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Das Buch

Nichts kann Angela und Ska trennen … doch das Schattenreich formiert sich neu – mächtiger und grausamer als je zuvor – Romantasy mit Herzklopfen

Angela und Ska sind glücklich miteinander, bis neue Turbulenzen ihr Leben und das ihrer Freunde überschatten. Denn das Schattenreich hat einen Weg gefunden, sich neu zu gebären. Bei einem Angriff werden Angela und Ska schwer verletzt. Die rabenähnlichen Seelenbegleiter versuchen, ihre Seelen für ihre Zwecke zu missbrauchen. Als Ska sich plötzlich auf die Schattenseite schlägt, wird Angela selbst zur Seelenbegleiterin der Krähen, um das Lichterreich und damit die Erde vor dem Bösen zu retten.

Die Autorin

© privat

Nadine Stenglein lebt mit ihrer Familie in Bayern. Schon als Kind liebte sie es, sich Geschichten auszudenken und diese niederzuschreiben. In ihren Romanen verarbeitet die Autorin auch gerne Beobachtungen und Szenen, die aus dem Leben gegriffen sind. Auch auf ernste Themen aufmerksam zu machen, nicht wegzusehen, ist ihr wichtig. Schreiben ist für die junge Autorin pure Leidenschaft.

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www.instagram.com/nadinestengleinautorin

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Viel Spaß beim Lesen!

Nadine Stenglein

Dark Crows
Die Wiedergeburt

 

Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch
Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch
Gewalten, weder Gegenwärtiges noch
Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch
keine andere Kreatur kann uns scheiden von der
Liebe Gottes
Römer 8,38-39

Prolog

Mit ihrem pechschwarzen Gefieder, die Federn spitz wie stählerne Klingen, zerschnitten sie den Himmel, während hinter einem riesigen Gebirge die untergehende Sonne am Horizont zerfloss und das Meer küsste. Es machte den Anschein, als würde sie bluten, so rot verfärbte sich die glitzernde Wasseroberfläche nach ihrer Berührung.

Mit nackten Füßen und nichts weiter als einem dünnen Kleid am Leib, stand ich am Rand eines Felsens und sah den Raben nach, die am Horizont verschwanden.

Ehrfürchtig schweifte mein Blick den dunklen Abgrund hinab, an dessen Fuße sich ein düsteres Tal zusammenkauerte. Umrandet wurde es von schwarzen mächtigen Granitbergen. Ihr Funkeln erinnerte mich an die Augen der Raben und ein mulmiges Gefühl überkam mich, denn in mir schlummerte die Ahnung, dass die Seelenbegleiter des Schattenreichs es geschafft hatten, sich neu zu formieren.

Augenblicke später hörte ich ein lang gezogenes Krächzen, das von der Dunkelheit des Tales zu mir getragen wurde und mich wie ein eisiger Wind umhüllte. Das Blut in meinen Adern schien zu Eiskristallen zu gefrieren. Nein. Das durfte nicht sein! Die Vorahnung wurde zur Gewissheit – kein Zweifel mehr -, die Seelenbegleiter Pecados, sie warteten dort im Schatten. Urplötzlich wurde es still, nur mein Herzschlag war noch zu hören.

Verräterisch pulsierte er in mir und verhallte in der hereinbrechenden Dunkelheit.

Einer Statue gleich verweilte ich, wartete, überlegte. Was nun? Ich sah mich um und wünschte, Ska wäre hier. Doch ich war allein … mit ihnen. Ich lauschte in den Abgrund. Vielleicht gab es Hoffnung und ich konnte einen Weg finden, sie zur Vernunft zu bringen. Nach einer Weile jedoch verglomm dieser Hoffnungsfunke an den Bergen, denn ihre Herzen, sie schwiegen. Wie sollte ich sie je erreichen können, wenn nichts außer Kälte ihre Brust und damit auch ihre Seele bewohnte? Plötzlich begann der Felsen unter mir zu bröckeln. Panisch streckte ich die Arme zur Seite, befahl ihnen gleichsam sich zu Krähenflügeln zu wandeln. Das war doch Irrsinn. Ich war keine Seelenbegleiterin. In diesen Sekunden aber wünschte ich, ich wäre eine. Ein eisiger Windhauch streifte meine Wangen und ein Blitz durchfuhr mein Inneres. Erschrocken wirbelte ich herum und … mir stockte der Atem. Mir gegenüber stand Zoe und ihre dunklen Augen sprühten Funken, die sich kleinen Splittern gleich in meine Seele bohrten. Ich wollte etwas zu ihr sagen, sie bitten, nicht wieder Unheil über uns zu bringen, aber meine Füße verloren den Halt und ich rutschte ab. Die Seelenbegleiterin grinste amüsiert, während ich fiel und mit mir die Hoffnung und das Licht, das sich eine kleine Weile über die Welt gelegt hatte.

