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Heike Wolpert

Taubertaltod

Kriminalroman

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Zum Buch

Tödliches Ja-Wort Ausgerechnet bei der Trauung ihres Ex-Mannes im Schloss von Bad Mergentheim muss die Standesbeamtin Anke Wardlinger für einen überraschend erkrankten Kollegen einspringen. Doch damit nicht genug: Kurz nach dem Ja-Wort bricht der Bräutigam tot zusammen. Da ihre Scheidung seinerzeit nicht besonders harmonisch verlief, fällt der Verdacht zunächst auf Anke, die sich daraufhin im Umfeld ihres Ex-Mannes umhört. Dabei erfährt sie vom Plan einer großen Marketingaktion des Toten. Er hat aus der Fremde ein Rezept für eine kalorienarme Fitnesstorte mitgebracht, die er zum Markenzeichen der Kurstadt Bad Mergentheim machen wollte, und die er bereits in verschiedenen Locations des lieblichen Taubertals anbot. Auch privat wirbeln ihre Ermittlungen einiges durcheinander. Schon bald steht Anke zwischen zwei Männern. Die Kriminalpolizei ermittelt auf Hochtouren und Anke wird langsam nervös. Spielt einer ihrer beiden Verehrer ein falsches Spiel? Trifft sie sich gar mit einem Mörder? Dann gibt es eine weitere Tote …

Heike Wolpert wurde 1966 in Bad Mergentheim geboren. Inzwischen lebt und arbeitet sie in Hannover. Abwechslung von ihrem Alltag als Businessanalystin bei einer großen Landesbank findet sie im Schreiben von Krimis und Kurzgeschichten. An ihrer Reihe rund um den tierischen Schnüffler Kater Socke, erfreuen sich Katzen- und Krimifreunde gleichermaßen. 2019 wirkte sie außerdem an dem kriminellen Freizeitführer „Mörderisches aus Hannover“ mit. In »Taubertaltod« widmet sich die Autorin ihrer Heimatstadt Bad Mergentheim, in der sie bis zu ihrem 19. Lebensjahr lebte und in die sie nach wie vor gern zurückkehrt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © zauberblicke / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6636-6

Widmung

Für Anke!
Schön, wenn man Menschen findet, deren Kopf den gleichen Innenarchitekten hatte.

Prolog

Endstation

Hamburg. Einen grausigen Fund machte ein Zugbegleiter des ICE 272 zu nächtlicher Stunde kurz vor Einfahrt des Zuges in den Hamburger Hauptbahnhof. Eine Tote lag in einem Abteil der ersten Klasse. Die Untersuchung von Notarzt und Kripo ergab, dass die 41-jährige Geschäftsfrau vermutlich keines natürlichen Todes gestorben war. Ob Suizid, Unfall oder Mord ist, ebenso wie die genaue Todesursache, zur Stunde noch unklar. Die Ermittlungen wurden aufgenommen.

*

Liebliches Taubertal. Prangte der Schriftzug auf dem Hochglanzprospekt vor ihr, darunter die beeindruckende Fassade eines historischen Gebäudes.

»Das ist das Deutschordenschloss in Bad Mergentheim«, erklärte er ihr stolz. »Meine Geburtsstadt. Hier«, er zeigte auf ein kleineres Foto, »durch diesen Torturm kommst du in den Innenhof, »alles ist restauriert und saniert. Das kann sich sehen lassen, oder?«

Sie nickte, es war tatsächlich wunderschön.

»Im Hof gibt es unter anderem das Deutschordenmuseum, und dahinter gelangst du in den Schlosspark, wirklich sehr idyllisch.« Er deutete mit dem Finger auf die Bildunterschrift: historisch geprägte Romantik und Gesundheitsstadt.

»Ja, Bad Mergentheim ist eine Kurstadt. Es gibt viele Kurgäste, aber auch Touristen, immerhin liegt es inmitten des lieblichen Taubertals.«

Lächelnd sah sie ihn von der Seite an. Es war geradezu rührend, wie er ihr seine Heimatstadt ans Herz legte. Seine Augen glänzten, als er nun mit Begeisterung vom umliegenden Taubertal berichtete. »Wäre das nicht der ideale Standort für ein kleines Cateringunternehmen?«, rückte er mit der Sprache raus. »Wir könnten uns auf gesunde Kost spezialisieren. Das passt zur Kurstadt und zum aktuellen Trend. Was meinst du? Hier in Hannover ist die Konkurrenz viel größer. Mit dem Fitnesstrend hätten wir ein Alleinstellungsmerkmal.«

›Wir‹, hatte er gesagt, das war ihr nicht entgangen. Er schien sich also eine Zukunft mit ihr vorstellen zu können. Dabei kannten sie sich gerade mal zwei Monate. Bei der Hannover Messe hatten sie sich kennengelernt. Er hatte irgendeinen wichtigen Job, bei einem der großen Aussteller, sie hatte zu diesem Zeitpunkt bei einer Cateringfirma ausgeholfen. Sie waren ins Gespräch gekommen, hatten sich für den Abend verabredet, der in einem zerwühlten Hotelbett geendet hatte. Ein One-Night-Stand war ihr erster Gedanke gewesen, als sie sich am nächsten Morgen verabschiedet hatten. Es war der letzte Messetag gewesen, und sie hatte sein Bahnticket für denselben Nachmittag zurück nach Bad Mergentheim gesehen.

Doch bereits am Abend klingelte ihr Telefon: Er bedankte sich für die wundervolle Nacht und wollte sie wiedersehen. Am kommenden Wochenende schon besuchte er sie erneut und hängte gleich ein paar Tage Aufenthalt dran. Offenbar konnte er es beruflich einrichten, standortunabhängig zu arbeiten. Sie hatte ihn nie gefragt, was er ganz genau machte, aber es verschaffte ihm nicht nur diese Freiheit, sondern auch einen komfortablen Lebensstil. Sie vertraute ihm ihren Wunsch an, sich mit einem Cateringunternehmen selbstständig zu machen, und er war begeistert von der Idee. Sollte sie es wagen?

