Otto W. Bringer

Frankreich
mit allen Sinnen...

Tagebuch-Aufzeichnungen

Imprint

Frankreich mit allen Sinnen …
Otto W. Bringer

Alle Rechte bei Schillinger Verlag Freiburg
1. Auflage 2013 · ISBN 978-3-89155-380-0
Titelgestaltung und Fotos vom Autor
Gesamtherstellung: Schillinger Verlag Freiburg

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sabine abels www.e-book-erstellung.de

Inhalt

Baix – Stop bei Kardinalsrot.
ST.RÉMY-DE-PROVENCE – Nachtigall singt.
ARLES – Hummer in Vanille.
AIGUES MORTES – nach 38 Jahren frei.
AVIGNON – Sprit alle und keine Tankstelle.
COLMAR – bei Grünewald und ‚Chez Fritz’.
ILLHAEUSERN – Storch klopft ans Fenster.
FONTAINE DE VAUCLUSE – Die Wasserschlacht.
FONTVIEILLE – Mühlengeschichten.
SAINT MAXIME – der verbeulte Hut.
ST. PAUL-DE-VENCE – der Klodeckel wars.
PÉROUGE – Völlerei ist nichts dagegen.
ROUSSILLON – Trostpflaster in Ockerrot.
NÎMES – Amphitheater hoch zweiunddreißig.
CARCASSONNE – ein Held in meiner Familie.
OBERNAY – farbig wie das Leben.
BRANTÔME – Madame ist ungehalten.
AVALLON – Beginn einer Pilgerfahrt.
TOUR – Konzert mit Schneeglöckchen.
AMBOISE – wo es am Französischsten ist.
ANGERS – das siebenköpfige Meerestier.
CHEVERNEY – die Jagdhunde sind losgelassen.
PARAY-LE-MONIAL – Taschenausgabe von Cluny.
MÉNERBES – zu viel Eiweiß, Eiweiß, Eiweiß.
GORDES – alte Töpfe und moderne Kunst.
MONTMAJOUR – der große Klang.
ORANGE – Flüsterprobe vor dem Kaiser.
BONNEVEAUX –TV verdirbt den Ferienspaß.
ÈZE DE VILLAGE – Ein Tag ohne Zahnbürste.
LAC D´ANNECY – Spektakel ohne Ende.
SAINT-ANNE-DE-PALUDE – Traum von der Bretagne geplatzt.

Baix – Stop bei Kardinalsrot.

Auf der Route du Soleil kommen wir schnell voran. Immer der Rhône entlang. Auch wenn wir sie nicht sehen. Schönes Gefühl südwärts zu fahren. Richtung Mittelmeer. Ausfahrt Loriol. Hopps über die Rhône. Entspannt über wenig befahrene Landstraßen. Durch Dörfer, die ihren Mittagsschlaf halten. Eines von ihnen Baix. Kennt kein Mensch. Außer dem Kardinal.

Wir hatten diesen Zwischenstopp ganz simpel errechnet. Die Kilometer der ganzen Fahrt halbiert. Finger auf Baix gelegt. Die Landkarte lügt nicht. Unser Hotel heißt ‚Le Cardinal’. Eines der ersten Mitglieder der Nobelkette ‚Relais&Chateau’. Verspricht angenehmes Wohnen in historischem Ambiente. Landhaus oder Schloss. Rose kennt das ein und andere und schwört darauf. „Du wirst staunen, wie echt alles dort ist. Mit den Jahren gewachsen. Kein modischer Schickschnack. Inhaber und Service sind Menschen wie Du und ich.“

Wir müssen sechzehn Stufen hoch. Es ist heiß. Hinter uns rauschen Erlen und Rhône. Madame sieht uns. Ruft einen Kofferträger. Eilt uns entgegen: „Avez-vous fait bon voyage?“ Gute Fahrt gehabt? Geht, kommt wieder. In den Händen ein silbernes Tablett mit zwei geschliffenen Gläsern, in denen drei Eiswürfel klinkern. Eine Flasche gekühltes Badoit l´Eau Mineral. Auf einem Schälchen Zitronenviertel. Im separaten Glas eine purpurrot gedunkelte Sommeraster. „Bienvenue ici, dans Cardinal!“ „Merci Madame.“ Das Rot der Purpurschnecke wird unser Symbol für ‚Cardinal’ und alles, was uns wohl tut.