Eine Feder aus Zoes schwarzen Flügeln folgte mir, während sie mir ein höhnisches Lächeln hinterherschickte. Bevor ich auf dem Boden aufprallte, erwachte ich schweißgebadet in meinem Bett. Keuchend rang ich nach Luft und presste eine Hand auf den Brustkorb. Nur ein Traum, nur ein Traum! Ich ließ den Blick hektisch durch mein Zimmer schweifen. Dass es nur ein Traum war, beruhigte mich wenig, denn meine innere Stimme sagte mir eindringlich, dass er wahr werden könnte.

Rosenblut

Die Wolken des nächsten Tages hissten ihre Segel und mir war, als würden sie mich mitziehen wollen. Ihre Weichheit war verführerisch und je intensiver ich sie betrachtete, desto mehr fesselten sie mich. Ich tauchte meinen Blick in das blaue Meer, das sie umgab, während ein sanfter Wind meinen Körper streichelte. Dabei kreuzte ich die Arme vor der Brust und rieb mir die nackten Oberarme mit beiden Händen. In den letzten fünf Minuten war es deutlich frischer geworden. Ein Schatten überzog mein Gesicht. Ich sah nach oben und lächelte.

„Ska“, flüsterte ich und setzte mich auf. Er ging neben mir in die Hocke und reichte mir meine Strickjacke. Irgendwie wusste er immer, was ich oder wann ich etwas brauchte. Manchmal kam mir das geradezu gespenstisch vor. Schnell zog ich mir die Jacke über und murmelte ein „Danke“. Dann legte ich mich wieder zurück und wartete, dass er sich zu mir gesellen würde.

„Überlege dir gut, welchen Namen du für mich wählst, Angel.“

„Das tue ich“, gab ich zurück und lächelte. Doch er blieb ernst.

„Wenn du mich Tim nennen würdest, wäre mir das lieber. Aber okay. Solange wir nicht unter Menschen sind, die nichts von unserem kleinen Geheimnis wissen … Sie könnten Fragen stellen. Ich weiß ja, du kannst dich zwischen Ska und Tim nicht entscheiden“, erwiderte er lächelnd, beugte sich zu mir herunter und berührte meine Nasenspitze mit seinen Lippen.

„Zum Glück muss ich mich auch nicht entscheiden. Denn Ska und Tim sind du. Aber ich gelobe Besserung und werde vorsichtiger sein“, versprach ich.

Danach wurde auch ich ernster, denn mir war die Lage durchaus klar. Nur manchmal vergaß ich Raum und Zeit, und zwar wenn Ska beziehungsweise Tim, bei mir war.

Mir war bewusst, dass für Ska mit dem Ablegen des Seelenbegleiter-Daseins nicht nur die Flügel gemeint waren und es ihm alles andere als leichtgefallen war. Nur dieser Name, er hatte sich inzwischen so in mir verfestigt, dass ich ihn hin und wieder aussprach, als wäre er selbstverständlich. Es lag daran, dass ich fühlte, dass er in seinem Herzen nach wie vor immer mehr Ska als Tim war. Ska, der Seelenbegleiter.

Wie aus dem Nichts zauberte Ska plötzlich eine weiße Rose hinter seinem Rücken hervor und reichte sie mir. Ich setzte mich wieder auf.

„Sie ist traumhaft schön, S… Tim. Fast so schön wie die weißen Rosen meines Bäumchens.“ Ihr Duft erinnerte mich an Kirschblüten, gemischt mit Zitronengras. Ich war mächtig stolz auf mein Rosenbäumchen, das ich im Frühjahr an genau jene Stelle gepflanzt hatte, an der früher ein ganz ähnliches stand, welches ich als Kind immer so bewundert hatte. Für mich war es eine Kindheitserinnerung zum Anfassen.

