Superior

Superior

Die Trümmer der Erleuchtung

Anne-Marie Jungwirth

Drachenmond Verlag

Für alle,

die sich manchmal

fehl am Platz fühlen.

Inhalt

Glossar

Prolog

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teil II

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Teil III

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Danksagung

Glossar

Aspirant Einer von drei männlichen Superior, der der Maturantin zur Auswahl gestellt wird

Emotionale Disposition Neurologische Stimulation mittels potentieller Trigger zur Aktivierung von Gaben

Erwählter Der von der Maturantin erwählte Aspirant

Examination Week Woche zum intensiven Kennenlernen zwischen der Maturantin und ihren Aspiranten

Maturantin Bezeichnung der Superia für den Zeitraum zwischen Maturity Feast und Unity

Maturity Feast Fest zum 21. Geburtstag einer Superia, bei dem ihr ihre drei Aspiranten vorgestellt werden

Medical Center Kurzform für Superior Medical Center

Oberhaupt Oberster aller Superior, geistiges Oberhaupt

Scoring Der in Zahlen ausgedrückte Wert der Gaben und des Ranges innerhalb der SHS

Shared Brain Gabe, sich mit anderen Gehirnen zu verbinden

SHS Abkürzung für Superior Human Society

Simulation Scoring Simulation des Scorings potentieller Nachkommen zwischen zwei Superior

SMC Abkürzung für Superior Medical Center

Superia f Singular

Superior m Singular, m/f Plural

Superior Human Society Geheime Organisation der Superior

Superior Medical Center Einrichtung für medizinische Untersuchung der Superior

Superior-Bund Blutsbund, der bei der Verkündungszeremonie eingegangen wird, stärker als Verlobung

Superior-Rat Führung der weltlichen Belange der Superior

Trigger Treatment Eine verbotene Praxis, die über eine reale Konfrontation mit Triggern die Gaben eines Superior aktivieren soll.

Unity Zeremonielle Vereinigung von Maturantin und Erwähltem zu Fortpflanzungszwecken

Verkündungszeremonie Zeremonie, bei der die Maturantin einen ihrer Aspiranten offiziell auswählt und beide zeremoniell aneinander gebunden werden

Prolog

Elliot

2 Monate vorher – die Nacht der Vollversammlung

Elliot Sixten Carl Jensen hatte nicht alles in seinem Leben falsch gemacht. Genau genommen hatte er verdammt vieles richtig gemacht. Er war Oberhaupt der Organisation, die niemand kannte und die trotzdem Einfluss auf das politische und wirtschaftliche Geschehen der Welt nahm – der SHS. Man wurde nicht Oberhaupt, wenn man nicht überragend war. Man konnte das Amt weder anstreben noch erreichen. Oberhaupt wurde nur der, der dazu berufen war. Nicht seiner Abstammung oder irgendwelcher Ränkeschmiede wegen, sondern einzig und allein aufgrund seines Scorings. In diesem Konzept lag eine Schönheit, die man in anderen Systemen und Gesellschaften vergebens suchte. Gerade weil die Voraussetzungen so unstrittig waren, hatte die Macht des Oberhaupts nur wenig Grenzen. Elliot nutzte sie, spannte sie wie ein Netz über seine Schäfchen, um sie vor der Gefahr zu schützen. Die Gefahr, sie kam nicht von außen, sondern von innen. Denn was die SHS zu ersticken drohte, war der fleischige Körper des Superior-Rats, der sich auf ihren Brustkorb legte. Was der Rat wollte, war auf so vielen Ebenen falsch, dass Elliot ganze Bücher mit Abhandlungen darüber hätte füllen können. Seine Gegner sagten, er lehne den Fortschritt ab, klammere sich an seine Macht. Ein Körnchen Wahrheit steckte darin. Aber eben nur ein Körnchen. Denn er lehnte all das, was der Rat wollte, nicht aus rein egoistischen Motiven ab. Elliot war nicht rückwärtsgewandt, und wenn er in der Verweltlichung der SHS einen Wert gesehen hätte, würde er sich auch nicht so dagegen sträuben. Aber seine Gegner im Rat waren keine Schöpfer, sie waren Zerstörer. Auch wenn das der natürliche Lauf der Dinge war, durfte man nicht alles für das Neue opfern. Man durfte vor allem nie seine Seele und den Kern einer Sache opfern. Und genau das waren die Riten und Traditionen. Sie waren kein notwendiges Übel, wie so viele neuerdings meinten. Sie waren ihre Identität und das, was sie davon abhielt, nicht zu einem Country Club zu verkommen, und mussten es bleiben, um jeden Preis.