»Ich habe gute Kontakte«, erklärte er weiter, als er ihr Zögern bemerkte, »und deine Torte, die wird unser Aushängeschild, wir entwickeln eine kalorienarme Variante. Du wirst sehen, das wird der Renner! Ich stelle dir in den nächsten Tagen meinen Freund vor, der kann uns behilflich sein.«

Sie schwieg, blätterte weiter den bunten Werbeprospekt durch.

»Hier siehst du noch mal den Innenhof des Schlosses«, pries er weiter seine Geburtsstadt an, »schau da ist das Gericht und ein kleines Polizeirevier. Und Räume für Veranstaltungen sind ebenfalls vorhanden, unter anderem kann man dort auch heiraten …«

Kapitel 1 – Samstag

Unauffällig sah Anke Wardlinger auf ihre Armbanduhr. Noch sieben Minuten bis zum Unterrichtsende. Ihr Herz klopfte, sie fuhr sich nervös durch ihre dunkelblonden Haare, die sie gestern auf Papilloten gedreht hatte, damit sie ihr heute in weichen Wellen über die Schultern fielen.

»Wie ein Rauschgoldengel«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, als sie sich am Morgen »zufällig« vor der Schule getroffen hatten. Anke hatte sich eine ganze Weile bei den Fahrradständern herumgedrückt, bis er endlich mit seinem schicken neuen Moped angebraust kam. Die erste Stunde hatte bereits begonnen, und sie hatte einen Eintrag ins Klassenbuch wegen Zu-Spät-Kommens kassiert. Aber das war es ihr wert gewesen. Sie hatte ein Date mit Ralph Perlmann aus der zwölften Klasse. Dem coolsten Jungen des ganzen Jahrgangs.

Sie und Ralph kannten sich aus dem Sandkasten, stammten sie doch beide aus Neunkirchen, dem 800-Seelen-Dörfchen nahe Bad Mergentheim. Mit dem Wechsel in die weiterführende Schule, in ihrer beider Fälle das Deutschorden-Gymnasium, kurz DOG genannt, hatten sie sich ein wenig aus den Augen verloren. Zu diesem Zeitpunkt war Ankes Interesse am anderen Geschlecht gering gewesen, und als sich das langsam änderte, musste sie feststellen, dass ihr Kindergartenfreund zum Mädchenschwarm mutiert war. Eine ganze Weile himmelte sie ihn aus der Ferne an. Dann traf sie ihn zufällig am Samstagmorgen beim Brötchenholen in der Bäckerei seiner Eltern. Man war ins Gespräch gekommen, und heute Vormittag war es ihr endlich gelungen, ihm erneut, sozusagen auf neutralem Boden, über den Weg zu laufen. Jetzt hatte sie eine Verabredung mit ihm: nach der Schule im Cortina, der Eisdiele in der Härterichstraße in der Innenstadt.

Fünf Minuten bis zum Schulgong. Ihre Hände waren vor Aufregung schweißnass. Der Sekundenzeiger ihrer Uhr bewegte sich im Schneckentempo vorwärts.

Vier Minuten. Sie packte ihre Stifte schon mal in das selbst gehäkelte Mäppchen.

»Anke Wardlinger! Dürfen wir deine geschätzte Meinung zu dem Thema hören oder hast du Besseres zu tun?«, der Tonfall des Mathelehrers klang spöttisch in ihren Ohren. Natürlich hatte sie keine Ahnung, zu welchem Thema er ihre Meinung einholen wollte.

»Äh!«, wand sie sich.

RRRRRRRRING! RRRRRRRRING!

Endlich der erlösende Schulgong.

RRRRRRRRING! Wobei, das war doch nicht der melodiöse Dreiklang, der üblicherweise das Unterrichtsende signalisierte. RRRRRRRRING! RRRRRRRRING! Und das Klingeln hörte auch gar nicht mehr auf.

War das etwa ein Feueralarm?

Oder? Schlaftrunken tastete Anke Wardlinger, 33 Jahre und schon lange keine Schülerin des DOG mehr, nach dem Telefon auf ihrem Nachttischchen. Ein Blick auf den Wecker zeigte eine Sieben links auf dessen Display.

»Ja?«, meldete sie sich unwirsch. Um diese Zeit konnte es eigentlich nur ihre Mutter sein oder …

»Grundsätzlich ist das schon mal die richtige Antwort«, schallte es ihr aus dem Telefonhörer entgegen. Ihr Kollege Moritz Mertens, wie sie im Bad Mergentheimer Standesamt beschäftigt, war am anderen Ende der Leitung. Moritz hatte heute Dienst. Zumindest laut Plan. Geheiratet wurde schließlich immer und vorzugsweise am Wochenende.

»Komm mir bloß nicht so. Die Antwort lautet: Nein!«

»Schätzchen, ich würde dich nicht bitten, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe.« Moritz’ Stimme klang jetzt weinerlich.

»Wer’s glaubt!«

»Ich bin krank. Magen-Darm, ich kann nichts bei mir behalten, ehrlich.«

Anke verdrehte die Augen. Moritz war ein Hypochonder, wie er im Buche steht. Jede Krankheit, egal welche, Moritz hatte sie oder kannte sie zumindest. Neulich hatte er sogar über Regelschmerzen geklagt. Und seit sein 40. Geburtstag immer näher rückte, war es noch schlimmer geworden.

»Du musst heute übernehmen!«, flehte er. Würgegeräusche drangen aus dem Telefonhörer, den Anke nun auf Armeslänge von sich hielt. Das konnte er ihr nicht antun! Sie hatte frei und mit ihren Schulfreundinnen Katja, Silke und Bettina einen Ausflug nach Weikersheim geplant.

