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Simon Kamm

Portugal

Ein Länderporträt

Ch. Links Verlag, Berlin

Dieses Buch widme ich meinem Vater Urs Kamm

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2. Auflage, August 2019

entspricht der 2. Druckauflage von August 2019

© Christoph Links Verlag GmbH, 2014

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Umschlagabbildung: Straßenbahn der Linie 28 im

Stadtteil Alfama in Lissabon; © iStock/KavalenkavaVolha

Karte: Christopher Volle, Freiburg

Satz: Eugen Bohnstedt, Ch. Links Verlag

ISBN 978-3-96289-049-0

eISBN 978-3-86284-454-8

Inhalt

Vorwort

Von einer Weltmacht zum ärmsten Land Westeuropas

Ankunft in Europa

Am Rande Europas – »Wo das Land aufhört und das Meer beginnt«

Begegnung in London

Die etwas anderen Südländer: Was die eigensinnigen Portugiesen ausmacht

Iberische Hassliebe: Das eigenartige Verhältnis der ungleichen Nachbarn

Portugiesisch: Die unbekannte »heimtückische« Weltsprache

Kleines Land, große Kontraste (561 mal 218 Kilometer)

Hauptstadt und Land: Der Rest ist bei Weitem nicht nur Landschaft

»Liebeserklärungen« zwischen Nord und Süd

Regionale Schnappschüsse

Portugal zum Genießen und Verzweifeln: Einblicke in die alma lusa

Rebellen ohne Grund: Über fehlenden Bürgersinn und Zivilisiertheit

Über das portugiesische Zeitverständnis und die Arbeitskultur. Und die heimische Kunstgattung namens desenrascanço

Nationale Identität und Patriotismus: »Über meine Familie und mein Land rede nur ich schlecht, sonst keiner!«

Der besondere Stellenwert des Essens: Vom portugiesischen Magen zum portugiesischen Charakter

All das ist traurig. All das ist Fado! – Wie die Portugiesen ihr Schicksal besingen

Kulturelle Wahrzeichen Portugals: Über Dichter und Verwandlungskünstler

Fliesenbilder einer fast 900 Jahre alten Geschichte

»Portugal. Since 1143.« – Über die Urportugiesen und die Bildung der nationalen Identität

Aufbruch zu unbekannten Ufern: Die ruhmreiche Vergangenheit als Seefahrernation und Kolonialmacht

»Über Meere, die nie zuvor befahren«

Das Goldene Zeitalter und der schleichende Untergang des Imperiums

Der eingezäunte Garten Salazars – und der beschwerliche Weg zur Demokratie

Stolz und allein: das Motto der autoritären Diktatur des Estado Novo

Zensur, Staatspolizei und das Wort »Freiheit«

Der letzte neutrale Hafen: Helden, Spione und andere Geschichten

Der Anfang vom Ende – Kolonialkrieg

Eine typisch portugiesische Revolution und das Ungewisse danach

Viel Staub unterm Teppich: Zwischen Bruch und Kontinuität

Im Schnelldurchgang nach Europa: Alte Probleme und neue Krise

Die Boom-Jahre: Zwischen Fortschritt und Beton

Die »Wiederentdeckung« des Meeres

Portugals neue EU-Generation: Ein Bruch mit der Vergangenheit

Anhang

Ein paar historische Daten, die es sich zu merken lohnt

Basisdaten Portugal

Karte

Literatur

Nützliche Links

Dank

»Sieh mal nach«, sagte Larry.

»Sieh nach, wo dieses Portugal ist.«

»Da!«, rief ich nach einer kurzen Irrfahrt über die Weltkarte triumphierend.

»Genau wie sie im Fernsehen sagen, es liegt in Europa!«

(Rui Zink, Hotel Lusitano)

Vorwort

Den Beginn meines Portugalabenteuers verdanke ich meinen Eltern, vor allem meinem Vater, der nach fast acht Jahren Mexiko-City von seiner Firma auf die andere Seite des Atlantiks versetzt wurde: in ein Land namens Portugal. Ich war damals zwölf Jahre alt und hatte keine Ahnung, wo dieses Land überhaupt lag. Ja, ich hatte noch nicht einmal davon gehört! In Europa, erfuhr ich.

Mehr als 25 Jahre später (wer hätte das gedacht) wohne ich immer noch hier, wenn auch mit kurzen Unterbrechungen. Meine Freunde, Portugiesen wie auch Ausländer, geben sich bass erstaunt. Viele von ihnen sind zwar mit mir zusammen hier aufgewachsen und lieben das Land über alles, sind aber schon längst über alle Berge, weil sie irgendwann gemerkt haben, dass dies nicht der Ort ist, an dem man leicht Karriere macht oder gar reich wird.

Zumindest nicht im materiellen Sinne.

Und dennoch kommen sie alle Jahre wieder aus Zürich und Berlin, aus Costa Rica, München oder weiß der Geier woher – zurück in diesen »am Meer gesäten Garten« und erfreuen sich an den Reizen und Vorzügen dieser Gestade. Wie kleine Kinder mit großen Augen vor den unerklärlich überbrachten Weihnachtsgeschenken stehen, staunen sie und haben ein seliges Lächeln aufgesetzt, wenn sie Heimkehrer sind. Dieses Land, dieses Volk, dieses Leben zieht einen geradezu magisch in seinen Bann – und lässt nicht wieder los.

Ich bereue es nicht, hiergeblieben zu sein. Nicht immer zumindest. Vieles hat sich seit meiner Ankunft verändert, und vieles schon zuvor. Portugal hat in den letzten 50 Jahren einen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel erlebt wie wohl kein anderes Land im westlichen Europa. Dieses kleine Land hat sich in einem atemberaubenden Tempo von einer abgeschotteten und in allen Bereichen zurückgebliebenen ländlichen Agrargesellschaft in einen modernen europäischen Staat verwandelt. Ein Werdegang, der alles andere als einfach war, und dessen Schwierigkeiten und Widersprüche heute noch spürbar sind.

