image

TANYA TAGAQ

EISFUCHS

Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger

Illustrationen von Jaime Hernandez

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

image

Der Verlag dankt dem Canada Council for the Arts und dem Canadian Department of Foreign Affairs and International Trade für die Förderung der Übersetzung.

image

© der deutschen Ausgabe: Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2020
© Originalausgabe: Tanya Tagaq 2018,
erschienen unter dem Titel »Split Tooth« bei Penguin Canada, einem
Unternehmen der Penguin Random House Canada Ltd.,
vermittelt durch Liepman AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Jennifer Griffiths
eBook-Produktion: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH
ISBN 978-3-95614-371-7

Für die verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen Kanadas,
und für die Überlebenden der Residential Schools.

»Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen in seinem Herzen birgt, dessen Lippen aber so geformt sind, dass, indem der Seufzer und der Schrei über sie ausströmen, sie klingen wie eine schöne Musik … Und die Menschen scharen sich um den Dichter und sagen zu ihm: Singe bald wieder; das heißt: möchten doch neue Leiden deine Seele martern, und möchten doch die Lippen so geformt bleiben wie bisher; denn der Schrei würde uns nur ängstigen, die Musik aber, die ist lieblich.«

Søren Kierkegaard, Entweder – Oder

1975

MANCHMAL, wenn die Betrunkenen aus der Kneipe nach Hause kamen, versteckten wir uns im Schrank. Knie an Knie saßen wir in unserem Versteck und hofften, dass uns niemand finden würde. Jedes Mal war etwas anderes los. Manchmal war nur Gepolter zu hören, Schreien, Stöhnen, Gelächter. Manchmal kam die alte Frau herein und umarmte uns mit ihrer erdrückenden Liebe, einer Liebe, die wie eine schwere Bürde auf ihr lastete. Schon damals wusste ich, dass Liebe ein Fluch sein kann. Vor lauter Liebe zu uns musste sie weinen. Die Vergangenheit ergoss sich wie ein Fluss aus ihren Augen. Ihr giftiger Alkoholatem erfüllte das Zimmer. Schluchzend griff sie nach uns, küsste uns, küsste das Einzige, dem sie vertrauen konnte.

Wandpaneele aus Holzimitat, der Geruch von Rauch und Fisch. Samtbilder, meist Elvis oder Jesus, aber auch Eisbären und Eskimos.

Eines Abends kamen die Betrunkenen nach Hause und randalierten lauter als sonst, also stiegen wir wieder in den Kleiderschrank. Wir kichern nervös, als das Schreien anfängt. Werden still, als das Gepolter losgeht. Das ganze Haus wackelt. Frauen kreischen, werden aber vom Radau zerbrechender Gegenstände übertönt. Nasses Klatschen von platzender Haut, trockenes Knacken von splitterndem Holz, oder sind das Knochen?

Stille.

Schwere Schritte nähern sich. Scheiße! Jemand kommt auf unser Versteck zu. Wir halten den Atem an. Mit weit aufgerissenen Augen kauern wir in der Dunkelheit, zittern und hoffen auf das Beste. Jemand steht direkt vor dem Schrank und keucht.

Die Schranktür wird aufgeschoben, und mein Onkel steckt den Kopf herein. Ein Riese, der schwankt und lallt. Aus einer Wunde über dem Haaransatz fließt ihm Blut über das Gesicht.

»Ich wollte euch nur sagen, ihr braucht keine Angst zu haben, Kinder.«

Dann macht er die Tür wieder zu.