Die vier Frauen trafen sich einmal im Jahr in ihrem Geburtsort Bad Mergentheim, schwelgten in Erinnerungen und wandelten auf den Pfaden ihrer Jugend. Nachdem sie gestern Abend im Cortina ihr Mädelswochenende feuchtfröhlich eingeläutet hatten, vielleicht hatte sie deshalb ja von ihrem bevorstehenden ersten Date in ebendiesem Eiscafé geträumt, stand heute ein Besuch des Weikersheimer Schlosses auf dem Programm. Obwohl Anke die wunderschöne ehemalige Wasserburg natürlich kannte, freute sie sich bereits auf eine Führung und einen Besuch des Schlossparks. Früher war sie mit Gästen ihrer Eltern gern dorthin gefahren und hatte sich immer wie eine Prinzessin gefühlt. Und so ein bisschen Prinzessinnenfeeling konnte sie heute gut gebrauchen, immerhin war dies der Hochzeitstag ihres Exmanns. Soweit sie es mitbekommen hatte, war die Trauung für den späten Vormittag angesetzt. Das herannahende Ereignis war gestern Abend natürlich Gesprächsthema gewesen, und ihre Freundinnen hatten es als ihre besondere Aufgabe gesehen, sie heute davon abzulenken und demselben weiträumig aus dem Weg zu gehen. Der Ausflug nach Weikersheim war Katjas Idee gewesen, die Ankes Neigung zum höfischen Leben gut kannte. »Genau das Richtige für unsere verhinderte Prinzessin«, hatte sie schmunzelnd erklärt, und die anderen waren begeistert darauf eingegangen. Und nun das!

»Süße? Bist du noch dran?«, ertönte Moritz’ Stimme dumpf aus dem Lautsprecher. »Boah! Ist mir schlecht!«

»Moritz, du Memme! Tu mir das nicht an. Du trinkst jetzt einen Tee und dann …«

»Ich würde dich wirklich nicht bitten, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe«, unterbrach er sie jammernd. »Du ahnst ja nicht, wie dreckig es mir geht.« Erneute Würgegeräusche.

»Und was ist mit mir?« Anke mochte gar nicht darüber nachdenken.

»Ich mache es wieder gut, ehrlich! Ich übernehme ein Jahr alle Wochenenddienste und spendiere dir außerdem eine Schokosahnetorte im Schlosscafé.«

Anke schluckte. Sie war eine Naschkatze und die Schokosahnetorte in dem kleinen Café nahe des Bad Mergentheimer Schlossgartens sensationell und jede Sünde wert.

»Ich bin auf Diät«, hielt sie halbherzig dagegen, was nur zum Teil stimmte. Vor zwei Wochen hatte sie tatsächlich den Kilos den Kampf angesagt, als sie festgestellt hatte, dass der Rock ihres hellgrauen Leinenkostüms, das sie im Sommer immer zu den Trauungen trug, offenbar nicht beim Waschen eingegangen war. Allerdings hatte sie ihre Schlankheitskur zur Erreichung der Bikinifigur für die Dauer ihres Mädelswochenendes unterbrochen.

»Ein Essen im Bundschu«, setzte ihr Kollege noch eins drauf.

Das Restaurant in der Milchlingstraße war bekannt für seine hervorragende regionale Küche und köstlichen Weine, und Anke liebte beides, zum Leidwesen ihrer Waage. »Also gut«, gab sie sich geschlagen. »Um wie viel Uhr soll das große Ereignis stattfinden?«

*

Arsen. Eine akute Arsenvergiftung führt zu Übelkeit, Erbrechen, Krämpfen, inneren Blutungen, Durchfall und Koliken. Betroffene können in ein Koma fallen, ihre Haut fühlt sich kalt und feucht an. Oral aufgenommene Arsenverbindungen werden im Magen-Darm-Trakt schnell und effektiv resorbiert. Der Tod tritt durch Kreislauf- und Nierenversagen, meist innerhalb mehrerer Stunden oder weniger Tage ein.

*

»Mit wem telefonierst du denn um diese Zeit?« Diesmal war es wirklich ihre Mutter. Sie rief fast täglich und dann meist morgens zwischen sieben und halb acht an. Eine äußerst ungünstige Zeit für Anke als Berufstätige: an Arbeitstagen war sie entweder gerade im Bad, bei einem hektischen Frühstück oder schon auf dem Sprung zur Arbeit und am Wochenende oder Urlaubstagen hätte sie gerne länger ausgeschlafen. Doch das wusste Rosemarie Wardlinger zu verhindern. Die 63-Jährige betrieb einen Kiosk direkt bei der Kirche in Neunkirchen, dem kleinen Ort nahe Bad Mergentheim, in dem Anke aufgewachsen war. Und da ihr kleiner Betrieb täglich um acht Uhr öffnete, musste sie sich halt vorher bei ihrer Tochter vergewissern, ob alles in Ordnung sei, und im Gegenzug Anke über den neuesten Dorfklatsch informieren.

Nicht, dass Anke nicht regelmäßig persönlich zu Hause aufgetaucht wäre, aber wenn es etwas zu bereden gab, duldete es bei ihrer Mutter keinen Aufschub.

Heute war die bevorstehende Hochzeit von Ankes Ex natürlich das Hauptthema. »Sie haben die Kirche wundervoll geschmückt«, schwärmte Rosemarie Wardlinger. »Das musst du dir ansehen, kommst du?«

»Ganz bestimmt nicht«, murmelte Anke.

