Bartsch, Ingo Opakalypse

Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de

 

© 2019 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Diana Napolitano
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Zitat

((Überschrift nur für TOC ebook))

 

I’m a human fly

I spell F-L-Y

I say buzz buzz buzz

and it’s just because

I’m a human fly

and I don’t know why

I’ve got 96 tears

and 96 eyes

The Cramps

Widmung

((Überschrift nur für TOC Ebook))

 

Für Linchen

1

Eine SMS erreicht mich. Mein Vater schreibt. Letzte Überweisung. Ab August kein Geld mehr. Das Wirtstier dreht den Geldhahn zu.

Nadja macht kurz die Augen auf: »Ist was?«

Ich lösche die SMS. »Nein.«

Das Smartphone wandert in die Tasche. Kindergeschrei, Wassergeplätscher, Sonnenschein. Es riecht nach Pommes.

Scheiß drauf. Jetzt bin ich im Freibad.

2

Es bringt mich nicht weiter, mir die alten Videos von Hans Entertainment anzusehen. Trotzdem. 2015, da war noch alles möglich. Einfach hundert Kilo zunehmen, durchdrehen und damit reich werden. Doch heutzutage? Kann ich Influencer werden? Ein Langzeitstudent, der weirdes Zeug redet, vielleicht mit Autotune-Effekt? Eine Million Follower, und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zahlt mir ein üppiges Honorar dafür, dass ich Zwölfjährige vor Meth und Geschlechtskrankheiten warne – kann ich den Traum leben? Wenigstens ein paar Zehntausend für ein paar Auftritte am Ballermann? »So true!«, brüllt Hans Entertainment und knattert auf dem Rasentraktor über die Wiese. Nadja holt mich zurück in die Realität.

»Hast du was gefunden?«

»Ja«, lüge ich.

»Was denn?«

»Moment, ich muss es raussuchen, hab so viele Tabs hier auf …«, versuche ich, Zeit zu gewinnen. Vorher nehme ich in Zeitlupe die Kopfhörer runter.

»Es wäre ja keine Schande, erst mal als Aushilfe zu arbeiten. Vielleicht bei Aldi. Und dann studierst du fertig.«

»Stimmt«, lüge ich wieder. Ich lüge die ganze Zeit schon. Seit ich Nadja vorgelogen habe, mir einen Job suchen zu wollen, lüge ich. Meine niederträchtige Schwester hat Nadja gesteckt, dass mein Vater mir kein Geld mehr überweist. Schöne Familie.

Und dieses beschissene Studium. Philosophie studieren ist wie Hans-Entertainment-Videos schauen. Sinnlos. Bekloppt. Die Gesellschaft will Leute, die Roboter bauen und Algorithmen für den Aktienhandel programmieren – nicht Leute, die darüber nachdenken. Maschinenbau statt Philosophie. Hinterher und auch schon währenddessen hast du keine Ahnung, was das soll. Warum Philosophie? Weil ich vor rund fünf Jahren der Meinung war, was mit Nachdenken und so, das wär was für mich. Aber dann war es anstrengender Scheiß mit Mathematik und Latein, sodass sich mein Interesse weg von Philosophie studieren hin zu Philosophiestudentinnen bewegte. Als ich begriff, was los war, war es schon zu spät. Seitdem sitze ich in einer Art Transitbereich fest wie damals Edward Snowden in Moskau. Ich kann nicht zurück. Ich kann aber auch nicht vor. Das Studium nicht abgebrochen und nicht beendet, keine Ausbildung, kein Job, nichts dergleichen. Und jetzt macht mein Vater ernst und gibt mir kein Geld mehr. Ich weiß, das alles ist nur so, weil das System scheiße ist. Man muss das System ändern.

Aber jetzt sitze ich hier, klicke hastig die YouTube-Reiter zu. Schnell noch den Alibireiter auf. Irgendein Jobportal, irgendein Inserat. Reine Fassade. Nadja steht auch schon hinter mir. Ihre Hand liegt in meinem Nacken. Sie ist kalt. Kalte Hand bedeutet, dass sie einen Hals auf mich hat, der so dick ist wie der von Hans Entertainment.

»Altenpflege, keine schlechte Idee«, sagt Nadja.

»Ja«, lüge ich.

»Für den Übergang.«

Übergang wohin, frage ich mich. Aber irgendwas muss ich tun. Den Geldspender Papa durch den Geldspender Nadja ersetzen läuft nicht, das hat Nadja mir in einem zermürbenden Monolog auseinandergesetzt. Ich muss also wenigstens so tun, als würde ich mich um einen Job bemühen. Nadja, die ihr Philosophiestudium innerhalb der Regelstudienzeit abgeschlossen hat, die nach einem Praktikum in der Kommunikationsagentur übernommen worden ist, die sich seitdem zur Projektmanagerin hochgearbeitet hat, die mit ihrem fetten Einkommen problemlos drei Männer meiner Sorte durchfüttern könnte. Meinen Vorschlag, ich könne doch erst mal Hausmann sein, es doch wenigstens eine Weile ausprobieren, lehnt sie ab. Ich bin der Meinung, eine alleinverdienende Frau und ein Hausmann, das ist das Pärchen der Gegenwart, das ist die Siegestrophäe der Emanzipation, das ist die mustergültige Aufhebung des dümmlichen Geschlechterrollenklischees.

Aber Nadja meint: »Bekifft vor der Playstation hocken hat nichts mit Hausmann zu tun.«

Und ich Trottel latsche voll in die Falle. Ich sage: »Ich würde doch nebenher den Haushalt schmeißen.«

»Ha! Neben-her!« Sie haut mir die letzte Silbe ins Gesicht. Dann das ganze Wort: »Ne-ben-her!« Ich zucke dreimal zusammen. »An diesem einen Wort höre ich, was für dich ein Hausmann ist: ein Mann, der sich im Haus aufhält. Du würdest vielleicht mal die Spülmaschine ausräumen, vielleicht mal den Müll raustragen, vielleicht mal das Schlafzimmer saugen oder die Krümel vom Sofa, weil meine Eltern uns besuchen kommen. Aber ansonsten würdest du rumsitzen und die Zeit mit YouTube und Zocken totschlagen. Du müsstest dein Studium nicht abschließen, denn du wärst ja Jules, der Hausmann! Du müsstest nicht zum Jobcenter gehen, denn du wärst ja Jules, der Hausmann! Und abends kommt dann die emanzipierte Nadja nach Hause, die überhaupt nicht klischeehafte Musterfrau, die dreitausend Euro im Monat für Hausmann Jules’ Haushalt nach Hause bringt, und dann lehnt sich Hausmann Jules auf dem Sofa zurück, damit die emanzipierte Nadja ihm schön einen …«

»Belassen wir es dabei, Nadja« würge ich sie ab. »Wenn ich keine Ideen haben darf, dann sag es doch einfach. Dann werde ich in Zukunft keine Ideen mehr haben. Oder ich behalte sie für mich. Ich werde dich nicht mehr mit meinen Ideen belästigen.«

Es folgt Geschrei. Nun haben also auch die Nachbarn was davon. »Ich dachte, du bewirbst dich um einen Job! Ich dachte, du zeigst wenigstens jetzt guten Willen, jetzt, wo du mir komplett auf der Tasche liegst! Stattdessen faselst du was von Hausmann!«

»Entschuldige bitte«, brülle ich zurück, »entschuldige bitte, dass ich es gewagt habe, einen Gedanken laut zu äußern! Ich wusste nicht, dass in diesem Land nur noch Besserverdienende Ideen haben dürfen und ich ohne Job das Maul halten muss!«

»Ja, das musst du, Jules. Solange du mir nicht zeigst, dass du es ernst meinst, musst du tatsächlich den Mund halten.«

»Was denn ernst meinen, Nadja, was verdammte Scheiße soll ich denn ernst meinen?«

»Wenn dir unsere Beziehung etwas bedeutet, dann zeigst du mir das, indem du dir einen Job suchst.«

»Gut«, schreie ich außer mir, »dann schau her, wie ich mich um diesen beschissenen Job bewerbe, hier, da, schau her!«

Ich öffne Word und falle über die Tastatur her. Ich bin nicht der Retro-Macho, der seiner Frau in solch einer Situation eine saftige Rückhand verpasst und sich anschließend einen Cognac genehmigt, während sie ihre blutende Nase versorgt. Ich bin eher der moderne Mann, der sich geschlagen gibt und dabei so tut, als sei es Trotz.

