image

Jörg Noller

Theorien des Bösen zur Einführung

image

Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Koblenz
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

© 2017 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner

Ina Kerner

Dieter Thomä

Inhalt

1.Einleitung

1.1Gründe des Bösen

1.2Probleme des Bösen

1.3Perspektiven des Bösen

2.Theologien des Bösen

2.1Judentum

2.2Christentum

2.3Manichäismus

2.4Islam

3.Philosophien des Bösen

3.1Platon

3.2Augustinus

3.3Thomas von Aquin

3.4Hobbes

3.5Leibniz

3.6Rousseau

3.7Kant

3.8Fichte

3.9Schelling

3.10Hegel

3.11Schopenhauer

3.12Kierkegaard

3.13Nietzsche

3.14Arendt

3.15Neuere Ansätze

4.Ästhetiken des Bösen

4.1Böse Künste

4.2Böse Texte

4.3Böse Bilder

4.4Böse Töne

4.5Böse Lebensformen

5.Psychologien des Bösen

5.1Die Faszination des Bösen

5.2Die Genese des Bösen

5.3Emotionen des Bösen

5.4Experimente des Bösen

6.Pathologien des Bösen

6.1Böse Typen

6.2Böse Ideologien

6.3Böse Naturen

6.4Böse Gehirne

7.Schluss: Ein kritischer Begriff des Bösen

Anmerkungen

Kommentierte Auswahlbibliografie

Über den Autor

1. Einleitung

1.1 Gründe des Bösen

Wozu ein Begriff des Bösen? Sollte man nicht lieber neutralere Begriffe verwenden, vom »Schlechten« oder »Kranken« sprechen, das in der Welt zweifellos existiert und das zum »Guten« und »Gesunden« verbessert werden kann? Oder gar nur von »Schwächen«, »Fehlern« und »Defiziten« – Phänomene, deren Begriffe implizieren, dass sie bei ausreichender Anstrengung, Pflege und Übung überwunden werden können? Besteht nicht die Gefahr, dass mit der Verwendung des Begriffs des Bösen einzelne Menschen, Gesellschaften oder gar ganze Teile der Welt zu Gegenständen eines Schwarz-Weiß-Denkens gemacht und auf diese Weise diskriminiert oder dämonisiert werden? Und schließlich: Ist der Begriff des Bösen in Zeiten weiter fortschreitender Säkularisierung und Aufklärung nicht überholt und sollte als ein metaphysisches Relikt aus dunklen Zeiten aufgegeben werden? Aber wie verhält sich die zweifellos vorhandene »Faszination des Bösen«, von der die hohen Einschaltquoten allabendlicher Krimis und das gemeine Interesse an blutigen Sensationen zeugen, zu diesen Bedenken? Es scheint, dass eine Auffassung des Bösen als bloßes Defizit oder als Mangel dem Phänomen nicht gerecht werden kann. Vielmehr legt seine Faszination nahe, dass eine seiner herausragenden Eigenschaften gerade im Gegenteil eines Mangels, einer besonders perfiden Intelligenz etwa, besteht, das zugleich gefürchtet und bewundert werden kann.

Erst wo das Böse in diesem Sinne – also als willentliche und zurechenbare Aktivität – verstanden wird, wird es uns zum Problem. Denn es betrifft dann nicht nur bestimmte gegebene Charakterzüge oder Äußerlichkeiten, sondern zielt mitten hinein ins Zentrum menschlicher Existenz. Seine Gründe sind Abgründe. Mehr noch, zu dem Bösen hypostasiert lässt es sich gar als eine dunkle Macht denken. Als einer der am stärksten wertenden Begriffe unserer Sprache ist die Verwendung des Begriffs des Bösen nicht nur eine Beschreibung oder Feststellung von Tatsachen in der Welt, sondern die Zuschreibung dieser Eigenschaft zu einer Person oder Sache eine Handlung, die diese Person oder dieses Ding, die betreffenden Willensakte und Taten in ein unverrückbar negatives Licht stellt und sie stigmatisiert. Dass niemand als böse etikettiert werden möchte, ist deshalb nur zu verständlich. Das Böse ist ein Unwort. Sollten wir es also nicht lieber ganz aus unserem Wortschatz streichen?

