Amelia starrte ungläubig auf die ockerfarben gemusterte Tapete. Ein Hingucker war sie noch nie gewesen, aber die unzähligen Post-its, die nun dort aufgereiht wie Soldaten hingen, verliehen dem Raum etwas Groteskes.
»Was«, fragte Amelia schaudernd und zeigte ungläubig auf die Zettel, »zum Teufel ist das?«
»Das Scrum-Board für unser Projekt.« Catherine sagte es mit dieser Selbstverständlichkeit, mit der nur sie komplett abstruse Dinge als gesetzt darstellen konnte. Ihre Körperhaltung aufrecht, die Stimme fest, und in ihren Augen las Amelia Stolz auf das Geleistete – was auch immer das war.
Ein neues Projekt zu haben, tat Catherine sichtlich gut, aber Amelia wusste trotzdem nicht, wie sie es finden sollte, dass sie selbst ebendieses Projekt war. »Will ich wissen, was das ist?«
»Unbedingt.« Catherine klatschte erfreut in die Hände, trat neben Amelia und legte ihr eine Hand auf den Unterarm.
Amelia liebte ihre Pflegeschwester, aber mit so viel Euphorie am Morgen konnte sie vor dem ersten Kaffee nur schwer umgehen. »Mhm.« Sie schlurfte an ihrer Schwester vorbei in die Küche. Das ganze Haus war so was von Siebzigerjahre, dass man manchmal versucht war, den DeLorean vor der Haustür zu suchen. In diesen vier Wänden gab es nichts Dezentes. Amelia störte das nicht, aber Catherine mit ihrer Vorliebe für gedeckte Farben machte das rasend. Die Küche war der Raum, in dem so viele grelle Farben und Muster miteinander kollidierten, dass es selbst Amelia schwerfiel, ihn morgens zu betreten. Catherine hatte die Küche deshalb »Augenkrebsraum« getauft. Und sie übertrieb nicht.
Amelia marschierte auf den Vollautomaten zu, der auf der Arbeitsfläche der ansonsten knallorangenen Küche stand. Routiniert griff sie nach einer Tasse aus dem Schrank darüber und bereitete sich einen großen, starken Kaffee zu. Das Geräusch des Mahlwerks und der Duft der frisch aufgebrühten Bohnen weckten ihre Lebensgeister. Den Griff der Tasse fest umklammert, schlurfte sie zurück ins Wohnzimmer. Catherine betrachtete das Zettelwerk an der Wand wie eine stolze Mutter und obwohl Amelia die Art und Weise, wie sie vorging, durchaus befremdlich fand, war Catherine erfolgreich damit. Amelia hatte in den letzten Wochen gewaltige Fortschritte gemacht, beherrschte ihre Gabe in einem Ausmaß, das sie nie für möglich gehalten hätte. Am Ziel war sie – gemessen an der Post-it-Invasion an der Wand – aber noch nicht. Amelia nahm einen großen Schluck Kaffee und blickte zu Catherine. »Also, erleuchte mich.«
»Um unserem Vorhaben etwas mehr Struktur und Richtung zu geben, habe ich das Ganze gemäß der Scrum-Methodologie aufbereitet.«
»Hört sich an wie etwas Unanständiges. Was es vermutlich nicht ist, weil du es sonst nicht in den Mund nehmen würdest.«
Catherine rollte mit den Augen, aber ihre Euphorie schien derart groß, dass sie es nicht schaffte, ernsthaft genervt zu sein. »Scrum ist eine Projektmanagement-Methode. Alles ist darauf ausgerichtet, Momentum, also Geschwindigkeit aufzubauen, um ein Ziel in kürzerer Zeit mit besserer Qualität zu erreichen.«
»Wow!« Amelia nippte an ihrem Kaffee. Obwohl sie es wollte, konnte sie sich ein paar spitze Bemerkungen nicht verkneifen. »Und wie heißen die Methoden, mit denen man in längerer Zeit schlechtere Qualität erreicht?«
»Netter Versuch. Aber ich lasse mich von dir nicht aus dem Konzept bringen. Aber nur zu deiner Information: Das wäre die Wasserfall-Methode. Nicht, dass die darauf ausgelegt wäre, kontraproduktiv zu sein. Sie ist es nur einfach, weil wir Menschen arbeiten, wie wir eben arbeiten, und nicht, wie wir dem Plan nach arbeiten sollten. Einer der entscheidenden Vorteile von Scrum ist, dass man permanent das Geleistete kritisch hinterfragt und bewertet: Wie hat man gearbeitet? Was ist gut, was ist schlecht gelaufen? Und dann versucht man, die Stolpersteine aus dem Weg zu räumen und für die nächste Arbeitseinheit alles so zu gestalten, dass man störungsfreier, effizienter und besser an seinem Ziel arbeiten kann. Diese Technik wird hauptsächlich im Bereich der Software-Entwicklung eingesetzt, aber ich wüsste wirklich nicht, warum sie uns nicht auch bei unserem Vorhaben gute Dienste leisten sollte.«
Amelia ließ sich auf einen der senfgelben Sessel vor die Post-it-Wand gleiten. »Und wer wäre ich, dir da zu widersprechen.«
»Ein Narr«, antwortete Catherine mit der für sie so typischen Selbstsicherheit.