3

Mein bester Freund Mirko lacht. »Pflegehelfer sind die letzten Deppen. Die ärmsten Schweine. Miese Arbeit, miese Bezahlung. Warum tust du das?«

»Hat sich so ergeben, als ich mich mit Nadja gestritten hab.«

»Du solltest das nicht tun.«

»Irgendwas muss ich tun. Ich krieg kein Geld mehr von meinem Vater.«

»Nimm jeden anderen Job an«, rät Mirko.

»Dann muss ich ja noch mehr Bewerbungen schreiben.«

»Wie viele hast du denn geschrieben?«

»Eine.«

»Du bist gestört, Jules. Völlig gestört.«

Ich mische Tabak und Gras auf einem in der Mitte geknickten Foto. Es zeigt Nadja und mich in einer Riesenradgondel. Ich hasse Riesenräder. Sie sind groß und lahmarschig. Wenn du oben bist, lehnt sie sich an dich und sagt: »Oh, sieh mal!« Und alles, was es zu sehen gibt, ist diese öde Stadt von oben. Es gibt nichts Langweiligeres als eine Pärchenfahrt im Riesenrad. Nadja ist wirklich eine Hammerbraut. Eine Charakterfrau, sehr intelligent. Auch optisch umwerfend: tiefschwarzes Haar, knallblaue Augen, Schmollmund, fitnessstudiostraffer Körper. Aber was bringt mir das alles, wenn wir uns in einer Riesenradgondel zu Tode langweilen. Ich glotze sie an, wie sie aus der Gras-Tabak-Mischung ragt.

»Denkst gerade an Nadja, was?«

»Halt die Klappe, Mirko«, antworte ich. Er redet daher, als wäre Nadja in der Wüste von Terroristen als Geisel genommen worden und niemand wüsste, ob sie überhaupt noch lebt. Dabei ist sie einfach nur auf Arbeit und bald schon wieder zu Hause. Dann wird sie mich fragen: Hat sich schon jemand wegen des Jobs gemeldet? Und ich werde heute sagen: Ja, eine Frau Dick von der Zeitarbeitsfirma. Sie wird fragen: Und? Und ich werde sagen: Morgen hab ich das Vorstellungsgespräch.

Mirko kommt aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus. Er ist Sozialarbeiter. Noch so einer, der sein Studium ordentlich abgeschlossen hat. Der einen ordentlichen Job hat. Der ein ordentliches Leben führt. Ich frage ihn nicht, aber ich bin mir sicher, dass er es genießt, wenn er mit seiner Friederike Riesenrad fährt. Wahrscheinlich machen sie triefende Selfies und kaufen später ein Lebkuchenherz, das sie über ihr Bett hängen. Und wenn er sie von hinten nimmt, guckt er das Lebkuchenherz an und erinnert sich voller Wonne an die Riesenradfahrt.

Trotzdem, Mirko ist super. Ein guter bester Kumpel. Rät mir von dem Scheißjob ab. Er ist wahrhaftig in Sorge um mich. »Du könntest doch erst mal als Aushilfe jobben, bei Aldi oder so. Bis du dein Studium abgeschlossen hast.«

»Und dann? Werde ich Philosoph? Oder was würdest du mir vorschlagen?«

»Keine Ahnung. Aber mit Abschluss stehst du immer besser da.«

»Lächerlich«, sage ich.

»Daran scheitert es. An deiner ganzen Einstellung. Warum gehst du dein Studium nicht mit etwas Optimismus an?«

»Optimismus ist das Gegenteil von die Lage begriffen haben«, sage ich. »Außerdem habe ich mich als Pflegehelfer beworben.«

»Das ist ein Knochenjob, Jules. Das halten gestandene Typen nicht durch. Du erst recht nicht. Glaub’s mir. Du hast keine Ahnung, was du da machst. Dein Rücken. Deine Psyche. Dieser Job wird dich fertig machen, im Ernst.«

Ich entgegne ein Achselzucken. Es ist wie mit einer Mutprobe. Ich kann keinen Rückzieher mehr machen, bloß weil mein bester Kumpel sagt, es sei Wahnsinn. Ich muss jetzt cool dastehen.

»Und du hast keinerlei Erfahrung. Altenheim! Mit was du da in Berührung kommst: Demenz, Tod, offene Wunden. Verantwortung, Jules. Wenn du da Scheiße baust, geht womöglich jemand drauf. Und dann? Weißt du, was ein Dekubitus ist?«

»Ich werde es sicher lernen.«

»Viel Spaß, Jules. Ich gebe dir genau einen Arbeitstag. Einen zweiten wirst du nicht antreten.«

»Wie auch immer. Ich muss was tun.« Mit flinken Fingern drehe ich einen Joint. »Man kann alles lernen. Du hast deinen Kram doch auch gelernt, oder? Oder bist du als fertiger Sozialarbeiter aus deiner Mama gekrochen?«

Mirko hält mir seine Hand ins Gesicht und zählt an seinen Fingern ab: »Vier Jahre Studium plus Praktikum, davor ein Freiwilliges Soziales Jahr, danach weitere sechs Monate Praktikum. Merkst du was? Als Pflegehelfer kriegst du ein paar Tage Einarbeitung, Ende. Und dann musst du ran. Das ist das Gegenteil von deinem Leben, Jules.«

»Abwarten«, sage ich und gebe ihm den Joint. Während ich die Playstation startklar mache, hören wir die Wohnungstür. Kurz darauf steht Nadja im Wohnzimmer. Sie winkt uns zum Gruß.

»Hat sich schon jemand wegen des Jobs gemeldet, Jules?«

»Ja, eine Frau Dick von der Zeitarbeitsfirma.«

»Und?«

»Morgen hab ich das Vorstellungsgespräch.«

Ich bekomme den ersten Kuss seit Tagen.

4

Trockenübungen mit Nadja. Sie blickt mich mit einem Ernst an, der mir etwas zu weit geht. »Herr Wicküler«, beginnt sie, »warum sollte unsere Firma ausgerechnet Sie einstellen?«

»Weil ich einen Sprengstoffgürtel trage. Sie sollten jetzt keinen Fehler machen.«

Nadja schnaubt, sie lächelt kein bisschen. »Das ist kein Spaß, Jules. Also?«

»Scheiße, weil ich motiviert bin natürlich. Und weil ich gern … mit Menschen arbeite. Sozial und so. Und dann bin ich in einem guten Alter. Ich bin belastbar und flexibel. Ja. Flexibel und so.«

Nadja formt einen Satz mit ihren Lippen und schaut mich dabei durchdringend an. Als wollten ihre Augen in mein Gesicht springen. Was meint sie, zum Teufel? Woher soll ich Lippenlesen können, und was bringt mir dieser Quatsch für mein Vorstellungsgespräch?