image

EIN TAG IM LEBEN

Neun Uhr morgens, bin viel zu spät

Die fünfte Klasse ist hart

Steige hektisch in die Hosen

Vergesse das Zähneputzen

Hab Angst vor der großen Pause

Die Jungs jagen uns und drücken uns zu Boden

Begrapschen unsere Muschis und nicht vorhandenen Brüste

Ich will gemocht werden

Wahrscheinlich muss ich das mögen

Zurück ins Klassenzimmer

Der Lehrer bohrt seine Finger in meinen Slip

Unter dem Tisch

Er sieht sich um und tut so, als wäre nichts

Ich tue, als wäre nichts

Er geht zum nächsten Mädchen, plötzlich bin ich eifersüchtig

Die Luft wird dünner und schmeckt nach Verwesung

Die Schule ist aus

Ich gehe zur Spielhalle

Obacht vor dem alten Walross

Der Alte fasst gern kleinen Mädchen an die Muschi

Wir versuchen uns fernzuhalten

Möchte wissen, warum ihn niemand rauswirft

Zu Hause läuft es jetzt besser

Herzbube mit zwei Damen und keine dicke Luft

Archie-Comics und Lego

Gutenacht

DIE GERÜCHE, die von der Frühlingsschmelze freigesetzt werden, entfachen in uns eine fieberhafte Gier nach Bewegung. Die Luft ist so sauber, dass man den Unterschied zwischen glattem und bröseligem Fels riechen kann. Man riecht das über hellen Schiefer fließende Wasser.

Flechten haben einen süßen Geruch. Die grünen Flechten riechen anders als die schwarzen. Im Frühjahr riecht man, was im vergangenen Herbst gestorben, was in diesem Jahr gewachsen ist; die älteren Flechten zeigen den jungen, wie das Wachsen geht.

Der Frost bringt alles zum Stillstand, Leben und Zeit. Das Tauwetter bringt es wieder zum Fließen. Man riecht die Schritte vom letzten Herbst und die einsetzende Verwesung von allem, was in den Klauen des Winters umgekommen ist. Durch die Erderwärmung kommen die tieferliegenden Gerüche an die Oberfläche und entlocken dem Permafrost seine Geschichten. Wer weiß, welche Erinnerungen tief im Eis begraben liegen? Welche Flüche? Das Flüstern der Erde zurück in die Atmosphäre zu entlassen, kann nur Unheil bringen.

Die ersten grünen Sprösslinge schieben sich zaghaft durch die Eisdecke. Die Rufe der Zugvögel sind wie ein Wecker, der uns aus der Winterstarre reißt. Das Leben ist wieder da! Widerwillig zieht sich das Eis zurück und droht: In ein paar Wochen komme ich wieder und räche mich. Der Winter gewinnt immer. Die Sonne verspottet ihn. Nichts kann die Kakofonie aus Völlerei und Fortpflanzung stoppen, die jetzt loslegt.

Das Meereis ist immer noch dick, aber die Tümpel sind schon vollständig aufgetaut. Die Mückenlarven zucken in Form einer Acht durchs Wasser, hypnotisierend und schön. Ganz anders als in einigen Tagen, wenn sie sich in einen blutrünstigen Wirbelsturm verwandelt haben werden. Hätte ich je Gelegenheit, einen Feind zu foltern, dann würde ich ihn in der Mückensaison nackt in die Tundra schicken, die Hände auf dem Rücken gefesselt.

Wir Kinder dürfen im Frühling frei durch den Ort streifen. Wir sind das ständige Zusammensein mit den Eltern genauso leid wie sie, die ein halbes Jahr lang unser Herumtoben im Haus aushalten mussten. Die nie untergehende Sonne wärmt uns und nährt unsere Fantasie. Auf der Suche nach Abenteuern ziehen wir durch die staubigen Straßen. Große Kinderbanden und ebenso große Rudel frei laufender Hunde streunen durch die Stadt. Ich frage mich, vor welcher Gruppe man sich mehr in Acht nehmen muss. Alle meine Freundinnen dürfen so lange draußen bleiben, wie sie wollen, alle, nur ich nicht! Um elf Uhr müssen wir mit unserem Abenteuer fertig sein.

Wir verlassen den Ort und finden einen kleinen See. Er ist ungefähr fünfzig Meter lang und halb so breit. Blaue Styroporteile liegen herum, die in der letzten Bausaison hierher geweht worden sind. Wir wollen Helden sein und benutzen die instabilen Styroporplatten als Boote. Bedenken – die kräftigen Böen, die Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt und die Tiefe des Sees – schlagen wir in den Wind, der sie fortweht wie Styropor. Über so etwas denken Elfjährige nicht nach.

