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www.editionkeiper.at

© edition keiper, Graz 2019

1. Auflage September 2019

literatur nr. 108

Cover, Layout und Satz: textzentrum graz

Lektorat: Maria Ankowitsch

Coverbild: Katrin Kersten

Autorenfoto: Konstantin Reyer

ISBN 978-3-903144-85-9

eISBN 978-3-903322-00-4

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Sophie Reyer

Mutter brennt

Roman

INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

TEIL I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

TEIL II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

TEIL III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Epilog

Über den Autor

Prolog

Jeder, der fällt, hat Flügel.
Ingeborg Bachmann

1.

Am nächsten Morgen bekommt Luise einen Anruf. Man habe ihre Kinder nahe beim See gefunden, Arm in Arm ins Eis gerollt, halb erfroren. Luise weiß zunächst nicht, was sie tun soll. Sie weiß nicht, wen anrufen. Die Freundin ist die Einzige, die ihr einfällt. Die Kinder seien im Krankenhaus, sagt man Luise. Sie überlegt nicht lange, tippt sofort eine Nummer in ihr Mobiltelefon.

»Hallo?«

»Ja, Suheyla?«, sagt Luise.

Ihre Stimme will nicht mehr, sie wird porös, bricht schließlich weg.

»Luise?«, dröhnt es am anderen Ende der Leitung.

Stille. Luise atmet schwer.

»Hallo?«, fragt die Freundin erneut.

Luise räuspert sich.

»Ja. Ich bin es«, bestätigt sie schließlich.

»Alles in Ordnung?«, will die Freundin wissen. »Wo bist du denn, sag mal?«

Luise wischt sich über die Nase, starrt aus dem Fenster und einen grellen Himmel an.

»Zu Hause. Weißt du, sie haben die Kinder gefunden. Im Eis.«

»Ich bin gleich bei dir«, entgegnet die Freundin ruhig. »Was heißt im Eis? Leben sie noch?«

Luise schnürt es den Atem zu. In ihrem Kopf steckt eine rote Farbe, die nach ihrem Blick schlägt, immer wieder.

»Sie sind im Krankenhaus. Aber ich. Ich kann nicht mehr in ein Krankenhaus gehen, ich hab es schon einmal nicht geschafft.«

»Wie?«, fragt die Freundin.

»Bei meiner Mutter. Als sie gestorben ist. Ich konnte nicht.«

»Warum.«

»Ich war schwanger mit Clemens. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass man mir einen Pflock zwischen die Beine jagt, ihn abtreibt und mich tötet. Es war die Hölle. Rot, alles rot.«

Stille. Luise muss den Hörer senken, ihr Körper bebt.

Wenige Minuten später klingelt die Freundin an der Haustüre.

Sie drückt Luise fest in ihre Arme und küsst ihre Wange.

»Es wird alles gut, meine Liebe«, flüstert sie.

»Weißt du, was mir auffällt? Ich habe noch nie jemanden gebraucht!«, sagt Luise.

Dann sperrt sie die Türe ab und folgt der Freundin das Treppenhaus hinunter. Die Putzfrau sieht ein wenig irritiert aus, starrt den beiden Frauen nach.

»Was los, Frau Luise?«, ruft sie, und es hallt.

Die Traurigkeit in Luise bauscht sich mit jedem Schritt auf, wird groß und größer. Sie betrachtet den Heiligenschrein, der in einer Ecke steht, und würde ihn am liebsten abfackeln. Dass sie den picksüßen Geruch des Treppenhauses schon seit Jahren hasst, fällt ihr mit einem Mal auf.

Es ist ein besonders heller Tag. Die Kinder sind nicht zu Hause. Eva hockt auf dem Fensterbrett und blickt in die Stadt hinunter. Sie lächelt ein wenig. Vor ihrem inneren Auge sind die Erinnerungen vorbeigezogen. Jetzt gibt es nur noch das Gurren der Tauben, die Welt besteht aus Atemholen, besteht aus aneinandergereihten Momenten: jetzt, und jetzt, und jetzt. Dass es Zeit wird, denkt Eva. Sie hat ihr Bestes getan, jetzt muss sie den Raum sich selbst überlassen. Einmal noch erinnert sie sich: Alles war einfach gewesen, Alkohol und Tabletten. Sie hat die Tabletten neben sich aufgeschichtet, fein säuberlich. Auf der roten, karierten Decke. Es war wie eine Art Leiter gewesen, die sie bald entlangklettern würde können. Himmelsleiter, hatte Eva gedacht. Ein Traum war ihr eingefallen damals, man hatte sie als Hexe verbrannt, fette Männer mit Ringen an den Fingern hatten auf sie gezeigt, wieder und wieder, schuldig ist die, hatten sie gerufen. Sie erinnerte sich an diesen alten Traum, es war dumpf und kam von weit her. Das Zimmer kam ihr auf einmal unglaublich laut vor, es rauschte, rauschte in ihrem Kopf nach, erinnert sich Eva. Dann hat sie die Hand weggezogen, und die Pillen lagen da. Sie hat gelächelt. Mehr weiß sie nicht. Eva seufzt. Mit einem Mal erscheint ihr die Wohnung friedlich. Der Junge wird schon auf Luise aufpassen, denkt sie. Sie beobachtet eine Frau auf dem Balkon gegenüber, die ihre Hände auf die Balustrade gelegt hat. Die Frau sieht sehr traurig aus. Eva lächelt sie an, aber sie ist nur ein heller Schatten, und die Frau kann sie nicht sehen. Sie schließt die Augen und wird seltsam weit. Sie hat das Gefühl, den Raum auszufüllen, zu wachsen, leicht zu werden. Sie ist das Haus, ist der Balkon, sie umhüllt die traurige Frau, die an dem Geländer steht, deren Arme schlabbern und schlottern. Sie wird noch größer. Bald ist sie die ganze Stadt. Bald sieht sie die Stadt aus der Vogelperspektive. Und dann –

2.