»Weil du dich mit den Zielen und Leitlinien der Firma identifizierst, herrje! Ist das so schwierig, Jules?«

»Ja. Ich meine, was sind denn die Ziele einer Zeitarbeitsfirma? Doch nur, die Leute auszunehmen. Ich gehe arbeiten, die Zeitarbeitsfirma ist einfach nur da und verdient daran. Dass so etwas überhaupt erlaubt ist, sollte einem schon zu denken …«

»Jules!«, unterbricht Nadja meine Gegenrede. »Du möchtest diesen Job haben, also musst du passend antworten. Deine Vorstellungen von einer besseren Welt musst du dann halt mal für dich behalten.«

Ich seufze. »Vertrauen, Respekt und …«

»Loyalität«, formt Nadja das fehlende Wort mit ihren Lippen.

»Die Leitbegriffe von Powerjob …« – was für ein sackblöder Name – »… sind Respekt, Loyalität und …«

»Vertrauen«, flüstert Nadja tonlos und barsch.

»Vertrauen. Mit diesen Werten identifiziere ich mich. Respekt, Vertrauen und Loyalität. Wirklich auch durchdacht und alles, also damit hat Powerjob mich voll überzeugt.«

»Okay. Und jetzt noch mal. Das muss flüssiger rüberkommen, Jules, und du musst wirklich überzeugt klingen.«

Ich stöhne, aber nur innerlich. Ich will Nadja nicht unnötig provozieren. Das geknickte Riesenradfoto hat unsere Beziehung in eine mittelschwere Krise gestürzt. In den nächsten Tagen werde ich mich zurücknehmen.

5

Ich bin auf dem Weg zu Powerjob. Es ist kurz vor acht Uhr morgens. Ich komme mir vor wie ein Ethnologe im Dschungel: So sieht also die arbeitende Bevölkerung aus. Müde Blicke, Kopfhörer auf oder in den Ohren, Parfümwolken, Ledertaschen. Die Tram saugt sie ein und spuckt sie wieder aus. Sie entweichen in alle Richtungen wie Pusteblumensamen, verschwinden in Seitenstraßen und Gebäuden, werden von Unterführungen verschluckt und wieder ausgeschieden. Und ich mittendrin, aufgekratzt, unruhig. Ich habe nichts geraucht an diesem Morgen. Nadja hat es so gewollt. Ich leiste Gehorsam, um jedwede Eskalation zu vermeiden. Sie hat gesagt, es freue sie, dass ich meinem Leben einen Sinn geben will. Ich habe mir die Kränkung nicht anmerken lassen.

Das Logo von Powerjob sieht aus wie ein Penis, der in einem Blumenkübel steckt. Powerjob sitzt in einem unscheinbaren Gebäude. Ich bin wohl tausendmal an dieser Stelle mitten in der City vorbeigekommen, aber ich habe nie Notiz von diesem Haus oder dieser Firma genommen. Außerdem hier ansässig: ein Rechtsanwalt und Notar, eine Firma für IT-Sicherheit und eine Urologenpraxis. Es ist merkwürdig: Erst im Aufzug, auf dem Weg in den dritten Stock, in dem Powerjob seine Räumlichkeiten hat, führe ich mir mein doch recht gestörtes Verhältnis zu alten Menschen vor Augen.

Zum Beispiel vermeide ich es, meine kriegsgeschädigte Großmutter Elvira zu besuchen. Außer ihr habe ich keine meiner Großeltern kennengelernt. Nur diese mürrische Frau, die zurückgezogen in einer Zweizimmerwohnung lebt, die sie über und über mit christlichen Devotionalien dekoriert hat, gipfelnd in einer überdimensionierten, detailgetreuen Nachbildung der Geburtsszene Jesu, die mitten in ihrem Wohnzimmer auf zwei Tapeziertischen steht und keinen Platz lässt für Dinge, die normalerweise in ein Wohnzimmer gehören. Oma Elvira hat kein Sofa, keinen Wohnzimmertisch, keinen Fernseher. Nur Little Bethlehem mit den Kunststoffabbildern seiner Helden: Baby Jesus mit Josef und Maria, die drei Könige, der Engel, Ochse und Esel, Schafe und Ziegen, alle sind sie da. Sogar Kaiser Augustus steht herum, allerdings etwas abseits. Das echte Stroh für den Stall bezieht Oma Elvira aus einer nahen Tierbedarfshandlung. Der Stern von Bethlehem baumelt von der Decke, an der Wand ist ein Schalter, mit dem sie den heiligen Himmelskörper dimmen kann.

Wenn man Oma Elvira besucht, wird das Radio etwas leiser gedreht. Nur etwas. Meine Großmutter ist schwerhörig und hört den Schlagersender den ganzen Tag in Konzertsaallautstärke. Sitzt der Enkel am Küchentisch, regelt sie die Volksmusik von großem auf kleinen Konzertsaal runter. Dann schiebt sie mir die Schüssel hin, in der braune Bananen, mit Druckstellen übersäte Äpfel und saisonaler Kompost liegen. »Da, iss mal was Gesundes«, schimpft sie, ohne dass ich mir etwas habe zuschulden kommen lassen. Und nahtlos knüpft sie an: »Wir hatten ja damals nichts. Du weißt ja gar nicht, was wir damals mitgemacht haben, als der Tommy die Bomben auf uns geworfen hat.« Damit beginnt ihre Lebensgeschichte als Hörbuch, begleitet von den Hits Andrea Bergs und Howard Carpendales. Ich sitze in der von warmer, säuerlich riechender Luft erfüllten Küche, schalte mein Gehirn aus und lasse es über mich ergehen. Ich besuche Großmutter Elvira circa einmal jährlich. Und das ist schon eine harte Dosis.

Es erscheint mir mit einem Mal völlig grotesk, in der Altenpflege zu arbeiten. Oma Elvira mal x. Was hat mich geritten? Doch da spüre ich schon eine feingliedrige, kühle Hand in meiner.

»Herr Wicküler? Dana Dick, wir haben telefoniert. Herzlich willkommen bei Powerjob!«

Ich entsinne mich. Jetzt bin ich also da. Dana Dick und das Penislogo.

»Julius Wicküler, freut mich auch.«

»Nehmen Sie doch hier Platz, Herr Wicküler. Herr Mecht ist gleich für Sie da.«

Sie parkt mich in einem Raum, der bis auf einen Tisch und drei Stühle vollkommen leer ist. Auf dem Tisch steht eine Schale mit kleinen Gummibärchentüten, auf denen der Powerjob-Penis abgebildet ist. Ich schaue Dana Dick hinterher. Eine hübsche Frau, etwa mein Alter, filigraner Körperbau, goldblonde Locken bis fast zum Po. Als sie außer Sichtweite ist, beginne ich, die Gummibärchen zu frühstücken.

Man lässt mich eine halbe Stunde und sechzehn Gummibärchentütchen lang sitzen. Dann platzt ein kahlköpfiger Mann mit einem Headset dermaßen unvermittelt herein, dass ich zusammenfahre.

»Gideon Mecht, grüße Sie! Bitte füllen Sie das hier aus, ich bin gleich bei Ihnen.«

Er wirft ein paar Zettel und einen Kugelschreiber auf den Tisch. Überall ist das Logo drauf. Ich blicke zu ihm hoch. Er trägt ein Namensschild: G. Mecht, Head of HR-Recruiting. Und natürlich das Logo.

»Unsere Gummibärchen schmecken Ihnen wohl ausgesprochen gut, Herr Wicküler?«

»Etwas hart. Sie waren alle abgelaufen.«

Das einnehmende Recruitinglächeln verschwindet aus Mechts Gesicht und er aus dem Raum.

