Qigong im Wechsel der Jahreszeiten

Im chinesischen Kalender ist das Jahr in 24 Perioden eingeteilt. Für jeden dieser Zeitabschnitte gibt es eine Übung, welche von dem daoistischen Gelehrten Chen Tuan (oder Chen Xiyi) aus dem 10. Jahrhundert entwickelt wurden. Der Herausgeber hat die Übungen so weit wie möglich authentisch übertragen und ihnen eine dem westlichen Alltag gemäße Version hinzugestellt. Mit den beigefügten Kommentaren wird dem Leser ein Zugang zum traditionellen Denken der chinesischen Medizin vermittelt.

Yürgen Oster studiert Taijiquan und Qigong seit 1976 und gehört somit in Deutschland zu den Pionieren dieser Disziplinen. Heute lebt er in Teneriffa und Wudangshan, China.

Inhalt

Vorwort

In diesem Buch möchte ich Ihnen eine außergewöhnliche Reihe klassischer Qigong – Übungen vorstellen. In den letzten 25 Jahren bin ich diesen Übungen mehrmals begegnet, ohne ihnen eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sie schienen nicht in mein Übungssystem zu passen. Erst vor wenigen Jahren, als sie mir erneut über den Weg liefen, fing ich an, mich damit zu beschäftigen. Das Besondere an dieser Reihe ist, dass man über den Zeitraum von ca. 15 Tagen nur eine Übung ausführt, dann zur nächsten wechselt. So erstreckt sich die 24 teilige Reihe über ein Jahr.

Im chinesischen Kalender ist nach dem Zodiakalzyklus der Sonne jede Jahreszeit (Shi) in 6. Phasen gegliedert. Dadurch erhält das Jahr 24 Zeitabschnitte (Qi), denen jeweils besondere klimatische und energetische Eigenschaften zugesprochen werden. Der Wechsel findet statt, wenn die Sonne den ersten bzw. fünfzehnten Grad eines Sternzeichens erreicht.

Die alten, aus daoistischen Klöstern und von wandernden Mönchen überlieferten Übungen zu jedem der Jahresabschnitte sind den entsprechenden energetischen Bedingungen angepasst. Jeder Abschnitt oder Qi trägt einen Namen, der sich mehr oder weniger auf die klimatische Situation bezieht.

Die Übungen tragen die gleichen Namen. Die ganze Reihe ist in vier Gruppen unterteilt, den Jahreszeiten entsprechend, die allerdings in China etwas früher anfangen, als unsere abendländische Einteilung.

Jede Jahreszeit wird von einem Tiersymbol eingeleitet und beendet. Dazu sind leider nicht alle Übungen überliefert.

Schon im Huang Di Neijing Suwen, dem Klassiker der chinesischen Medizin, finden wir Hinweise auf die Bedeutung der jahreszeitlichen Energien:

„Yin und Yang, die zwei Prinzipien der Natur und die vier Jahreszeiten sind Anfang und Ende aller Dinge und sie sind auch der Ursprung von Leben und Tod.“

Zusätzlich zu der zeitlich und energetisch angepassten Wirkung werden jeder Übung noch Effekte bei bestimmten Krankheitsbildern zugeschrieben, so dass sie auch über den begrenzten Zeitabschnitt hinaus bei Bedarf Anwendung finden können.

Die älteste mir bekannte Quelle war lange das Zun Sheng Ba Xian (Dem Leben der Acht Unsterblichen folgen) aus dem Jahre 1591 von Gao Lian, auch Gao Shen Fu oder Rui Nan Dao Ren genannt. Aus dieser Sammlung übersetzte John Dudgeon (1837 – 1901), ein schottischer Arzt, der annähernd 40 jahre in China verbrachte, die Beschreibungen der 24 Übungen und veröffentlichte sie 1895 im Journal of the Peking Oriental Society Vol. III N.4.

Während der Arbeit an diesem Buch wurde ich auf eine Publikation der Hai Feng Publishing Co in deutscher Sprache aufmerksam gemacht: „Chinesische Gesundheitslehren aus zwei Jahrtausenden“, erschienen 1990, einer Sammlung von 30 Übungsabfolgen, welche unter dem Titel: „Die Körper- und Atemübungen des Chen Xiyi“. auch diese Übungen enthalten. Damit ist nun auch der Autor geklärt, ein Daoist des 10. Jahrhunderts. (s. a. Anhang) Auf diesen beiden Quellen basiert der vorliegende Text. Meist werden die Übungen im Chinesischen Er Shi Si Si Shi Dao Yin Fa genannt. Das heißt wörtlich übersetzt: 24 4 Jahreszeiten Führen und Lenken Methode, was ich auf Dao Shi, Führung durch die Jahreszeiten, gekürzt habe.

Im Original werden die Übungen, bis auf zwei, bei denen man steht, auf dem Boden sitzend ausgeführt. Ich habe mir erlaubt, jeweils eine „Hockerversion“ zu entwickeln, damit sie auch von weniger gelenkigen Menschen praktiziert werden können. Ich habe diese Variationen sorgfältig geprüft und sie stehen den Originalen in nichts nach. Bei allen 24 Übungen sind die Bewegungen einfach und leicht nachzuvollziehen. Meistens wird nur eine bestimmte Haltung eingenommen und dann Kopf oder Rumpf im Einklang mit der Atmung gedreht, Arme oder Beine gestreckt. Dennoch hat jede Übung einen eigenen Charakter und deutlich spürbar unterschiedliche Wirkung. Allen Übungen gemeinsam ist eine ruhig gelöste, wohlgelaunte Stimmung, mit der sie einen in den Tag entlässt.