Ihre Mutter hatte sie offenbar gar nicht gehört. »Wirklich prachtvoll«, redete sie weiter, »der Pfarrer platzt vor Stolz. Endlich mal wieder eine Hochzeit in seiner Kirche und dann auch noch so ein prominenter Bräutigam …«

Pfarrer Blau – seit ihrer Scheidung und den Umständen, die dazu geführt hatten, war das Verhältnis zwischen ihm und Anke nachhaltig gestört. Der Kirchenmann hatte sie getauft und konfirmiert. Da sie direkt neben dem Pfarrhaus wohnten, war sie als Kind quasi bei ihm ein und aus gegangen. Selbstverständlich hatte er sie auch getraut, als sie den Sohn der örtlichen Bäckerei geheiratet hatte. Es war eine prächtige Feier gewesen. Einer Prinzessin würdig. Ankes Hang zu den Königshäusern dieser Welt war schon damals ausgeprägt gewesen. Wahrscheinlich lag es an den vielen einschlägigen Zeitschriften, die sie am Kiosk ihrer Mutter ausgeliehen und mit Hingabe gelesen hatte. So weit, so gut, alles war wunderbar und sie lebten glücklich bis … leider nicht bis ans Ende ihrer Tage, sondern exakt bis kurz vor ihrem ersten Hochzeitstag. Bis ein Jahr nach der Heirat Simone, die früher Ankes Parallelklasse besucht hatte, dem Sohn des reichen, Neunkirchner Ackerbauern, Kurt Kunze, das Ja-Wort gab. Die Antwort Kurts auf die Frage des Pfarrers war nämlich ein spontanes »Nein« gewesen. Und daran war Anke leider nicht ganz unschuldig. Nachdem sie am Tag vor der kirchlichen Heirat das, zu diesem Zeitpunkt noch glückliche Paar standesamtlich getraut hatte, überraschte sie die Braut einen Tag später, kurz vor der kirchlichen Zeremonie im nahegelegenen Gasthof, mit ihrem eigenen Ehemann in einer eindeutigen Situation. Direkt neben der Hochzeitstorte, die der Bäckerssohn gerade ausgeliefert hatte. Anke fackelte nicht lange und warf dem Ehebrecher die oberste Schicht der Pistazienbuttercremetorte ins Gesicht. Leider wurde ein zufällig anwesender Gast auf das Handgemenge aufmerksam und schoss ein paar ganz außergewöhnliche Hochzeitsbilder.

Die Braut hatte die Unverfrorenheit, trotzdem zur kurz darauf stattfindenden Trauung zu erscheinen, aber der Vorfall hatte sich bis zu ihrem Zukünftigen herumgesprochen, der direkt vor dem Traualtar das Schlimmste verhinderte. Sehr zum Entsetzen des Pfarrers, der seither Anke die Schuld an dem Geschehenen gab, das es tags darauf als »Tortenschlacht« auf die Titelseite der Tauberzeitung und der Fränkischen Nachrichten geschafft hatte.

Anke seufzte, der »Tortenschlacht« war ihr Scheidungskrieg gefolgt, und mit dem Pfarrer stand sie nach wie vor auf Kriegsfuß.

Ihre Mutter war zwar auf der Seite ihrer Tochter gewesen und zeigte eine gewisse Empörung über die Neugier der Öffentlichkeit, aber sie genoss es dennoch insgeheim, in einem Drama, wie es sich sonst nur unter den Reichen und Schönen in ihren Zeitschriften abspielte, einmal eine gewisse Rolle gespielt zu haben.

»Und du bist sicher, dass du dir das nicht ansehen möchtest?«, beendete sie gerade die minutiöse Beschreibung der festlich geschmückten Kirche.

»Ganz sicher. Und jetzt muss ich leider aufhören, ich habe noch etwas vor.« Bevor ihre Mutter nachfragen konnte, was, legte Anke auf. Sie würde früh genug erfahren, welche Rolle ihre Tochter bei der standesamtlichen Trauung ihres Exmannes spielen sollte. Wobei keiner von ihnen ahnte, wie dramatisch diese Rolle aussehen würde.

*

Normalerweise werden in Bad Mergentheim Ehen im Standesamt am Bahnhofsplatz geschlossen, doch für Paare, die etwas Besonderes wünschen, gibt es weitere Optionen. Und, wie hätte es anders sein können: Janette Kubelka und Ralph Perlmann wünschten das Besondere. Die Trauung fand also im Deutschordenschloss statt.

Als Anke durch den Hauptportalbau in den Innenhof trat, sah sie schon ein paar bekannte Gesichter, die in einem kleinen Grüppchen vor dem Eingang des Veranstaltungsbereichs warteten. Unter anderem stand da ihre ehemalige Schwiegermutter, Erika, mit der sie sich zu Zeiten ihrer Ehe eigentlich ganz gut verstanden, nach der Scheidung jedoch kein Wort mehr gewechselt hatte. Daneben erkannte Anke Ralphs ältere Schwester Elke mit Ehepartner und ihnen gegenüber, Anke den Rücken zudrehend, ein schlanker Mann in dunklem Anzug und mit schütteren, blonden Haaren. Etwas abseits stand ihr Exschwiegervater und rauchte. Erika gestikulierte wild, und ihre hohe, heute leicht schrille Stimme schallte durch den Schlosshof. Als sie Anke sah, verstummte sie allerdings und starrte sie mit offenem Mund an. Der Rest der Familie folgte daraufhin ihrem Blick. Der Anzugträger wandte sich langsam um.

»Sven!«, entfuhr es der Standesbeamtin. Sie hatte Ralphs Freund aus Jugendtagen schon ewig nicht mehr gesehen. Sven war seinerzeit einer von Ralphs Anhängern gewesen. Da er besonders klug war, hatte Sven bei Ralph eine bevorzugte Stellung eingenommen. Er half ihm bei den Hausaufgaben und wenn möglich bei den Klassenarbeiten, dafür gehörte der eher unscheinbare Sven dem engeren Kreis seines Idols an und bekam so einen Teil des Ruhmes seines beliebten Freundes ab. Später wurde er außerdem noch zu seinem Fahrer, wenn sie nach Würzburg in die Disco fuhren. Ralph konnte nach Herzenslust dem Alkohol zusprechen und auf der Heimfahrt mit seiner aktuellen Freundin auf dem Rücksitz knutschen, während Sven sie nach Hause brachte. Anke war auch ein paar Mal in den Genuss gekommen, bevor sie und Ralph sich während des Studiums erneut aus den Augen verloren hatten.