Die Fragebögen fragen mich nach meiner beruflichen Erfahrung im Pflegewesen: null heißt keine, eins heißt wenig Erfahrung, zwei heißt angelernt, drei heißt ausgebildet. Ich kreuze fast überall die Null an, nur bei ein paar Tätigkeiten wie Körperpflege und Nahrungsanreichung wähle ich die Eins. Bei Hauswirtschaft lüge ich die einzige Zwei hin.

Nach zehn Minuten ist Mecht wieder da. Er diktiert eine Gummibärchenbestellung in sein Headset, »die mit unserem Logo, Sie wissen ja«, und nimmt mir gegenüber Platz. Ich erinnere mich an Nadjas Anweisungen: gerade sitzen, aber Brust nicht zu weit raus. Dem Gegenüber freundlich, dabei auch verbindlich in die Augen sehen. Deutlich, hochdeutsch und mit klarer Stimme sprechen.

Mecht betrachtet die ausgefüllten Bögen ungefähr zwei Sekunden lang, dann schiebt er sie zur Seite. »Schön. Wir brauchen noch diverse Unterlagen von Ihnen, Herr Wicküler, die sollten Sie bald nachreichen. Wann können Sie anfangen?«

»Äh – wie jetzt, anfangen?«

»Na, anfangen zu arbeiten. Ab sofort, ab dem nächsten Ersten … Das müssen wir schon wissen, Herr Wicküler.«

»Na ja, eigentlich kann ich ab sofort …«

»Prächtig!«, ruft Mecht. Ich hatte noch etwas hinzufügen wollen, aber sein Redeschwall begräbt meinen Nebensatz unter sich wie ein Erdrutsch. »Wir haben einen Kunden, der genau ab jetzt genau jemanden wie Sie sucht, Herr Wicküler. Ich werde noch heute Ihre Daten durchgeben. Soweit ich das überblicke, dürfte der Sache nichts im Wege stehen. Heute ist Donnerstag, ich gehe davon aus, dass Sie spätestens Montag anfangen können, wenn wir morgen einen Vororttermin beim Kunden machen und Sie den Vertrag unterschreiben. Frau Dick wird Ihnen eine Checkliste ausdrucken, auf der vermerkt ist, welche Unterlagen wir noch von Ihnen benötigen. Wann haben Sie morgen Zeit, Herr Wicküler?«

»Ich dachte … also … das Vorstellungsgespräch …«

»Herr Wicküler, haben Sie morgen Zeit?«

Ich bin völlig überfordert. Mein Kopf nickt.

»Prächtig! Dann gebe ich dem Kunden Bescheid. Wie viel Uhr passt Ihnen, sagen wir zehn Uhr?«

Entgeistert starre ich ihn an. Mein Kopf nickt immer noch.

Mecht zückt sein Smartphone, wählt und korrespondiert via Headset. »Herr Seitenberger, grüße Sie. Sitzen Sie bequem? Dann kann ich die Rakete ja starten lassen. Ich habe jemanden für Ihre Vakanz in WB 2. Ja, ja, prächtig, nicht wahr? Der junge Mann kann sofort anfangen und … Moment« – er wirft einen Blick auf meine Fragebögen – »ja, er ist deutscher Muttersprachler. Ja, ganz recht! Wir wären dann morgen, zehn Uhr, bei Ihnen. Prächtig, Herr Seitenberger, prächtig! Ciao, ciao!« Er strahlt mich an. »Herr Wicküler, wir sehen uns morgen, zehn Uhr, vor der Seniorenresidenz Haus Nikolaus, Haupteingang. Prächtig, nicht wahr? Frau Dick druckt Ihnen eine Wegbeschreibung aus. Darf ich Ihnen noch Ihr Willkommensgeschenk geben?« Er überreicht mir einen Schlüsselanhänger aus Filz, natürlich mit dem Logo.

Kurz darauf stehe ich wieder vor dem Gebäude. Mein sogenanntes Vorstellungsgespräch hat nicht einmal ein Zehntel der Zeit in Anspruch genommen, die ich mich mit Nadja darauf vorbereitet habe. Genauer gesagt, hätte mir Nadjas Bootcamp erspart bleiben können. Es sieht so aus, als hätte ich den Job, ohne auch nur drei Sätze in dem vermeintlichen Vorstellungsgespräch geäußert zu haben. Ich weiß nichts über meine Arbeitszeiten, meinen Lohn, meine Arbeit an sich. Ich bin genau so dumm wie vorher. Bloß habe ich jetzt einen neuen Schlüsselanhänger.

Zu Hause rauche ich ein paar Joints. Wie ein Sandsack werde ich von verschiedenen Emotionen hin und her geprügelt. Da ist Euphorie: Ich habe mich eigenständig um einen Job beworben und bekomme ihn wahrscheinlich! Da ist Angst: Was wird mich in der Seniorenresidenz erwarten? Da ist Selbstüberschätzung: krass, wie ich das Vorstellungsgespräch gerockt habe! Der Job wird mir umso leichter fallen. Und da ist Aufrichtigkeit: Ich habe keine Lust, zu arbeiten. Ich finde Arbeit scheiße. Ich bin faul. Ich will nicht. Ich will nicht. Ich will …

Nadja taucht aus dem Nebel auf wie ein böses, blutdürstiges Tier in einem Horrorfilm. »Du bist nicht hingegangen, stimmt’s?«, sagt sie mit Blick in meine glasigen roten Augen, bereit, mich zu zerfleischen.

»Doch, bin ich«, triumphiere ich.

»Ach.«

»Ja. Und weißt du was?«

»Was denn?«

»Ich werde morgen den verdammten Arbeitsvertrag unterschreiben.«

»Den verdammten Arbeitsvertrag, Jules?«

»Den verdammten Arbeitsvertrag, jawohl. Womit du sicher nicht gerechnet hast.«

»Das habe ich nicht.«

Meine Eier sind plötzlich so groß wie zwei Medizinbälle. »Ich kann sofort anfangen. Die haben zwar versucht, mich auszubremsen, aber ich habe gesagt: Hören Sie, Herr Mecht, ich bin scheiße motiviert. Ich will Geld verdienen. Ich will nicht warten. Und er so: Ich werde sehen, was sich machen lässt. Und ich so: Das sollten Sie besser, ich kann mich auch woanders bewerben. Tja, und morgen habe ich ein Date mit ihm im Altenheim.«

»Im Altenheim.«

»In dem verdammten Altenheim. Haus Nikolaus.«

»Nikolaus«, echot sie.

»So ist es Nadja«, sage ich und rolle den nächsten Joint. Ich weiß, sie wird es nicht wagen, etwas zu sagen.

6

Ich habe es mir nie bewusst gemacht. Vielleicht bin ich noch nicht an genug Seniorenresidenzen vorbeigekommen, um es mir bewusst machen zu können. Aber was für ein wundervoller Ort! Gepflegter Rasen schmiegt sich in sanften Hügeln an den blasslachsfarbenen Gebäudekomplex, den das Sonnenlicht mit einem gleißenden Effekt versieht, wie Instagram es nicht besser könnte. Durch einen Gartenkomplex, reich an Sträuchern und Bäumen in Sommerfarben, schlängelt sich ein Kiesweg. Das Haus Nikolaus liegt am Stadtrand, weit weg von Hauptverkehrsstraßen, zehn Fußminuten von der Endhaltestelle der Linie 76 entfernt. Vögel singen. Aus einem offenen Fenster im ersten Stock dringt das unbeschwerte, herzhafte Lachen einer alten Frau. Ein Eichhörnchen hockt in sicherer Entfernung und beobachtet mich. Ich lächle es an. Meine nächste Bewegung schreckt das kleine Tier auf. Es flieht auf den erstbesten Baum, verschwindet irgendwo im Geäst. Ich freue mich. Herr Mecht freut sich auch. Während ich mich an den Eindrücken der Umgebung erfreue, kann er die Klappe nicht halten. Er berichtet von seinen Hobbys.