Bei einer Aufgabe hatte Elliot jedoch kläglich versagt: bei der als Vater. Noch vor fünf Minuten hätte er das abgestritten, doch jetzt musste er der Wahrheit ins Auge sehen. In die Augen seines Sohnes, die ihn eiskalt ansahen, während in seinem Herzen ein noch viel kälterer Wind sein Unwesen trieb. Elliots Gabe waren die Emotionen. Er beherrschte ihre Klaviatur und dachte, er kenne sie alle. Doch das, was aus seinem Sohn strahlte, hatte er noch nie gespürt. Es war dunkel und abgründig, aber kein Hass. Es war vernichtend, aber keine Wut. Kälte beschrieb es teilweise, aber nicht gänzlich. Es war, als wäre dieses Gefühl nicht von dieser Welt. Für Elliot war es, als würde man dem Periodensystem ein neues, bisher noch unentdecktes Element hinzufügen. Genau das tat Elliot. Er nannte dieses Gefühl Skykalt.

Wann war ihm die Beziehung zu seinem Sohn entglitten? Warum hatte er nicht gemerkt, dass sein Sohn zum Selbstmordattentäter geworden war?

Er würde jetzt und hier sterben und es war merkwürdig einfach für ihn, das zu akzeptieren. Doch bevor er seine Augen für immer schloss, gab es eine Sache, die er tun musste. Seinen Sohn in die Arme schließen und ihm sagen:

Es tut mir leid. Ich liebe dich.

Sky

Zwei Tage nach der Vollversammlung

Sky blickte auf die weiße lackierte Tischplatte vor ihm, die in dem sonst grauen Raum beinahe in seinen Augen brannte. Vielleicht war es eine Wohltat, dass die Oberfläche so zerkratzt war und deshalb nicht noch mehr spiegelte. Mit den Handschellen an seinen Gelenken rieb er etwas über das Furnier, um somit seinen Beitrag zu leisten.

Die Tür öffnete sich und seine Anwältin Gloria Bernstein betrat, flankiert von einer Wache, den Raum. Sie kam nicht allein. Skys kleine Schwester Terra begleitete sie. Er verengte die Augen und ließ sie spüren, wie wenig willkommen sie war. Er hatte ausdrücklich gesagt, dass er keinen Besuch wollte. Gloria war Gloria und dass sie in ihrer Funktion nicht fernbleiben konnte, verstand er. Aber Terra sollte seinen Wunsch respektieren.

»Sie haben eine halbe Stunde«, sagte die Wache an die beiden gewandt.

Gloria nickte dem Mann zu und betrat den Raum. Die Metalltür schloss sich, doch durch das kleine Fenster konnte Sky sehen, dass der Polizist draußen wartete. Als ob das nötig wäre. Als würde er auf seine Besucher losgehen. In Handschellen! Sie schienen ihn für eine Art Hannibal Lecter zu halten, für eine Bestie. Er konnte es spüren und ihnen noch nicht einmal verübeln. Aber sie kannten die Wahrheit nicht, verstanden nicht das größere Ganze. Er war nicht verrückt und seine Tat sollte die Welt von einem Übel befreien. Wenn man ihn deshalb für ein Scheusal hielt – bitte.

Gloria und Terra nahmen ihm gegenüber Platz. Es fühlte sich an wie bei den Verhören, die man mit ihm geführt hatte. Die Beamten hatte er angeschwiegen, mit Gloria würde er über sein Verbrechen reden. Nur mit ihr.

»Wie geht es dir?«, fragte Terra und streckte eine Hand nach ihm aus.