Als Luise ins Krankenhaus kommt, erscheint ihr alles weniger schlimm. Die Kinder schlafen. Man musste Clemens eine große Zehe amputieren; ansonsten scheinen die beiden ohne größere Beschädigung davongekommen zu sein.

»Sag mal, was hast du dir denn dabei gedacht?«, fragt Luise und fährt dem Jungen durchs helle Haar. Clemens lächelt.

»Du kannst doch nicht einfach abhauen. Noch dazu mit Ina. Das geht doch nicht.«

»Warum? Wir haben das Feuer in Eis verwandelt, siehst du doch, oder?«, entgegnet der Junge und lächelt verschmitzt.

Er scheint im Delirium zu sein, denkt Luise, und sie spürt, wie das rote Bild in ihrem Kopf wieder anschwillt.

»Weißt du, wie Oma gestorben ist?«, möchte Clemens auf einmal wissen. Sein Blick leer und müde.

Luise weiß nicht recht, was sie ihm antworten soll.

»Dann sag du es ihr, Ina!«, flüstert Clemens.

Luises Tochter liegt im anderen Bett, ihre Wangen sind leicht gerötet, sie hat die Augen geschlossen und atmet schwer.

»Sie hat sich zu Tode getrunken«, murmelt Ina dann.

Luise läuft es heiß und kalt über den Rücken, sie legt die Handflächen gegen die Schläfen. Die Traurigkeit in ihrem Kopf wird rot, rot und röter, sie möchte zerreißen. Luise steht auf und nähert sich der Tochter. Sie legt ihr die Hand auf die Stirne und spürt, wie etwas Nasses sich den Weg über ihre Wange bis hin in den Mundwinkel hinunterbrennt.

»Weißt du auch, warum?«, fährt Ina fort.

Die Mutter schüttelt den Kopf.

»Sie hat zu viel gelitten. Ihr Vater hat sie so oft geschlagen. Ihren Verlobten hat sie verloren, im Krieg. Und dann wurde sie vergewaltigt. Und der Mann, der sie vergewaltigt hat, das war dein Vater.«

Da rinnt es aus Luise heraus. Sie gibt keinen Laut von sich. Die Tränen fließen und fließen. Der Körper aber hält still.

»Ich hab dich lieb, Mama«, sagt Clemens.

Luise dreht den Kopf zur Seite. Der Frost hat Eisblumen gegen die Fensterscheibe gemalt.

Luise hält die Hände ihrer Kinder, eine links, eine rechts. Als sie das Krankenhaus verlässt, beschließt sie, ihren Mann zu treffen. Aber dann verschiebt sie es doch, auf später.

3.

Als Clemens aus dem Krankenhaus kommt, hat sich einiges geändert. Er betritt die Wohnung, und der Raum kommt ihm heller vor als sonst. Ob das an dem Winterlicht liegt, das grell von den Resten des Schnees reflektiert wird, der auf den Fensterbänken, an den Dächern gegenüber zum Liegen gekommen ist, kann Clemens nicht sagen. Aber eines weiß er mit Sicherheit: Eva ist nicht mehr hier. Der Junge spürt einen Zug im Herzen, er spürt, wie etwas aufreißt, da, wo das Blut pochen sollte. Es tut weh. Dem Jungen scheint es so, als hätte sein Herz Flügel. Vielleicht, denkt er, wimmert es auch ein bisschen. Er wirft den Rucksack in eine Ecke. Ina ist bereits ins Zimmer gelaufen. Sie hockt auf ihrem Bett und bohrt in der Nase.

»Kannst du ein Foto von Oma ins Zimmer stellen?«, fragt Clemens die Mutter. Luise lächelt und nickt.

»Heute bade ich alleine«, sagt Ina auf einmal laut.

Clemens muss grinsen. Die Mutter blickt die Tochter verdutzt an. Dann lächelt sie und streicht der Tochter zärtlich über die Stirne.

»Wir dürfen deine Medikamente nicht vergessen«, sagt sie.

Clemens verdreht die Augen.

»Es geht ihr doch schon so viel besser«, meint er.

Luise lächelt.

»Es ist schön, euch zu Hause zu haben«, sagt sie.

Und dann: »Wollt ihr heute Abend etwas von McDonald’s haben?«

Clemens grinst die Mutter an. Dann nickt er.