»Ich mache Apnoe-Tauchen. Kennen Sie das?«

Ich schüttle den Kopf.

»Man lernt, sehr lange unter Wasser zu bleiben.«

»Ah.«

»Richtig lange. Der Körper kann das. Der Mensch weiß es nur nicht und bekommt Panik.«

»Wie lange bleiben Sie unten?«, frage ich.

»Mein Rekord sind vier Minuten.«

Vier Minuten! Ich frage mich, wie viele Gehirnzellen in dieser langen Zeit ohne Sauerstoffzufuhr wohl absterben. Herr Mecht lächelt mich erwartungsvoll an. Ich will ihn nicht kränken.

»Beachtlich«, sage ich.

»Mein Ziel sind fünf Minuten.«

So viele Gehirnzellen.

Herr Mecht lächelt, und er lächelt noch viel mehr, als wir einem Jungunternehmertyp in eleganter Kleidung und polierten Schuhen gegenüberstehen. Sein Blick geht durch mich hindurch wie Röntgenstrahlen und fixiert Mecht.

»Prächtig! Grüße Sie, Herr Seitenberger!«

Seitenberger ist der Heimleiter. Er könnte auch FDP-Vorsitzender oder Investmentbanker sein. Seine Stimme ist recht hoch für einen Mann und gleitet einem kalt ins Ohr. »Ich hoffe, dieser Mitarbeiter ist nicht wieder so eine Enttäuschung wie die letzten beiden Hilfskräfte, Herr Mecht.«

»Ein junger Mann mit Abitur, dazu Muttersprachler«, schleimt Mecht.

»Ja, ich bin Deutscher«, bestätige ich und halte dem Heimleiter die Hand hin. »Wicküler. Julius Wicküler.«

Er ignoriert mich. Für ihn ist nur Herr Mecht anwesend. »Was soll der Mann kosten?«

Herr Mecht ringt die Hände.

»Auf keinen Fall so viel wie die letzten beiden Totalausfälle. Wir müssen neue Konditionen aushandeln.«

»Nun ja, Herr Seitenberger …«

»Sie wissen, dass Personaldienstleister bei uns Schlange stehen. Wie lautet also Ihr Angebot?«

»Vielleicht können wir in Ihrem Büro, Herr Seitenberger … ich meine, hier draußen, das ist ja nicht der richtige Ort, um … Sie wissen schon.«

Seitenberger nickt. Die beiden verschwinden im Gebäude. Vier Minuten, weiß ich, vier Minuten hält Mecht ohne frischen Sauerstoff durch. Ich vermute, dass ein Gespräch mit diesem aalglatten Geschäftsmann so ähnlich ist, wie unter Wasser gedrückt zu werden.

Eine Frau mit Rollator steht plötzlich neben mir. Sie mustert mich mit ihren hellen, schlauen Augen.

»Guten Tag«, sage ich.

Auch sie erwidert nichts. Offenbar redet hier niemand mit mir. Sie steht noch einen Augenblick da, dann begibt sie sich in den kleinen Park neben dem Gebäude. Aus dem Park tritt ein röchelnder Hungerhaken mit ausgefransten, schulterlangen Haaren. Er trägt einen Poncho. Er bleibt vor mir stehen und grinst mich an.

»Tag«, sage ich.

»Peace. Na, wohl die Großeltern besuchen?«

»Nein … ich … ähm, ich arbeite bald hier.«

Der Althippie, der gerade an seiner ungeschickt Selbstgedrehten zieht, bekommt eine Mischung aus Lach- und Hustenanfall.

»Hier? Freiwillig? Nein, sie haben dir Sozialstunden aufgebrummt, was?«

»N-nein.«

Er saugt wieder an der Zigarette. Alter, stinkender, starker Billigtabak.

»Wer hat dich dann dazu verdonnert?«

»Niemand … eigentlich … ich meine, vielleicht meine Freundin … indirekt.«

Er bekommt den nächsten Hustenanfall.

»Das ist echt uncool von deiner Freundin«, würgt er die Worte hervor, und ehe er die nächste Lachattacke bekommt und keuchend weiterzieht, sagt er: »Ich bin der Detlef. Detlef Sauerland. Wohne oben, auf der Zwei. Vielleicht sieht man sich. Von der Freundin verdonnert … hahaha …«

Ein Irrer wohl, zu viel LSD in seiner Jugend, rede ich mir ein. Sicher nicht mehr ganz richtig in seinem verstrahlten Kopf. Mecht sagte, Station zwei sei eine gemischte Station, klare und demente Alte Zimmer an Zimmer. Auf Station eins wohnen die geistig und körperlich noch völlig intakten.

Nach einer halben Stunde tauchen Seitenberger und Mecht wieder auf.

»Prächtig, ganz prächtig«, höre ich Mecht.

Seitenberger sagt nichts. Er schaut nur skeptisch drein. »Montag, sechs Uhr, Schichtbeginn. Kann ich mich darauf verlassen, Mecht?«

»Ganz sicher, Herr Seitenberger.«

»Ich erinnere mich sehr ungern an Ihre letzte Hilfskraft, die gar nicht erst aufgetaucht ist.«

»Keine Sorge, Herr Seitenberger.«

»Und die beiden davor waren Taugenichtse. Ich kann es nicht oft genug betonen. Ich hoffe, dieser hier ist zu gebrauchen.«

»Das garantiere ich Ihnen.«

Sie stehen neben mir und unterhalten sich, als gäbe es mich nicht.

»Sie wissen, Sie sind nur einer von vielen Haien im Becken, Mecht«, droht Seitenberger ein weiteres Mal.

»Herr Seitenberger, der Name Powerjob steht für Arbeitnehmerüberlassung auf höchstem Niveau! Zuverlässigkeit ist unser Markenzeichen. Sie wissen, wir prüfen jeden Kandidaten auf Herz und Nieren, und wenn dann trotzdem mal ein Ausreißer dabei ist, dann ist das doch nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt.«

Seitenberger knurrt mürrisch. Er gibt Mecht die Hand und dreht ab. Noch immer hat er mich keines Blickes gewürdigt.

Mecht strahlt mich an. »Das ist ja prächtig gelaufen! Dann fahren wir jetzt ins Büro und machen den Arbeitsvertrag.«

Wir fahren in Mechts schickem Wagen zurück in die City. Ich fühle mich jetzt wie im Gefangenentransport in mein Verderben. Nadjas Chef ist ein cooler Nerd, der gern witzige YouTube-Videos teilt und Egoshooter zockt. Warum muss mein Chef ein gefühlskalter Raubtierkapitalist sein? Mir ist plötzlich klar, dass ich nichts weniger will, als in dieser Seniorenresidenz zu arbeiten. Und während Herr Mecht begeistert von seinem anderen Hobby, dem Mountainbiking, berichtet, und wie er sich mal den Arm beim Downhillracing gebrochen hat und trotzdem bis zum Ziel weitergefahren ist, denke ich mir: Chill, Jules – noch hast du nichts unterschrieben. Vielleicht sehe ich mich nach einem Job um, bei dem ich nicht mit Gordon Gekko als Boss in einem Gebäude eingesperrt bin … Briefträger oder so etwas.