Nach jeder Übung empfehle ich eine kurze Anmo – Selbstmassage, die am Ende des Buches beschrieben ist.

Zu den angegebenen Wirkungen gebe ich gelegentlich Kommentare und Erläuterungen, wenn notwendig zum besseren Verständnis auch zusätzliche Informationen über das chinesische Qi Konzept. Ich möchte den Leser aber nicht mit zuviel Theorie belasten. Inzwischen bietet auch die deutschsprachige Fachliteratur mehr oder weniger ausführliche Darlegungen über die chinesische Weltanschauung und die traditionelle chinesische Medizin, die eine eigene, wissenschaftliche Sprache hat, welche sich von der westlichen Medizin grundlegend unterscheidet. Wer sich weiter bilden möchte, findet im Anhang eine Fülle an Literaturhinweisen.

Da eine jede Übung nur über fünfzehn Tage praktiziert wird und dann für ein Jahr verschwindet, haben wir ausreichend Platz im Buch gelassen für Ihre eigenen Notizen zur Erinnerung.

Alter chinesischer Kalender

 

Legende:

Rechts oben: Fünf Tage sind eine Periode (Woche)

Rechts unten: Drei Perioden sind ein Qi (klimatischer Zustand)

Links oben: Sechs Qi sind eine Jahreszeit

Links unten: Vier Jahreszeiten sind ein Jahr

Die Kreise von außen nach innen:

1. Kreis: Die Namen der Perioden

2. Kreis: Die Namen der Qi

3. Kreis: Die zugehörigen Organe

4. Kreis: Zodiakal – Zyklus

5. und 6. Kreis: Sternbildbeziehungen

Ermahnung

aus dem Huang Di Neijing Suwen (ca. 250 v.u.Z.)

Der Atem des Himmels ist rein und hell. Der Himmel hält immer seine wahre Tugend aufrecht, so kommt er niemals zum Sturz. Würde der Himmel sich vollkommen öffnen, dann würden Sonne und Mond nicht mehr leuchten. Böses würde hervordringen in dieser Zeit der Leere. Die Atmosphäre des Yang würde sich verschließen und die Erde würde ihren Glanz verlieren. Wolken und Nebel könnten nicht die Wandlungen durchlaufen und deshalb könnte der weiße Tau nicht fallen. Der Kreislauf der natürlichen Elemente (Wandlungsphasen) stände nicht im Zusammenhang mit den Dingen und Wesen der Schöpfung. Dies würde man nennen “nicht schenken” (nicht Leben verleihen) und in der Folge des “nicht schenken” würde alle Vegetation verschwinden. Wind und Wasser (Feng Shui) wären ohne Harmonie, weißer Tau würde nicht fallen, so dass kein Leben mehr aufblühen könnte. Es gäbe nur stürmische, zerstörende Winde und plötzliche Regenschauern, Himmel und Erde und die vier Jahreszeiten könnten sich nicht gegenseitig schützen, sie würden das Dao verlieren und bald zerstört sein.

In den sehr alten Zeiten wurden die Lehren der Weisen von denen, die ihnen nahe standen, befolgt. Sie sagten, dass schwächende und verderbliche, ungesunde Einflüsse und schädliche Winde zu bestimmten Zeiten vermieden werden sollten.

Sie waren ruhig und zufrieden in ihrer Bedeutungslosigkeit und die wahre Lebenskraft begleitete sie ständig. Ihr ursprünglicher Geist war in ihnen gehalten, wie sollten sie da jemals krank werden.

Sie übten die Zurückhaltung des Willens und verminderten ihre Bedürfnisse. Ihre Herzen waren in Frieden und ohne Furcht. Ihre Körper mussten sie plagen und doch wurden sie nicht schwach.

Ihr Geist folgte in Einklang und Demut. Alles war zu ihrer Zufriedenheit und sie konnten alles erreichen, was sie sich wünschten. Sie waren glücklich unter allen Bedingungen. Es war ihnen nicht von Bedeutung, ob jemand eine hohe oder niedrige Position einnahm im Leben. Diese Menschen kann man wirklich reinen Herzens nennen. Kein Verlangen konnte ihren Blick trüben und ihr Verstand konnte nicht verführt werden von Ausschweifungen und Schwächen. So konnten sie mehr als hundert Jahre leben und aktiv sein, ohne schwach zu werden, denn ihre Tugend war fest.

Die Weisen folgten den Gesetzen der Natur und darum blieben ihre Körper frei von Krankheiten, sie verloren nichts von dem, was ihnen die Natur gegeben hatte und ihr Geist wurde nie erschöpft. Diejenigen, die gegen die Regeln des Universums verstoßen, zerstören ihre eigenen Wurzeln und untergraben ihr wahres Selbst. Yin und Yang, die zwei Prinzipien der Natur, und die vier Jahreszeiten sind Anfang und Ende aller Dinge und sie sind auch der Ursprung von Leben und Tod.

Wer die Gesetze des Universums missachtet, der lässt Schwierigkeiten und Heimsuchungen wachsen, während jene, die den Gesetzen des Kosmos folgen, frei bleiben von gefährlicher Krankheit.

Dao wurde von den Weisen praktiziert und von den gewöhnlichen Menschen zurückgewiesen. Demut gegenüber den Regeln von Yin und Yang bedeutet Leben. Missachtung bedeutet Tod. Die Demütigen werden herrschen, während die Rebellischen in Unordnung und Verwirrung fallen. Alles, was im Widerspruch steht zur Harmonie mit der Natur, bedeutet Hochmut und Rebellion.