Keiner von uns kann schwimmen. Abwechselnd paddeln wir hinaus, mit einem Stock als Ruder, unsere kleinen Körper halten auf dem wackligen blauen Gefährt mit Mühe das Gleichgewicht. Der Wind wird stärker. Einer von uns wird unweigerlich zu weit hinausgetrieben, und das selbst gemachte Paddel ist völlig unzureichend, um ans Ufer zurück zukommen. Er ist der Kleinste in der Gruppe. Immer ist es der Kleinste. Still, unterwürfig, ein ewiges Lächeln auf den Lippen. Die Wölfe lassen ihn in Ruhe, weil er so lieb ist. Er ist der hübscheste von den Jungs, und die Mädchen wollen ihn entweder bemuttern oder sind insgeheim in ihn verknallt. Einmal habe ich ihn geküsst; sein Mund war klein und weich, seine Zunge träge.

Der Wind bläst ihn weiter hinaus. Fällt er ins Wasser, ertrinkt er. Das wissen wir alle. Niemand sagt ein Wort. Wir überlassen das Heulen dem Wind. Das kleine Gesicht des Jungen wird immer besorgter. Jetzt treibt er in der Seemitte. Seine dünne Windjacke flattert hoch, offenbart magere Rippen und ein leichtes Schaudern. Ich sehe seine Schwäche, spüre seine Verletzlichkeit. Nichts ist zu hören als der Wind und der flatternde Stoff unserer Kleidung. Der Junge wird vollkommen ruhig, noch ruhiger als sonst. Er sieht aus wie ein gelassener alter Mann; er sieht aus, als sei alles in Ordnung. Eine Windbö, das Styropor kippelt, erst auf die eine Seite, dann die andere. Aber sein Körper weiß, was zu tun ist. Der Kleine holt tief Luft, und mit dem Atem wird sein Floß wieder stabiler. Jetzt ist er fast am gegenüberliegenden Ufer. Ich sehe, wie seine Hände zittern, als er den Stock ins Wasser taucht. Er ist in Sicherheit. Er hat das Ufer erreicht. Sein Blick wirkt erwachsener. Wir sind gerade Zeugen geworden, wie er zum Mann geworden ist. Alle jubeln! Es ist nach elf; ich rase heim.

Das war unser Styroporspiel. In der Woche danach benutzten sieben Kinder auf einem größeren See nahe beim Flugplatz einen in der Mitte durchgeschnittenen Wassertank als Boot und ertranken. Wir haben unser Styroporspiel nie wieder gespielt.

Atme kleine Ängste ein daraus werden Zweifel werden Worte wird Meinung wird Wut wird Hass wird Gewalt.

Atme große Ängste und große Worte aus sie fallen auf dich zurück wie leicht wird man unter den eigenen Spiegeln begraben.

Atme kleine Ängste ein sie flüstern und kriechen in deinen Kopf achte sie und danke ihnen dass sie dich schützen wollen.

Atme Anerkennung aus für die Schönheit deiner Instinkte und den Mut kleine Ängste zu lieben.

Atme bleierne Liebe ein wie einen Duft und ernte den Lohn iss kaue schlucke verschlinge die viele Güte und Liebe die man dir schenkt.

Atme Ruhe aus in Anerkennung der Schönheit des Mutes den es braucht die Liebe nicht zu fürchten.

EINE STAUBIGE SOMMERNACHT in der Hocharktis. Hell steht die Sonne am Himmel. Die Sonne bringt Leben und Lust auf Streiche, Heiterkeit und Träume. Es ist zwei Uhr morgens und ich kümmere mich nicht mehr darum, wann ich zu Hause sein muss. Das werde ich bitter büßen müssen, wenn ich heimkomme und die donnernden Schritte meines Vaters das Haus mit einem Zorn erschüttern, wie nur er ihn aufbringt.

Es lohnt sich, ungehorsam zu sein und zusammen mit meinen Brüdern und Schwestern prickelnde Freiheit und Neugier zu zelebrieren. Mit zittrigen Fingerspitzen und schwankenden X-Beinen beschwören und verschwören wir uns; wir verscheuchen die Zweifel und überlassen uns der Lebenslust. Der Winter war lang und bedrückend. Wir wissen alle, dass wir bald Teenager sein werden – die Zeit ist kostbar. Alle Kinder an der Schwelle zur Pubertät verstehen instinktiv, dass diese magische Zeit bald vorbei sein wird. Sie begrüßen die Zukunft und sehnen sich nach dem Erwachsensein, leben aber noch in der kindlichen Fantasiewelt. Im Jungsein schwelgen, wünschen, es würde nie enden. Nie weiter als bis zur eigenen Nasenspitze blicken, während der mächtige Blitzschlag wachsender Zellen und vermeintlicher Unsterblichkeit durch unsere Körper fährt. Wir zeigen es der Zeit, wir pflücken uns gegenseitig das Lächeln von den Gesichtern. Kitzeln Kichern aus den Rippen, werfen mit Beleidigungen um uns, als seien es Komplimente.