Luise bückt sich, müde und uninteressiert, wischt einzelne rötliche Blätter vom Grabstein weg und blickt sich um: Herbstlandschaft. Bäume, die ihre Äste wie hölzernes Gerippe in die Luft hineinstechen. Sie legt den Kopf in den Nacken. Ein stechend blauer Himmel. Keine einzige Wolke. Die Sonne grell. Sie zwinkert mit den Augen, blickt wieder zu Boden. Sinkt plötzlich auf die Knie. In ihr bricht etwas auseinander, weinrotes Laub raschelt unter ihren Füßen, rote Angst, roter Schmerz, alles ballt sich zusammen zu einem purpurnen Knäuel. Ihr Kehlkopf sticht, aus ihren Augen pressen sich Tränen heraus. Sie spürt, wie Ina auf sie zugeht, sie am Rücken festhält. Sie krümmt sich. Lange Pause.

Schon komisch, denkt Luise irgendwann. Da liegt jemand in dieser kalten Erde drin. Dann wischt sie sich den Rotz aus dem Gesicht.

Später, im Auto, schweigen sie lange. Luise fällt auf, dass Clemens sie seltsam ansieht. Ihr ist, als hätte sie einen Stachel verschluckt. Sonst nichts.

In den darauffolgenden Wochen liegt Luise die meiste Zeit einfach nur da, kann keinen Finger bewegen. Krümmt sich unter der roten Farbe, die ihr Gehirn durchzuckt, immer wieder, blitzartig, rasch. Die Wohnung riecht nach Alkohol und Verzweiflung, obwohl sie putzt, wieder und wieder. Die Zimmer ausräuchert. Die Fenster aufreißt. Sie beschließt, Überstunden zu machen, einfach nur, um nicht allzu lang in dieser Wohnung sein zu müssen. Sie beginnt, Unterwäsche zu kaufen. So bleiben die Tage ruhig und sicher, bis die Wut sich dazwischenschiebt.

Das beginnt so:

Die Freundin erzählt ihr, sie wolle sich die Vagina zunähen lassen, denn ihr zukünftiger Ehemann wisse nicht, dass sie keine Jungfrau mehr sei.

Aus der Mitte von Luises Bauches würgt sich ein traniges Gefühl in die Höhe, als sie das hört. Dass sie einen Knall hätte, schreit sie die Freundin an, dass sie froh sein müsste, in Europa zu leben, sich nicht unterdrücken lassen dürfte.

Rot ist die Wut, pulsiert in Luises Hirn.

Daheim hackt sie Zwiebel, Paprika und Tomaten klein, hämmert dann mit dem Kopf gegen die Wand, bis das Essen anbrennt, es auf dem Herd zu rauchen anfängt. Sie denkt an ihre Mutter, Hausmeisterkind, unterste Bevölkerungsschicht, irgendwann geschwängert von einem Alliierten, der sie danach verlassen hatte, dann dem Alkohol verfallen. Die Wut ist rot. Das Wischtuch fängt Feuer. An diesem Abend hat sie starke Kopfschmerzen und geht früh schlafen. Dann ist so eine Freiheit in ihr.

Irgendwann beginnt Luise, alte Fotos herauszukramen. Die Bilder sind schwarzweiß, ausgebleicht an den Rändern. Sie zeigen ihre Mutter, eine leicht schielende Frau. Als dürres Kind mit zu langen Armen und strähnigem Haar. Im Badeanzug, als junge Frau. Neben ihrem Verlobten, einem Soldaten, der im Ersten Weltkrieg gefallen war. Mit ihr selbst an der Hand, als Ältere, vom Alkohol aufgedunsene Dame mit Hornbrille. Sie hat ein leeres Album vor sich aufgeschlagen. Sie sortiert sorgfältig die Bilder ein. Das Papier knistert unter ihren Fingern. Sie streicht es behutsam über den Fotos zurecht, immer wieder. Dann starrt sie lange ins Leere.

Eines Herbstnachmittags geht Luise mit Clemens auf dem Friedhof spazieren. Sie laufen durch das rötlich schimmernde Laub.

»Lass uns noch was trinken gehen«, meint er.

»Ja, ich brauch jetzt unbedingt einen Wein«, entgegnet sie und lacht giggelnd auf. Clemens schweigt.

»Was schaust du denn so. Ich werd schon nicht wie deine Großmutter, keine Sorge«, entgegnet sie ein wenig zu laut.

Stille. Sie hört auf den Rhythmus der Schritte, die Blätter niedertreten.

»Und Fleisch wäre auch gut«, fügt Clemens nach einer kurzen Pause hinzu.

»Ja!«

Sie hält für einen Moment inne.

»Weißt du, was sie im Kindergarten immer zu mir gesagt haben, wenn ich Fleisch wollte: Greif dir an den Hintern, da hast du genug Fleisch«, sprudelt es dann auf einmal aus ihr heraus.

Das Laub knistert unter ihren Füßen, es riecht nach Erde, sie kickt eine Kastanie weg mit der Schuhspitze. Clemens schweigt eine ganze Weile.

»Das ist das erste Mal, dass du mir was drüber erzählst«, sagt er schließlich.

»Das Hausmeistermilieu«, beginnt es plötzlich aus ihr heraus zu sprechen, rot. Sie stockt kurz. Kann aber auf einmal nicht mehr aufhören zu reden.

»Meine Mutter, die war so arm, sie hatte im Winter keine Schuhe. Sie musste sich Fetzen an die Füße binden, hat sie mir erzählt«, fährt sie fort.

Clemens nickt.