Amelia war nie jemand gewesen, der mit hängenden Schultern durch die Gegend lief und sich und ihre Meinung hinterm Berg hielt. Aber dieses Erhabene, Aufrechte, das Catherine an sich hatte … Manchmal fragte sie sich, ob das in den Superior-Genen lag oder einfach nur Erziehung war.
Catherine setzte sich auf die Armlehne ihres Sessels und lehnte ihren Kopf an Amelias. »Ich bin stolz auf dich, Schwesterherz.«
Amelia verschluckte sich fast an ihrer Spucke. Ein Lob von Catherine? »Wer bist du? Und was hast du mit meiner Schwester gemacht?«
»Ach, komm. Du tust ja gerade so, als würde ich nie etwas Nettes sagen.«
»Ich würde nicht sagen nie, aber ich glaube, ich kann die Male, in denen dir so etwas herausgerutscht ist, an meinen Fingern abzählen.«
»Sei nicht albern.« Catherine machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich meine es ernst. Du arbeitest wirklich hart an dir und sträubst dich nicht, wenn ich etwas Neues vorschlage. Eigentlich sollte ich diejenige sein, die dich fragt, wer du bist und ob du von Außerirdischen ausgetauscht wurdest.«
Nicht von Außerirdischen. Andererseits konnte man Brick und seine Methoden nicht wirklich als menschlich bezeichnen. Und Steve, zu dem sie ins Auto gestiegen war und der sie vergewaltigen, quälen und töten wollte … Nein, auch der war alles andere als menschlich. Amelia presste die Lippen aufeinander, blinzelte und versuchte, tief einzuatmen.
»Oh!«, entfuhr es Catherine und sie presste sich eine Hand vor den Mund. »Es tut mir leid. Das war jetzt taktlos. Ich …«
Amelia lächelte gequält. »Schon gut.«
Ihr habt mich gebrochen, aber nicht zerstört.
Ich werde wieder ganz, wieder heil.
Aber ihr, ihr bleibt krank.
Wenn ich euch lasse …
Amelias Blick wurde wieder scharf und blieb an einem der Post-its vor ihr hängen. Die Feuer-Gabe auf Kommando gezielt einsetzen, stand darauf. Sie erhob sich und löste es, betrachtete es und verzog ihren Mund zu einem schiefen Lächeln. In ihrem Inneren ließ sie die Wut kochen und leitete sie von ihrer Brust in ihre rechte Hand, die den Zettel hielt. Mit geschlossenen Augen und begleitet von leisen Grolllauten konzentrierte sie sich. Dabei versuchte sie sich die Bahnen vorzustellen, in denen ihre Gabe durch ihren Körper floss, hin zu ihren Handflächen und Fingerspitzen. Amelia spürte, wie aus der Wärme Hitze wurde und der Zettel in ihrer Hand an den Rändern Feuer fing.
»So war das System eigentlich nicht gedacht«, sagte Catherine zurückhaltender, als es ihr ähnlich sah. »Aber Chapeau! So schnell und präzise habe ich das noch nie bei dir beobachtet.«
Mit Genugtuung sah Amelia, wie die letzten Fetzen in ihrer Hand verglühten, bis nur noch Asche übrig war. Sie blies die Asche fort, beobachtete, wie die Partikel durch den Raum flogen. Dieser Erfolg – wenn auch ein kleiner – hatte sich gut angefühlt. Verdammt gut.