In unserem kleinen Ort hört man mittags um zwölf und abends um zehn eine Sirene. Sämtliche Schlittenhunde fallen in das Sirenengeheul mit ein; wahrscheinlich stellen sie sich vor, es sei ein großer, lauter Hundegott, der mit seinem Jaulen über das Land herrscht. Das erinnert mich an Religion – der kurzsichtige und verzweifelte Versuch, in einem Universum, das wir unmöglich verstehen können, Vernunft und Ordnung herzustellen. Dabei ist die Wahrheit ganz einfach: Wir haben alles der Sonne und ihrer Energie zu verdanken. Wir sind wunderbarer Ausdruck der Macht des Universums. Wir sind die Fingerspitzen der Kraft, die die Sterne antreibt, also tut gefälligst, wozu ihr da seid, und FÜHLT.

Unser schwarzhaariges Menschenrudel treibt sich an der Hintertreppe der Schule herum. Zähneknirschend, gaumenmalmend, hungrig nach Betätigung, Zungen, die Streit suchen und Wunschwelten erschaffen, in denen wir interessant und wichtig sind, nicht bloß Kinder auf der Schultreppe. Nicht bloß Teil dieses langweiligen Kaffs mit seinen zwölfhundert Seelen (wenn man ausschließlich die Menschen zählt, aber wer sagt eigentlich, dass das Universum nur in den Menschen lebendig ist?). Die Hintertreppe ist unauffälliger als die am Eingang, wo unter der Sommersonne nichts vor neugierigen Blicken verborgen bleibt. Neben der Treppe steht ein großer Wassertank; das ist gut. Dahinter können wir uns verstecken, wenn wir den Pick-up der Gemeindepolizei hören. Uns vor dem Gemeindepolizisten zu verstecken ist eins unserer Lieblingsspiele. Seine Aufgabe ist es, in dem Städtchen herumzufahren, die Kinder nach Hause zu schicken und streunende Hunde zu erschießen. Er will, dass wir sicher in unseren Betten liegen. Aber sind Betten wirklich so sicher?

Helligkeit. Gelächter. Wir sind eine Gang aus fünf schlaksigen Mädchen und einem kleinen Jungen im schrecklichen Strudel peinlichen Verknalltseins und verstohlener Blicke. Unbeholfene Anmachversuche, die nur ein Ziel haben: sagen zu können, jemand steht auf mich. Die Zeit, in der wir die Teenager beim Knutschen neben der Jukebox sehnsüchtig beobachten und hoffen, dass wir eines Tages die Freiheit besitzen werden, Ja zu sagen. Damals wusste ich nicht einmal, wie man Nein sagt.

Bisher habe ich mich ganz auf meine Schnelligkeit und Beweglichkeit verlassen. Leider sind die Jungs in letzter Zeit schneller, stärker und größer geworden, und das macht mich fertig, weil ich bisher immer die Beste war. Mein Ich ist ins Wanken geraten. Mit einem Mal bin ich machtlos, habe meinen Fahnenmast im sozialen Gefüge verloren. Ich war die Schnellste. Eine bittere Pille für ein wildes Mädchen wie mich. Ich will die Jungs wieder besiegen können. Früher habe ich ihnen in die Eier getreten. Der einzige Junge, der an diesem Abend mit uns zusammen abhängt, ist ein bisschen jünger als wir; klein für sein Alter, aber total von sich selbst überzeugt. Er hat dunkelbraune Haut und tiefschwarze Augen. Sein Haar ist so schwarz, dass es blau in der Sonne schimmert, was ich hin reißend finde. Er ist echt süß, auch wenn er noch keine tiefe Stimme und keine feuchten Träume hat. Die Mädchen wollen ihn alle knuddeln wie eine Puppe. Aber er ist fies, in der Art, wie nur unsichere Leute fies sein können. Er nervt mich in vielerlei Hinsicht, aber nichts ist nerviger als seine blöden Bemerkungen, ich sei in meine Freundin verknallt. Sie ahnt nichts davon, deswegen machen mich seine pubertären Sprüche noch aggressiver. Ich habe Mädchen immer schon gern gemocht, aber unser unerträgliches Kaff findet so etwas abartig. Dieser kleine Scheißer macht die Sache nicht einfacher. Wir sammeln alte Zigarettenkippen vom Boden auf, paffen ein bisschen daran herum und verbrennen uns Mund und Finger an der Unwürdigkeit des Ganzen. Rund um den Hudson’s-Bay-Laden und den Co-op liegen immer genug Kippen herum, aber heute Abend haben wir alles aufgeraucht. Die größeren Kids rauchen meistens hier auf der Hintertreppe, da kann man gute, lange Kippen finden, die sie schnell wegschmeißen müssen, wenn die Lehrer sich anschleichen und versuchen, sie auf frischer Tat zu ertappen.