Speziell aus philosophischer Perspektive wird behauptet, dass die gegenwärtige Philosophie das Böse als Thema »verloren« habe (Höffe 2009: 328). Allerdings stellt sich die Frage, ob sie es denn jemals besessen hat. Um das Böse als Thema zu besitzen, müsste die Philosophie einen Begriff oder eine ausgearbeitete Theorie davon haben – eine ›Wissenschaft des Bösen‹. Kann es eine solche Theorie des Bösen aber überhaupt geben? Ist das Böse nicht vielmehr unfasslich und entzieht sich dem Begriff – ein Unbegriff? Könnte der Grund der Beobachtung, dass die Philosophie das Böse als Thema verloren habe, am Ende nicht auch darin liegen, dass es sich dem Begriff immer schon entzieht, dass es das System sprengt, es also gar keine Theorie davon geben kann? Und sollte das Böse seinen Platz dann nicht am besten ausschließlich in Märchen, Mythen oder Schauergeschichten haben? Wäre dem so, würde sich ein Buch mit dem Titel »Theorien des Bösen« zweifellos erübrigen. Dass es so einfach nicht ist, zeigt gerade die Tatsache, dass uns das Böse empört und eine gedankliche Reaktion provoziert – sei es, weil wir glauben, dass es verhindert werden sollte, oder weil wir überhaupt seinen Begriff für unnötig halten.

Dass die Philosophie überhaupt einen Begriff des Bösen besitzen kann, ist von verschiedenen Seiten infrage gestellt worden. Der amerikanische Philosoph Richard Bernstein etwa betont, dass sich das Böse philosophisch gar nicht fassen lasse. »I am deeply skeptical of the possibility of the very idea of a theory of evil«, bekennt er und fügt hinzu: »There is […] something about evil that resists and defies any final comprehension.« (Bernstein 2002: 6f.) Der deutsche Philosophieschriftsteller Rüdiger Safranski geht noch weiter, wenn er in seinem Buch Das Böse oder Das Drama der Freiheit behauptet: »Das Böse gehört nicht zu den Themen, denen man mit einer These oder einer Problemlösung beikommen könnte.« Und fährt fort: »Das Böse ist kein Begriff, sondern ein Name für das Bedrohliche, das dem freien Bewußtsein begegnen und von ihm getan werden kann.« (Safranski 1997: 14) Der Berliner Philosoph Wilhelm Schmidt-Biggemann schließlich konstatiert: »Das Böse hat keine Logik, man kann es nicht deduzieren und definieren. Man kann das Böse nicht mit der Logik des Guten, seines Gegenteils, bannen; wenn das gelänge, wäre das Böse abschaffbar […] eine systematische Theorie des Bösen ist nicht denkbar.« (Schmidt-Biggemann 1993: 10) Diese Liste von Ansichten über die Unbegreiflichkeit und Unbegrifflichkeit des Bösen ließe sich lange fortsetzen. Worin liegt also der Grund, dass wir das Böse nicht in den Griff bekommen? Der Grund scheint weniger in unserem fehlenden Begriffsvermögen als im Phänomen des Bösen selbst – seiner Abgründigkeit – zu liegen.

Bei all diesen Schwierigkeiten möchte das vorliegende Buch dazu beitragen, den Begriff und das Phänomen des Bösen weiter aufzuklären. Erfolgen kann der Zugang dabei angesichts der Komplexität des Phänomens jedoch nicht allein mit den Mitteln der Philosophie oder Theologie – den traditionellen Zugängen zu diesem Thema –, sondern nur multiperspektivisch und interdisziplinär. Ziel des Buches ist es, durch verschiedene Annäherungen einen Begriff des Bösen zu profilieren, der seine Berechtigung darin hat, dass er dessen Phänomene und Handlungen auf ihren Grund in der Praxis der menschlichen Freiheit – sei sie moralisch oder ästhetisch – hin transparent macht.1 Das Buch verfolgt dieses Ziel in Auseinandersetzung mit der Wirkungs- und Kulturgeschichte des Begriffs, die überaus fruchtbar ist und nichts von ihrer Faszination verloren zu haben scheint, so dass gelegentlich sogar von einer »Renaissance des Bösen« (Schuller/Rahden 1993) die Rede ist.