Ich gehöre zu den Menschen, die gern die beste Gelegenheit abwarten, um reinen Tisch zu machen. Fünf Jahre habe ich gebraucht, um meinem Vater zu gestehen, aus Überforderung das Jurastudium geschmissen und zu Philosophie gewechselt zu haben. So viel Zeit habe ich freilich nicht, Herrn Mecht davon in Kenntnis zu setzen, dass ich mir das mit der Erwerbsarbeit noch mal überlegt habe, und dass sie – vor allem in diesem speziellen Fall – nichts für mich ist. Aber während der Fahrt erzählt Herr Mecht unablässig von seinen Extremsportabenteuern. Es wäre unhöflich, ihn zu unterbrechen. Direkt im Anschluss, in der Tiefgarage, ist definitiv auch nicht die beste Gelegenheit. Ich möchte schon warten, bis wir im Büro sind, damit die Sache einen offiziellen Anstrich bekommt.

Im Büro werde ich erneut geparkt. Ich sitze also erst mal wieder in dem nackten Raum, es gibt nicht mal mehr Gummibärchen. Nach einer Weile erscheint Dana Dick mit einem Stapel Papier, den sie mir hinlegt. »Ihr Arbeitsvertrag, Herr Wicküler. Bitte durchlesen. Und wenn Sie Fragen haben, ist Herr Mecht gleich für Sie da.« Vielleicht wäre dies die beste Gelegenheit gewesen, aber ich bin mir nicht sicher, ob Frau Dick die richtige Ansprechpartnerin ist. So bin ich zufrieden, die Klappe gehalten zu haben.

Der Arbeitsvertrag ist ein ganzer Roman. Ich blättere hin und her, simuliere das Durchlesen nur, denn ich habe mich dazu entschlossen, diesen Vertrag nicht zu unterschreiben. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Arbeitsvertrag unterschrieben. Warum sollte ich es heute tun? Warum soll ich, Abkömmling einer wohlhabenden Akademikerdynastie, einer solchen Arbeit nachgehen? Hat nicht mein Großvater meinen Vater bis zu seinem Berufseintritt ausgehalten, und hat nicht schon mein Urgroßvater für meinen Großvater dasselbe getan? Wieso, zur Hölle, stoppt mein Vater plötzlich die Geldzufuhr? Etwa, weil ich nicht, wie er, Jurist werde? Etwa, weil es ihm zu lange dauert? Aber hat nicht er mit erst dreißig Jahren sein zweites Staatsexamen abgelegt? Ich bin gerade einmal achtundzwanzig. Es scheint mir bloß, dass ich das Opfer eines innerfamiliären Irrtums bin. Würden die Eltern meines Vaters noch leben, vermutlich würden sie ihren Sohn satt in den Arsch treten, ihren Enkel so hängen zu lassen.

»Sie sind so weit, Herr Wicküler?«, kracht der vor lauter Extremsport chronisch übermotivierte Herr Mecht in den Raum.

Wieder fahre ich zusammen. »Ja, also …«

»Prächtig! Sie haben keine Fragen zum Vertrag?«

»Nein«, stammle ich. Wie denn auch. Ich habe nicht eine Zeile gelesen.

»Schön. Dann ist jetzt Autogrammstunde, was!« Und er grinst mich breit an, wohl in Erwartung, dass ich über diesen blöden Scherz auch noch lache.

Ich lache nicht, aber es ist auch nicht die passende Gelegenheit, Herrn Mecht zu gestehen, dass ich den Vertrag nicht unterschreiben werde.

Er drückt mir den Kugelschreiber in die Hand.

Ich zögere.

»Warum zögern Sie?«

Fuck. Wenn ich es ihm jetzt sage, dann wirkt es, als hätte ich nicht die Eier, die Sache durchzuziehen.

»Herr Wicküler, einfach hier unterschreiben, dort, wo das Kreuzchen ist.«

Ich zögere immer noch.

»Herr Wicküler, was ist denn los?«

Ich blicke auf. Durch den Türspalt sehe ich Dana Dick, die an ihrem Schreibtisch sitzt. Sie hat eine Banane geschält. Die Schale hängt herab wie halb ausgezogene Wäsche. Mit Genuss schiebt sie die Frucht in ihren Mund. Meine Augen trocknen aus, weil ich nicht blinzeln kann.

Herr Mecht sieht sich um. »Ach«, sagt er, steht auf und schließt die Tür. »So, jetzt können Sie in Ruhe unterschreiben.«

Die letzte Gelegenheit, mich zu offenbaren. Aber es ist wieder nicht die passende Gelegenheit. Und eigentlich, finde ich, eigentlich muss ich es tun. Allein, um meinem Vater zu zeigen, wie mich sein Geiz zum Äußersten treibt. Und um Nadja zu zeigen, dass ich es nicht nötig habe, ihr auf der Tasche zu liegen. Und um Mirko zu zeigen, dass ich es packe.

Ich schaue dem Kugelschreiber dabei zu, wie meine rechte Hand ihn auf der feinen Linie tanzen lässt. Julius Wicküler. Kritzel, kratzel. Fertig.

»Prächtig!«, strahlt Herr Mecht. »Dann also Montag, sechs Uhr, Haus Nikolaus.« Er legt mir seine Extremsportlerpranke auf die Schulter. »Und, sind Sie motiviert?«

Ich starre ihn an. Frau Dick, Banane kauend, erlöst mich. »Hier ist die Checkliste, Herr Wicküler. Diese Unterlagen benötigen wir noch von Ihnen. Sie kümmern sich um Ihre Exmatrikulation, ja?«

»Ex…«, stammle ich.

»Prächtig«, ruft Herr Mecht und schiebt mich zum Ausgang.

Auf der Rückfahrt studiere ich den Arbeitsvertrag, den ich bereits unterschrieben habe. Es liest sich, als sei ich nun das Eigentum von Powerjob. Und das für neun Euro brutto Stundenlohn. Ich schließe die Augen und beginne zu rechnen. Ich will es nicht wahrhaben und rechne noch einmal und noch einmal. Am Ende bekomme ich für das, was Mirko »Knochenjob« und »Scheißjob« nennt nicht einmal ein Drittel von dem, was Nadja verdient. Den Rest der Straßenbahnfahrt zerbreche ich mir den Kopf darüber, wieso dieser Arbeitsvertrag für mich kein beschissener Deal sein könnte. Mir fällt nichts ein.

7

»Und er hat einfach so diesen Vertrag unterschrieben.« Nadja bedient sich aus dem Buchstabensäckchen. Scrabble-Abend mit Friederike und Mirko. »Einfach so, ohne ihn vorher genau gelesen zu haben. Ich meine, hallo? Was soll man dazu noch sagen.«

»Du bist total gestört, Jules«, sagt mein bester Freund, anstatt mir beizustehen.

»Da steht drin, dass ihn diese Zeitarbeitsfirma im Ausland einsetzen darf. Ich meine, hallo? Und dann muss er plötzlich in einem Altenheim in Dänemark oder Frankreich arbeiten?«

»Quatsch, Nadja«, wehre ich mich. »Das ist nur so ein Passus.«

»Nur so ein Passus«, äfft sie mich nach.

»Ich werde aus dir nicht schlau, Nadja. Erst soll ich mir einen Job suchen. Dann suche ich mir einen Job, und du bist trotzdem unzufrieden. Kann es sein, dass ich dir nichts recht machen kann?«

»Vielleicht sollten wir nicht ausgerechnet jetzt zum Thema machen, wie diese Firma dich ausbeutet. Du bist übrigens dran.«

Mirko und Friederike schweigen bedrückt. Ein Pärchenzoff am Pärchenabend vergiftet immer die Atmosphäre.