Kardinal Richelieu nächtigte in diesem Haus, wenn er unterwegs zu Verhandlungen mit den Habsburgern war. Deshalb gab man dem Hotel später diesen Namen. Die zwielichtige Gestalt des siebzehnten Jahrhunderts spielte im dreißigjährigen Krieg Habsburg gegen die Schweden aus. Und umgekehrt. Zugunsten Frankreichs. Europa unter französischer Krone, sein Ziel. Nicht unter der habsburgischen Universalmonarchie. Wir sind froh, dass es hier nicht mehr um Macht geht. Sondern um die seltene Gelegenheit, von einer grande Madame mit französischem Charme verwöhnt zu werden. Merci Madame de la Motte.

Sie empfiehlt uns, nicht hier im Haus, sondern in der Dépendance ein Appartement zu nehmen. Etwa anderthalb Kilometer vom Abendessen entfernt. „Très bien, nous acceptons votre offre.“ Wir akzeptieren. Ein Fahrer fährt uns voran. Bis wir da sind, wo wir immer wieder sein wollen, wenn wir in Baix einen Stopp einlegen.

Der Kies knirscht unter den Rädern als ich bremse. Wir sehen zwei Gebäude T-förmig zueinander. Aus graublonden Natursteinen aufeinander gestapelte zwei Etagen. Eines mit den Gäste-Appartements. Das zweite mit Wirtschaftsräumen und einer Küche für die kleine Mahlzeit. Wir nehmen das Erdgeschoss auf halber Höhe, fünf Steinstufen hinauf. Ein ausladender Kastanienbaum beschattet die kleine Terrasse vor der Tür. Übervoll mit Früchten. Leichter Wind bewegt die Blätter. Es raschelt Willkommen. Aus einer geplanten Nacht werden drei. Purpurrot hält uns fest. Alles atmet Bleiben und Wiederkommen.

Gegen acht fahren wir zurück ins Haupthaus. Die Terrasse hat sich auf den Abend vorbereitet. In drei großen Holzbottichen bunte Sommerastern. Auf allen Tischen Decken aus festem Tuch. Purpurrote, auf denen sich weiße Platzteller optisch gut behaupten. Bereit für das, was kommt. Wir sind gespannt. Ich beobachte das Farbenspiel in den Gläsern. Purpur verdünnt sich, wird rosa. Changiert zu blauviolett. Wird klar, als wir uns mit Witwe Cliquot zuprosten. Und das letzte Licht des Tages durch das Glas leuchtet. „Santé!“ Zum Wohl. Die kleine weiße Vase schaut uns an mit gelben und purpurnen Augen.

Roses nackte Schulter fließt in die Beuge des Armes. Ein Bild für die Götter. Schöner als ich sie sah bisher. Weicher als ich sie tastete bisher. Leicht gebräunt unter Trägern bis in den tiefen Ausschnitt ihres schwarzen Hängers. Inmitten vielerlei Purpurrot in Varianten.

Futter für meine unersättlichen Augen. Die meerwärts rauschenden Wasser der Rhône in den aufgerissenen Ohren. Was will ich hören? Was sehen? Was erwartet uns noch?

Drei Seeteufel wie Boote. Sternförmig arrangiert. In den Zwischenräumen schlank geschnitzt Kartoffel, Zuccini und Möhre. Umflossen von einer vanillefarbenen Sauce, die Estragon schmecken lässt. Auf dem Rand des schlichten, dickweißen Tellers sechs Zitronenscheiben. Kein feines Limogeporzellan. Solides Alltagsgeschirr für ungepolsterte Terrassen. Was herunter fällt, zerbricht sofort in hundert Stücke. Und kostet kein Vermögen. Die feine Küche enttäuscht uns nicht. Jeder Abend auf der Terrasse ein Fest für Augen, Zunge und Herzallerliebste. Erste Nacht.