Du bist auch traumhaft schön. Innen wie außen“, bemerkte Ska. Ich liebte es, wenn er mich mit diesem verklärten Blick ansah. Der Wind spielte kurz mit unserem Haar, bevor er nachließ. Mit ihm verschwand die Leichtigkeit, die ich verspürt hatte. Nein! Ich wollte das nicht. Warum mussten die dunklen Gedanken oft in die schönsten Szenen hineinplatzen? Aber sie hatten ihren eigenen Willen, den ich nicht immer kontrollieren konnte. Mir wurde schwer ums Herz. Fast krampfhaft hielt ich mich an Skas Blick fest.

„Ich will nicht fort“, flüsterte ich ihm zu, woraufhin er die Brauen ratlos zusammenzog. Dann rückte er noch ein Stück näher an mich heran. „Das musst du ja auch nicht, Angel. Du bist hier in Sicherheit“, flüsterte er zurück.

Seine Hand suchte meine. Gemeinsam schauten wir in den Himmel.

„Okay. Und wenn wir doch einmal wegmüssten, dann segeln wir nur zusammen“, entgegnete ich. Ein Lächeln umspielte Skas Mundwinkel. Zärtlich senkten sich seine weichen warmen Lippen auf meine und jede Faser in mir elektrisierte und malträtierte mich auf süße Weise. Wie von selbst schlossen sich meine Augen. Jede Sekunde, die Ska bei mir sein durfte, war ein Geschenk des Himmels.

Als ich die Augen wieder öffnete, schwebten drei Krähen über uns hinweg. Ihre Rufe drangen mitten in meine Seele. Ich streckte die Hand, mit der ich die Rose noch immer hielt, nach oben, so als könnte ich die Krähen damit berühren. Dabei bemerkte ich Skas Blick aus dem Augenwinkel. Einen Herzschlag später bohrte sich etwas Spitzes in meinen Zeigefinger. Ich erschrak und gerade, als ich die Hand zurückziehen wollte, fielen zwei Blutstropfen auf meine Lippen. Ich hatte mich an einem Dorn der Rose gestochen.

Sanft entfernte Ska den Dorn und küsste dann zärtlich das Blut von meinen Lippen. Und wie nach dem Traum von gestern Nacht überkam mich ein ungutes Gefühl. Ich konnte mir nicht helfen. Der Stich des Dorns kam mir vor wie ein schlechtes Omen.

„Du denkst an die anderen, nicht wahr? Ich vermisse sie auch“, sagte Ska in die Stille hinein und holte mich damit aus meiner Gedankenwelt.

Weiterhin nachdenklich nickte ich und versuchte dann die Grübeleien wegzuschieben.

Skas Blick drang tief in mich. „Du hast immer noch Sorge, dass das Schattenreich zurückkehren könnte, das kannst du nicht vor mir verbergen. Ich sag es dir noch einmal: die Seelenbegleiter des Lichterreichs werden wachsam bleiben. Sobald auch nur der Hauch eines neuen Sturms in Sicht wäre, würden sie Alarm schlagen.“

Er kannte mich durch und durch. Ich gab ihm recht. Ich wusste, dass auf die Seelenbegleiter des Lichterreichs Verlass war. Doch genauso bewusst war ich mir der Hinterlistigkeit des Schattenreichs. Vor allem wollte Ska mich und wohl auch sich selbst beruhigen.

Seit knapp einem Monat waren unsere Freunde nun weg. Das Höhere Selbst hatte sie an andere Orte beordert, wo sie als Seelenbegleiter dringend gebraucht wurden. Auch wenn wir sie vermissten, wussten wir, dass ihre Aufgabe eine äußerst wichtige war. Sie begleiteten die Seelen Toter ins Licht oder besser gesagt nach Hause. Auf dem Weg dorthin nahmen sie den Seelen nicht nur die Angst vor dem Neuen, sondern gaben ihnen Mut und Kraft, die irdische Welt endgültig loszulassen. Sie waren Teil meiner Familie.

Es kam mir vor, als würde Ska erneut meine Gedanken lesen, denn er flüsterte mir zu: „Irgendwann dürfen wir sie alle wiedersehen. Dort wo es keine Zeit und keinen Hass mehr gibt. Vergiss das nicht, Angel.“

„Ja, stimmt. Das macht es erträglicher. Nur … nun will auch noch Anni gehen“, sagte ich leise.