Ich lege BITCH.

»Das ist kein deutsches Wort«, befindet Nadja.

»Doch, es wird in Deutschland benutzt.«

»Von Asozialen.«

»Das ist Jugendslang, Nadja.«

»Es steht sicher nicht im Duden.«

»Es ist ein Wort wie COOL oder FAN. Ein englisches Wort, das es in den deutschen Sprachgebrauch geschafft hat. Völlig unzweifelhaft und einwandfrei.«

»COOL und FAN stehen beide im Duden.« Nadja blättert aufgebracht in dem gelben Buch. »Da! Und da! Und BITCH steht nicht im Duden!«

»Okay, Nadja. Wir leugnen also Wörter, die nicht in diesem dämlichen Duden stehen. Ich habe mir das Wort BITCH also gerade ausgedacht. Es ist ein Fantasiewort, niemand hier hat es vorher je gehört. Ist es nicht so?«

»Jules …«

»Halt die Klappe, Mirko. Ich möchte damit nur sagen, dass ich grundsätzlich Probleme mit diesem Dudenfaschismus habe …«

»Dudenwas?«, ruft Nadja fassungslos.

»Ja, Dudenfaschismus! Mir ist nicht ganz klar, wieso ein Wort wie BITCH nicht gelten soll, wo es heutzutage sicher weitaus häufiger gebraucht wird als zum Beispiel das Wort KOMMOD. Nichts gegen dich, Friederike …«

»Leute, die sich an Regeln halten, sind für dich also Faschisten«, sagt Mirko.

»Komm, mach da bitte keine politische Debatte draus«, wehre ich mich.

»Aber du hast doch mit Faschismus angefangen!«, fällt Nadja über mich her.

»Ganz richtig, Jules. Du hast uns als Faschisten hingestellt.«

Sie bearbeiten mich jetzt zu zweit. Friederike, die von Natur aus schweigsam ist und leicht nervös wird, beginnt, mit dem Bein zu wippen und sich in unserem Wohnzimmer umzusehen.

»Weil Faschisten Leute nicht dulden, die Regeln infrage stellen. Damit habe ich dann doch recht, oder?«

»Dann kann ich ja in Zukunft beim Mensch-ärgere-dich-nicht meine Figuren nach Lust und Laune ziehen, denn wenn ich mich an die Regeln halte, bin ich ein Faschist. Das ist deine Logik, Jules.«

»Da muss ich Nadja recht geben«, sagt mein bester Freund, der miese Judas.

»Wir haben übrigens nicht die aktuellste Ausgabe des Dudens«, gebe ich zu bedenken. »Ich wette, BITCH steht längst drin. Auch ein Merkmal des Faschismus: Er klammert sich an das Gestrige.«

»Warum sollte es ein frauenfeindliches, herabsetzendes Wort aus dem Englischen in den Duden schaffen?«, keift Nadja. »Du legst übrigens immer solche Wörter. Beim letzten Mal lag HURE auf dem Feld. Und wer hat es gelegt? Natürlich mein Freund!«

»Entschuldige bitte, dass ich die Buchstaben ziehe, mit denen man diese Wörter legen kann! Ich lege das, was mir Punkte bringt. Wenn HURE mir die meisten Punkte bringt, lege ich eben HURE. Außerdem steht HURE im Duden.«

»Aber BITCH nicht!«

»Aber wenn ich dich richtig verstehe, geht es dir ja eher um die Bedeutung der Wörter. Ich könnte also so Wörter wie HAPPY oder RABBIT legen, und die wären dann in Ordnung, richtig?«

»Unsinn, Jules, totaler Unsinn!«

»Argumente sind also Unsinn! Es sei denn, es sind deine! Das ist so typisch, Nadja!«

Schon wieder sind wir laut geworden. Friederikes Bein wippt immer schneller.

»Ich finde, wir sollten uns bemühen, uns unserer Emotionen bewusst zu werden, um herauszufinden, ob sie angemessen sind«, versucht es Mirko mit seiner Sozialarbeiterstimme.

»Was, bitte, ist hier unangemessen?«

»Du, Jules! Du bist unangemessen!«, schreit Nadja.

»Wie ich es gesagt habe. Wie im Faschismus. Nicht die Argumente sind das Problem, nein, die ganze Person ist falsch. Hundert Prozent Faschismus, Nadja.«

Meine Freundin springt auf. Sie nimmt ihr Glas Crémant und schüttet ihn mir ins Gesicht. Crémant ist der neue Prosecco. Dann verschwindet sie im Flur. Ich höre die Schlafzimmertür: krach!

Friederike, die jäh ihr Beinwippen einstellt, sagt: »Vielleicht gehen wir jetzt besser, Schatz.«

»Ja, Schatz. Sorry, Jules, aber ich finde, du bist echt zu weit gegangen.«

»Leck mich, Mirko«, entgegne ich, während ich den Crémant aus meinen Augen tupfe. Es brennt fürchterlich.

So weit also mein letzter Abend vor Eintritt in die sogenannte Arbeitswelt. Morgen, sechs Uhr, Haus Nikolaus.

8

Wann immer ich die Stadt im Morgengrauen erlebt habe, bin ich dabei nie nüchtern gewesen, sondern zumeist mörderstoned, ab und an besoffen. Nun, klar im Kopf, stelle ich fest, dass sich die arbeitende Bevölkerung um halb sechs erheblich von der arbeitenden Bevölkerung um kurz vor acht unterscheidet. Die Blicke sind noch verdrossener, die Leute übergeben sich regelrecht aus den Augen. Manche schlafen mit Kinn auf der Brust wie plötzlich verstorben. Es fehlen die Herren in Anzügen und Damen in Kostümen. Mehr KIK, weniger S. Oliver. Umhängetaschen aus Polyester statt Aktenkoffer. Niemand führt um diese Zeit ein Klapprad mit sich. Man lässt routiniert die Schultern hängen, lehnt sich gegen die Tramwand, denn so kriegt wenigstens der Körper noch etwas Schlaf. Auf diese Weise manövrieren sich die Menschen in die Frühschicht. Dazwischen immer wieder Grüppchen von stinkendem, aufgebrauchtem Partyvolk.

Mir stecken der Pärchenabend und die Nacht auf der Couch in den Knochen. Zum ersten Mal überhaupt habe ich morgens das Haus, vermutlich auch das Bett, vor Nadja verlassen. Normalerweise stehe ich auf, wenn die Uhrzeit zweistellig ist. Dann stelle ich unseren Kaffeeautomaten von Latte auf Cappuccino um und eruiere, was das Privatfernsehen zu bieten hat. Habe ich es mir bequem gemacht, nehme ich mein Tablet zur Hand und widme mich meinem großen Projekt: unseren Stadtteil in Minecraft nachzubauen. Instinktiv schaue ich gegen zwei Uhr nachmittags auf die Uhr und stelle fest, dass es schon zwei ist. Ich bereite mir ein Mikrowellengericht zu. Danach nehme ich einen Verdauungsjoint. Nun kommt der Nachmittag, der Pflichten und Aufgaben vorbehalten ist: aufräumen, einkaufen, all der Alltagskram. Ich versuche, so schnell wie möglich wieder aufs Sofa zu kommen. Ich bin wie ein Hund: das Nötige erledigt bekommen, gern auch ein wenig spielen, die meiste Zeit aber ruhig daliegen. Und irgendwann kommt dann Nadja von der Arbeit.