Als sie sich später, abermals beim Brötchenholen in der Bäckerei von Ralphs Eltern, wiedertrafen, erfuhr sie, dass die beiden Männer während des Studiums zusammen in einer Wohngemeinschaft gewohnt hatten. Letztendlich hatte Ralph seinen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften dem treuen Sven zu verdanken, wie er Anke einmal erzählt hatte. Besonders dankbar hatte sich Ralph allerdings nicht gezeigt. Anke hatte Sven zum letzten Mal auf ihrer Hochzeit gesehen, danach hatte ihr Frischangetrauter die Dienste des klugen Freundes offenbar nicht mehr benötigt, und jeder war seiner Wege gegangen.

Aber scheinbar hatten die beiden nach der Scheidung ihre Freundschaft wiederbelebt, wenn Sven sogar bei der Trauung eingeladen war. Anke hatte in den Unterlagen gelesen, dass die Zeremonie im engsten Familienkreis stattfinden sollte. Insgesamt waren zwölf Personen angemeldet. Dafür wurden zur späteren Feier angeblich beinahe 100 Gäste erwartet.

»Hallo, Anke, lange nicht gesehen«, begrüßte Sven sie freundlich und schenkte ihr ein schüchternes Lächeln. Hatte er schon immer diese netten Grübchen auf der Wange gehabt?

»Was machst du denn hier?«, zischte ihre Exschwiegermutter und schob den Kumpel ihres Sohns mit dem Ellbogen zur Seite. Ihr Gesicht glich einer reifen Tomate und bildete einen interessanten Kontrast zu dem cremefarbenen Sommerhut. Offensichtlich machte sie einen auf Königinmutter, ging es Anke durch den Sinn. Ihre Tochter, Ralphs ältere Schwester Elke, legte ihr die Hand auf den Arm und funkelte die Standesbeamtin wütend an. Sie und Anke hatten sich noch nie leiden können. Als Ältere war sie stets eifersüchtig auf Ralph gewesen, den Liebling ihrer Eltern, der sich alles erlauben konnte, während von ihr Besonnenheit und Vernunft erwartet wurden. Ihre Missgunst hatte sich auch auf dessen Freundin und späterer Ehefrau erstreckt.

»Arbeiten«, antwortete Anke knapp und versuchte sich an der kleinen Gruppe vorbeizudrängeln.

»Das war so nicht abgemacht!«, keifte die Königinmutter.

»Mein Kollege ist krank«, presste Anke hervor und zupfte nervös an ihrem engen Rockbund. Der schien noch knapper zu sitzen als beim letzten Mal. Ihre Laune sank auf den Gefrierpunkt. »Glaub mir, ich habe mich nicht um diesen Job gerissen«, fauchte sie und setzte nach: »Bringen wir es hinter uns.« Dann steuerte sie auf den Eingang zu den Veranstaltungsräumen zu.

»Bringen wir es hinter uns?«, japste Erika. »Wie redest du von der Trauung meines einzigen Sohnes?« Bei dem Attribut »einzigen« gefror der Gesichtsausdruck ihrer Tochter. Die Männer blickten alle unbeteiligt auf ihre Schuhspitzen. Im Augenwinkel sah Anke, wie die Chefin des neuen Cateringunternehmens mit einer großen Kühlbox den Schlosshof betrat. Ihr folgte eine Angestellte in Spitzenschürze, die einen Korb trug. Dem leisen Klirren nach zu urteilen, befanden sich darin die Sektgläser für den anschließenden Umtrunk.

Der stets hilfsbereite Sven hatte die beiden Frauen ebenfalls bemerkt und eilte hinzu, um ihnen die Tür zu den Veranstaltungsräumen aufzuhalten. Kurz war die Bräutigammutter dadurch abgelenkt und ermöglichte es Anke, den dreien zu folgen.

»Eine Dreistigkeit sondergleichen«, hörte sie ihre ehemalige Schwägerin schimpfen und schnappte das Wort »Beschwerde« auf, bevor sich die Tür wieder hinter ihr schloss.

Sven grinste sie schief an. »Na, das kann ja heiter werden.«

Anke zuckte die Schultern. Sie hätte sich gerne ausführlicher mit dem ehemaligen Schulkameraden unterhalten, aber das war weder der richtige Ort noch der passende Zeitpunkt dafür. Sie begann, sich an dem antiken Schreibtisch einzurichten, um alles für die Trauungszeremonie in Reichweite zu haben. Den Notizen ihres Kollegen hatte sie entnommen, dass das Paar die »lange« Version der standesbeamtlichen Rede wünsche. In den vorbereitenden Gesprächen wurden die Heiratswilligen immer gefragt, ob es eine knappe oder eher die blumigere Ansprache sein solle. Anke hatte, genau wie ihre Kollegen, für beide Varianten einen Text, der jeweils individuell ergänzt wurde. Theoretisch wäre sie also in der Lage, einen hübschen Vortrag zu improvisieren, entschied sich jedoch dagegen. Je schneller der Spuk vorbei war, desto besser, das zukünftige Ehepaar stimmte dieser Programmänderung im vorliegenden Fall sicher zu.

Sie sah auf und begegnete Svens Blick. Sie lächelten sich kurz an, dann straffte Sven die Schultern und wandte sich zum Gehen. »Ich glaube, ich warne Ralph vor.«

»Besser ist das.«

*

Tollkirsche. Die Tollkirsche ist eine in Europa heimische, giftige Pflanzenart mit meist schwarzen, kirschfruchtähnlichen Beerenfrüchten aus der Familie der Nachtschattengewächse. Beim Verzehr bewirkt sie tollwutähnliche Symptome wie allgemeine Erregung, die sich zu starker Euphorie mit Halluzinationen, aber auch Weinkrämpfen steigert. Es herrscht starker Bewegungsdrang bis hin zu Anfällen von Tobsucht. Die Pupillen erweitern sich deutlich. Schließlich tritt der Tod durch Atemlähmung ein.