Frankreich

Das Telefon klingelingt. „Bon jour Monsieur, m´excusez. Voulez-vous vos oeufs à la coque ou dur?“ Am Telefon Hélene. Weich oder hart das Frühstücksei? Frühmorgens um elf. Nach der unruhigsten Nacht seit Wochen. Im roh verputzten, milchweiß gekalkten Raum ein französisches Bett. Platz für anderthalb. Da muss man sich schon sehr lieben, um schlafen zu können. Wir lieben uns, rutschen zusammen. Schlafen ist Glücksache.

Die feine Damastdecke unterm Wolltuch kühlt unsere erhitzten Körper. Aber nicht meine Gedanken. In der sehr warmen Nacht. Sehe durch das weit offene Fenster Sterne, die ihr Licht nicht löschen wollen. Uhu ruft unentwegt uhu. Der breite Schrank an der Wand strömt Eichenduft aus. Vermischt mit dem geölter, eiserner Beschläge. Es riecht nach Handwerk. Die Teppichbrücke rutscht auf dem Steinboden hin und her. Jedesmal, wenn ich mal irgendwohin muss. Das war oft. Konnte nicht schlafen. Dachte ans Geschäft. Rose schläft den Schlaf der Engel. Zusammengerollt im schimmernden Damast. Zu schön das Bild, um es wach zu küssen.

„Madame Hélène, les oefs à la coque, mais dans une demi heure s´il vous plait.“ Eier weich gekocht, aber bitte warten Sie noch eine halbe Stunde. Das gekachelte Bad macht Lust, lange zu bleiben. Alle Wände Gelb mit blauen Arabesken, Sternen, Sonnen, Vögeln. Noch nie beobachteten uns Papageien im dezenten Lampenlicht. Beim Duschen, Schminken, Lokussieren. Blauzärtlich gemalt auf sonnengelben Kacheln. Erinnern an Azuleios in Portugal und Spanien. Wie schön, die Sonne weckt uns persönlich im unausgeschlafenen Haus. Rose ist entzückt. Und glücklich, wie sie sagt. Ihre Augen strahlen mich aus dem Spiegel an. Setzt den Stift an die Braue.

Kann nicht anders, umarme sie. Sofort und so heftig, dass der Augenbrauenstift verrutscht. Über die linke Stirnseite fährt. Schwarz hinterlässt, wo es nicht hingehört. Rose lacht als sie in den Spiegel blickt. Gibt mir den Stift: „Wenn Du auf die andere Seite auch noch einen Strich ziehst, bin ich Marlene.“ Die Diva kennt man ja mit ihren hochgezogenen, dünnen Brauen. Schlinge meinen linken Arm um Roses Hals. Mit der rechten ziehe ich zärtlich den Strich auf der rechten Stirnseite. Langsam, um sicher zu gehen, dass er gelingt. Rose sieht jetzt vier Brauen auf der Stirn. Lacht laut: „Morgenmaske beim ersten Frühstück im ‚Cardinal’. Merci bien, mon artist.“ Danke, mein Künstler. „Était grande plaisir pour moi.“ Es war mir ein großes Vergnügen. Französisch zwischen Deutschen kein Problem.

Frühstücken auf der Miniterrasse. Gerade Platz für den kleinen runden Tisch und zwei Gartenstühle. Jenen aus geformtem Gusseisen. Die aussehen, als könnte der Gießer Rokoko nicht vergessen. Hübsch, aber hart. Trotz bunter Kissen. Macht nichts. Wir genießen die Stunde. Die Uhr tickt lautlos. Ein Gockel kräht. Die Kastanie versucht vergeblich, die helle Mittagssonne aufzuhalten. Raschelt mit den Blättern. Sonne wandert. Landet auf unserem Frühstückstisch. Wärmt unseren Rücken. Lässt den Tee langsamer erkalten. Nehme den Merian und suche Interessantes aus dieser Gegend. Kein Schloss, keine Kirche von Belang.