Denn die lusitanische Nation am Rande Europas musste sich nach einer fast 50-jährigen Diktatur und einem 500-jährigen Kolonialreich als kleines Land neu finden. Ein Teil der heutigen Probleme beruht wohl immer noch darauf, dass Tempo und Intensität des Wandels das kleine Land einfach überrannt haben.

Sosehr man sich auch um mitteleuropäische Effizienz bemüht: Die innere lusitanische Uhr geht selbst nach mehr als 30 Jahren Europa oft noch anders, sie tickt gemächlicher – und die portugiesische Gemütlichkeit scheint manchmal einfach unvereinbar zu sein mit dem Stress der fortschreitenden Modernisierung und Globalisierung. Mitunter begegnet man dem Wandel auch mit Argwohn, hält alte Werte hoch und verflucht die Moderne – greift zugleich aber doch nach den Sternen und opfert letztlich einen Teil der lusitanischen Annehmlichkeit für eine nach wie vor nötige Aufholjagd.

Portugal ist ein ebenso wunderbares wie sonderbares Land. Ein Land der schroffen Kontraste und Gegensätze, wo Alt und Neu, Nostalgie und Moderne aufeinandertreffen und (mal mehr und mal weniger geglückt) auch Hand in Hand gehen. Wo bewährtes Altes ebenso seinen Platz findet wie innovatives Neues, so wie die legendären, laut quietschenden Lissabonner Straßenbahnen einträchtig neben ihren modernen, leisen Nachfolgerinnen einherfahren; wo alte Autos, schwarze Auspuffwolken speiend, neben High-Tech-Mobilen, die schon seit langem »grün« fahren, an den Ampeln stehen. Portugal ist ein Land mit einer bewegten Geschichte, in dem sich der beinahe 900 Jahre währende Einfluss unterschiedlicher Kulturen mit modernen Trends und Lebensstilen vermischt und einen einmaligen Kontrast geschaffen hat, ein Land, das Fortschritte und Rückfälle erlebt hat. Mein Kollege Thomas Fischer, der für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) aus Lissabon berichtet, hat Portugal einmal als ein Land »mit vielen Blockaden und verkrusteten Strukturen beschrieben«, das aber auch viele, wenn auch wenig bekannte Fähigkeiten hat.

Es gibt kein einheitliches Portugal und noch viel weniger »den Portugiesen«. Diese kontrastreichen Gefilde und ihre unterschiedlichen Menschen, diese eigensinnige, aber zugleich zauberhafte Mixtur als ein Ganzes zu beschreiben, stellt sich auch nach mehr als 25 Jahren Aufenthalt – oder gerade deswegen – als eine kaum realisierbare Aufgabe heraus. Wie soll man bitte ein zutiefst widersprüchliches Volk, welches so viel anscheinend Unvereinbares vereint, beschreiben? Was ist das für ein Land, dessen bisher einziger Literaturnobelpreisträger ins »spanische Exil« geht? Dessen Nationalmannschaft seit Langem (mit den) besten Fußball Europas spielt und trotzdem (bis zum unerwarteten EM-Sieg 2016 gegen Frankreich – endlich!) allzu oft im letzten Moment gescheitert ist? Dessen Steuerzahler Autobahnen finanzieren, die kaum einer nutzt? Das Anfang der 1990er Jahre ein elektronisches Mautstellensystem, die Via Verde, erfindet und sogar exportiert, aber dem es erst mit erheblichen Mühen gelang, seine einst gewaltige Verkehrstotenrate auf »europäisches« Niveau zu drücken? Das internationale Bewunderung erntet, weil es die Nutzung erneuerbarer Energien vorantreibt, das für sein Talent und seine Fähigkeiten im High-Tech-Bereich bekannt ist – sogar die US-Raumfahrtbehörde NASA benutzt Software aus Portugal–, seine Industrie sowie seine Landwirtschaft und Fischerei aber sträflich verkommen ließ?

Was ist das für ein Land, wo die Autoflotte zu einer der modernsten in Europa gehört – das aber im EU-Vergleich immer noch eine der größten Klüfte zwischen Arm und Reich aufweist? Was ist das für ein Fleckchen Erde, in dem es möglich ist, innerhalb einer Stunde ein Unternehmen online zu gründen, das aber Verkehrsbußen und Steuerschulden massiv verjähren lässt? Und wo der Staat mit den Bränden, die alljährlich im Sommer wüten (der bisher verheerendste Waldbrand hat im Juni 2017 insgesamt 66 Tote und 253 Verletzte hinterlassen) immer wieder aufs Neue total überfordert ist?

Was ist das für ein Land, dieses Land der »sanften Sitten«, wo es trotz Krise und harter Sparmaßnahmen während des Anpassungsprogramms 2011–2014 und darüber hinaus weder zu einer sozialen Explosion noch zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen ist, wo man sich aber weiterhin tagtäglich auf dem Asphalt wie Feinde begegnet, wo man einander zu Tode fährt und wo nur wenige tatsächlich auf die Zivilisiertheit ihrer Mitmenschen vertrauen? In dem nach einer fast 50-jährigen Diktatur (die für politische Verfolgung und Folter, für das »Trauma Kolonialkrieg« und für eine Rückständigkeit steht, an der Portugal bis heute krankt) der einstige Despot Salazar im Jahr 2007 in einer TV-Show zum größten Landsmann aller Zeiten gewählt wird?

Und wie zum Teufel ist es möglich, dass in Portugal eines der wohl raffiniertesten Geldkartensysteme Europas existiert, mit dem man seine Einkäufe sogar am Strand bargeldlos tätigen und an jedem beliebigen Automaten Geld kostenfrei abheben, aber auch Steuern bezahlen und die Stromrechnung begleichen kann – und die Zahlungsmoral trotzdem zu einer der schlechtesten in Europa gehört, Schattenwirtschaft und Steuerhinterziehung grassieren?