*

Wenn Blicke töten könnten, dann hätte mein letztes Stündlein geschlagen und die Polizei könnte mindestens zehn Verdächtige festnehmen, ging es Anke durch den Sinn, als Sven in seiner Funktion als Trauzeuge die letzte Unterschrift auf das entsprechende Formular setzte. Die Standesbeamtin musste zugeben, dass das, was sie gerade abgeliefert hatte, keine Glanzleistung gewesen war. Selbst bei ihrer kurzen Ansprache hatte sie sich zweimal verhaspelt und sogar einmal ganz den Faden verloren. Die Tränen in den Augen der Braut waren wohl eher Tränen der Wut statt der Rührung.

Alle Gäste, die sie kannten, ausgenommen Sven, bedachten sie mit giftigen Blicken. Die, die sie nicht kannten, ein jüngeres Paar, wie es aussah Kollegen der Braut, und zwei ältere Herren, entfernte Verwandte oder vielleicht Geschäftsfreunde, mit missbilligenden ob dieser unprofessionellen Darbietung. Nur Oliver Kubelka, der zweite Trauzeuge und Bruder der Braut, wie sie den Unterlagen entnommen hatte, schien sich zu amüsieren. Ohne das Verhältnis zwischen ihr und seinem angehenden Schwager zu kennen, zumindest nahm sie an, dass er es nicht kannte, blickte er neugierig zwischen ihr und ihrem Ex hin und her und zwinkerte ihr verschwörerisch zu, als sie sich zum zweiten Mal versprach, was ihm einen strafenden Blick seiner Schwester einbrachte, die sich genau in diesem Moment zu ihm umgewandt hatte.

Der Einzige, der vergleichsweise emotionslos reagierte, war der Bräutigam selbst. Offenbar hatten die Warnung seines Trauzeugen und, wie der leicht schwankende Gang beim Eintreten zeigte, der mutmaßliche Alkoholkonsum im Vorwege sein Übriges getan. Beim Ja-Wort meinte Anke ein leichtes Lallen auszumachen und jetzt, beim Anstecken des Eherings an den Finger seiner frisch Angetrauten, benötigte er zwei Anläufe. Oliver hielt diesen Moment fotografisch fest.

Endlich war es geschafft, und jeder umarmte jeden, während die Chefin des Cateringunternehmens, Friederike Wittig-Anders, und ihre Mitarbeiterin eintraten, um Sekt und Fingerfood anzubieten.

Oliver zückte erneut seinen Fotoapparat.

»Winzersekt vom Weingut Schlör aus dem lieblichen Taubertal«, bot die nette Servicekraft den Gästen an, während Frau Wittig-Anders erklärte, woraus die köstlichen Häppchen bestanden, die auf ihrem Tablett angerichtet waren: »Das da sind Mini-Grünkernküchle nach einem traditionellen Rezept. Oder wie wäre es mit geräucherter Tauberforelle?«

»Hier.« Sven gesellte sich zu ihr und reichte Anke ein Glas Winzersekt. »Den hast du dir verdient. Auf das junge Glück.«

Anke nahm einen Schluck und folgte seinem Blick. Ihr Ex schien schon ordentlich vorgeglüht zu haben, denn nachdem er sein Getränk hastig hinuntergekippt hatte, lief ihm ein Teil davon übers Kinn. Offenbar klappte es nicht mehr so recht mit dem Schlucken. Das Glas fiel ihm klirrend aus der Hand. Sein Mund öffnete sich mehrmals, und ein weiterer Schwall Flüssigkeit ergoss sich auf sein weißes Hemd. Es sah so aus, als wolle er etwas sagen, doch außer einem Grunzen kam nichts über seine Lippen.

Seiner frischgebackenen Ehefrau war dieser Auftritt scheinbar peinlich. »Reiß dich zusammen«, zischte sie ihm zu.

Die Blicke von Ralphs Mutter schossen derweil wütend zwischen ihm und Anke hin und her, als sei die für den Zustand ihres Sohnes verantwortlich. Seine Schwester und ihr Mann tauschten einen vielsagenden Blick.

Der Bruder der Braut, der die Szene durch die Linse seines Fotoapparats betrachtete, machte den Anschein, als käme ihm das Verhalten seines neuen Schwagers langsam beunruhigend vor. Er legte die Kamera ab und fasste den japsend nach Luft ringenden Ralph am Arm, bevor dessen Beine ihren Dienst versagten und er ihm wie ein nasser Sack im Arm hing.

Sven sprang hinzu, um zu helfen. Anke konnte das Gesicht ihres Exmannes in diesem Moment nicht sehen, aber sein Röcheln klang beängstigend.

»Wir brauchen einen Arzt! Schnell!«, rief einer der beiden Männer, die den inzwischen leblos in ihren Armen hängenden Mann vorsichtig auf den Boden legten.

Der Vater des Bräutigams sprach bereits hektisch in sein Handy. Seine Frau kreischte hysterisch, die Braut schluchzte laut auf. Anke fiel ein, dass sie Ärztin war – ihre Freundin Katja, die im Labor des Caritas-Krankenhauses arbeitete, hatte etwas in der Art erwähnt –, doch davon war in diesem Augenblick nichts zu merken.

Sven begann mit einer Herzmassage, Ralphs Schwager versuchte sich an Mund-zu-Mund-Beatmung. Die Augen des Frischvermählten waren weit aufgerissen aus ihren Höhlen getreten, und er atmete ganz offensichtlich nicht mehr selbstständig.

»Er stirbt!«, heulte die junge Serviererin fassungslos.

Erschöpft ließen die beiden Männer nach ein paar Minuten von dem leblosen Körper ab. »Er ist tot«, murmelte sein Schwager und schloss ihm die Augen.

Die Braut fiel in Ohnmacht.