1.2 Probleme des Bösen

Eine begriffliche Analyse des Bösen bedarf zunächst einiger grundlegender Unterscheidungen, die seine alltägliche – vage negative – Bedeutung aufnehmen und weiter differenzieren. So kann das Böse zum einen im Sinne des Schlechten oder des Übels (lat. malum) verstanden werden, etwa in Gestalt von Krankheiten oder anderen natürlichen Defekten. In der theologischen und philosophischen Tradition wird diese Form des Bösen als natürliches Übel (malum physicum) bezeichnet. Es folgt nicht aus der menschlichen Freiheit, kann also keinem Willen zugerechnet werden, sondern stellt ein passives Übel dar, welches Menschen und anderen Lebewesen zustößt, ihr Leben gefährdet und beeinträchtigt. Zum anderen kann das Böse aber auch freiheitstheoretisch im Sinne eines bewussten, willentlichen und aktiven Zufügens von Schaden begriffen werden, was im Ausgang von Augustinus als moralisches Übel (malum morale) bezeichnet wird. Und schließlich lässt sich das Böse durch die generelle Endlichkeit des Menschen als Geschöpf bestimmen, dem durch diese Eigenschaft immer schon ein Mangel – sei es das malum physicum oder das malum morale – anhaften muss. Diese generelle Form des Bösen wird in der philosophischen Tradition nach Leibniz das metaphysische Übel (malum metaphysicum) genannt.

Im Fokus der meisten Betrachtungen des Bösen steht das malum morale als dasjenige Böse, welches der willentlichen Aktivität des Menschen zurechenbar ist. Als etwas, was nicht sein soll, aber dennoch irgendwie ist, steht zunächst seine Existenzweise infrage. Existiert das Böse, insofern es nicht sein soll, auf dieselbe Weise wie das Gute, das sein soll, besitzt es also denselben Grad an Wirklichkeit oder ist es gegenüber dem Guten weniger real? Dazu gibt es mindestens zwei Ansichten: Zum einen wird die These vertreten, dass das Böse etwas prinzipiell Defizitäres ist, das sich aus menschlichem Unvermögen, Schwäche oder einem Mangel an Freiheit und Reflexion speist (Privationstheorie des Bösen). Dem gegenüber steht die Auffassung, dass das Böse dem Guten hinsichtlich seiner Realität gleichrangig ist. Das Böse ist demnach kein Mangel an Sein oder Freiheit, sondern nur eine andere Seinsweise, die die gute Ordnung nicht bekräftigt, sondern diese vielmehr aktiv auf den Kopf stellt, also pervertiert und damit letztlich zerstört (Perversionstheorie des Bösen). Mit dieser Auffassung des Bösen geht die Annahme der vollen moralischen Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln einher und die Ansicht, dass das Gute wie das Böse gleichermaßen mögliche und wirkliche Formen unserer Freiheit sind. Damit rücken die Begriffe des Willens, der Wahl und der Vernunft ins Zentrum des Interesses einer Perversionstheorie des Bösen.

Gemäß dem ›perversiven‹ Verständnis des Bösen lassen sich nun verschiedene Missverhältnisse denken, in denen sich das Böse aktiv realisiert. Zum einen kann es sich dabei um ein intrasubjektives Missverhältnis handeln, indem der Mensch sich in einem Konflikt mit sich selbst und seinem Gewissen oder seiner Vernunft befindet. Dies ist dann der Fall, wenn er sein Eigeninteresse oder seinen Egoismus nicht der moralischen Forderung nach der Universalisierbarkeit seines Tuns oder einem Altruismus unterordnet, sondern sein Individualinteresse allein auf Kosten der anderen behaupten will. Das Böse kann sich aber auch in einem intersubjektiven Missverhältnis vollziehen, indem etwa anderen Menschen oder Lebewesen bewusst und willentlich Schaden zugefügt wird. Und es kann schließlich in einem transsubjektiven Missverhältnis bestehen, wenn der Mensch sich gegenüber Gott in seiner Geschöpflichkeit behaupten möchte, so dass er gegen die göttlichen Gebote verstößt. Diese Dimension des Bösen wird in der theologischen Tradition Sünde genannt. Das perversive Böse vollzieht und entzieht sich also in allen drei Fällen gerade angesichts der Forderung des Guten. Es besitzt eine eigene, falsche Ordnung, die jedoch keinen dauerhaften Bestand hat, sondern wesentlich scheinhaft strukturiert ist und auf Kosten des Anderen existiert.