Ein Land, das zwar den europäischen Zug anfänglich mit sehr viel Elan erwischt hat, um dann doch auf halber Strecke zu bleiben, ein Land, in dem sich die eigenen Leute über ein Übermaß an Schlendrian beklagen, in dem aber just eine gewisse Dosis desselben einen Teil seines Reizes im Alltag ausmacht.

So sollen hier weder Portugal noch »die Portugiesen« definiert werden – auch weil es schlicht und ergreifend unmöglich ist, sondern es sollen einzelne Merkmale, Besonderheiten und Charakterzüge aufgezeigt werden, von denen ich denke, dass sie dieses Land und seine Menschen von anderen Ländern und Völkern Europas abgrenzen und einmalig machen. Die es abgrenzen von Spanien, des Deutschen (einst) liebstem Urlaubsziel, dem großen ungleichen Bruder, in dessen Schatten man sich zwar gewöhnt hat aufzuwachsen, zu dem aber die Beziehungen über die letzten Jahrhunderte alles andere als herzlich waren.

Mit persönlichen Alltagsbeobachtungen, Erlebnissen und Erfahrungen, Geschichten und Anekdoten versuche ich in diesem Buch, ein wenig Licht auf diese eigensinnige Ecke Europas zu werfen und die für mich wichtigsten Details des portugiesischen Gesamtbildes zu beschreiben: ein intimes Porträt eines Landes, das mir zu einer lieben Heimat geworden ist. Und während ich an diesem Gemälde arbeite, weiß ich doch, dass das Bild am Ende wohl immer schiefhängen und diesem einmaligen Land und seinen großartigen Menschen nicht gerecht werden wird.

Lissabon, Mai 2019

Simon Kamm

Von einer Weltmacht zum ärmsten Land Westeuropas

»Ohne Zweifel haben wir eine Vergangenheit. Zuviel vielleicht.

So viel, dass für die Zukunft kein Raum bleibt.«

(Manuel Alegre)

Als am 16. April 2010 der deutsche Regierungsflieger mit Bundeskanzlerin Angela Merkel an Bord wegen der über Teilen Europas hängenden Wolke aus isländischer Vulkanasche auf der Rückreise nach Berlin unerwartet in Lissabon zwischenlanden musste, brach bei mir in der Redaktion der portugiesischen Nachrichtenagentur LUSA allgemeines Gelächter aus. Nicht etwa, weil wir es lustig fanden, dass die deutsche Regierungschefin umgeleitet werden musste, sondern einfach, weil der US-Nachrichtensender CNN die portugiesische Hauptstadt mal wieder per Blindschuss auf die Weltkarte gesetzt hatte. In diesem Falle war es irgendwo im Golf von Guinea (als kleiner Punkt im Atlantischen Ozean, irgendwo vor Westafrika). »Die haben ja gar nicht so unrecht«, witzelte einer und konnte eine gewisse Kränkung nicht verbergen. »Wir gehören halt tatsächlich mehr zu Afrika als zu Europa. In Wahrheit sind wir nicht mal mehr der Arsch Europas!« Obwohl es sich natürlich auch nur um einen topografischen Fehler handelte, war dieser irgendwie typisch: spricht er doch für wenig bis gar keinen Respekt im Umgang mit der lusitanischen Nation …

Die Portugiesen sind es mehr oder weniger gewöhnt, dass ihr Land, einst die führende See- und Kolonialmacht, seit Langem international keine Beachtung mehr findet, ja sogar ignoriert wird. Es ist einfach so: Portugal, einer der ältesten Nationalstaaten Europas, Gründungsmitglied der NATO und der EU-Währungsunion, spielt keine relevante internationale Rolle mehr. Dass die Bevölkerung diese Nichtachtung gewöhnt ist, heißt aber noch lange nicht, dass sie froh darüber wäre oder sich damit abgefunden hätte. »Wie kann man uns denn ernst nehmen«, seufzte ein älterer Kollege, »wenn man es nicht mal mehr schafft, uns auf einer beschissenen Landkarte zu finden?« Man verzeihe seine Ausdrucksweise.

Das Empfinden, immer weiter in die Bedeutungslosigkeit abzudriften, liegt schwer auf der nationalen Seele … oh ja, das tut es. Doch viel schlimmer noch als Lissabon, einstmals der Nabel der Welt, einfach irgendwo zu platzieren (und das Land selbst gegebenenfalls zum Insel-Archipel zu erklären) ist es, wenn die nun schon seit dem 13. Jahrhundert praktisch unveränderte Grenze zum erdrückend größeren Nachbarn Spanien in fast allen Wetterkarten einfach vergessen wird und der iberische Klotz als ein Ganzes erscheint – mit Hauptstadt Madrid! Dann geht gar nichts mehr! Denn ein solcher Missgriff degradiert Portugal zur spanischen Provinz. Und mit diesem Rückfall in die iberische Personalunion der Jahre 1580–1640 hört der Spaß nun endgültig auf, Freunde! Immerhin hat man die letzten Jahrhunderte nicht ohne Grund damit verbracht, genau dies mit sehr viel Beharrlichkeit zu verhindern, und die portugiesische Eigenständigkeit mit Schweiß und Blut bewahrt …

Portugal war schon immer ein weit entfernter Vorort Europas, isoliert und auf sich allein gestellt: Vom weiten Atlantik im Süden und Westen begrenzt, spürt es östlich und auch im Norden die Flanken des großen Bruders Spanien. Es ist ein Land, welches seit eh und je aufs verheißungsvolle Meer blickte und damit dem restlichen Europa den Rücken zuwandte. Internationales Aufsehen erregte Portugal in den letzten Jahren vor allem wegen seiner wirtschaftlichen und finanziellen Lage: Musste es 2011 als drittes Land unter den EU-Rettungsschirm schlüpfen und gehörte damit zu den »EU-Krisenländern«, so setzte es danach unter einer Mitte-Rechts-Regierung die verordnete EU-Rettungspolitik (Sparprogramm und Strukturreformen) tadellos um und übererfüllte sie zum Teil sogar. Seit Neuestem gilt Portugal gar als Musterbeispiel für Krisenbewältigung und Symbol für wirtschaftlichen Erfolg in Europa.