„Was machen wir?“ Rose beantwortet sich selbst: „Ich gehe schwimmen. Schnappt ihre Badetasche. Mit Buch, Zigaretten und Feuerzeug. Schlingt ihr blaugrünrotes Baumwolltuch um den nackten Leib. Läuft barfuss durchs Gras bis zum Pool. Ich erwische sie mit der Kamera. Hingerissen von diesem fliehenden, blaugrünroten Wesen. Rose, ich liebe Dich. liebe Dich.

Greife zu Merian, Badetuch und Notizblock. Ihr nach. Am blauen Pool auf schräger Böschung landen wir nacheinander. Streicheln uns gegenseitig den Rücken mit Sonnenfluid glatt. Fühle ihre Wirbelsäule. Tiefer die Mulde. Lege mich auf den Bauch und lese. Bis mir die Augendeckel zufallen. Und meine Haut langsam ein Tönchen dunkler geworden ist. Röter, korrekt gesagt. Schwimmen, trinken Kaffee und planen nichts.

Einen Tag faulenzen ist gut und schön. Dann wird es uns langweilig. Nach dem zweiten Frühstück: „Gehen wir doch einfach los. Den Weg abseits der Straße.“ Schon sind wir in Obstgärten. Plantagen wäre zu groß gesagt. Gärten mit Reihen von Äpfeln, Birnen, Pfirsichen an niedrig gehaltenen Bäumen. Pflückerfreundlich. Wir gehen längs der Reihen. Den Hang hinunter. Den Hang hinauf. Wundern uns, wie weit das Obst gereift ist. „Hier ChouChou sind die schönsten!“ Oh, hin und wieder nennt sie mich so. Wie die Franzosen den Liebling in ihren Familien.

Fotografiere drauflos. Im Vorübergehen. Prallrote Äpfel, saftgelbe Birnen, rundsüße Pfirsiche. Jedes Mal, wenn ich stehen bleibe, will ich eine der Verführerischen herunter reißen. Hineinbeißen. So provokativ gesund sah ich Obst bei uns nie. Sind sicher gespritzt sind mit Insektiziden. Antiwurmmittel? Wir sehen keinen Wurmkanal. Soweit wir auch gehen. Die Würmer höchst persönlich schon gar nicht. Lasse die Gartenfrüchte hängen, wo sie hängen. Das Wasser noch lange im Mund.

„Hier, ein schöner Apfel für Dich, Chou-Chou. Zuhause wasche ich ihn gründlich. Damit Du hineinbeißen kannst, nach Herzenslust. Ich mach mir nicht viel aus Äpfeln.“ Rose, praktisch denkend, tut ganz einfach das, was nahe liegt. Steckt den Apfel in ihren Beutel. „Gehen wir.“

Es ist Mittag. Ins Hotel wollen wir nicht zu Fuß. Da, an der Route Regional ein Lastwagen-Stop. Häuschen und ein rotweißer Sonnenschirm. „Riskieren wir´s.“ Setzen uns an einen der drei freien Tisch. Auf Klappstühle. CocaCola über uns. Gläserner Aschenbecher auf der nackten Platte. Schwarzer Kater streicht um unsere Beine. Männer im blauen Overall stehen, reden, picken mit Plastikgabel Gulasch aus der Schale. „Que desirez-vous manger?“ Der große Mann im geblümten Hemd fragt, was wir essen möchten. Als hätte er eine Speisekarte. Auf den Tischen sehen wir keine.