Dem perversiven Verständnis nach realisiert sich das Böse zwischen Vernunft und Unvernunft, ja es kann als ›Vernunft zur Unvernunft‹ charakterisiert werden, setzt es doch voraus, dass die böse Entscheidung bewusst und damit aus bestimmten Gründen vollzogen wird. In dieser rationalitätstheoretischen Spannung der Koexistenz von Vernunft und Unvernunft zeigt sich, dass das Böse nicht leicht auf den Begriff zu bringen ist. Auch ist das Böse kein reines Objekt, welches sich feststellen und von seinem Kontext isolieren ließe, sondern es hat immer den subjektiven Charakter einer Realisierung, der im Vollzug der Freiheit besteht. Als solches ist es ebenfalls nur schwer zu objektivieren, unter einen Begriff zu bringen und rational zu domestizieren, weil es immer schon das Andere ist, welches nicht sein soll, aber gleichwohl ist. Das Böse ist ein Grenzphänomen. Es steht zwischen Sein und Nichts, zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Abstoßung und Anziehung, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Begriff und Gefühl, zwischen Beschreibung und Wertung, zwischen Vernunft und Unvernunft, zwischen Beschränkung und Freiheit, zwischen Anerkennung und Verdrängung. Das so verstandene Böse besitzt eine Aktivität, Struktur und Ausrichtung, die es von bloßen Übeln oder privativen Phänomenen unterscheidet. Diese Aktivität des Bösen ist derart verfasst, dass sie eine Ordnung erzeugt, innerhalb deren individuelle Zwecksetzungen als gerechtfertigt erscheinen – auch und gerade weil sie dem Interesse anderer zuwiderlaufen. Die scheinhafte Ordnung des Bösen, die sich seiner destruktiven Aktivität verdankt, besitzt damit aber nur ephemere Geltung, da sie ihre Basis und damit in letzter Konsequenz sich selbst zerstört.

1.3 Perspektiven des Bösen

Die Betrachtungen des Bösen in diesem Buch – aus theologischer, philosophischer, ästhetischer, psychologischer und pathologischer Perspektive – verstehen sich nicht als bloße Ansammlung und Aufreihung von Ansichten, sondern als Aufweis eines größeren interdisziplinären Zusammenhangs, dessen roten Faden der Begriff der Freiheit bildet. Indem das Böse strukturell als perversives Produkt der Freiheit verstanden wird, öffnet sich ein weites Feld seiner verschiedenen Manifestationen, die sich unter bestimmten Gesichtspunkten weiter erschließen lassen und denen die Gliederung dieses Buches folgt.

Thematisch wird das Böse zunächst als Gegenstand verschiedener »Theologien des Bösen« (Kapitel 2), die das Böse aus dem Verhältnis von Geschöpf und Schöpfer heraus verstehen. Von zentraler Bedeutung sind hierbei im Judentum die Geschichte des Sündenfalls bei Adam und Eva, aber auch die Erzählungen von Kain und Abel, der Sintflut und des Turmbaus zu Babel, die allesamt als Urerzählungen des Bösen gelten dürfen und die Grundmotive und Koordinaten für jede weitere Befassung mit dem Thema vorgeben. Das Problem des Bösen wird in der Tradition der jüdischen Kabbala sowie in der christlich-paulinischen Lehre von Gesetz und Sünde, aber auch durch die augustinische Erbsündenlehre aufgenommen. Die Tradition der Gnosis und des Manichäismus betrachtet das Gute und das Böse weniger unter menschlichen als unter kosmologischen Gesichtspunkten und beschreibt beide als gegensätzliche Mächte. Der Islam schließlich rückt die Rolle des Teufels und der Hölle ins Zentrum. Gegenüber der christlichen Erbsündenlehre ergeben sich hier zahlreiche Differenzen, indem nun das Böse als eine innerweltliche Bewährungsprobe des Menschen verstanden wird.

Die »Philosophien des Bösen« (Kapitel 3) knüpfen an das Kapitel zu den »Theologien des Bösen« an, betrachten das Phänomen nun aber vor allem intra- und intersubjektiv. Im Durchgang verschiedener philosophischer Betrachtungen des Bösen von Platon über Augustinus, Thomas von Aquin, Hobbes, Leibniz, Rousseau, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer bis zu Nietzsche und Arendt sowie schließlich aktuellen Theorien des Bösen zeigt sich die Tendenz eines Übergangs vom malum physicum zum malum morale und von einer privativen zu einer perversiven Auffassung des Bösen. Das Böse wird im Zuge dieser Entwicklung immer mehr mit der menschlichen Freiheit identifiziert, ja teilweise gar als eigentlicher Ausdruck dieser Freiheit verstanden, die noch vor der Freiheit zum Guten liegt. Innerhalb dieses perversionstheoretischen Paradigmas des Bösen rückt die Frage nach der spezifischen Rationalität des Bösen ins Zentrum: Inwiefern kann das Böse aus Gründen erfolgen, wo es doch abgründig der Ordnung der Vernunft zuwiderläuft?