Wer gewohnt war, Portugal als Krisenland zu bemitleiden, dürfte also mittlerweile einige Überraschungen erlebt haben. Darüber hinaus hat das Land in jüngster Zeit einige Erfolgserlebnisse feiern können, die nicht nur das Selbstbewusstsein seiner Einwohner gehoben, sondern auch die allgemeine Stimmung beflügelt haben. Angefangen natürlich mit jener glorreichen Nacht am 10. Juli 2016 im Pariser Stade de France, wo sich die Portugiesen gegen Gastgeber Frankreich in einem denkwürdigen Endspiel zum ersten EM-Triumph in der Geschichte kämpften. Ein weiterer entscheidender Erfolg auf internationaler Ebene gelang dem kleinen Land nur einige Monate später, als sein ehemaliger Premierminister António Guterres im Dezember 2016 offiziell als neuer UN-Generalsekretär vereidigt wurde. Im Mai 2017, zeitgleich mit dem Besuch des Papstes im Wallfahrtsort Fátima zum 100. Jahrestag der Marienerscheinungen, siegte Salvador Sobral überaschenderweise beim Eurovision Song Contest (ESC) 2017 in Kiew – bei dem Portugal eher an hintere Plätze gewohnt war. Das Sahnehäubchen kam Ende Dezember 2017, als mit Finanzminister Mário Centeno ausgerechnet ein Portugiese zum neuen Euro-Gruppen-Chef ernannt wurde. Und wer im Zuge des touristischen Booms der letzten Jahre nach Portugal gekommen ist, mag darüber staunen, wie überall gebaut und renoviert wird, wie das Land mit der Zeit geht und nach den harten Krisenjahren wieder aufblüht.

Das alles hat jedoch nicht gereicht, um das Land aus dem Schatten von Spanien zu ziehen – oder es auch nur in die Nähe seiner einstigen Größe zu bringen. Während seines goldenen Zeitalters, Ende des 15. bis circa Mitte des 16. Jahrhunderts, war Portugal das reichste Land und eine der mächtigsten Nationen der Welt – eine gefürchtete und angesehene Großmacht, die Länder wie Spanien und England hinter sich ließ und der staunenden Welt zeigte, wo es langging. Doch von ihrem einstigen Weltruhm ist der lusitanischen Heimat nicht viel geblieben, das einstige Imperium existiert nicht mehr. Die alte Größe? Ach, die ist schon längst verflogen. Fernando Pessoa, der größte Dichter der portugiesischen Moderne, schrieb vor fast einem Jahrhundert, noch während der Ersten Republik (1910–1926), in unnachahmlicher, lyrisch-direkter Weise: »Somos hoje um pingo de tinta seca da mão que escreveu Império da esquerda à direita da geografia.« – »Wir sind heute ein Fleck trockener Tinte aus einer Hand, die von links nach rechts Imperium in die Geografie geschrieben hat.« Der Undank der Geschichte. Und die meisten Portugiesen scheinen daran immer noch (zumindest ein wenig) zu verzweifeln.

Besonders während der Herrschaft von König Manuel I. (1469–1521), so wird heute noch gern erzählt, meinte es Gott (oder auch das Schicksal) gut mit den Portugiesen. In seinem Auftrag wurden die längsten und ertragreichsten Seefahrten unternommen: Unter ihm segelten am Ufer des Flusses Tejo die Karavellen los, die der damaligen Welt, dem mittelalterlichen Europa, neue Horizonte öffneten und in ihren Bäuchen Gold, Gewürze und später auch Sklaven heimbrachten – ein unvorstellbarer Reichtum, der dem kleinen Land ein beachtliches, aber doch relativ kurzes wirtschaftliches und kulturelles Aufblühen ermöglichte. Portugal, das damals eine knappe Million Bauern, Hirten und Fischer zählte, erreichte unter dem hochgebildeten, besonnenen, aber auch für seine verschwenderische Ader bekannten König den Höhepunkt seiner Macht und herrschte zuerst fast ganz allein (dann in Absprache mit Spanien, nach einer einvernehmlichen Aufteilung der Welt) über die Weltmeere. Stolz und selbstsicher, fast unantastbar schien diese Seefahrernation zu sein.

Und es gab auch allen Grund dazu: 1498 entdeckten unerschrockene Pioniere unter dem Kommando von Vasco da Gama den Seeweg nach Indien, den Columbus 1492 gefunden zu haben glaubte. Portugal wurde Weltmacht, und die erste Globalisierung nahm ihren Lauf. Zwei Jahre später landete 1500 Pedro Álvares Cabral aus Zufall (oder auch nicht) in Brasilien. Francisco de Almeida wurde zum Vizekönig von Indien ernannt (1505); Admiral D. Afonso de Albuquerque stellte die Kontrolle über die Handelswege des Indischen Ozeans und am Persischen Golf sicher und erschloss für Portugal zudem neue wichtige Handelsorte wie die Küstenstadt Malakka (Malaysia) oder Goa an der mittleren Westküste Indiens – Großtaten, die nur durch den Mut unzähliger Seeabenteurer möglich gemacht wurden. Sie wagten sich für den großen Initiator der portugiesischen Entdeckungsreisen im 15. Jahrhundert, Infante Dom Henrique, genannt Heinrich der Seefahrer (1394–1460), Stück für Stück in das Mare Tenebrosum (»Meer der Finsternis«) hinaus und bewiesen der mittelalterlichen Welt das zu der Zeit scheinbar Unmögliche. Kein Wunder, dass Manuel I. als »König Manuel der Glückliche« (o Venturoso oder o Afortunado) in die Geschichtsbücher einging.