»Was tust du hier?«, erwiderte er anstelle einer Antwort und entzog sich ihr.

»Dich besuchen. Du bist mein Bruder.«

»Und der möchte in Ruhe gelassen werden.« Sky zog seine Hände zur Brust, was mit den Handschellen vermutlich merkwürdig aussah.

»Ich schlage vor, wir überspringen den Teil, in dem du dich wie ein bockiger Teenager aufführst. Ich werde nämlich ganz sicher nicht gehen.«

Gloria nickte sanft, schien ihre Anwesenheit gutzuheißen.

»Sieh mich an, Sky«, forderte Terra ihn auf.

Tat er nicht. Sein Blick war auf Gloria geheftet, als wäre sie neben ihm die einzige Person im Raum. »Was soll das? Warum hast du sie mitgebracht?«

»Die Lage ist ernst und die Beweise gegen dich sind erdrückend. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich dich hier rausbringen kann. Nicht allein. Nicht ohne ihre Hilfe.«

»Wer sagt, dass ich hier heraus möchte?«

»Wer sagt denn, dass wir überhaupt darüber diskutieren?«

Es war erstaunlich, wie bestimmt Terra für ihre vierzehn Jahre auftreten konnte. Aber sie war schon immer anders gewesen als er. Terra konnte die Emotionen von Menschen beeinflussen, doch im Gegensatz zu ihm und Erika war ihre Gabe nie eine Last für sie gewesen. Vielleicht weil sie sie bewusst aktivieren musste und sie nicht permanent durchströmte wie Sky. Oder weil sie nichts für ihren Einsatz geben musste, so wie Erika beim Tausch von Gefühlen. Wie er sie darum beneidete!

»Mag ja sein, dass du bestraft werden musst«, fuhr Terra fort. »Aber wenn jemand darüber urteilen sollte, dann die SHS und nicht diese Menschen.«

»Für einen kleinen Augenblick habe ich tatsächlich geglaubt, dass sich Sorge um deinen Bruder in deinem kalten Herz breitgemacht hat. Aber wie ich sehe, war es doch nur dein üblicher Drang nach Pflichterfüllung.«

»Nichts, wofür man sich schämen muss.« Terra war nicht nur äußerlich ungerührt von Skys Worten. Es war schon immer schwer gewesen, Emotionen in ihr zu erzeugen. Sie hatte definitiv mehr von Elliots Charakter abbekommen als Sky. Vielleicht war er für sie auch deshalb nicht nur einfach ihr Erzeuger, sondern tatsächlich eine Vaterfigur.

Sky wandte sich an Gloria. »Kannst du der Wache bitte sagen, dass sie gehen möchte?«

Terra funkelte ihn an, doch statt Zorn, was eine normale Reaktion wäre, spürte er nur Unverständnis.

»Nicht nötig«, sagte Terra und erhob sich. »Aber glaub ja nicht, dass das mein letzter Besuch war.«

Als sie den Raum verließ, sah Sky ihr nicht hinterher.

»War das wirklich nötig?«, fragte Gloria, nachdem die Tür lautstark ins Schloss gefallen war.

»Was ist schon wirklich nötig?« Sky verstand sein Verhältnis zu seiner Schwester manchmal selbst nicht. Warum brachte sie ihn immer so auf die Palme? »Keine Ahnung. Aber es hat seinen Zweck erfüllt.«

Gloria hob eine Augenbraue und ging nicht weiter darauf ein. Ihr Blick wurde ernst und sie sah von den Unterlagen vor ihr zu Sky. »Als Erstes müssen wir den Staatsanwalt davon überzeugen, dass keine Fluchtgefahr besteht und ich dich gegen Kaution freibekomme. Und dann …«

»Wer sagt, dass ich das möchte?«, unterbrach Sky sie.

Gloria sah ihn an, als hätte er ihr gerade ein dunkles Geheimnis anvertraut. »Wieso solltest du nicht?« Sie erhob sich, beugte sich mit ihrem Oberkörper über den Tisch und fixierte Sky mit ihren weisen Augen. »Du bist mein Mandant und ich werde den Teufel tun und dich hier auch nur einen Atemzug länger als nötig sitzen lassen.«

»Es ist nicht übel hier.«

»Hast du den Verstand verloren?« Sky hatte Gloria schon oft geschockt gesehen, aber so aufgebracht wie in diesem Moment noch nie.