»Warum weißt du eigentlich nichts über Opa?«, will er wissen.

»Das hat sie mir nie sagen wollen. Ein Alliierter war er, aus Frankreich. So viel hat man mir erzählt. Aber mehr nicht«, entgegnet sie und greift nach seiner Hand, die dabei ist, eine Männerhand zu werden. Klein, aber kompakt, eine Hand, an der man sich gerne anhält, denkt sie.

»Bist du nicht neugierig?«

»Ich hab Tante Anna gefragt. Keiner weiß mehr davon«, sagt sie.

»Nein, ich mein nicht wegen Opa. Willst du nicht wissen, ob es ein Selbstmord war?«

Sie zuckt kurz auf. Beguckt die letzten Blätter, die an den Ästen der Bäume baumeln. Muss auf einmal an den Körper eines Erhängten denken. Der Rachenraum fühlt sich rot an, der Speichel wird mehr und mehr in ihrem Mund. Sie ringt nach Atem.

»Es war Selbstmord auf Raten. Ist ja immer so bei Alkohol. Das ist doch schlimm genug«, entgegnet sie, bemüht gefasst. Clemens nickt.

»Und warum warst du nicht mehr bei ihr?«

Sie lächelt, fühlt sich ertappt. Mit einer zärtlichen Geste stupst sie ihn in die Wange. Er versteht natürlich nicht. Dass er der Grund gewesen ist. Dass sie Angst gehabt hat, ihn zu verlieren. Denn Luise ist schwanger gewesen, damals, als ihre Mutter sich das Leben nahm.

Stille. Luise schweigt lange. Dann zieht sie den Sohn weiter mit sich. Etwas ist aufgeplatzt in ihr. Rot, wund. Es fühlt sich leichter an.

»Lass uns einen Gasthof suchen«, schlägt sie vor.

Die beiden laufen weiter. Herbstlicht, Rascheln unter den Füßen.

Ich wachse, und der Raum wächst mit, denkt Luise am nächsten Tag.

Dann weint sie lange.

4.

Die Traurigkeit hockt nicht mehr wie ein rotes, schweres Tier in der Wohnung, denkt Ina. Sie zählt die Blümchen im Muster der Decke, wieder und wieder. Etwas hat sich verändert, seit sie mit dem Bruder im Eis aufgewacht ist, denkt Ina. Das Treppenhaus riecht immer noch rosa, Ina kann die Putzfrau nicht leiden. Sie leiert hin und wieder ihre Sätze gegen die Zeit, spielt Klavier. Die neue Schule macht Ina Freude, die Tage sind spannend. Und sie darf jetzt alleine baden. Dass sie ihr Pillen in den Schlund schieben, ist Ina nicht mehr so wichtig. Manchmal sitzt sie wie früher neben der Mutter auf dem Sofa und beobachtet deren labberndes Doppelkinn. Aber die Arme der Mutter sind immer seltener aufgeritzt, und Ina muss sich andere Strukturen suchen, in denen sie einen Sinn finden kann. Hin und wieder kommen die Worte zurück. Sie darf alleine baden. Der Tochter graust nicht mehr vor den Mohnzöpfen, und das Gurren der Tauben ist ein schöner, sicherer Rhythmus geworden. Zwischen den Räumen geht keine Tote mehr umher, so viel ist Ina klar. Aber das sagt sie keinem. Das ginge nämlich nur sie und die Toten etwas an.

Ina hat wieder eine Sprache gefunden. Sie malt kleine, kugelige Punkte in Tagebücher, sie beginnt wieder, Sätze zu formen. Das Wippen ihres Brustkorbs ist weniger intensiv als früher, denkt Luise.

Viel später, fällt Luise heute auf, wird das Erlebte zur Erfahrung, bröckelt die rote Farbe ab. Sie kann sich erinnern. Die Bilder fügen sich in ihr zusammen. Laufen vor ihrem inneren Auge ab. Ob es damit zu tun hatte, dass sie älter geworden war, reifer. Ob es mit Zulassen zu tun hatte, mit dem Wunsch, nicht mehr fortzulaufen, weil es ohnehin nichts mehr gab, wohin sie fortlaufen konnte. Sie weiß es nicht.

Die Szene spult sich ab in ihr, es ist wie fernsehen. Sie weiß es auf einmal wieder: Sie hatte die Mutter aus dem Schnee holen müssen, wieder einmal. Die Mutter war betrunken gewesen, Polizei, sie hatte ihre zittrige Gestalt gestützt. Daheim hatte sie ihr das Gewand ausgezogen. War dann im Badezimmer, hatte den Wasserhahn aufgedreht. Die Mutter war einstweilen nackt auf dem Sofa gesessen und hatte gebibbert, als sie aus dem Badezimmer zurückgekommen war, sich umgesehen hatte. In der Abwasch hatte sich Geschirr getürmt, erinnert sie sich, an dem bröckelige Essensreste geklebt hatten. Eine offene Weinflasche war am Tisch gestanden. Daneben eine angefangene Schachtel mit Tabletten. Überall Bierdosen. Rote Weinflecken auf dem Boden. Als sie auf die Mutter zugegangen war, hatte diese aufgeschrien. War dann aufgestanden, sie ihr nach. Die Mutter war getaumelt, hatte nach dem Küchenmesser gegriffen, das auf dem Tisch gelegen hatte. Hatte damit in die Luft gestochen. Immer wieder, in zackigen Bewegungen.