Und warum sollte es anders sein? Mit Ausnahme seiner Ehen, die ihn zweimal verwitwet zurückließen, hat ihn Fortuna zeitlebens mit Glück und Gelingen überhäuft. Wenn man dazu noch bedenkt, dass er unter normalen Umständen, also ohne den unerwarteten Tod des Thronfolgers Dom Afonso, der 1491 mit 16 Jahren vom Pferd stürzte, gar nicht die Krone aufgesetzt bekommen hätte, so gewinnt die Rede vom »Glückskind« nur mehr an Bedeutung. Die Reichtümer, die ihm aus den überseeischen Eroberungen zuflossen, erlaubten ihm, dem gesamten Hof und den führenden Schichten ein Leben in Saus und Braus. Er entfaltete einen Luxus, der in Europa seinesgleichen suchte – nicht nur wenn er ausritt und sich dabei von Elefanten, Nilpferden und anderen exotischen Tieren eskortieren ließ, die aus Indien und Afrika als Geschenke einflussreicher Potentaten kamen. Vermögend genug war er aber auch für seine Leidenschaft: den Bau von Kirchen, Klöstern, Schlössern und Burgen – wobei das Mosteiro dos Jerónimos (Hieronymuskloster) im westlichen Lissabonner Stadtteil Belém zugleich Symbol des damaligen unvorstellbaren Reichtums wurde. Es ist ein großartiger Bau, hell leuchtend und von fragiler Dekoration, der gewöhnlich als Juwel des nach ihm benannten »manuelinischen Baustils« oder der Manuelinik bezeichnet wird – und mit dem sich die lusitanische Seefahrernation ein eigenes Denkmal setzte. Überreich mit maritimen Symbolen geschmückt, erinnert diese besondere Interpretation der Spätgotik an Portugals Hauptbeschäftigung im 15. und 16. Jahrhundert: die Welteroberung.

Inspiriert wurde dieser einzigartige Bau- und Dekorationsstil von den neuen Eindrücken, welche die Seeleute aus der fernen Welt mitbrachten: Maritime Ornamente wie Segeltaue, Knoten, Pflanzen, Muscheln, Korallen, gewundene Seile oder Anker winden sich auch heute noch an Wänden, Portalen und Fenstern, schmücken Klöster, Kirchen und Paläste. Weitere, sehr charakteristische Motive sind das Kreuz des Christusritterordens und die Armillarsphäre, ein mittelalterliches astronomisches Gerät, das in vielfachen Abwandlungen an fast allen Bauten zu finden ist und den Entdeckern als Navigationsinstrument diente.

Die Arbeiten am Hieronymuskloster begannen 1501/02 und endeten fast ein Jahrhundert später. Der Bau des imposanten Meisterwerks wurde durch die »Vintena da Pimenta« finanziert, eine Steuer von fünf Prozent auf all das Gold aus den afrikanischen Gebieten und fernöstliche Gewürze und Edelsteine, die reichlich in die Hauptstadt des Imperiums flossen. Wer hätte zu Manuels Lebzeiten denken können, dass nur einige Jahrzehnte später ein blutjunger und unerfahrener König namens Dom Sebastião, der von kriegerischen Abenteuern und neuen heroischen Eroberungen für Portugal und das Christentum besessen war, mit einer unüberlegten Kamikaze-Expedition nach Nordafrika all dies (das ganze Weltreich und – wer weiß – die ganze Zukunft Portugals, wie zumindest heute mitunter noch argumentiert wird) verspielen sollte? Ein fataler Fehltritt, mit dem, so sind sich viele Portugiesen sicher, der Undank der Geschichte, den sie heute noch beklagen, begann. Zumal nicht einmal 60 Jahre nach dem Tod des »Glückskönigs« Manuel I. der Erzfeind Spanien seine Ansprüche auf die portugiesische Krone geltend machen konnte und von 1580 bis 1640 die Macht an sich riss. Portugal wurde zur autonomen spanischen Provinz degradiert, und die stolzen Lusitaner mussten in den nächsten 60 Jahren (was in dieser Zeit mehr als ein ganzes Leben bedeutete) eine in allen Bereichen zunehmende Kastilianisierung erdulden. Als spanisches Anhängsel kam Portugal dazu noch ins Visier von Spaniens Feinden: Die Portugiesen mussten hilflos und ohnmächtig zusehen, wie England und Holland, die inzwischen zu Seefahrernationen aufgestiegen waren, ihnen wichtige und einträgliche Teile des weltweiten Kolonialreiches wegschnappten.

Während dieser fatalen und brutalen spanischen Fremdherrschaft verlor Portugal die Oberhand über die Weltmeere und büßte stark an politischem und wirtschaftlichem Einfluss ein. Und all das ist nur einem starr- und eigensinnigen Jüngling namens Sebastião (1554–1578) geschuldet, der als Enkel des Königs Dom João III. auf die Welt kam.

Sebastiãos Vater war kurze Zeit vor seiner Geburt verstorben, und man hoffte innigst auf einen männlichen Thronfolger des Hauses Avis (1383–1580), die zweite Königsdynastie, die Portugal in Richtung Blütezeit gelenkt und auch durch sie hindurchgeführt hatte. Schon vor seiner Geburt wurde das Kind zum Desejado, dem »Ersehnten«, ausgerufen. Mit drei Jahren zum König gekrönt, übernahm Dom Sebastião mit nur 14 Jahren 1568 offiziell die Macht. Die fanatischen Jesuiten, die ihn erzogen, füllten sein junges Knabenköpflein mit allerlei mittelalterlich-verblendetem Schwachsinn. Der zierliche blonde Jüngling soll sogar gelobt haben, keine Frau anzurühren, bis er nicht den Islam besiegt hätte. Fakt ist, er hinterlässt keinen Thronnachfolger, obwohl es an Anwärterinnen nicht gemangelt haben soll.