»Ist das eine ernst gemeinte Frage?«

»Sky …« Sie ließ seinen Namen so stehen, den Satz unvollendet in der Luft hängen, als wüsste sie bereits, dass es nichts mehr zu sagen gäbe. Als wäre sein Name die Antwort auf all die Fragen, die sich gerade in ihrem klugen Kopf bildeten.

Für Sky gab es nichts mehr zu sagen. Es mochte für Außen­stehende unverständlich erscheinen, womöglich sogar verrückt wirken, aber irgendwie fühlte er sich hier wohl. Nicht nur, weil er sich vor seinem Vater und dem Zorn der gesamten SHS verstecken konnte, sondern wegen dem, was er hier spürte. Während Emotionen ihn sonst erdrückten und auslaugten, empfand er das Gefühlsbild der Insassen fast wie Urlaub. Nicht, weil es schön war. Ganz im Gegenteil. Aber sie waren einander so ähnlich, dass es eine gewisse Harmonie hatte. Es war eine Komposition aus Schuldgefühlen, Wut, Verachtung und Hass. Gefühle, die er gut kannte, die er so gut verstand. Sein Aufenthalt hier sollte eine Strafe sein. Doch in dieser Dunkelheit lag so viel Schönheit, dass es für Sky alles andere als das war.

Er legte eine Hand auf Glorias, die vor ihm auf ihrem Stuhl zusammengesunken war. »Frag mich nicht warum, aber ich brauche das hier jetzt.«

Gloria schluckte laut und schüttelte sachte den Kopf. »Ich sollte wirklich aufgeben, dich zu verstehen.«

»Das würde bestimmt vieles einfacher machen.«

»Bist du dir sicher? Ich meine, weißt du wirklich, was du da tust?«

Sky nickte bestimmt.

Gloria presste die Lippen aufeinander und erhob sich. »Gut, dann gehe ich jetzt und unternehme nichts, um dich aus der Untersuchungshaft zu befreien. Und – obwohl ich es überhaupt nicht verstehe – ich werde auch verhindern, dass es sonst jemand tut.«

»Danke, Gloria.«

»Aber wir müssen an deiner Verteidigung arbeiten, Sky. Ganz dringend.«

»Ich weiß, ich weiß.« Sky sah durch sie hindurch und zurück in die Nacht, in der er die Vollversammlung und damit nahezu alle lebenden und volljährigen Superior in die Luft sprengen wollte. »Aber nicht heute.«

»Dann morgen, Sky.«

»Dann morgen.«

Teil 1

1

Amelia

Amelia starrte ungläubig auf die ockerfarben gemusterte Tapete. Ein Hingucker war sie noch nie gewesen, aber die unzähligen Post-its, die nun dort aufgereiht wie Soldaten hingen, verliehen dem Raum etwas Groteskes.

»Was«, fragte Amelia schaudernd und zeigte ungläubig auf die Zettel, »zum Teufel ist das?«

»Das Scrum-Board für unser Projekt.« Catherine sagte es mit dieser Selbstverständlichkeit, mit der nur sie komplett abstruse Dinge als gesetzt darstellen konnte. Ihre Körperhaltung aufrecht, die Stimme fest, und in ihren Augen las Amelia Stolz auf das Geleistete – was auch immer das war.

Ein neues Projekt zu haben, tat Catherine sichtlich gut, aber Amelia wusste trotzdem nicht, wie sie es finden sollte, dass sie selbst ebendieses Projekt war. »Will ich wissen, was das ist?«

»Unbedingt.« Catherine klatschte erfreut in die Hände, trat neben Amelia und legte ihr eine Hand auf den Unterarm.