»Weg da, weg«, hatte sie gerufen.

Sie hatte ihr das Messer entreißen wollen. Die Mutter aber hatte sich gewehrt. Hatte zugestochen. Wieder und wieder. Ein Schnitt. Sie hatte heftig geblutet. Sie hatte mit der Mutter ringen müssen. Das Messer war dann zu Boden gefallen. Sie hatten beide gleichzeitig danach gegriffen. Sie aber hatte es erwischt. Hatte es mit der Hand festgehalten. Hatte ihre Mutter angestarrt. Seltsam emotionslos, leer. Die Mutter hatte sich hingesetzt und gebrabbelt, war danach nicht mehr vom Boden aufgestanden. Sie hatte lange ins Nichts geguckt. Rotes war aus ihrem Handrücken gequollen. Irgendwann das Schnarchen der Mutter. Ich bin schwanger, hätte sie sagen wollen. Sie hatte geschwiegen. Hatte gefroren. Hatte sich nicht mehr bewegt.

Als sie gegangen war, musste es passiert sein. Alkohol und Tabletten. Sie hat ihre Mutter nie wieder gesehen.

Noch in derselben Nacht hatte sie versucht, Clemens abzutreiben. Im Badezimmer der Altbauwohnung. Sie erinnert sich: Wie sie sich aus dem Gewand geschält hatte, langsam, müde irgendwie. Sich dann auf den Boden gesetzt hatte, die Beine aufgespreizt hatte. Und wie da etwas geruckelt hatte in ihr, sich ihr Tränen aus den Augen gepresst hatten, sie spüren hatte können, wie ein seltsamer Ausdruck der Verbissenheit ihre Lippen zusammengedrängt hatte. Das Bild, jemand würde ihr einen Pflock zwischen die Beine rammen, schoss ihr ins Hirn. Dann: Roter Schmerz, aus ihren Beinen quellend. Abrupt hatte sie die Nadel weggelegt. An ihn gedacht. Und an das Kind. Und dass sie wollte, dass es lebte. Sie hatte sich das Haar aus der Stirne gestrichen. Ihre Hand hatte ein wenig geblutet.

Sie erinnert sich: Ihr Exmann war bei der Mutter, als sie starb. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, mit ihm mitzugehen. Genauso wie sie nicht die Kraft gehabt hatte, Clemens abzutreiben. Geschämt hatte sie sich damals. Für den wienerischen Akzent, Subproletariat, sagte er immer, für den Mangel an Bildung, die Verkaufslehre, den Job im Wäscheladen. Sie hat immer ihre Vergangenheit wegschieben wollen. Die aber war ihr nachgekrochen, in einer roten labbrigen Haut, ließ sich jetzt nicht mehr aus ihrem Sein schieben.

Später, als Luise das Fotoalbum ins Regal schiebt, kommt die Langeweile, kommt das Spiel. Die rote Farbe verschwindet nach und nach aus den Räumen. Das Gefühl, die Mutter stünde hinter ihr, klingt ab. Die Mutter ist aus der Wohnung verschwunden, ist eine Erinnerung geworden, eine Erfahrung.

Luise besucht mit der Freundin Kinovorstellungen. Luise wünscht sich nicht mehr fort. Sie weint manchmal. Sie geht nachts spazieren, alleine, ohne etwas zu suchen, atmet einfach nur ein und aus.

Ich wachse, denkt sie dann manchmal. Ich wachse, und der Raum wächst mit.

Auch die Verfolgungen haben aufgehört, die Schatten in ihrem Nacken. Eines Abends fühlt sich Luise endlich bereit. Sie will ihren Exmann wieder sehen. Sie weiß jetzt, dass sie ihm Unrecht getan hat.

»Warum hast du dich so lange nicht gemeldet?«, fragt Luise, als ihr Exmann und sie gemeinsam im Kaffeehaus sitzen, einander verlegen anlächelnd.

»Es ist mir alles verflucht erschienen. Ich musste mich um deine Mutter bemühen, die sich zu Tode gesoffen hat. Ich hatte das Gefühl, ich konnte nichts mehr für dich abfangen. Ich war ausgebrannt.«

Luise nickt und denkt an die Feuerbilder, die sie immer wieder im Kopf hatte, die aber in den letzten Wochen weniger geworden sind. Sie greift nach der Hand des Mannes.

»Ich hatte Angst«, sagt Luise dann und spürt, wie die Traurigkeit ihre Zunge lahmlegt.

»Ich weiß ja«, entgegnet ihr Exmann. »Aber deine Angst konnte ich einfach nicht mehr mitschleppen.«

»Wie war sie denn so, bevor sie gestorben ist?«

Er lächelt. »Ich weiß nicht. Ich hab ihren Daumennagel gestreichelt. Sie hat gemeint, ich dürfe dir nichts erzählen. Sie hat sich geschämt. Sie sah unglaublich alt aus.«

»Ja.«

»Das ist das erste Mal, dass du danach fragst, weißt du das?«

»Ja.«

»Das tut mir so leid.«

»Es ist schon in Ordnung. Mir geht es wieder gut.«

Ihr Exmann greift nach Luises Hand.