*

Die beiden Sanitäter und der Notarzt hatten alle Hände voll zu tun. Zwar war für den Bräutigam jede Hilfe zu spät gekommen, aber neben der Braut galt es die Mutter des Toten und die Chefin des Cateringunternehmens medizinisch zu versorgen. Letztere hatte mit einem Heulkrampf auf den Exitus ihres Kunden reagiert und wimmerte nun leise vor sich hin, während der Arzt ihr gerade eine Beruhigungsspritze gab.

Die beiden herbeigerufenen Polizeibeamten hatten Verstärkung aus Heilbronn angefordert und bemühten sich, die Festgesellschaft vom mutmaßlichen Tatort weg und ins nebenan befindliche Polizeirevier zu bugsieren. »Bitte nichts mehr berühren«, ordnete der jüngere der zwei Uniformierten an.

»Sie hat meinen Sohn auf dem Gewissen!«, kreischte Erika Perlmann und versuchte sich dem Sanitäter zu entwinden, der ihr gerade fürsorglich eine Decke um die Schultern legen wollte. »Ich habe es gleich gewusst, als ich sie vorher kommen sah: Das nimmt kein gutes Ende! Sie hat ihn umgebracht!«

Der Pfleger hatte Mühe, sie davon abzuhalten, sich auf Anke zu stürzen. »Beruhigen Sie sich doch.«

»Bitte folgen Sie uns aufs Revier«, forderte einer der beiden Polizisten zum wiederholten Mal und trieb sie aus dem Raum.

Im Hinausgehen schnappte sich Oliver eine halb volle Sektflasche von einem der Stehtische im Vorraum und warf der Standesbeamtin einen vielsagenden Blick zu. »Hier nehmen Sie einen Schluck«, bot er ihr an, »Sie sehen aus, als könnten Sie es gebrauchen.«

»Kein Alkohol ist auch keine Lösung.« Sven schloss zu ihnen auf und schwenkte seinerseits eine Flasche Schaumwein. »Prost!« Damit nahm er einen tiefen Schluck Pinot Rosé Brut. »Wäre doch schade um den guten Tropfen, und einen Alkoholtest werden sie schon nicht von uns verlangen«, meinte er.

Jeder verarbeitete den Schock halt auf seine Weise.

*

Anke trank den Espresso aus und sah ihre Freundinnen aus trüben Augen an. »Zum Glück ist morgen Sonntag.«

Silke warf den blonden Pferdeschwanz zurück. »Trinkst du immer so viel bei deinen Trauungen?«, stichelte sie.

»Nur wenn dabei jemand umgebracht wird«, konterte Anke. »Olli hat die Bestände aus dem Lieferwagen des Party-Services geplündert.«

»Olli?« Silke zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Der Bruder der Braut«, kam es zurück, »Gläser hat er auch organisiert, wir mussten ja so lange warten.«

»Besonders traurig scheint dieser Olli ja nicht über den Tod seines Schwagers gewesen zu sein«, wunderte sich ihre Freundin.

Die Standesbeamtin zuckte die Schultern. »Jeder verarbeitet das halt auf seine Weise. Und Sven hat auch ganz gut mitgehalten.«

»Sven? Sven Gabriel aus der Oberstufe?«, wurde Bettina nun hellhörig, »den habe ich ja ewig nicht gesehen.«

»Seit Ankes Hochzeit«, wusste Silke.

Anke nickte heftig und fasste sich gleich darauf stöhnend an den Kopf.

»Mädels, wir sollten was zu essen bestellen«, schlug die praktisch veranlagte Katja vor. Schon in ihrer Jugendzeit war sie die Besonnene gewesen, die den anderen dreien durch ihre Umsicht so manches Mal den Hintern gerettet hatte. Katja hatte immer die Hausaufgaben parat, auch wenn keiner wusste, wann sie die erledigt hatte, denn sie fehlte bei keiner Unternehmung. Jetzt schob sie den Freundinnen die Speisekarte hin.

Bettina winkte dem Kellner und deutete auf die leere Tasse vor Anke. »Noch einen.«

Nachdem sich Anke erst am späten Nachmittag und reichlich angeschlagen bei ihren Schulfreundinnen gemeldet hatte, war die für den Abend geplante Reservierung in der Weinstube Schurk in Markelsheim ob Ankes desolaten Zustands auf den kommenden Abend verschoben worden, und die vier waren wieder im Cortina gelandet. Sehr zur Freude von Francesco, dem italienischen Kellner, der am Vorabend wohl ein Auge auf Bettina geworfen hatte. Die schlanke Frau mit den dunkelbraunen Augen und der modischen Kurzhaarfrisur hatte schon immer eine außergewöhnliche Wirkung aufs andere Geschlecht gehabt. Mit einem strahlenden Lächeln stellte Francesco die georderte Kaffeespezialität vor seiner Angebeteten ab. »Prego.«

Anke zog die Tasse zu sich heran. »Ich nehm die Pizza Caprese«, teilte sie ihm mit.

»Für mich Calzone«, schloss sich Silke an.

»Spaghetti mit Tomatensoße«, bestellte Katja.

Der Kellner nickte und ließ Bettina nicht aus den Augen.

»Arrabiata«, hauchte die, und der junge Mann bekam rote Ohren.

Katja räusperte sich. Anke kicherte. Endlich besann Francesco sich auf seine Aufgabe und eilte mit einem weiteren »Prego!« davon.

»Ist er wirklich umgebracht worden?«, wollte Bettina von Anke wissen.