Amelia liebte ihre Pflegeschwester, aber mit so viel Euphorie am Morgen konnte sie vor dem ersten Kaffee nur schwer umgehen. »Mhm.« Sie schlurfte an ihrer Schwester vorbei in die Küche. Das ganze Haus war so was von Siebzigerjahre, dass man manchmal versucht war, den DeLorean vor der Haustür zu suchen. In diesen vier Wänden gab es nichts Dezentes. Amelia störte das nicht, aber Catherine mit ihrer Vorliebe für gedeckte Farben machte das rasend. Die Küche war der Raum, in dem so viele grelle Farben und Muster miteinander kollidierten, dass es selbst Amelia schwerfiel, ihn morgens zu betreten. Catherine hatte die Küche deshalb »Augenkrebsraum« getauft. Und sie übertrieb nicht.

Amelia marschierte auf den Vollautomaten zu, der auf der Arbeitsfläche der ansonsten knallorangenen Küche stand. Routiniert griff sie nach einer Tasse aus dem Schrank darüber und bereitete sich einen großen, starken Kaffee zu. Das Geräusch des Mahlwerks und der Duft der frisch aufgebrühten Bohnen weckten ihre Lebensgeister. Den Griff der Tasse fest umklammert, schlurfte sie zurück ins Wohnzimmer. Catherine betrachtete das Zettelwerk an der Wand wie eine stolze Mutter und obwohl Amelia die Art und Weise, wie sie vorging, durchaus befremdlich fand, war Catherine erfolgreich damit. Amelia hatte in den letzten Wochen gewaltige Fortschritte gemacht, beherrschte ihre Gabe in einem Ausmaß, das sie nie für möglich gehalten hätte. Am Ziel war sie – gemessen an der Post-it-Invasion an der Wand – aber noch nicht. Amelia nahm einen großen Schluck Kaffee und blickte zu Catherine. »Also, erleuchte mich.«

»Um unserem Vorhaben etwas mehr Struktur und Richtung zu geben, habe ich das Ganze gemäß der Scrum-Methodologie aufbereitet.«

»Hört sich an wie etwas Unanständiges. Was es vermutlich nicht ist, weil du es sonst nicht in den Mund nehmen würdest.«

Catherine rollte mit den Augen, aber ihre Euphorie schien derart groß, dass sie es nicht schaffte, ernsthaft genervt zu sein. »Scrum ist eine Projektmanagement-Methode. Alles ist darauf ausgerichtet, Momentum, also Geschwindigkeit aufzubauen, um ein Ziel in kürzerer Zeit mit besserer Qualität zu erreichen.«

»Wow!« Amelia nippte an ihrem Kaffee. Obwohl sie es wollte, konnte sie sich ein paar spitze Bemerkungen nicht verkneifen. »Und wie heißen die Methoden, mit denen man in längerer Zeit schlechtere Qualität erreicht?«

»Netter Versuch. Aber ich lasse mich von dir nicht aus dem Konzept bringen. Aber nur zu deiner Information: Das wäre die Wasserfall-Methode. Nicht, dass die darauf ausgelegt wäre, kontraproduktiv zu sein. Sie ist es nur einfach, weil wir Menschen arbeiten, wie wir eben arbeiten, und nicht, wie wir dem Plan nach arbeiten sollten. Einer der entscheidenden Vorteile von Scrum ist, dass man permanent das Geleistete kritisch hinterfragt und bewertet: Wie hat man gearbeitet? Was ist gut, was ist schlecht gelaufen? Und dann versucht man, die Stolpersteine aus dem Weg zu räumen und für die nächste Arbeitseinheit alles so zu gestalten, dass man störungsfreier, effizienter und besser an seinem Ziel arbeiten kann. Diese Technik wird hauptsächlich im Bereich der Software-Entwicklung eingesetzt, aber ich wüsste wirklich nicht, warum sie uns nicht auch bei unserem Vorhaben gute Dienste leisten sollte.«

Amelia ließ sich auf einen der senfgelben Sessel vor die Post-it-Wand gleiten. »Und wer wäre ich, dir da zu widersprechen.«

»Ein Narr«, antwortete Catherine mit der für sie so typischen Selbstsicherheit.