»Und, hast du einen anderen Mann?«

Luise fragt sich, ob sie ihrem Exmann von dem Mann erzählen soll, mit dem sie in Cannes eine Affäre begonnen hat. Aber der ist längst abgereist, vielleicht sitzt er auf irgendeinem Schiff, der alte Pirat, denkt Luise und muss grinsen. Ihr Exmann bemerkt ihren Gesichtsausdruck.

»Also: Ja«, meint er und lächelt Luise an.

Sie lächelt zurück.

Bevor sie den Raum verlässt, dreht sie sich noch einmal um.

»Warum hast du es geleugnet damals? Das mit unseren Kindern?«

»Was?«

»Warum hast du Clemens und Ina verleugnet?«

Ihr Exmann starrt sie unverwandt an.

»Wen?«

»Unsere Kinder«, sagt Luise, und ihre Stimme kippt.

»Luise, wir haben keine Kinder. Du hast abgetrieben. Damals. Das ist lang her.«

Luise sieht zu Boden.

Dann beginnt es zu brennen.

I

… die Schwester erschien;

die Nacht das verfluchte Geschlecht verschlang.

Georg Trakl, »Sebastian im Traum«

1.

Als er nach Hause kam, zuckte sein linker Mundwinkel. Sie saß am Tisch, starrte ins Leere, betrachtete danach für einige endlose Momente die rote Glasvase, in deren Innerem kleine Tropfenformationen zu sehen waren, dann das Ultraschallbild, das sie zwischen den Fingern drehte. Luftblasen, dachte sie. Dann fiel die Tür ins Schloss. Er setzte sich ihr gegenüber hin, mit seltsam gläsernem Blick. Ihr Lächeln fror ein, erinnert sich Luise.

»Sie hat mich gebeten, dir nichts zu erzählen«, sagte er.

Sie nickte, der Kehlkopf schwoll an, bauschte sich auf zu einem riesigen Knödel, den sie nicht mehr hinunterschlucken konnte. Er stand auf, kam zu ihr, seltsam mechanisch. Umarmte sie. Kalte frostige Kuppen, die ihren Hals berührten. Sie aufzucken ließen.

Luise versucht, die Erinnerungen abzuwürgen, aber die Bilder steigen immer wieder in ihrem Kopf hoch: Wie sie die Vase in den Händen drehte, der Raum eng wurde.

»War Mama besorgt?«, fragte sie tonlos.

»Ja. Ich glaube.«

»Aber es war richtig, nicht hinzugehen«, sagte sie.

Er ließ die Arme belanglos an sich herunterbaumeln, blickte sie an.

»Ich weiß nicht«, meinte er.

»Du hast sie doch auch nicht gemocht«, antwortete sie, auf einmal verärgert. Sie spürte, dass ihr gleich die Stimme kippen würde. Sie schob das abgegriffene Ultraschallbild von sich, nestelte an ihren eigenen Fingern herum, fühlte sich seltsam hilflos. Stille. Sie blickte unverwandt den Fötus an, den das Bildchen zeigte, dann die kleinen Bläschen im Inneren der roten Vase. Sie begann, diese zu zählen. Verlor sich in Gedanken. Hörte auf. Fing wieder an.

»Ich hab ihren Daumennagel gestreichelt«, sagte er irgendwann.

Sie hielt inne, griff nach dem Ultraschallbild und drehte es zwischen den Fingern hin und her. So sah es also aus in ihr. Die Gebärmutter ein enger Wohnraum, dachte sie. Der Raum würde wachsen und das Kind mit ihm. Die erste Erfahrung des Kindes würde sein, dass das Außen mit ihm gemeinsam größer würde. Und immer größer.

»Du sagst gar nichts«, meinte er.

Luise stand auf.

»Ich mach dir einen Früchtetee.«

Luise lächelt bitter und schiebt die Erinnerung von sich. Sie beugt sich nach vorne, streift mit einem Geschirrtuch die Brösel von der Anrichte. Bald müssen die Kinder von der Schule kommen, denkt sie. Die Wohnung ist blitzblank, sie strahlt und riecht nach frischem Zitronenaroma. Luise kämpft Tag für Tag den Kampf gegen den Schmutz. Das hat mit Überwindung zu tun. Denn obwohl sie nur wenig Geld hat, wird sie nicht zulassen, dass die Armut der Mutter sie einholt. Sie will es ordentlich haben, die Gegenstände müssen in Reih und Glied angeordnet sein. Luise seufzt. Die Gedanken durchzucken ihren Kopf, sehr schnell, wie Blitze. Sie wischt abermals mit dem Fetzen über die Anrichte. Dass der Schmutz sie auch ja nicht kriegt, sagt sie sich. Luises Territorium ist eine Wohnung in Wien, im zwölften Bezirk. Neubau. Niedrige Wände, ein beleuchteter Heiligenschrein in einem der Erker, neben der Treppe. Abends hört man türkische Sprachfetzen, wie das Gurren der Tauben, die auf den Telefondrähten sitzen. Hin und wieder eine Frau am Balkon gegenüber. Sie blickt oft zu dem Fenster hin, hinter dem Luise und ihre Kinder Ina und Clemens leben, als hätte sie nichts anderes zu tun. Die Arme auf die Balustrade gelegt. Schlabbernde Arme. Schlotternde Arme. Auch Luise hat manchmal nichts anderes zu tun und beobachtet dann diese Frau.