Die »Ästhetiken des Bösen« (Kapitel 4) verstehen das Böse als Ausdruck einer Freiheit, die nicht länger unter rein moralischen Kategorien erscheint, und erweitern so das Phänomen des Bösen. Hier wird die Tendenz sichtbar, das Böse nicht nur zum Gegenstand der begrifflichen Reflexion zu machen, sondern es durch ästhetische Darstellungsformen selbst ›performativ‹ zur Sprache kommen zu lassen, indem die Darstellung des Bösen selbst böse Züge annimmt, womit das Problem des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik aufgeworfen ist. Fasst man Kunst als einen Ausdruck der menschlichen Freiheit auf, so wird vor allem in ihrer Autonomie eine konsequente Radikalisierung in der Betrachtung des Bösen sichtbar. Diese läuft der Tendenz, das Böse auszublenden, gerade entgegen, indem sie dessen strukturellen Scheincharakter produktiv aufnimmt und umlenkt. Damit aber wird die Radikalisierung so weit getrieben, dass bestimmte Kunstprodukte, die das Böse zum Gegenstand haben, nun selbst als böse wahrgenommen werden können, was sich etwa in Reaktionen wie öffentlicher Empörung oder staatlicher Indizierung manifestiert. Kunst, die mit dem Bösen umgeht, kann unter Umständen selbst als böse Tat rezipiert werden. Sie stellt damit den Endpunkt des Prozesses einer langen Positivierung des Bösen dar, der von der Privationstheorie über die Perversionstheorie hin zur Ästhetik führt. Diese Ästhetik des Bösen manifestiert sich im Medium von Texten, Bildern, Filmen, Computerspielen und Formen virtueller Realität, die die gewohnten Grenzen zur Fiktion verschwimmen lassen. In letzter Konsequenz kann das ästhetische Böse, wie im Falle von Sadismus und Masochismus, in Kombination mit extremen Formen von Sexualität gar als eine Lebensform praktiziert werden.

Die »Psychologien des Bösen« (Kapitel 5) nehmen ihren Ausgang von der Faszination, die das Phänomen ausübt, und versuchen es durch die Aufdeckung seiner Wirkungsweisen und die Beschreibung der Entstehungskontexte seiner Wirkmechanismen weiter zu erklären. Experimente wie das Milgram- und das Stanford-Prison-Experiment zeigen, dass das Böse als eine Art anthropologischer Konstante gelten kann. Auch psychische und emotionale Zustände des Bösen wie Hass, Wut und Aggression sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung, aber ebenso die Frage nach ihrem evolutionsbiologischen Grund.

Die »Pathologien des Bösen« (Kapitel 6) übersteigen dagegen das verständliche und erklärbare Böse in einem extremen Maß. Vor allem um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stellte sich die Frage, ob es tatsächlich von Natur aus böse Menschen gebe – die »geborenen Verbrecher« (Lombroso) – und woran man sie erkennen könne. Im 20. Jahrhundert wirken sich Pathologien des Bösen vornehmlich in den gesellschaftlichen Formen von Totalitarismus und Terrorismus aus. Mit der Wende zum 21. Jahrhundert verlagert sich das Interesse auf neurobiologische Fragen, auf »böse Gehirne«, die auf der Suche nach einem biologischen Korrelat des Bösen seziert werden. Diese Tendenz einer Verobjektivierung und Naturalisierung des Bösen führt jedoch gerade dazu, dass das Phänomen wiederum nur noch mit den Kategorien des malum physicum verstanden werden kann, als etwas Privatives und Äußerliches, das unter freiheitstheoretischen und subjektivitätstheoretischen Gesichtspunkten stumm bleiben muss.