Amelia war nie jemand gewesen, der mit hängenden Schultern durch die Gegend lief und sich und ihre Meinung hinterm Berg hielt. Aber dieses Erhabene, Aufrechte, das Catherine an sich hatte … Manchmal fragte sie sich, ob das in den Superior-Genen lag oder einfach nur Erziehung war.

Catherine setzte sich auf die Armlehne ihres Sessels und lehnte ihren Kopf an Amelias. »Ich bin stolz auf dich, Schwesterherz.«

Amelia verschluckte sich fast an ihrer Spucke. Ein Lob von Catherine? »Wer bist du? Und was hast du mit meiner Schwester gemacht?«

»Ach, komm. Du tust ja gerade so, als würde ich nie etwas Nettes sagen.«

»Ich würde nicht sagen nie, aber ich glaube, ich kann die Male, in denen dir so etwas herausgerutscht ist, an meinen Fingern abzählen.«

»Sei nicht albern.« Catherine machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich meine es ernst. Du arbeitest wirklich hart an dir und sträubst dich nicht, wenn ich etwas Neues vorschlage. Eigentlich sollte ich diejenige sein, die dich fragt, wer du bist und ob du von Außerirdischen ausgetauscht wurdest.«

Nicht von Außerirdischen. Andererseits konnte man Brick und seine Methoden nicht wirklich als menschlich bezeichnen. Und Steve, zu dem sie ins Auto gestiegen war und der sie vergewaltigen, quälen und töten wollte … Nein, auch der war alles andere als menschlich. Amelia presste die Lippen aufeinander, blinzelte und versuchte, tief einzuatmen.

»Oh!«, entfuhr es Catherine und sie presste sich eine Hand vor den Mund. »Es tut mir leid. Das war jetzt taktlos. Ich …«

Amelia lächelte gequält. »Schon gut.«

Ihr habt mich gebrochen, aber nicht zerstört.

Ich werde wieder ganz, wieder heil.

Aber ihr, ihr bleibt krank.

Wenn ich euch lasse …

Amelias Blick wurde wieder scharf und blieb an einem der Post-its vor ihr hängen. Die Feuer-Gabe auf Kommando gezielt einsetzen, stand darauf. Sie erhob sich und löste es, betrachtete es und verzog ihren Mund zu einem schiefen Lächeln. In ihrem Inneren ließ sie die Wut kochen und leitete sie von ihrer Brust in ihre rechte Hand, die den Zettel hielt. Mit geschlossenen Augen und begleitet von leisen Groll­lauten konzentrierte sie sich. Dabei versuchte sie sich die Bahnen vorzustellen, in denen ihre Gabe durch ihren Körper floss, hin zu ihren Handflächen und Fingerspitzen. Amelia spürte, wie aus der Wärme Hitze wurde und der Zettel in ihrer Hand an den Rändern Feuer fing.

»So war das System eigentlich nicht gedacht«, sagte Catherine zurückhaltender, als es ihr ähnlich sah. »Aber Chapeau! So schnell und präzise habe ich das noch nie bei dir beobachtet.«

Mit Genugtuung sah Amelia, wie die letzten Fetzen in ihrer Hand verglühten, bis nur noch Asche übrig war. Sie blies die Asche fort, beobachtete, wie die Partikel durch den Raum flogen. Dieser Erfolg – wenn auch ein kleiner – hatte sich gut angefühlt. Verdammt gut.

Wenn ich euch lasse …

Nathan

Nathan hasste Sky dafür, dass er mit Amelia und ihren Gefühlen gespielt hatte. Natürlich auch dafür, dass er ihn mitsamt allen Superior der Vollversammlung hatte in die Luft sprengen wollen. Allerdings war das nur der Gipfel seines Wahnsinns und für Nathan weit weniger persönlich als all das, was er sich vorher geleistet hatte. Und trotzdem stand Sky auf dem Siegertreppchen seiner Hassobjekte nicht ganz oben. Um präzise zu sein, stand er auf der dritten Stufe, genau unter Brick. Nathan hatte ihn immer für das unangefochtene Scheusal gehalten, bis Amelia … Bis sie auf ein noch viel größeres gestoßen war. Es hatte Wochen gedauert, bis sich Amelia ihm geöffnet hatte. Bis er genau verstand, was auf ihrer Flucht aus Skys Sanatorium geschehen war. Nathan schauderte bei dem Gedanken, was sie ihm mithilfe ihrer Shared Brain-Gabe gezeigt hatte. Es war eine grausame Ironie des Schicksals, dass ihre neue Feuer-Gabe Rettung und Fluch gleichermaßen für sie war. Nathan selbst war nur dankbar für sie. Sollte sie ihn doch damit verbrennen, es wäre ihm gleich. Er würde sie nicht verfluchen, sondern ihr immer hoch anrechnen, dass sie Amelia vor dem Schlimmsten, was einer Frau wohl passieren konnte, bewahrt hatte.