Sein Kamikaze-Unternehmen begann, als er sich entschloss, von nichts als törichtem Ehrgeiz geleitet und gegen den Willen seiner engsten Ratgeber, einen verspäteten Kreuzzug nach Nordafrika zu starten. 1578, mit 24 Jahren und ohne jegliche militärische Erfahrung, versammelte der königliche Kindskopf alle Männer, die er kriegen konnte, und setzte vom südlichen Lagos aus mit einem Heer von 18 000 Mann nach Marokko über. Nach vier Tagesmärschen unter der sengenden afrikanischen Augustsonne (seine Rösser waren noch seekrank von der Überfahrt, und seine Ritter brutzelten in ihren Rüstungen) traf er in der Wüste auf eine maurische Übermacht und wurde in der Schlacht von Alcácer-Quibir jämmerlich geschlagen. Fast der ganze Jungadel Portugals ging in dieser Schlacht zugrunde, und das Lösegeld für die Überlebenden ruinierte das Land. Auch Portugals »Hoffnungsträger« kam nicht zurück.

Der schmähliche Tod des Knabenkönigs traf Portugal wie ein Schlag und hieb eine tiefe Wunde in das portugiesische Selbstwertgefühl. Trauer und Resignation machten sich breit. Ab diesem Moment, da sind sich viele Portugiesen heute noch einig, hat Gott oder das Schicksal – vorher so gnädig mit Portugal – dem Land für immer den Rücken zugekehrt. Und nur damit kann auch der langsame Niedergang des Weltreiches begonnen haben, der zur heutigen Bedeutungslosigkeit ausgeartet ist.

Was wäre gewesen, wenn? Diese Frage wiederkäut der lusitanische Magen sehnsüchtig. Immer und immer. Doch El-Rei Dom Sebastião wurde für seinen wahnwitzigen Feldzug nicht verteufelt. Da ihn angeblich niemand sterben sah und sein Leichnam auch nie gefunden wurde, entstand ein wahrer Erlösermythos um den »Verschollenen«. Denn eines schönen Tages, so besagt die Legende des Sebastianismo, wird der blonde Jüngling selbst oder als Reinkarnation in Gestalt eines charismatischen Führers aus dem Nebel zurückkehren, um Portugal eine neue Blüte zu bescheren. Und alles wird so gut sein wie früher und für immerdar. Oder wer weiß – vielleicht noch besser: Denn wenn der »Ersehnte« schon einmal dabei ist, gründet er selbstverständlich ein neues, dauerhaftes portugiesisches Weltreich, das Fünfte Imperium, und das lusitanische Volk wird sich endlich wieder seiner Bestimmung widmen können. So hat es schließlich nicht nur Gonçalo Anes Bandarra, ein von der Inquisition verfolgter Schuster und Mystiker aus dem Städtchen Trancoso (Distrikt Guarda), prophezeit, sondern im 17. Jahrhundert auch der bedeutendste Theologe Portugals und unübertroffene Rhetoriker Pater António Vieira.

Für Nichtportugiesen ist das kaum zu verstehen, vielleicht sogar lächerlich, für die meisten Portugiesen aber seit Jahrhunderten alltägliches Seelenbrot. Und ein Gespenst, welches Portugal bis auf den heutigen Tag noch des Öfteren heimsucht. Der Traum der Rückkehr eines messianischen Königs, der nun seit fast 450 Jahren in irgendeinem gottverlassenen marokkanischen Wadi verschollen ist, mag zwar mit der Zeit schon längst ausgeträumt sein, doch seine Auswüchse beeinflussen immer noch das Gemüt. Demnach soll der Sebastianismo (d. h. die Sehnsucht nach einer besseren, glorreichen Zeit) für die passive Wartehaltung, Rückwärtsgewandtheit und den lähmenden Fatalismus verantwortlich sein – Charaktereigenschaften und Wesenszüge, die man den Portugiesen ja gern nachsagt. Eins ist aber sicher: Als Ausdruck nationaler Identität erscheint dieser Mythos vom »verschollenen« oder »verborgenen« Erlöser immer dann in der gesellschaftlichen Diskussion, wenn die nationale Existenz oder die Zukunft des Heimatlandes als bedroht empfunden werden – oder die Rolle der lusitanischen Nation auf der Weltbühne in Frage gestellt wird.

Schon seit dem Verlust der Unabhängigkeit an Kastilien hat dieser Mythos als eine Art Strohhalm gedient, an den sich das Volk klammert, um sich in Krisenzeiten nicht aufzugeben und die Hoffnung auf bessere Zeiten zu bewahren. Es ist die Hoffnung auf eine wundersame Rettung: dass endlich jemand kommt und den Karren aus dem Dreck zieht, einem Schlamassel, der so alt ist wie die Legende vom verschollenen König selbst. Etwas Gutes wird schon passieren, so hofft man in Portugal innigst, aber natürlich ohne jeglichen Aufwand und Eigenverantwortung, wie es der portugiesische Sozialreformer und Dichter Antero de Quental (1842–1891) vor mehr als 100 Jahren zutiefst kritisierte. Bereits 1978, unter dem unmittelbaren Eindruck der Umwälzungen in der jüngsten portugiesischen Vergangenheit, erkannte Eduardo Lourenço, einer der bedeutendsten Literaturwissenschaftler und Essayisten Portugals, die Notwendigkeit, sich selbst (neu) zu definieren: »Ob wir wollen oder nicht, wir sind jetzt andere, wenngleich wir wie selbstverständlich damit fortfahren, uns nicht nur für dieselben zu halten, sondern sogar neue Mythen zu erfinden, um eine Identität zu erhalten, die – falls sie überhaupt andauert – ihre Form, ihre Struktur und ihre Beschaffenheit verändert hat. Es ist an der Zeit, dass wir existieren und uns so sehen, wie wir sind.« Oder wie der portugiesische Poet Alexandre O’Neill (1924–1986) es in seinem typisch bissig-spöttischen Tonfall meisterhaft ausdrückte: »Du hast eine ruhmreiche zukunftsträchtige Vergangenheit / aber lasse den Löffel nicht hängen / denn die Suppe wird kalt.«