Indem dieser Einführungsband das Phänomen des Bösen aus verschiedenen disziplinären Zugängen behandelt, versteht er sich als Versuch einer ›anderen‹ Anthropologie – einer Betrachtung des Menschen, die im Wesentlichen seine Schattenseite beleuchtet, zugleich aber deren anhaltende Faszination und ihr produktives Potenzial herausstellen will, insofern es sich seiner Freiheit verdankt. Das Böse ist diesem Verständnis nichts unaufklärbar Dunkles, denn sonst würde sich der Versuch einer »Theorie des Bösen« von vornherein erübrigen. Vielmehr besitzt es eine begriffliche Struktur, die sich in drei Dimensionen weiter differenzieren lässt: (i) als privatives Phänomen ist es normativ mangelhaft und dem Guten unterlegen; (ii) als perversives Phänomen behauptet es sich trotz dieser Asymmetrie gegenüber dem Guten; (iii) als performatives Phänomen nimmt es verschiedene Gestalten an und tarnt so reflexiv sein eigenes Wesen, so dass das Böse auf seine Darstellung übergreift und schließlich das Denken und der Begriff des Bösen selbst böse sein können.

Abschließend wird der Versuch unternommen, die verschiedenen Dimensionen des Bösen zusammenzudenken und davon ausgehend einen kritischen Begriff des Bösen zu entwickeln, der sich einerseits von neurowissenschaftlichen und evolutionstheoretischen Reduktionismen abgrenzt, angesichts seiner verschiedenen Herausforderungen in der Moderne jedoch auch in säkularen Gesellschaften noch diagnostische Bedeutung beanspruchen kann. Motiviert ist ein solcher Begriff dadurch, dass er untrennbar mit der Freiheit des moralischen Akteurs in Verbindung steht, die sich nicht individualistisch, sondern nur in intersubjektiven Kontexten und Vollzügen entfalten kann und darin gleichzeitig ihre Endlichkeit und Verantwortung zu reflektieren hat.

2. Theologien des Bösen

2.1 Judentum

Der biblische Mythos des Sündenfalls, wie er sich im ersten Buch Mose (hebr. bereschit, gr. genesis) der Torah findet, darf als ein Urdokument der Beschreibung des Bösen gelten. Zugleich wird darin die Ursituation des Menschen in der Welt als Geschöpf in seinem Verhältnis zu Gott als Schöpfer dargelegt. Dieses betrifft (i) die Freiheit, Versuchung und Scham des Bösen im Sündenfall, (ii) die Motivation und Stigmatisierung des Bösen in Kains Brudermord, (iii) die Universalität des Bösen in der Sintflut, (iv) den Hochmut des Bösen durch den Turmbau zu Babel, (v) die Unsittlichkeit in Sodom und Gomorrha sowie (vi) die Theodizee-Problematik am Beispiel der Geschichte Hiobs.

In der zweiten Schöpfungsgeschichte der hebräischen Bibel (Gen 2,4b-3,24) wird der Mensch (hebr. adam) von Gott aus dem Staub der Erde (adamah) hervorgebracht und durch Einblasen des Odems des Lebens (neschamah) vollendet. Erst danach schafft Gott den Garten Eden, in den er den Menschen versetzt mit dem Auftrag, diesen Ort zu bebauen und zu bewahren (Gen 2,15). Im Zentrum des Gartens befinden sich der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen (‘ez hada’at tov wa-ra’). In dieser topografischen Urkonstellation werden Leben, menschliche Existenz und die Objektivität der Moral bereits untrennbar aufeinander bezogen: Gott verbietet dem Menschen, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, da ihm andernfalls der Tod drohe. Erkenntnis und Freiheit des Guten und Bösen sind also für den Menschen nur zum Preis seiner Endlichkeit möglich.