Nathan vergrub seine Hände in der Bauchtasche seines Hoodies. Obwohl er innerlich glühte, fröstelte er. Es war Winter und der kalte Wind pfiff durch jede Ritze der Gartenhütte. Er zog sein Smartphone aus der Tasche, als sich die Tür knarrend öffnete. Schneeflocken umwirbelten Catherine, die in einen dicken Mantel gehüllt über die Schwelle trat.

»Na endlich!«, sagte Nathan anstelle einer Begrüßung. »Ich wollte dich gerade schon anrufen.«

»Kann ja niemand ahnen, dass du heute zufällig pünktlich bist«, antwortete Catherine ungerührt und ließ ihre pelzbesetzte Kapuze auf die Schultern gleiten.

Nathan verkniff sich ein Grummeln und sah nach draußen, um zu prüfen, ob Amelia sie auch nicht gesehen hatte. Keine Spur von ihr. Dafür sehr deutliche von ihm und Catherine im Schnee. Er schüttelte den Kopf und schloss die Tür. Um die Fußabdrücke würde er sich später kümmern.

»Also?« Catherine hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und sah ihn auffordernd an.

Nathan grinste genüsslich. »Das wird dir gefallen.«

»Ich hoffe, du meinst nicht das Interieur der Hütte.«

»Beleidigt es deine Augen?«

»Ein wenig.« Sie schmunzelte und Nathan wusste, dass es nicht sie war, die da sprach, sondern die Fassade, die sie sich über Jahre hinweg aufgebaut hatte.

»Ich habe die Tankstelle ausfindig gemacht«, verkündete Nathan und schon bei dem Gedanken an das, was er – was sie vorhatten, rauschte das Blut in seinen Ohren.

»Bist du dir sicher?«

Nathan hob eine Braue. »Ich hoffe, das war keine ernst gemeinte Frage.«

»Nein, die ernst gemeinte Frage ist: Wann fahren wir?« Ein diebisches Grinsen breitete sich in Catherines Gesicht aus.

Nathan musste zugeben, dass er sich in Catherine getäuscht hatte. Nicht in allen Punkten, aber doch in vielen. Vielleicht waren es auch die Ereignisse, die sie verändert, eine neue Catherine hervorgebracht hatten. »Am liebsten sofort, aber ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn wir beide fahren und Amelia allein lassen.«

»Erstens, sie ist kein kleines Kind und wird auch nicht gern wie eines behandelt. Zweitens, du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich allein fahren lasse?«

»Okay«, antwortete Nathan gedehnt. »Erstens behandele ich Amelia nicht wie ein kleines Kind. Genau wie du kümmere ich mich um sie und bin für sie da. Und zweitens, verdammt, das habe ich befürchtet.«

»Wenn du es wirklich befürchtet hättest und es nicht wollen würdest, wärest du einfach gefahren und hättest es mir nicht vorher erzählt.«

»Man könnte fast meinen, du kennst mich.«

»Lässt sich nicht vermeiden, wenn man unter einem Dach lebt.«

Nathan knuffte sie in die Seite. Er war froh, dass sich all seine Bedenken gegen diese Wohngemeinschaft in Luft aufgelöst hatten. Nie hätte er gedacht, dass er einmal so entspannt mit Catherine umgehen konnte. Sie waren mittlerweile beinahe so etwas wie … Freunde.