Ankunft in Europa

»Portugal ist kein exotisches, sondern ein ›erkennbares‹ Land: Man weiß nur zu wenig über uns.«

(Boaventura de Sousa Santos)

Genauso hoffte man, mit der Demokratie und dem Beitritt Portugals zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1986 Wohlstand und Bildung für alle verwirklichen zu können. Mit der Unterzeichnung der Beitrittserklärung Portugals am 12. Juni 1985, just im altehrwürdigen Convento dos Jerónimos in Lissabon, wurde Portugal (zeitgleich mit Spanien) ab dem 1. Januar 1986 Vollmitglied der heutigen Europäischen Union. Endlich würde man die andauernden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und den aus fast 50 Jahren Diktatur entsprungenen ökonomischen und gesellschaftlichen Rückstand zum »fernen« Europa hinter sich lassen können. Und tatsächlich: Jahre des wirtschaftlichen Booms zeigten scheinbar, dass das Land seinen Weg zum Wohlstand und zur Parität gegenüber dem restlichen Europa schaffen würde. Das kleine Portugal florierte und wurde schnell als Musterschüler angesehen, als Beispiel für andere potenzielle Beitrittsländer. Die Wirtschaft wuchs zwischen 1990 und 2000 über den durchschnittlichen Wert der EU hinaus und brachte damit anfängliche Kritiker und Skeptiker zum Schweigen.

Unterdessen stürzte man sich in Portugal, »das einen rasanten Wandel von der ruralen zur städtischen Gesellschaft erlebte und euphorisch, aber unvorbereitet von der lusitanischen Gemütlichkeit in die Neuzeit stolperte«, in einen noch nie gesehenen Konsumrausch, wie es der Journalist und wahrhaftige Portugalkenner Thomas Fischer in der NZZ beschrieb. Der Staat investierte in umfangreiche und beachtliche Infrastrukturprojekte, die zu einem wahren Modernisierungswahn führten, während Unternehmen und Bevölkerung – angetrieben von Optimismus und sinkenden Kreditzinsen – sich auf Pump so ziemlich alles leisteten.

Portugal erlebte mit der Ausrichtung der Weltausstellung Expo ’98 in Lissabon einen bedeutenden Aufschwung. Sieben neue U-Bahn-Stationen in Lissabon, eine neue Brücke über den Tejo, die Neugestaltung der Lissabonner Docklands oder die Renovierung der Lissabonner Altstadt waren nur ein paar der positiven Nebeneffekte dieses Großereignisses. Und entgegen allen Unkenrufen war die Stadt für das Weltereignis gerüstet und glänzte. Spätestens mit der gelungenen Expo ’98 gelang es Portugal, der Welt zu zeigen, dass das Land (oder zumindest Lissabon) modern und europäisch war – und den Blick nun endgültig auf Europa richten würde. Wie auch schon zuvor die Wahl Lissabons zur Europäischen Kulturhauptstadt 1994 oder die Frankfurter Buchmesse 1997, deren Schwerpunktland Portugal war, lenkte die Auszeichnung des portugiesischen Autors José Saramago mit dem Literaturnobelpreis 1998 Aufmerksamkeit auf den historisch-kulturellen Wert Portugals und päppelte das nationale Selbstbewusstsein weiter auf. Der größte Coup gegen die vielen Anfechtungen gelang Portugal, als es in diesem entscheidenden Jahr 1998 die Vorgaben erfüllte, sich für den Club der elf Mitgliedsstaaten der Europäischen Währungsunion zu qualifizieren, der im Januar 2002 den Euro als gemeinsames Zahlungsmittel einführte. Und dies, nachdem es zuvor noch von vielen Nordeuropäern belächelt worden war.

Aber das Gefühl des Wohlbefindens, das der Geldsegen aus Brüssel auslöste, war nur von kurzer Dauer: Ab 2000 hörte Portugal auf, mit den restlichen EU-Ländern zu konvergieren, und legte sogar den Rückwärtsgang ein. Man war mit großer Begeisterung auf Europa zugegangen, aber im europäischen Miteinander leider nicht in der Lage, sich den Umständen ausreichend anzupassen. Und vor allem: deutlich wettbewerbsfähiger zu werden. Der ersehnte ökonomische Anschluss an Europa rückte nun wieder in weite Ferne, und die anfängliche Euphorie wich schnell großer Ernüchterung. Die EU-Osterweiterung (niedrigere Löhne, besser ausgebildete Arbeitskräfte und attraktivere Standorte für Konzerne, aber auch mehr Konkurrenz bei der Umverteilung der EU-Fördermittel) und die anziehende Globalisierung machten dem einstigen Niedriglohnland Portugal einen Strich durch die Rechnung und enthüllten ein weiteres Mal die schon immer vorhandenen, aber mitunter vergessenen Schwachstellen. »Der Patient auf der Intensivstation« oder das »Armenhaus Europas«, wie das Land lange Zeit beschrieben wurde, hatte es verschlafen, mit den vielen Milliarden an EU-Fördermitteln die Wirtschaft, den Staatsapparat und besonders auch das Bildungssystem zu modernisieren. Geringe Wettbewerbsfähigkeit und die teilweise Abwanderung der auf billiger Arbeitskraft beruhenden Industrien an andere Standorte verdeutlichten die Verwundbarkeit der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Zwischen 2001 und 2008, bis zum Ausbruch der globalen Finanzkrise, wuchs die Wirtschaftsleistung Portugals nur halb so stark wie durchschnittlich in den restlichen Mitgliedsstaaten. Und bei ausbleibendem Wachstum nahm die Verschuldung von Staat, Unternehmen und privaten Haushalten weiter zu.