Luises Tante, der das Haus gehört, hat eine Putzfrau. Das Treppenhaus ist aus Marmor, riecht rosa, sagen die Kinder manchmal zu Luise, wenn die Putzfrau den Gang besonders gründlich gereinigt hat. Die Putzfrau kommt aus Thailand. Sie ist klein, fett und spricht mit sich selbst, wenn sie den Boden säubert. Luise ist nicht aus Thailand. Aber auch sie putzt regelmäßig die Brösel weg, die Bakterien, die staubigen Flecken, sie sind Luises Feinde. Soeben ist sie heimgekommen von der Arbeit, hat jetzt ein wenig Atemraum, um die Wohnung herzurichten, bevor die Kinder von der Schule nach Hause kommen. Butter wird in die Pfanne geschmiert, eine gehörige Portion. Ina muss zunehmen, denkt Luise. Drückt den Knopf gegen den Herd, damit die Flamme zu züngeln beginnt. Der Herd knackst. Es ist ein alter Herd. Luises leicht schwielige Hände müssen lange und hart drücken, bevor sich eine Flamme zeigt. Dann, endlich: Rot. Luise seufzt. Sie stellt die Pfanne auf das Feuer. Der harte Block der Butter zerfließt langsam, rinnt aus zu einer weißlichen Flüssigkeit. Währenddessen öffnet Luise die Packung mit Tiefkühlgemüse. Lässt das Gemüse in die Pfanne gleiten. Raschelgeräusche. Das Eis, das eine dünne Schichte über den zerhackten Karotten, den Karfiolköpfchen und den Oberflächen der Erbsen gebildet hat, schmilzt langsam. Brutzelgeräusche. Das ist Luises Territorium. In ihren vier Wänden zu sein, zu wischen, zu stäuben, zu kochen, die Gläser und Teller in den Geschirrspüler zu räumen – all das gibt Luise eine große Sicherheit.

Die vielen Stimmen, die ins Treppenhaus dringen, abends: Das ist der Fernseher. Den dreht Luise an, um sich wach zu halten. Oder um weniger einsam zu sein. Die Kinder sitzen daneben. Eines links von der Mutter, eines rechts. Ina, das Mädchen, tut so, als beobachte es die Bilder. Clemens hält die Hand der Mutter. Die Geschwister sehen einander ähnlich. Das liegt nicht nur an der äußeren Erscheinung. Manchmal flackert ein Licht in den beiden Gesichtern auf, das sich gleicht. Oder ist es die Art und Weise, wie sie die Blicke senken, die Augenbrauen anheben?, fragt sich Ina, wenn sie und der Bruder vor dem Spiegel stehen und einander gegenseitig betrachten. Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass es eine enge Verbindung zwischen ihnen beiden gibt. Ina und Clemens haben nur einander.

An manchen Tagen ist die Traurigkeit der Mutter sehr laut, findet Ina. Heimlich beobachtet sie die Mutter, wie sie ins Flimmerquadrat guckt. Oft fragt sie sich, was die Mutter immerzu denkt. Warum sie so dasitzt, mit nach unten geklapptem Kinn und weit aufgerissenen Augen.

Die Gedanken der Mutter sind weit nach hinten gekippt, in die Vergangenheit hinein. Aber das weiß Ina nicht. Sie sieht nur den Kiefer, den teilnahmslosen Blick. Ina greift dann nach der kleinen, speckigen Kinderhand des Bruders. Hält sich daran fest.

»Mama?«, fragt Ina.

»Was?«

»Darf ich mittwochs mal ins Kino mit einer Freundin?«

»Bist du nicht noch ein bisschen jung dafür?«

Luise senkt den Blick, beobachtet ihre Fingernägel und kaut an ihnen herum.

»Meinst du?«

Keine Antwort. Ina zieht die Beine an den Bauch und rückt näher an den Bruder heran. Hinter dem Fenster beginnt es zu dämmern. Wieder ein Tag vorbei. Der Rhythmus ist derselbe geblieben, auch seit sie umgezogen sind, weg vom Vater. Findet Ina. Und dass er kaum fehlt.

Während Luise da sitzt und das Licht des Fernsehers auf ihrem Gesicht flackert, denkt Clemens immer wieder an den Traum von der Großmutter, der sich in den Nächten wiederholt. Unmittelbar nach dem Traum schwellen manchmal die Fenster an, schieben sich dichter an ihn heran. So auch jetzt. Clemens legt seinen Kopf in den weichen Schoß der Mutter. Ihre Hände fahren ihm durchs Haar. Der Raum des Wohnzimmers ist auf einmal sehr eng.

»Ich hab geträumt, dass Eva ins Feuer muss«, sagt Clemens plötzlich.

Die Mutter schaut nicht vom Bildschirm auf, sie scheint kaum zuzuhören.

»Na geh«, meint sie nur.

»Ich hab sie gerettet. Aber dann hab ich nur dich gerettet in Wahrheit.«

Die Mundwinkel der Mutter zucken leicht auf. Sie dreht den Kopf zur Seite, tut so, als hätte sie nichts gehört. Die Schwester greift nach einem Stoffhund aus pastellfarbenem Plüsch, der auf dem Sofa liegt, und wackelt mit ihm vor Clemens’ Blick herum. Beugt sich zu ihm herunter. Das Gesicht zu einer hängefaltigen Fratze verzogen. Clemens zuckt kurz auf. Wie nahe die Wangen der Mutter über ihm labbern.