Rose: „Nous aimerions une omelette avec Salat. Et un pichet de vin blanc.“ „Très bien, un instant, madame.“ Mit Omelett sind wir immer gut bedient in Frankreich. Sicher auch hier. Hören Hühner gackern. Sehen den Mann über die Straße in seinen Garten laufen. Zurückkommen mit einem Kopfsalat in der Hand. An dem noch dunkle Erde klebt. Verschwindet in der Küche. Es duftet nach langsam sich bräunendem Eierteig.

Drei Mal machten wir bei Purpurrot Stop. Auf Fahrten in die Provence. Dann erkrankt Madame de la Motte. Gibt das Hotel in die Hände eines kapitalkräftigen Käufers. Aus dem Privatuntenehmen wird eine Kapitalgesellschaft. Wenig später lädt Relais&Chateau seine Gäste zu einer Präsentation alter und neuer Häuser in ganz Europa. Treffpunkt Wasserschloss Hugenpoet bei Kettwig an der Ruhr. Auch jahrelang Mitglied. Dreiviertel Autostunde nah.

Wir fahren nach Kettwig. Finden eine Parklücke am Zuweg. Viele noble Karossen nahe beieinander. Der Club der Besserverdienenden. Gehen die Geschäfte gut, leisten wir uns eines der unvergleichlich angenehmen Häuser in Italien und Frankreich. Sind neugierig, was gibt es Neues? Was macht unser ‚Le Cardinal?’ Im dunklen Fachwerkinnen des Hugenpoet glänzt nur das schwarzweiße Schachbrett des Bodens. Und die Tische der einzelnen Mitgliedshäuser. Jedes mit Kostproben seiner Küche. Überall lächelnde Gesichter. Ob sie damit allein neue Gäste gewinnen?

Etliche kennen wir: ‚Espérance’ in Vézelay, Burgund. ‚Abbay la Pommeraie’ in Selestat, Elsass. ‚Moulin de l´Abbay’ in Brântome, Dordogne. ‚Château de la Chèvre d´Or’ in Éze Village, Côte Azur. ‚Loiseau’ in Saulieu, Burgund. Madame Loiseau lächelt uns besonders freundlich zu. Ihr Mann erhängte sich letztes Jahr, als er seinen zweiten Michelin-Stern verlor. Mittlerweile gibt es Köche, die ihren freiwillig zurückgeben. Was ist ein Stern? Druck loswerden ist mehr. Mehr Freiheit für die Kunst, ihre Motivation.

‚Le Cardinal’ mit jungen Leuten aus Paris. Nicht unsympathisch. Erzählen uns, alles sei besser jetzt als früher. Wir naschen vom Amuse Bouche. Machen grosse Augen und sagen zu. Ein halbes Jahr später sind wir dort. Äusserlich alles beim Alten. Die Küche strengt sich an: Hummersüppchen unter Blätterteig. Lecker. Vom Rest schweigen wir. Nur soviel: Statt Purpurdecken weiße. Der Swimmingpool ohne Wasser. Der gute Geist des Hauses ausgefahren. Denken traurig an Madame de la Motte. Und ihre kleinen Topfgärten mit purpurfarbenen Astern auf purpurfarbenen Tischdecken. Wie geht es ihr wohl? Rose wischt eine Träne weg.

„Zwischen Calamari und den gelben Schlucken aus dem Achtelglas beiße ich die Worte – um sie in den Vers zu bringen der sie wiederholbar macht – duftend nach Öl und Knoblauch – schmeckend nach Meer und Traube und Sand – für den Fall, daß ich eines Tages meine Freuden nur noch aus Erinnerungen pflücken kann – weil mich meine Füße nicht mehr zu den Orten tragen die ich liebe“

ST.RÉMY-DE-PROVENCE – Nachtigall singt.