Er ergriff meine Hand fester und ich tauchte ein in seine Augen, die für mich ein ruhender See waren, der mich wieder einmal auffing.

„Sie will nicht, sie muss. Sie hält es hier nicht mehr aus … der Ort erinnert sie zu sehr an all das, was Jamie durchmachen musste. Sie muss neue Kraft tanken, ein wenig zur Ruhe kommen“, erklärte Ska, was ich selbst schon wusste. Es aus seinem Mund zu hören, machte mir die Sache verständlicher. Trotzdem konnte ich die Traurigkeit darüber nicht abstellen.

„Ich freue mich, dass ihr euch so nah seid“, flüsterte er.

Ska schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und zog mich in eine Umarmung. Langsam dämmerte es und der kalte Abendhauch küsste meine Stirn. Eine kleine Weile später beschlossen Ska und ich ins Haus zu gehen. Wir machten es uns vor dem Kamin gemütlich.

Mein Vater gewöhnte sich inzwischen daran, dass ich nahezu jeden Tag bei Ska, sprich Tim, war, so wie Sonja bei ihm. Die beiden hingen ständig zusammen, was mich nicht störte. Im Gegenteil war ich froh, dass sie sich ihre Liebe eingestanden hatten und nun zusammen waren. Die Liebe zwischen ihnen war echt, so wie die Skas zu mir und umgekehrt. Ich dachte an Mom. Sie hätte sich das gewünscht für uns. Sie fehlte mir nach wie vor, auch wenn ich wusste, dass es ihr gut ging, dort, wo sie war.

Leichter warmer Sommerregen benetzte die Dächer, Straßen und Gärten unserer Kleinstadt am übernächsten Abend. Der Tag war heiß gewesen, die Erde hatte etwas Abkühlung nötig, genau wie ich. Ich genoss die Kühle der perligen Tropfen auf meiner Haut, während ich Richtung Friedhof lief.

Wie gehofft traf ich dort auf Anni. Sie weilte an Jamies Grab.

Langsam ging sie in die Knie und befühlte die feuchte Erde mit ihren Fingern. Ich stellte mich neben sie. Ein Lächeln wanderte über ihre Lippen und der Regen vermischte sich mit ihren Tränen. Es tat mir weh, sie traurig zu sehen.

„Ich weiß, dass er nicht wirklich weg ist“, stammelte sie „aber er fehlt mir dennoch wahnsinnig, Angel.“

Ich ging ebenfalls in die Hocke und lehnte meinen Kopf an ihre Schulter.

„Es geht ihm gut, Anni. So wie Mom und allen anderen. Endlich! Dafür können wir dankbar sein. Aber ja. Sie fehlen. Alle!“

Sie hauchte mir einen Kuss aufs Haar.

„Du wirst mir auch fehlen, Anni“, flüsterte ich. Ich sah sie an und dachte an das erste Mal, als ich ihr begegnet war, und dass ich sie auf Anhieb gemocht hatte. Damals schätzte ich sie um Jahre jünger, als sie war. Sie hatte Psychologie studiert und war Mama eines achtjährigen Sohnes gewesen. Und sie hatte eine der schlimmsten Erfahrungen gemacht, die einer Mutter passieren konnten. Ihr Sohn Jamie wurde vor Jahren umgebracht. Von seinem eigenen Vater, Etienne. Der Fall war nicht nur hier durch die Presse gegangen, aber ich hatte Anni damals lange nicht damit in Verbindung gebracht. Anni sagte mir, dass sie die Presse gebeten hatte, ihre und Jamies Identität geheim zu halten, woran sie sich auch hielten.

Anni wischte sich eine Träne weg. „Du kannst mich jederzeit besuchen, Angel, auch wenn meine neue Wohnung nicht gerade groß ist. Aber die Praxis, in der ich als Psychologin arbeiten werde, ist dort gleich um die Ecke, das ist praktisch. Denk du nun an dein Psychologiestudium. Das ist eine gute Entscheidung, ich bin stolz auf dich.“

Ich lachte leise. „Nun, diese Entscheidung fiel sozusagen vom Himmel, da kann sie ja nur gut sein.“ Ich wurde wieder ernster. „Ich meine … ich glaube immer noch fest daran. Es war eine Eingebung, die mich mitten ins Herz traf. Daher bin ich auch so überzeugt davon. Das erste Semester beginnt schon in ein paar Wochen.“ Und ich war schon jetzt aufgeregt, wenn ich daran dachte. Dad unterstützte meine Entscheidung vollends und auch Sonja fand sie klasse.