Auch die Fenster schieben sich immer näher an Clemens heran. Bedrohlich. Clemens macht sich klein und schiebt den Kopf auf den Schoß der Mutter.

»Was hast du denn?«, fragt Luise.

Zusammengerollt liegt er da auf Luises Schenkeln, will in ihrem Nabel verschwinden. Clemens hat Angst vor diesen Räumen, die sich mehr und mehr zusammenziehen. Er vergräbt sein Gesicht an Luises Bauch, damit er ihre lächelnde Fratze nicht sehen muss. Verkriecht sich im warmen duftigen Mutterleib. In der Mutter aber ist es schweißig, zittrig. Clemens hat keine Worte dafür, weiß nur, dass es sich nicht fortlaufen lässt, nicht in die Mutter hinein und nicht aus der Mutter heraus. Nirgendwohin. Also klappt Clemens die Lider wieder auf. Der blaue Teppichboden schwillt an, wird riesig, knallt ihm gegen den Blick. Gleichzeitig schrumpfen die Wände, bis sie knapp vor seinen Augen zum Stillstand kommen.

»Morgen habt ihr Faschingsfeier in der Schule«, sagt die Mutter mit süßlicher, leicht bebender Stimme.

»Ja.«

Clemens greift auf den Bauch der Mutter, der sich leicht auszuwölben begonnen hat, seit der Vater weg ist.

»Freust du dich denn nicht, Clemens?«

»Bin nervös.«

Seine Zähne klappern leicht.

»Warum denn?«, antwortet die Mutter. Sie zieht Clemens näher zu sich hin und drückt ihn mit zitternden Fingern gegen ihr pochendes Herz. Ina, die Schwester, sitzt ausdruckslos daneben und starrt die Mutter an.

Nicht nur beim Fernsehen beobachtet Ina das Profil der Mutter: die leicht buckelige Nase, das labbernde Doppelkinn. Um Clemens macht sich die Schwester keine Sorgen. Stattdessen folgt Ina allen Bewegungen und Haltungen der Mutter, überprüft sie, fragt sich, was in der Mutter passiert. Warum sie manchmal wegkippt, ihre Fragen nicht hört, ihre Berührungen kaum spürt. Ina fixiert die Mutter, beobachtet die Art, wie sie da sitzt, mit den Händen über Clemens’ zartes Gesicht streicht. Manchmal beobachtet Ina die Mutter auch, wie sie kocht, wäscht, bügelt oder summend am Balkon umherstreift und die Pflanzen gießt. Die Mutter merkt es nicht.

Inas Welt ist klein: ein alter, scheppernder Stutzflügel, das Hauptabendprogramm.

Die breiten Lockenwickler der Mutter. Schaumrollen, denkt Ina. Manchmal darf sie sich diese Lockenwickler auch ins Haar drehen, und sie freut sich dann, weil sich die Mutter freut. Die Tochter ist eine einzige Beobachtung. Ina sieht sich selbst von außen zu. Hat einen inneren Zwang, alles zu kommentieren, mit Sprache festzuhalten. Die Sprache macht Ina still, die Stille wiederum ist notwendig gegen die immer wandernden Fingerhälse der Mutter, die sich manchmal die Beine aufkratzen, die an den Nagelbetten reißen. Die geborgten Augen sorgen sich nicht, weiß Ina. Sie werten nichts. Heben nichts auf. Es sind die Augen einer Kraft, die die Vogelperspektive eingenommen hat. Diese Kraft hält eine Fernsteuerung in der Hand. Sie lenkt den Körper des Mädchens hin und her. Her und hin. Passt auf, dass Ina an keinem der Hindernisse anstößt.

Inzwischen ist Clemens’ Atem ruhig geworden, er liegt auf dem Schoß der Mutter, ein Plüschtier an seinen Körper gepresst.

»Jetzt ist aber Schlafenszeit«, entfährt es Luise auf einmal. Ina weiß, was sie zu tun hat. Sie steht auf und streift die Polster auf der Couch zurecht. Die Mutter hebt den Körper des Bruders hoch, sein Kopf knickt nach hinten. Ina beobachtet, wie Luise den Körper ins Kinderzimmer nebenan trägt. Sie sieht Luises langgezogene Gestalt hinter der Glasscheibe der Türe. Die Mutter legt den Körper des Bruders ins Bett und deckt ihn zu.

Am meisten Angst haben Ina und Clemens vor der Nacht. Die Nacht weckt seltsame Gestalten auf, schimmernde transparente Wesen. Wenn Ina sich auf dem Bett zur Seite rollt, sich in die Decke einrollt, hat sie manchmal das Gefühl, jemand stehe mit einer Hacke in der Hand hinter ihr und jage diese gleich mit einem Hieb in ihren Rücken, wenn sie sich umdreht. Ina hört, wie Clemens im Schlaf spricht. In der Nacht gehen die Toten durch das Zimmer, und die Haare stülpen sich aus Inas Haut heraus. Hin und wieder steht der Bruder auf, sein Blick ist