel.

Und was hatte es mit diesem Komitee auf sich, hat es den durstenden Vögeln in der Wüste geholfen? fragte sie.

So ungefähr, sagte Frau Schickedanz. Dieses Komitee war für die Länder gedacht, die ihre Unabhängigkeit von den Kolonialstaaten erkämpft hatten und Hilfe brauchten … Ach, mir kommt’s vor, als sei das schon hundert Jahre her. Da ist mein verstorbener Mann zu den Freiheitsfeiern in die ganze Welt geflogen und kam glücklich mit all diesen Andenken wieder, als hätte er Geburtstag. Und dann sagte er: Das muss sein. Wir müssen überall in der Welt präsent sein, damit die Welt anerkennt, dass wir ein eigenes Land sind, dass wir uns unterscheiden von dem anderen Land und dass wir ganz anders sind als die anderen …