„Höre die Nachtigall!“ Rose hellwach nach zwölf Uhr Mitternacht. Meine Hörmaschinen registrieren entfernte Töne nur sehr ungenau. Wir stehen am offenen Fenster der ‚Hostellerie du Vallon de Valrugues’. Abseits der Straße. Waldnah. Strenge mich an. Konzentriere mich auf das Wort Nachtigall. Da, höre ich etwas? Leise, leise flöten. In die Nachtluft gehauchte Töne eines unirdischen Wesens. Rose schließt ihre Augen. Um ganz Ohr zu sein. Dann nichts mehr. Aufgestiegen aus einem Traum. Abgetaucht in die Nacht. Vielleicht bis morgen. Vielleicht.

St. Rémy ist ein idealer Standort, die Provence ringsum zu erkunden. Die Landschaften zu erleben. Mit ihren charakteristischen Weingärten. Olivengärten. Pinien. Lavendelfeldern. Wasserläufen. Immer wieder Graufelsiges. Die Alpillen am Horizont. Einsprengsel im Grün aus graulöcherigem Kalkstein. Gescheckte Platanen beiderseits der Straßen Wegweiser zu allen wichtigen Orten und Ereignissen. Wir folgen ihnen blind. Es sei denn, wir haben ein festes Ziel. Les Beaux. Sénanque. Die römischen Reste der Spätantike in Glanum am Rande der Stadt.

Freund Alois konnte sie aus fünfzig Meter Distanz den ganzen Tag bestaunen. Und in den Resten nach Details suchen. Wir hatten ihnen eine Ferienwohnung besorgt, die ich aus der Zeit vor Rose kannte. Praktisch und billig. Gut für Leute, die mit der Nase nah dran sein wollen.

Zuerst also zu den Römern. Von weitem sehen wir den Kenotaph der Julier. Hochgeachtete Familie in Rom. Im Turm oben Reliefs von Vater, Mutter und ihren drei Söhnen. Sie müssen irgendwas mit Caesars Gallischem Krieg zu tun gehabt haben. Begraben liegt hier keiner. Der Turmbau wahrscheinlich eines der vielen Zeichen römischer Macht. In den eroberten Gebieten. Wie der Triumpfbogen, der Caesar im Kampf mit den Galliern zeigt. Siegreich, wie wir aus ‚de bello gallico’ wissen. Wo waren die Römer nicht die Herren? Übrigens typisch römische Architektur der Spätantike. Die Steinreliefs. Ich habe nichts daran zu kritisieren. „Könnten auch in Rom stehen“ meint Rose. Sie kennt sich dort aus. Ich nicht.

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An der Landstraße nach Les Baux Platanen rechts, Platanen links. Zahlreiche Häuser mit großen Schildern an der Fassade: ‚Brocantes’. Bei uns sagt man Trödler. Ladenbesitzer, die altes Geschirr mit Neuem, auf Alt gemachtem so raffiniert miteinander mischen, dass alles antik aussieht. Zum Kauf anreizt. Verständlich, Menschen suchen im Urlaub nichts Perfektes. Lieben Kupferkessel, die eine Beule haben. Einer unbekannten Grossmutter Truhe. Nachttopf. Kerzenleuchter. Pfannen in rauen Mengen.

Ausnahme neue Löffel aus schön gemasertem Olivenholz. Das Stück ist in der letzten Woche der Drechselbank entsprungen. Aber das Holz ist alt. Sehr alt wie der Baum, der sterben musste. „Rose, Du glaubst nicht, was so an alt gewordenem Zeug zusammenkommt. Wahrscheinlich fahren die Händler über Land. Und sammeln alles, was nicht mehr gebraucht wird. Für läppisches Geld.“ „Touristen zahlen hohe Preise für ein Souvenir aus Frankreich. Nicht für das alte Stück an sich.“ Originalton Rose.

Im selben Urlaub kaufen wir ein Paar ausrangierte eisenschwarze Kaminholzträger. Mit zwei gusseisernen Grenadieren vorne statt Eisenstützen. Aus dem neunzehnten Jahrhundert. Bei einem Antiquaire. „Holzscheite brauchen beim Brennen Luft von unten.“ Rose lacht. Ich finde eine andere Begründung. Relikt der Ära Napoleon III. Antiquität mit praktischem Nutzen. Kein Anlass zu spotten.