Der Sündenfall, wie er in Gen 3 beschrieben wird, ist die Geschichte einer Verführung. Der Schlange kommt die Rolle der Verführerin zu, indem sie gegenüber Eva Gottes Androhung der Sterblichkeit relativiert, ja sogar in Aussicht stellt, dass Adam und Eva durch das Essen vom Baum der Erkenntnis »wie Gott« würden und Wissen davon erlangten, »was gut und böse ist« (Gen 3,5). Diese Gottgleichheit im objektiven Wissen um das Gute und das Böse kann nun aber gerade nur dadurch erlangt werden, dass sich Adam und Eva durch ihre böse Tat wieder von Gott unterscheiden und sterblich werden. Die Erkenntnis des Guten und Bösen fällt zusammen mit der Tat des Bösen, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Indem Adam und Eva schließlich vom Baum der Erkenntnis essen und damit Gottes Gebot zuwiderhandeln, erkennen sie sogleich ihre Nacktheit, deren sie sich schämen und die sie durch Kleidung verdecken. Die Scham des Bösen äußert sich auch darin, dass sich Adam und Eva im Garten Eden vor Gott verstecken. Der Sündenfall wird damit zum kausalen Erklärungsgrund für das natürliche Übel: für die spezifische Lebensweise der Schlange und ihre natürliche Feindschaft mit dem Menschen, für die Schmerzen der Frau bei der Geburt ihrer Kinder und ihre Abhängigkeit vom Mann sowie für die Mühe des Mannes bei der Arbeit zum Lebenserhalt und die generelle Hinfälligkeit der Menschen. Das erste Buch Mose liefert also eine Ätiologie für das malum physicum, insofern dieses aus dem malum morale des Sündenfalls heraus zur verdienten Strafe erklärt wird, welche wiederum im malum metaphysicum – der endlichen und zugleich freien Geschöpflichkeit des Menschen – ihren Grund hat. Diese Strafe ist aber nur möglich aufgrund der Freiheit, die Adam und Eva als Geschöpfe Gottes von vornherein besitzen. Die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis ist damit ein Symbol für die Faszination und Verlockung des Bösen – sich selbst als Herrscher der Welt zu inthronisieren, ohne an verbindliche Gebote gebunden zu sein. Die geschöpfliche Freiheit des Menschen bringt die Versuchung, böse zu handeln, untrennbar mit sich, aber auch die Scham im Augenblick der Erkenntnis, böse gehandelt zu haben. Die Erkenntnis des Guten und Bösen ist dem Menschen nur möglich, indem er böse handelt und sich gerade dadurch von Gott unterscheidet. Um zu verhindern, dass sie auch vom Baum des Lebens essen, werden Adam und Eva schließlich von Gott aus dem Paradies vertrieben, und der Eingang wird ihnen dauerhaft verwehrt. Damit ist die Grenze von Mensch und Gott topografisch gezogen und die anthropologische Grundsituation, aus der heraus das Böse definiert wird, vorgegeben: Der sterbliche Mensch steht in seiner wirklichen Freiheit zum Bösen zwischen dem unfreien Tier, das keine Scham kennt, und der göttlichen Ewigkeit des Guten. Auch wenn der Mensch nicht vom Baum des Lebens essen darf, trägt doch seit dem Sündenfall die erste Frau den Namen Eva (hebr. chawwah), was »Leben« bedeutet. Es ist das sich reproduzierende Leben von Entstehen und Vergehen, durch welches sich die Endlichkeit des Menschen von Gottes Existenz unterscheidet.

Mit der Geschichte von Kains Brudermord in Gen 4 führt das erste Buch Mose direkt im Anschluss an die Erzählung des Sündenfalls das nächste Urbeispiel des Bösen an. Dieses betrifft nun nicht mehr das transsubjektive Verhältnis von Mensch und Gott, sondern die inner- und intersubjektive Dimension des Bösen. Kain (von kanah, erwerben) und Abel (von hevel, Vergänglichkeit) sind die beiden Söhne von Adam und Eva. Abel, der Zweitgeborene, opfert Gott von den erstgeborenen Tieren seiner Herde, während Kain, der Erstgeborene, Gott nur Feldfrüchte seines Ackers darbringt. Als Gott das Opfer Abels demjenigen Kains vorzieht, ergrimmt dieser vor Neid und senkt seinen Blick. Gott fordert daraufhin Kain auf, der in ihm lauernden Sünde (cha’at) Herr zu werden und diese zu kontrollieren. Doch Kain gelingt es nicht, seinen Neid zu beherrschen, sondern er ermordet Abel. Gott straft nun Kain, indem er ihn, wie zuvor Adam und Eva aus dem Paradies, von seinem Acker vertreibt, so dass er als Flüchtling ein unstetes Dasein auf Erden zu führen verdammt ist. Damit Kain jedoch nicht befürchten muss, von anderen aus Rache erschlagen und so über Gebühr bestraft zu werden, versieht Gott ihn zum Schutz mit einem Kainsmal, was ihn jedoch zugleich in der sozialen Welt als Täter ausweist. Damit hat sich das Böse paradigmatisch als Mord nicht nur in der Welt ereignet, sondern es ist nun auch als solches bezeichnet und damit objektiviert.