Das letzte Stück bis zur Endhaltestelle bin ich allein in der Tram, ausgenommen eine heruntergewirtschaftete Frau, die vermutlich von einer Zechtour zurückkehrt. Sie schnorrt eine Zigarette von mir und will mich in ein Gespräch verwickeln. Ich habe keine Zeit für sie. Ich gehöre ab heute zu den Leuten, die sagen: »Sorry, keine Zeit, muss arbeiten.«

Es ist noch nicht ganz hell. Der Eingang, vor dem ich von meinem neuen Chef ignoriert worden bin, ist verschlossen. Ich schleiche um das Gebäude wie ein orientierungsloser Einbrecher. Schließlich ist es die verkaterte Frau, die mir den Eingang auf der Hinterseite des Gebäudes zeigt. Im Licht des Vorraums sehe ich sie in ihrer ganzen Pracht: drahtiges schwarzgraues Haar, ein Stapel Ringe unter jedem Auge, spröde Lippen, feuerrote Säuferhaut. Ihr Outfit scheint aus der Plünderung eines Altkleidercontainers zu stammen. Sie hinkt. Oder sie schwankt. Oder beides. Sie könnte Ende vierzig sein, aber auch Mitte sechzig. »Ich bin Patty«, sagt sie.

»Ich bin Julius Wicküler. Heute ist mein erster Tag. Wissen Sie, wo ich hinmuss?«

»Als was fängst du denn an?«

»Pflegehelfer.«

»Auf welcher Station?«

»Zwei.«

Sie bricht unvermittelt in fieses Gelächter aus. Es klingt wie das der bösen Hexe, die erfolgreich Hänsel und Gretel verspeist hat. Irgendwie irre, irgendwie amüsiert. »Geh mal da hinten hin«, weist sie auf eine Art Glaskasten, aus dem Licht in den dunklen Korridor fällt. Dann verschwindet sie in die entgegengesetzte Richtung. Ich habe sie gar nicht gefragt, als was sie hier arbeitet.

Ich gehe ins Licht. Es riecht … ja, wie riecht es hier nur? Ich kenne den Geruch, aber ich kann ihn nicht benennen. Von irgendwoher, aus einem Zimmer in einem der anderen Korridore, kriecht ein dumpfes, bleischweres Stöhnen durch das Halbdunkel in mein Ohr und fährt unter meine Haut. Ich gehe schneller. Gehe ins Licht.

Im Glaskasten werde ich wieder nicht beachtet. Auf einem Drehstuhl sitzt eine hübsche junge Frau mit struppigem, zu einem dicken Zopf gebändigtem Haar. Ihr Blick ertrinkt in ihrer Kaffeetasse. Ein turmhoher Mann mit Pferdeschwanz redet auf eine drahtige, vielleicht fünfzigjährige Grauhaarige ein, wobei er sie fortwährend anfasst und berührt. Ein grobschlächtiger Mensch, aus dessen T-Shirt dornige Tattoos über beide Arme kriechen und dessen Undercut die Brutalität seiner Erscheinung stoppelig unterstreicht, blickt nicht mal auf, als der Pferdeschwanz auch ihn streichelt und betatscht.

Ich räuspere mich mehrfach und sage »Hallo« und »Guten Morgen«. Nach einer Weile der Nichtbeachtung werde ich plötzlich von allen vieren angestarrt.

»Ich heiße Julius Wicküler. Ich soll hier anfangen.«

Der Berührer streichelt meinen Oberarm. »Was ist deine Name?«

»Julius Wicküler«, wiederhole ich.

»Du heute anfangen hier?«

»Keiner hat gesagt«, murmelt die Hübsche in ihren Kaffee.

»Aber ist gut«, sagt der Berührer, der nun meine Schulter tätschelt. »Bist du Fachkraft?«

»Ich … äh … nein, nein. Helfer. Pflegehelfer.«

Jetzt unterhalten sich die beiden in einer mir fremden Sprache. Der Berührer redet sachlich und liebkost dabei Wange und Kinn der Schönen. Die Schöne schimpft und lässt sich von den Zärtlichkeiten nicht beeindrucken.

Die kleine Grauhaarige sieht mich ungläubig an. »Du bist Deutscher?«

»Ja.«

»Von einer Zeitarbeitsfirma?«

»Ja, von Powerjob.«

Sie überlegt kurz. »Die mit dem Pimmel als Logo?«

Ich nicke. Mir ist unwohl. Die Hübsche ist ganz aufgebracht und zeigt abwechselnd auf mich und auf eine Tafel an der Wand, die mit bunten Zetteln übersät ist. Der Pferdeschwanz kann sie nicht beruhigen. Schließlich lässt er sie gehen und wendet sich mir zu.

»Du machst Gruppe drei, okay«, sagt er und deutet auf die Tafel.

»Gruppe drei?«

»Ja. Grundpflege, dann mobilisieren und in Speisesaal für Frühstück.«

Ich habe keine Ahnung, was er von mir will. »Das ist mein erster Tag«, entgegne ich.

»Auf Welt?«

»Lass dich von den Rumänen nicht verunsichern«, schaltet sich die Graue ein. »Ich heiße übrigens Gerti.«

»Okay, Frau Gerti. Ich bin Julius Wicküler.«

»Gerti ist mein Vorname«, lacht sie mich aus. Zu dem Pferdeschwanz sagt sie in reduzierter Sprache: »Er erster Tag, Toni. Er Einarbeitung. Ihr beide Gruppe drei und vier. Du gehst mit ihm. Valeria Gruppe zwei und Küche.«

»Aaah, er erste Tag«, ruft Toni und tätschelt den Hintern der Grauen. Dann streichelt er meinen Rücken. »Ich zeige dir. Du gucken, dann du machen.«

Ich kann nicht fragen, was er meint oder worum es geht. Wir verlassen den Glaskasten und gehen in einen Lagerraum. Toni füllt einen kleinen Schrank auf Rollen mit Bettwäsche, Handtüchern, Waschlappen und diversen anderen Dingen, die mir unbekannt sind. Er schiebt den Rollschrank durch den Korridor. Vor einem Zimmer bleiben wir stehen. Toni nimmt Latexhandschuhe aus einer Pappbox und zieht sie binnen weniger Sekunden an. Ich scheitere schon an der ersten Hand. Der Handschuh ist zu eng. Mit viel Mühe bekomme ich ihn zur Hälfte an. Als ich beginne, jeden Finger einzeln nach unten zu zupfen, reißt Toni mir den Handschuh runter.

»So ist scheiße«, sagt er.

Ich versuche es noch mal. Er verdreht die Augen und zieht mich hinter sich her. Mit Handtüchern, Waschlappen und den mir unbekannten Dingen ausgerüstet betreten wir einen Raum, beziehungsweise: Toni betritt den Raum, und ich staune. Anklopfen und reingehen ist bei ihm eins. Die Tür fliegt auf, er schaltet das Licht an und ruft »Guten Morgen«, als müssten es Leute hinter einer Schallschutzwand in fünf Kilometer Entfernung hören. Ein Sondereinsatzkommando könnte einen Raum nicht lauter stürmen. Die beiden alten Damen in ihren Betten scheint der brachiale Auftritt allerdings wenig zu beeindrucken. Sie rühren sich nicht. Ich frage mich, ob sie tot sind.

Toni drückt auf einen Knopf an einer kleinen Anlage an der Wand. Ein grünes Licht leuchtet. »Das heißt: Du bist in Raum.« Dann zeigt er auf die Frau, die näher an der Tür liegt. »Machen sie zuerst. Machen zackzack, dann fertig. Zu wenig Zeit.«