Der kleine Scheißer will unbedingt Streit. In einem fort quasselt er, Jungs seien so viel besser als Mädchen. Jungs seien stärker, Jungs seien schneller, und schlauer natürlich auch. Schwule sind eklig und er hasst sie. Mir kommt er vor wie eine lästige Mücke. Ich habe eine Idee. Ich springe vom Geländer und packe ihn von hinten. Er ist ein Fliegengewicht. Problemlos bringe ich ihn zu Fall, drücke ihn zu Boden und fordere die anderen auf, mir zu helfen. Wir lachen wie die Wahnsinnigen. Ich ziehe ihm das Hemd aus. Sein kleiner, brauner Bauch ist flach. Muskulöses Mini-Sixpack, magere Ärmchen. Die Hose ziehen wir ihm auch herunter. Seine Knöchel sind so schmal. Er ist so zierlich. Seine dunkle Haut ist mit großen, schwarzen Muttermalen übersät. Er riecht nach Rauch und Panik. Er hat noch keine Haare am Körper. Zwei Mädchen halten ihn an den Beinen fest, eine an den Armen, und ich ziehe ihm die Klamotten aus. Jetzt sind wir einmal fies.

Er kreischt, wir sollen aufhören, aber wir kitzeln ihn durch, und er lacht sich schlapp. Damit es nicht zu peinlich wird, darf er Unterhose und Socken anbehalten, Hemd und Hose klauen wir. Mit unserer Beute rennen wir so schnell es geht auf die Main Street zu, er rennt hinter uns her und brüllt, wir sollen ihm seine Sachen wiedergeben. Als wir auf die Main biegen, sehen wir ein paar andere Kids. Er wird sicher nicht riskieren, halb nackt gesehen zu werden, doch er nimmt die Ecke furchtlos, grinst die anderen nur breit an und sprintet weiter. Abgehackter Atem, stechende Lunge, brennende Seiten: Wir überlassen uns der Welt. Mit fliegenden Sohlen und rasendem Herzen biegen wir um die nächste Ecke und sehen eine Gruppe Erwachsener. Wir quietschen voller Schadenfreude und rennen weiter – er wird uns nicht mehr verfolgen, das wissen wir. Dass Erwachsene ihn so sehen, wird er nicht riskieren.

image

Ich denke daran, wie oft ich mir schon anhören musste, dass ich als Mädchen weniger wert bin. Ich denke daran, wie oft mich Männer angegrapscht haben, obwohl ich das nicht wollte. Ich denke daran, was für ein herrliches Gefühl es ist, die Hose von einem der aufgeblasenen Gockel durch die Luft zu schwenken, während er sich hinter einer Ecke versteckt. Wir rennen einmal um die Schule. An der Rückseite wartet er auf uns und schlägt weinend nach den Mücken. Es ist nicht das letzte Mal, dass er in Schwierigkeiten gerät, weil er ein großes Mundwerk und nichts dahinter hat. Am Ende stirbt er so.