Anni lächelte erneut, während mir Tränen in die Augen stiegen. Ich konnte sie nicht zurückhalten und fiel ihr um den Hals. Sanft drückte sie mich an sich.

„Pass auf dich auf“, stammelte ich.

Meine Tränen benetzten ihre Haarspitzen. Langsam löste sie sich von mir und sah mich forschend an.

„Dir liegt doch noch mehr auf dem Herzen. Was ist los?“

Ich senkte den Blick und musste an den Traum denken, der mir bereits die ganze Zeit im Kopf herumspukte oder besser gesagt immer noch. Schon sprach Anni es aus und ich erschrak. „Angela … hattest du letzte Nacht etwa wieder einen Albtraum?“

„Letzte Nacht, nein. Das stimmte auch. Sonjas grässlicher Beruhigungstee war wohl Balsam für meine Seele. Tim und du habt sicher Recht … es ist vorbei. Es ist so viel passiert, die Albträume sind nur Nachbeben. Sie werden irgendwann ganz verschwinden. Sicherlich“, machte ich mir selbst Mut.

Anni legte ihre warmen Hände an meine Wangen und atmete auf. „Genau … es ist vorbei, Angela. Die anderen würden doch mitbekommen, wenn es nicht so wäre. Das Lichterreich ist so stark wie schon lange nicht mehr und es wächst mit jeder Minute, die vergeht. Also … durchatmen. Und wie gesagt … ich bin nicht aus der Welt. Wer weiß, vielleicht könnt ihr ja auch schon bald zu mir fliegen.“

Was meinte sie denn mit fliegen? Ich warf ihr einen verdutzten Blick zu. Hatte ich da etwas verpasst?

„Oh“, sagte sie plötzlich.

„Oh?“, fragte ich.

„Anscheinend hat Ska, ich meine Tim, dir noch nichts gesagt.“

„Was soll Tim mir gesagt haben?“, wollte ich sofort wissen und mein Herz wummerte vor Neugierde.

Gemeinsam erhoben wir uns, da setzte Anni ihren Weg fort. „Vergiss es wieder, Angel“, sagte sie.

So leicht wollte ich sie nicht davonkommen lassen und holte sie ein.

„He, Anni. Was soll ich vergessen? Komm schon, raus mit der Sprache.“

Anni seufzte. „Nein, Angel. Es soll eine Überraschung werden. Ich sage nichts weiter.“

Mein Betteln half nichts, sie blieb stur, bis wir zu Hause waren, wo Ska im Schuppen an einem merkwürdigen Gerät herumwerkelte. Hatte es vielleicht mit der Überraschung zu tun? Anni wurde wieder ernst und presste die Lippen zusammen. Ihre Blicke schweiften durch den Garten. Ich war sicher, dass es ihr genauso schwerfiel loszulassen wie mir.

Ich beschloss, alles zu tun, um die unruhigen Gedanken bezüglich des Schattenreichs aus meinem Kopf zu verbannen und ihnen ewiglich das Zutrittsrecht zu verweigern.

Omen

Nach Annis Abreise versuchte Ska mich mit einem Besuch bei meinem Vater und Sonja abzulenken. Von einer Überraschung erzählte er bis dato immer noch nichts und ich hatte Anni versprochen, nicht nachzubohren und abzuwarten. Sonja und Dad schafften es, meine Laune zu verbessern.

Schon bei unserer Ankunft hörten wir ihr Lachen durch die geöffneten Fenster dringen, was mich sofort an früher erinnerte.

Meine Eltern hatten oft miteinander gealbert. Manchmal kam es mir vor, ich wäre die Erwachsene und sie die Kinder. Ein wohliges Gefühl beschlich mich, denn es tat gut, Dad wieder einmal richtig glücklich zu wissen. Nach Moms Tod war er das kaum mehr gewesen, wir beide nicht.

Der Lautstärke und einem süßlichen Duft nach hielten Sonja und er sich in der Küche auf. Tim und ich eilten zur Verandatür. Wir öffneten sie, traten in die Küche und wollten Sonja und Dad gerade begrüßen, da traf uns eine Ladung Mehl mitten ins Gesicht.

Ich riss den Mund auf. Waren Sonja und Dad irre geworden? Ich atmete Mehlstaub ein. Kurz darauf musste ich husten.