Hügelrauf, hügelrunter, auf einer Brücke die Seiten gewechselt. Langsam geht es abwärts. Im Gegenlicht breitet sich Ebene aus. Bäume werden selten. Rebstöcke vervielfachen ihre Reihen. Bis an den Rand der Alpillen. Karstiger Gebirgszug. Die Straße eilt darauf zu. Sie muss sich ganz schön winden, wenn sie oben ankommen will. Auf dem höchsten Plateau des Gebirgszuges. Da, wo sich das Städtchen Les Baux mit Müh und Not hinaufgebaut hat. Das rissige Gestein bietet wenig Platz für repräsentative Bauten. Ich hatte mich schlau gemacht.

„Seit dem siebzehnten Jahrhundert ist kein größeres Haus mehr dazu gebaut worden. Besitzer sind die Grimaldis. Richtig gehört, Rose. Sie halfen den Franzosen, die Spanier zu vertreiben. Spanien konfiszierte aus Rache Grimaldigelände in seinem Land. Die Franzosen bedankten sich bei den Rettern aus Monaco und schenkten ihnen St. Rémy und Les Baux.“ Caroline, Prinzessin von Monaco lebt in St. Rémy mit ihren Kindern. Sie ist uns nie begegnet. Vielleicht weil sie abtaucht, mich für einen Paparazzi hält. Mit der Kamera herum laufender Irrer. Gleich sind wir oben. Sehe schon den großen Parkplatz auf dem vorletzten Plateau.

Rose fährt fantastisch. Kurvt um Olivenbäume. Felsblöcke. Findet auf dem Parkplatz rasch eine Lücke. Wir zotteln los. Steigen die steile Straße hinauf. Vorbei an meist zweigeschossigen Häusern. Vergrauten Ruinen mit schön gebliebenen Portalen. Buckeliges Pflaster. Meterweise asphaltiert. Und immer wieder Stufen. Krumm und schief aus dem Fels geschlagene Tritte. Ich muss aufpassen. Rose mir voran. Meine Bandscheibe schreit Vorsicht. Leicht abrutschen kann Krankenbahre bedeuten.

Nur alte Autos mit langen Federbeinen könnten hier fahren, wenn sie dürften. Steil, steiler, am steilsten. Schräg links. Schräg rechts. Stammten wir nicht vom Affen ab, könnten wir nicht so gut klettern.

Vor einem Hoftor vier Jutesäcke mit Blütenblättern. Kräuterzweiglein. Beeren. Typisches Provencekolorit. Rose geht in die Hocke. Nimmt einen Zweig, riecht. Lächelt. Schaufelt eine Handvoll Lavendelblüten. Hält sie mir entgegen. Der Duft ist bei mir, bevor ich meine Nase hineinstecke.

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Fotografiere die Szene. Rose im plissierten Seidenjäckchen. Provencebunt. Knieend vor naturgebleichten Säcken mit allen Farben der Provence. Mensch und Natur in harmonischer Eintracht. Ein Bild, das mich rührt. Tief innen.

Einige Schritte weiter ein Haus im Renaissancestil. Mit kleinem Innenhof. Ein Quadratmeter Garten. Der Olivenbaum windet sich wie eine Schraube, um schlank zu bleiben. Und geduldet zu werden. Auf kleinstem Raum. Verzichten will niemand auf dieses Symbol der Provence. Zwei Stufen, wir sind in einem feinen Souvenirlädchen.

„Schau diese schönen Schalen.“ Rose entdeckt die mit stilisiertem Blattwerk bemalten, kaum sind wir drinnen. Könnten von Picasso sein. Oder hat der Meister es den Töpfern abgeguckt? Gehe näher. Hebe eine Schale hoch, sehe unter den Boden. Signatur? Nicht lesbar.