Wenn ich euch lasse …
Nathan hasste Sky dafür, dass er mit Amelia und ihren Gefühlen gespielt hatte. Natürlich auch dafür, dass er ihn mitsamt allen Superior der Vollversammlung hatte in die Luft sprengen wollen. Allerdings war das nur der Gipfel seines Wahnsinns und für Nathan weit weniger persönlich als all das, was er sich vorher geleistet hatte. Und trotzdem stand Sky auf dem Siegertreppchen seiner Hassobjekte nicht ganz oben. Um präzise zu sein, stand er auf der dritten Stufe, genau unter Brick. Nathan hatte ihn immer für das unangefochtene Scheusal gehalten, bis Amelia … Bis sie auf ein noch viel größeres gestoßen war. Es hatte Wochen gedauert, bis sich Amelia ihm geöffnet hatte. Bis er genau verstand, was auf ihrer Flucht aus Skys Sanatorium geschehen war. Nathan schauderte bei dem Gedanken, was sie ihm mithilfe ihrer Shared Brain-Gabe gezeigt hatte. Es war eine grausame Ironie des Schicksals, dass ihre neue Feuer-Gabe Rettung und Fluch gleichermaßen für sie war. Nathan selbst war nur dankbar für sie. Sollte sie ihn doch damit verbrennen, es wäre ihm gleich. Er würde sie nicht verfluchen, sondern ihr immer hoch anrechnen, dass sie Amelia vor dem Schlimmsten, was einer Frau wohl passieren konnte, bewahrt hatte.
Nathan vergrub seine Hände in der Bauchtasche seines Hoodies. Obwohl er innerlich glühte, fröstelte er. Es war Winter und der kalte Wind pfiff durch jede Ritze der Gartenhütte. Er zog sein Smartphone aus der Tasche, als sich die Tür knarrend öffnete. Schneeflocken umwirbelten Catherine, die in einen dicken Mantel gehüllt über die Schwelle trat.
»Na endlich!«, sagte Nathan anstelle einer Begrüßung. »Ich wollte dich gerade schon anrufen.«
»Kann ja niemand ahnen, dass du heute zufällig pünktlich bist«, antwortete Catherine ungerührt und ließ ihre pelzbesetzte Kapuze auf die Schultern gleiten.
Nathan verkniff sich ein Grummeln und sah nach draußen, um zu prüfen, ob Amelia sie auch nicht gesehen hatte. Keine Spur von ihr. Dafür sehr deutliche von ihm und Catherine im Schnee. Er schüttelte den Kopf und schloss die Tür. Um die Fußabdrücke würde er sich später kümmern.
»Also?« Catherine hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und sah ihn auffordernd an.
Nathan grinste genüsslich. »Das wird dir gefallen.«
»Ich hoffe, du meinst nicht das Interieur der Hütte.«
»Beleidigt es deine Augen?«
»Ein wenig.« Sie schmunzelte und Nathan wusste, dass es nicht sie war, die da sprach, sondern die Fassade, die sie sich über Jahre hinweg aufgebaut hatte.
»Ich habe die Tankstelle ausfindig gemacht«, verkündete Nathan und schon bei dem Gedanken an das, was er – was sie vorhatten, rauschte das Blut in seinen Ohren.
»Bist du dir sicher?«
Nathan hob eine Braue. »Ich hoffe, das war keine ernst gemeinte Frage.«
»Nein, die ernst gemeinte Frage ist: Wann fahren wir?« Ein diebisches Grinsen breitete sich in Catherines Gesicht aus.
Nathan musste zugeben, dass er sich in Catherine getäuscht hatte. Nicht in allen Punkten, aber doch in vielen. Vielleicht waren es auch die Ereignisse, die sie verändert, eine neue Catherine hervorgebracht hatten. »Am liebsten sofort, aber ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn wir beide fahren und Amelia allein lassen.«
»Erstens, sie ist kein kleines Kind und wird auch nicht gern wie eines behandelt. Zweitens, du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich allein fahren lasse?«
»Okay«, antwortete Nathan gedehnt. »Erstens behandele ich Amelia nicht wie ein kleines Kind. Genau wie du kümmere ich mich um sie und bin für sie da. Und zweitens, verdammt, das habe ich befürchtet.«
»Wenn du es wirklich befürchtet hättest und es nicht wollen würdest, wärest du einfach gefahren und hättest es mir nicht vorher erzählt.«
»Man könnte fast meinen, du kennst mich.«
»Lässt sich nicht vermeiden, wenn man unter einem Dach lebt.«
Nathan knuffte sie in die Seite. Er war froh, dass sich all seine Bedenken gegen diese Wohngemeinschaft in Luft aufgelöst hatten. Nie hätte er gedacht, dass er einmal so entspannt mit Catherine umgehen konnte. Sie waren mittlerweile beinahe so etwas wie … Freunde.