»Immerhin ist die Mordkommission aus Heilbronn angerückt. Und so, wie der aussah … Ein natürlicher Tod war das nicht.«

In und zum Teil vor der Tür des Polizeireviers hatten die Zeugen gestanden, allesamt Gäste der Trauung, die ausgerechnet für den Bräutigam tödlich geendet hatte. Die Kollegen vor Ort hatten nichts falsch machen wollen und deshalb die ganze Gesellschaft dabehalten. Leider war an eine ordentliche Vernehmung dieser Beobachter trotzdem nicht zu denken. Einige der Gäste waren von den herbeigerufenen Sanitätern ruhiggestellt worden, andere hatten sich selbst offenbar mit Alkohol betäubt. Sie hatte daher mit jedem Einzelnen einen Termin für den morgigen Sonntag vereinbart, was ob des angeschlagenen Zustands eines Großteils der Anwesenden schon lange genug gedauert hatte. Sie seufzte, das ging also gut los …

*

Ein Stockwerk über ihr stand Oliver Kubelka ebenfalls am Fenster. Den Tag hatte sich der 31-Jährige natürlich anders vorgestellt.

Er war gestern anlässlich der Hochzeit seiner Schwester angereist und hatte sich zentral eingemietet. Bei Janette und ihrem zukünftigen, inzwischen frisch angetrauten und nun verstorbenen Gatten hatte er nicht wohnen wollen, denn das Verhältnis zu Ralph Perlmann war, vorsichtig ausgedrückt, angespannt. Wäre er nicht der einzige lebende Verwandte der Braut gewesen – ihre Eltern waren vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen –, hätte er dieses Event abgesagt, doch das hatte er seiner Schwester nicht antun wollen. Er hatte es ihr dann auch nicht abschlagen können, ihr Trauzeuge zu sein.

Er würde das Beste aus seinem Besuch der baden-württembergischen Kleinstadt machen, das hatte er sich vorgenommen. Und der erste Eindruck hatte ihn tatsächlich versöhnt. Als er ankam, schien die Sonne, und er erfuhr von der netten Dame an der Hotelrezeption, dass das Taubertal für sein schönes Wetter bekannt sei. »Bei uns ist es immer ein bisschen wärmer als im durchschnittlichen Deutschland«, behauptete die junge Frau, »und es regnet auch weniger als in anderen Gebieten. Sehr zum Leidwesen mancher Landwirte oder der Weinbauern«, ergänzte sie, »aber die Touristen freuen sich.«

Und für eine Hochzeit ist es ideal, hatte er gedacht und doch tatsächlich so etwas wie Vorfreude auf den heutigen Tag verspürt. Mit seinem Schwager hatte er nur das Nötigste gesprochen und sich sogar überreden lassen, vor der Trauung ein paar Fotos von dem glücklichen Paar im Schlosspark zu machen. Den Chip mit den Fotos hatte nun die Polizei. Janette lag hinter ihm auf dem Bett seines Hotelzimmers, war vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln und starrte blicklos vor sich hin. In diesem Zustand hatte er sie nicht nach Hause schicken wollen. »Wir müssen seine Eltern informieren«, murmelte sie gerade tonlos.

Oliver wandte sich um und atmete tief durch. »Schätzchen, die waren dabei. Sie wissen Bescheid.«

Sie richtete sich halb auf. »Oh mein Gott! Wie haben sie reagiert?«

Seine Mutter hat einen Tobsuchtsanfall bekommen und Ralphs Ex beschuldigt, ihn umgebracht zu haben. Wir konnten gerade noch verhindern, dass sie auf sie losgegangen ist. Der Vater hatte dagegen beinahe teilnahmslos gewirkt und schien nichts Wichtigeres zu tun zu haben, als wegen des Auftrags für eine Torte zu telefonieren, dachte Oliver. Gut, vielleicht war das seine Art, mit dem Schock fertig zu werden. Er machte einen Schritt auf Janette zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Gefasst«, äußerte er dann laut. »Sie haben gefasst reagiert.«

Janette sackte unter seiner Berührung zusammen. »Was wird jetzt aus mir?«, flüsterte sie.

»Ruh dich erst mal aus«, antwortete er unbeholfen. »Morgen sehen wir weiter.« Er streichelte ihr über den Rücken. Was sollte er anderes sagen. Janette war eine gestandene Frau. Sie arbeitete seit Kurzem im örtlichen Krankenhaus als Assistenzärztin. Zwar bestand ihr Bekanntenkreis vermutlich nur aus den Freunden Ralphs, doch das würde schon werden. Und wenn nicht, konnte sie vielleicht sogar zurück nach Hannover gehen. Er nahm an, dass sie sich noch in der Probezeit befand. Glücklicherweise entspannte sich Janette unter seiner Berührung und sank zurück in die Kissen. Einen Moment betrachtete er ihr blasses Gesicht, das trotz der Make-up-Schlieren hübsch aussah. Er strich ihr eine Strähne ihres dunkelblonden Haares aus der Stirn. »Das wird schon«, murmelte er.

Sein Magen knurrte. Ob er sie einen Moment alleine lassen konnte, um irgendwo etwas zu essen? Immerhin hatte er seit dem Frühstück nichts mehr zwischen die Zähne bekommen, wenn man mal von den Häppchen auf der Trauung absah, aber da hatte er nur eines gehabt. Nach Ralphs Ableben war ihnen allen der Appetit vergangen. Man wusste schließlich nicht, was dessen Zustand ausgelöst hatte. Wobei, dem Sekt hatten er, Anke, die nette Standesbeamtin und Sven, der linkische Kumpel von Ralph, ohne Bedenken zugesprochen. Er und Sven hatten Anke ganz schön abgefüllt. Aber zum einen schmeckte der Sekt sehr lecker und zum anderen hatten sie das einfach gebraucht.

Und jetzt brauchte er dringend etwas zu essen.

*

Morphin. Morphin ist das Hauptalkaloid von Opium und gleichzeitig die Stammsubstanz von Heroin. Heroin wird aus der Mohnpflanze gewonnen. Die Hauptgefahr bei Überdosierung ist die Dämpfung des Atemzentrums, die zu Bewusstlosigkeit und schließlich zum Atemstillstand führen kann. Die Vergabe kann oral oder intravenös erfolgen. Der Stoff wird bei Aufnahme über den Mund allerdings nicht vollständig ins Blut aufgenommen.