In Regalen Kleinteiliges. Eierbecher. Deckeltöpfchen. Blumenvasen. Gläser. „Hier“ ruft Rose vor der Schmuckvitrine. „Diese Kette gefällt mir“. Ihr Zeigefinger ist eindeutig. Ihre Augen glänzen, als besäße sie sie schon. Lasse mir die Kette aus dreifarbiger Keramik geben. Nehme sie in die Hand. Sehe ein harmonisch geformtes Kunstwerk. Befühle die weich geformten länglichen Glieder. Deren Verdickung am Ende. Sich in der Mitte der Kette berührende Köpfe einer stumpfmäuligen Schlange.

Die dünneren Endstücke verknüpft ein simpler Verschluss. Kleine Schlinge einerseits. Kleines Keramikkügelchen andererseits. Kein Messingverschluss. Kein Nylonfaden. Nur Keramik und eine ganz gewöhnliche dunkelrote Kordel. Auf die das schönste Gebilde aus Elfenbein, Blassblau und Goldocker aufgeschnürt ist. „Lege sie an, bitte. Ich helfe Dir“.

Knöpfe das Kügelchen durch die Schlinge in ihrem Nacken. Atme das weizengelbe T-Shirt. Das goldene Haar. Streiche mit der Hand über die Kette, die wie ein friedliches Tier auf ihrer Haut ruht. Rose dreht sich um: „Avez-vous un miroir?“ Irgendwo ein Spiegel? Sieht sich. Kritisch. Lächelt dann. Fällt mir um den Hals: „Danke, danke, lieber Schatz!“

Dieser Halsschmuck ist ihr liebster. Passt zu Kleidern, Hosenanzügen, Blusen. Weil er zu ihr passt. Gewissermaßen ein Stück von ihr ist. So einfach ist das.

Reicher um ein schönes Stück klettern wir weiter. Mächtigen Appetit in Kopf und Bauch. Von einer erhöhten Terrasse überfällt uns kräftiger Geruch. Was gibt es da wohl? Oben alle Tische besetzt. Bis auf einen, der soeben frei wird. „Setzen wir uns schnell, bevor andere schneller sind.“

Auf fast allen Tischen Keramikschalen mit dampfendem Etwas. Die Karte sagt Cassoulet. Erzähle Rose: „Kenne es von einem Essen mit Geschäftsfreunden in Paris. Hatte es öfter nachgekocht. Deftiges, original französisches Alltagsgericht. Für ausgehungerte Familien. Weiße Bohnen. Gänsefleisch, Schweinebauch, Bratwurst, Zwiebeln, Knoblauch, Lorbeerblätter usw. Zwei, drei Mal im Backofen gewendet. Damit viele Krusten den typischen Geschmack dieses simplen Gerichtes erzeugen.“

Rose macht große Augen: „Meinst Du, das ist was für mittags?“ Ich bin heiß. Hirnrissig heiß auf Cassoulet. Bestelle. „Du musst es ja nicht aufessen“ tröste ich Rose.

Sie nimmt ein Stück Brot, knabbert daran herum als hätte sie keinen Appetit. Trinkt einen Schluck schwarzroten Weins. Sieht zum Nachbartisch mit lachenden, laut schmatzenden Leuten. Sieht mich wieder an: „Das Cassoulet muss hier wohl sehr lecker sein.“ „Oh Liebes, kannst Dich auf mich verlassen.“ In Sachen Essen vertrauen wir einander ohne Rücksicht auf schlaue Bemerkungen anderer. „Bon appétit ma chéri!“ Es dauert seine Zeit.

Das fettreiche Gericht im Bauch, ein wenig unsicher auf den Beinen, geht´s Gottseidank bergab. Geländer keines zum Festhalten. Aber Souvenirläden. Jede Menge. Zum Stehenbleiben. Haben wir sie vorhin übersehen? Bleiben stehen. Nicht um zu gucken. Sondern stehen zu bleiben. Ganz langsam durchzuatmen. Nicht gehen müssen. Ach ja.