»Was sagen wir Amelia?«, fragte Catherine. »Sagen wir es ihr?«
Nathan seufzte. »Ganz ehrlich – ich habe ungern Geheimnisse vor ihr. Aber das. Ich weiß nicht, ob es ihr guttut zu wissen, was wir vorhaben.«
Catherine nickte. »Ich würde es ihr erst sagen, wenn wir erfolgreich sind.«
»Es ist mehr ein noch nicht als ein nicht.«
»Gut«, stimmte sie zu und ließ die Hände in ihre Manteltaschen gleiten. »Was sagen wir ihr dann?«
»Ich sage ihr, ich muss zu einer dringenden Krisensitzung ins SMC.«
»Und ich begleite dich, weil ich für meine Masterarbeit noch etwas in der Universitätsbibliothek recherchieren will.«
»Klingt gut.« Nathan ballte seine Hand und hielt sie Catherine als Ghettofaust entgegen.
Wie jedes Mal, wenn er das tat, rollte Catherine mit den Augen. Dann ließ sie ihre rechte Hand aus der Tasche gleiten und erwiderte seinen Gruß, den Nathan mit einer imaginären Explosion enden ließ
Nathan öffnete die Tür des Schuppens und trat mit Catherine ins Freie. Während sie vorausging, blieb Nathan stehen und betrachtete die Spuren. Frischer Schnee war über sie gefallen und wenn er sich den Niederschlag ansah, würden sie bald bedeckt sein. Die Kälte kroch ihm in den Nacken und in ihm zog es sich zusammen. Er wusste, dass es richtig war, Amelia nicht zu erzählen, was er und Catherine vorhatten. Es würde sie nur unnötig aufwühlen und das vermutlich sogar völlig unnötig. Und obwohl sein Kopf das alles wusste, es absolut logisch und seiner Meinung nach sogar feinfühlig war, spürte er eine Schwere auf seiner Brust. Nathan versuchte sie abzuschütteln, sich zu ermahnen, dass er es für Amelia tat.
Catherine war bereits im Haus verschwunden. Auch Nathan marschierte nun darauf zu und betrat die Küche durch den Hintereingang. Es duftete nach Kaffee. Amelia stand in Leggins, dicken Socken und einem seiner Shirts in der Küche und nippte an einem Becher.
»Guten Morgen«, begrüßte er sie und ging auf sie zu. Sanft zog er sie in seine Arme, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und strich ihr eine widerspenstige gelockte Strähne hinters Ohr.
»Morgen«, murmelte sie an seinen Hals gepresst.
»Gut geschlafen?«
»Erstaunlich gut sogar.« Sie löste sich lächelnd von ihm und trank einen Schluck aus ihrem Becher.
Nathan lächelte – innerlich und äußerlich. Amelia war vielleicht noch nicht wieder ganz, aber es ging ihr mit jedem Tag besser. Man konnte es sehen und spüren. Ein paar Mal hatte er sich gefragt, ob er mit dem Rachefeldzug, den er plante, schlafende Dämonen wecken und alles verschlimmern würde. Um ehrlich zu sein, wusste er es nicht. Vielleicht hätte er sie fragen sollen. Einfach so. Aber seine Angst war zu groß. Und ein Stück weit fürchtete er nicht nur, dass sein Vorhaben Amelia triggern könnte, sondern dass sie es ablehnen würde. Dass sie es ruhen lassen und vergessen wollte. Vielleicht konnte sie das. Vielleicht war es eine gesunde Art und Weise, mit der Sache abzuschließen. Er konnte es nicht. Der Dreckskerl sollte bezahlen. Für das, was er Amelia antun wollte. Für jeden widerlichen Gedanken, den er an seine geplante Tat in sich trug. Für das, was er anderen Frauen womöglich schon angetan hatte oder noch antun würde, wenn ihn niemand stoppte.
Nathan schätzte Gesetze und Regeln sehr. Sie waren der Leim, der die Gesellschaft zusammenhielt, ohne sie würde nichts funktionieren. Er schätzte sie jedoch nicht genug, um sich das Recht auf Selbstjustiz nehmen zu lassen. Nicht generell. Aber in diesem speziellen Fall.