Ein Teufelskreis – und die Rechnung ist noch längst nicht beglichen. Während die Wirtschaft in Spanien durch den Bauboom kräftig wuchs, kriselte Portugal ab der Jahrtausendwende vor sich hin. Bald ging in Portugal die Rede vom »verlorenen Jahrzehnt« um. Und die mit EU-Hilfe erbauten Autobahnen und Projekte zur Verbesserung der Infrastruktur, in denen Unmengen an EU-Geldern sinnlos versickerten, wurden als Symbole für »falsche Prioritäten und vertane Chancen« angesehen. Hinzu kamen etliche und für Portugal leider typische politische und gesellschaftliche Skandale, die das Land und damit das Selbstvertrauen zutiefst erschütterten. Einen kräftigen Schlag erlitt das Image vom modernen Portugal 2001 durch den plötzlichen, aber im Nachhinein nicht unbedingt unabsehbaren Kollaps einer über 100 Jahre alten Eisenbrücke über den Fluss Douro, der 59 Todesopfer forderte. Nach schweren Regenfällen stürzte einer der abgelebten Betonpfeiler ein und riss drei Autos und einen vollbesetzten Reisebus mit in die Fluten. Eine Untersuchung zeigte, dass die Brücke, die den Fluss bei Entre-os-Rios überspannte, bereits seit 1982 als stark einsturzgefährdet gegolten hatte. Ein empörtes Echo erzeugte dann der 2002 aufgedeckte Skandal um jahrelang vertuschte Pädophilie beim staatlichen Hilfswerk für sozial gefährdete Kinder »Casa Pia«, der sich zum längsten und abstrusesten Gerichtsverfahren in der Landesgeschichte entwickeln sollte und ganz Portugal zutiefst beschämte.

Und als ob all dies nicht reichen würde: Im selben Jahr bekam Portugal als erstes Euro-Land ein Verfahren wegen eines zu hohen Defizits aufgedrückt. Dramatisch für das nationale Selbstbewusstsein, wie die schwere Rezession, die dann zwischen 2003 und 2004 folgte. Auch erneute Warnungen aus Brüssel konnten nicht verhindern, dass Portugal immer tiefer in die Schuldenfalle abrutschte. Die drastischen Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise brachten schließlich das geschwächte Portugal an den Rand des Abgrundes. Es war ein Dolchstoß, von dem sich die anämisch-schwache Wirtschaft nicht mehr erholen sollte: 2008 stagnierte die Wirtschaft, und ein Jahr später sackte sie um 2,7 Prozent ein. Die Staatsverschuldung geriet einmal mehr außer Kontrolle, und das Land musste schließlich 2011 unter den Euro-Rettungsschirm schlüpfen. Portugal erhielt ein Hilfspaket über 78 Milliarden Euro, musste im Gegenzug aber harte Sparauflagen akzeptieren und bekam ebenso ehrgeizige wie untereinander teils schwer kompatible Ziele gesetzt.

Letztere wurden aber nach und nach Makulatur, denn die schwächere weltwirtschaftliche Entwicklung wie auch die harten Sparmaßnahmen (Gehälter und Renten wurden eingefroren, Investitionen und Arbeitslosengeld stark zusammengestrichen, die Mehrwertsteuer wurde angehoben und die Zahl der Progressionsstufen bei der Einkommenssteuer reduziert) drückten das Land noch tiefer in die Rezession.

Während die Rückkehr zum wirtschaftlichen Wachstum länger als geplant auf sich warten ließ, durchbrach die Arbeitslosenquote Anfang 2013 die bis dato nicht für möglich gehaltene 18-Prozent-Grenze, während die Jugendarbeitslosigkeit auf über 42 Prozent kletterte. Und obwohl die damalige Mitte-Rechts-Regierung mit Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen immer wieder über die Vorgaben hinausging, misslang die Reduzierung des Haushaltsdefizits auf das festgelegte Maß. Die Wirtschaft erholte sich nur sehr langsam. Im Mai 2014 gelang es Portugal zwar, den Euro-Rettungsschirm zu verlassen und finanziell wieder auf eigenen Beinen zu stehen – und dies, ohne Übergangshilfen in Anspruch zu nehmen. Doch Ende 2015 kehrte die Unsicherheit zurück, nachdem die bürgerliche Allianz von Premier Passos Coelho, die das Land eifrig durch das Anpassungsprogramm geboxt hatte, eine neue Regierung bildete, obwohl sie die absolute Mehrheit im Parlament verloren hatte. Bereits kurz nach Amtseid wurde sie im November 2015 per Misstrauensvotum gestürzt.

Den Regierungsauftrag bekamen die oppositionellen Sozialisten, die sich zum ersten Mal in der Geschichte Portugals auf den marxistisch geprägten Linksblock und die Kommunistische Partei im Parlament stützten. Die Sozialisten kehrten von der strengen Sparpolitik ab, was in Brüssel – aber auch in Deutschland, wo der ehemalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble vor dem Rückfall in die Krise und vor der Notwendigkeit eines neuen Hilfsprogramms warnte – die Alarmglocken läuten ließ. Doch die neue Minderheitsregierung schaffte es, sich irgendwie durchzuwursteln und sogar einige positive Ergebnisse zu zeigen, die dazu führten, dass das Misstrauen ihr gegenüber allmählich verpuffte. Nach einem achtjährigen Leidensweg Portugals stellte die EU-Kommission das Defizitverfahren im Mai 2017 ein.