BRUSTBEIN

Das menschliche Brustbein kann so viel

Beschützer des Zwerchfells

Killer und Milchspender der Hoffnung

Hochzeit von Mark und Knorpel

Hebt und senkt sich

Sperrt das Herz ein

Hält es am Leben

Käfig für Atem und Blut

Das menschliche Brustbein dient zu so vielem

Schlüsselbeine als Lenkstangen

Rippen als Stufen

Das Brustbein ist der Schild

Sogar behindert

Sogar wenn es einem kleinen Mädchen die Luft nimmt

Während die Bettfedern quietschen

RITUAL

EIN PAAR MINUTEN außerhalb gibt es einen kleinen Sumpf in der Tundra. Er ist voller Sperrholzbretter, die der gnadenlose arktische Wind von den Baustellen hierher geweht hat. Die Winterwinde und der Permafrost lassen nur wenige Monate lang Bauarbeiten zu. Dann schuften die Bauarbeiter rund um die Uhr unter der Mitternachtssonne. Ein paar Sperrholzlatten hinterherzujagen, die von den heftigen Böen der Hoch arktis weggeweht worden sind, ist nicht Grund genug, um das Werkzeug sinken zu lassen.

Unter diesen Brettern finden unendlich viele Arten Schutz vor dem Wind. In der weiten Baumlosigkeit wird das Sperrholz zur Heimat. Eine dunkle Zuflucht, die Sicherheit vor den vielen Raubtieren bietet. Alle möglichen Lebewesen stöbern wir unter den Spanplatten auf: Käfer, Vogelküken, Lemminge. Die Lemminge mag ich am liebsten. Wenn ich das Dach von ihrem Unterschlupf reiße, erschrecken sie sehr und rennen blind los, um vor dem Monster zu fliehen, das ihre Welt kaputt gemacht hat.

Wenn ich einen gejagt und gefangen habe, halte ich ihn in meinen gewölbten Händen und singe ihm was vor, bis sein Herz wieder normal schlägt. Dann stecke ich mir die Lemminge in die Taschen. Bloß nicht mehr als einen pro Tasche, sonst fangen sie an, sich zu bekämpfen. Nur wenige Lebewesen bleiben friedlich, wenn der Platz knapp wird. Ich habe sechs Taschen in meiner Windjacke. Sechs Lemminge am Tag, Doktor gespart.

Auf dem Heimweg pfeife ich und platze fast vor Vorfreude auf mein tägliches Ritual; heute habe ich nur fünf Lemminge. An der Rückseite unseres Hauses gibt es einen kleinen Windfang. Niemand geht zur Hintertür hinaus, darum ist der Windfang mein Reich. Hier kann ich Sachen verstecken und so tun, als ob der Rest der Welt ebenfalls mir gehört. Ich hole ein paar Karotten und Selleriestangen aus dem Kühlschrank, dann setze ich die Lemminge in dem leeren Windfang auf den Boden. Die Karotten gehören in die Ecke. Erst haben die Tierchen Angst, aber so einem Buffet können sie nicht widerstehen. Ich lasse sie mümmeln, bis sie ruhig werden, und gehe rein.

Im Wohnzimmer steht ein Aquarium. Mit Molchen, Schnecken und Fischen. Die Schnecken vermehren sich zu schnell, deswegen beginnt mein Ritual damit, dass ich mindestens zehn von ihnen am Glas zerquetsche, mit Häuschen und allem. Ich finde es befriedigend, wenn ich die Häuser zerbrechen höre – wie wenn man beim Staubsaugen richtig viel Dreck aufsaugt, der in einer blechernen Symphonie das Rohr hinaufklimpert.

Der zweite Teil meines Rituals besteht darin, einen der Molche am Schwanz zu packen und in den Mund zu nehmen. Erst sitzt er auf meiner Zunge, die winzigen Saugnäpfe seiner Zehen heften sich an meine Geschmacksknospen. Ich schließe den Mund. Der Molch kriecht kurz verwirrt herum, dann macht er es sich in der dunklen Wärme bequem. Er windet sich unter meine Zunge und schläft normalerweise dort ein. Ich erledige ein bisschen was im Haushalt, während er sich ausruht, öffne ab und zu den Mund, damit er frische Luft bekommt. Ich gehe ins Bad und stelle mich vor den Spiegel. Der Molch schläft fast immer, seine niedlichen kleinen Augen sind geschlossen und entspannt, meine Zunge ist seine Bettdecke. Ich finde ihn süß. Ich setze ihn zurück ins Aquarium und gehe nach meinen felligen Freunden schauen.

image