»Was sagen wir Amelia?«, fragte Catherine. »Sagen wir es ihr?«

Nathan seufzte. »Ganz ehrlich – ich habe ungern Geheimnisse vor ihr. Aber das. Ich weiß nicht, ob es ihr guttut zu wissen, was wir vorhaben.«

Catherine nickte. »Ich würde es ihr erst sagen, wenn wir erfolgreich sind.«

»Es ist mehr ein noch nicht als ein nicht

»Gut«, stimmte sie zu und ließ die Hände in ihre Manteltaschen gleiten. »Was sagen wir ihr dann?«

»Ich sage ihr, ich muss zu einer dringenden Krisensitzung ins SMC.«

»Und ich begleite dich, weil ich für meine Masterarbeit noch etwas in der Universitätsbibliothek recherchieren will.«

»Klingt gut.« Nathan ballte seine Hand und hielt sie Catherine als Ghettofaust entgegen.

Wie jedes Mal, wenn er das tat, rollte Catherine mit den Augen. Dann ließ sie ihre rechte Hand aus der Tasche gleiten und erwiderte seinen Gruß, den Nathan mit einer imaginären Explosion enden ließ

Nathan öffnete die Tür des Schuppens und trat mit Catherine ins Freie. Während sie vorausging, blieb Nathan stehen und betrachtete die Spuren. Frischer Schnee war über sie gefallen und wenn er sich den Niederschlag ansah, würden sie bald bedeckt sein. Die Kälte kroch ihm in den Nacken und in ihm zog es sich zusammen. Er wusste, dass es richtig war, Amelia nicht zu erzählen, was er und Catherine vorhatten. Es würde sie nur unnötig aufwühlen und das vermutlich sogar völlig unnötig. Und obwohl sein Kopf das alles wusste, es absolut logisch und seiner Meinung nach sogar feinfühlig war, spürte er eine Schwere auf seiner Brust. Nathan versuchte sie abzuschütteln, sich zu ermahnen, dass er es für Amelia tat.

Catherine war bereits im Haus verschwunden. Auch Nathan marschierte nun darauf zu und betrat die Küche durch den Hintereingang. Es duftete nach Kaffee. Amelia stand in Leggins, dicken Socken und einem seiner Shirts in der Küche und nippte an einem Becher.

»Guten Morgen«, begrüßte er sie und ging auf sie zu. Sanft zog er sie in seine Arme, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und strich ihr eine widerspenstige gelockte Strähne hinters Ohr.

»Morgen«, murmelte sie an seinen Hals gepresst.

»Gut geschlafen?«

»Erstaunlich gut sogar.« Sie löste sich lächelnd von ihm und trank einen Schluck aus ihrem Becher.

Nathan lächelte – innerlich und äußerlich. Amelia war vielleicht noch nicht wieder ganz, aber es ging ihr mit jedem Tag besser. Man konnte es sehen und spüren. Ein paar Mal hatte er sich gefragt, ob er mit dem Rachefeldzug, den er plante, schlafende Dämonen wecken und alles verschlimmern würde. Um ehrlich zu sein, wusste er es nicht. Vielleicht hätte er sie fragen sollen. Einfach so. Aber seine Angst war zu groß. Und ein Stück weit fürchtete er nicht nur, dass sein Vorhaben Amelia triggern könnte, sondern dass sie es ablehnen würde. Dass sie es ruhen lassen und vergessen wollte. Vielleicht konnte sie das. Vielleicht war es eine gesunde Art und Weise, mit der Sache abzuschließen. Er konnte es nicht. Der Dreckskerl sollte bezahlen. Für das, was er Amelia antun wollte. Für jeden widerlichen Gedanken, den er an seine geplante Tat in sich trug. Für das, was er anderen Frauen womöglich schon angetan hatte oder noch antun würde, wenn ihn niemand stoppte.

Nathan schätzte Gesetze und Regeln sehr. Sie waren der Leim, der die Gesellschaft zusammenhielt, ohne sie würde nichts funktionieren. Er schätzte sie jedoch nicht genug, um sich das Recht auf Selbstjustiz nehmen zu lassen. Nicht generell. Aber in diesem speziellen Fall.