„Oh, tut uns leid!“, riefen Sonja und Dad wie aus einem Mund. Da entdeckte ich neben einem Teigklumpen eine Tüte Mehl und warf Ska einen auffordernden Blick zu. Er nickte mir zu. Gleichzeitig griffen wir nach der Tüte und bestäubten erst Sonja und gleich darauf meinen Vater mit dem weißen Puder.

Ein wahrer Mehlkrieg entfachte und wir lachten um die Wette. Eine tolle Therapie, welche die Traurigkeit über Annis Abreise wenigstens ein wenig lindern konnte. Das hätte ihr gefallen. Selbst das anschließende Putzen machte Spaß, es war ungezwungen und die Gesprächsthemen zwischen uns locker.

Nachdem die Küche wieder im Normalzustand war, brachte ich den letzten Müllsack nach draußen. Die Tonne quoll fast über, ich musste den Inhalt stopfen, damit ich den Sack noch unterbringen würde.

„Na komm schon“, sagte ich, noch immer ein Lächeln auf den Lippen. Ska hatte zu ulkig ausgesehen mit dem weißen Haar. Plötzlich stieg schwarzer Federflaum zwischen den Müllsäcken nach oben und segelte mir direkt vors Gesicht. Vor Schreck wich ich zurück und ließ den Sack fallen. Ein Stich durchfuhr meinen Brustkorb. Ein paar Sekunden stand ich wie versteinert da und stierte auf die Tonne. Was hatte das zu bedeuten? Als sich die Starre in meinem Innern gelöst hatte, wagte ich mich wieder ein Stück näher an die Tonne heran.

Der schwarze Federflaum war keine Einbildung gewesen. Er lag um die Tonne herum verteilt am Boden. Langsam griff ich nach dem oben aufliegenden prall gefüllten Plastikbeutel der Tonne, zog ihn blitzschnell zur Seite und lugte in das Innere des Behälters. Das Bild, welches sich mir zeigte, ließ mich erzittern. Ein Schrei blieb mir in der Kehle stecken.

Auf weiterem Restmüll lag der Tod in pechschwarzem Federkleid, die Augen matt, aber weiterhin stechend. Mein Magen zog sich zusammen und ich schnappte nach Luft, während jemand hinter mich trat, gegen dessen Körper ich stolperte, als ich den Rückzug antreten wollte. Kurz darauf spürte ich einen Atemhauch im Nacken, wirbelte herum und starrte mit weit aufgerissenen Augen in das Gesicht meines Vaters.

„Gott sei Dank! Du bist es nur“, sprudelte es erleichtert aus mir heraus.

„Nur? Na danke. Wen hast du denn erwartet?“, fragte er und zog die Brauen zusammen.

Dazu sagte ich besser nichts, er würde es sowieso nicht verstehen und wieder eindringliche Fragen stellen. Nun aber war ich erst mal an der Reihe. Ohne hinzusehen, zeigte ich Richtung Mülltonne.

„Da drin liegt ein toter Vogel. Weißt du, wie der da reinkam?“, stammelte ich.

Mein Vater schnappte sich die umherliegenden Müllsäcke, steckte sie fest in die Tonne und schloss schnell die Klappe.

„Verdammt, ich hatte es vergessen“, murmelte er.

„Was vergessen?“, fragte ich.

Er wog den Kopf hin und her und verzog einen Mundwinkel. „Es war … mehr oder weniger … ein Unfall gewesen“, erklärte er dann.

Ich verstand nicht. „Ein Unfall?“

Dad nickte, wenn auch zögernd und verschränkte dabei die Arme vor der Brust.

Na ja, der verrückte Vogel hat mich angegriffen, gestern Abend, hinterm Haus. Als wäre er tollwütig oder was weiß ich. Erst hackte er dauernd gegen die Fensterscheiben. Ich bin dann mit dem Besen raus, hab versucht, ihn damit zu verscheuchen. Das ließ er sich nicht gefallen und umkreiste mich daraufhin regelrecht, kam immer näher. Ich schlug mit dem Besen nach ihm, bevor er vielleicht noch auf mich eingehackt hätte. Habe ihn dann am Kopf getroffen. Dabei hat er sich wohl das Genick gebrochen. Du weißt, ich bin kein gewalttätiger Mensch, aber dieser Vogel war wirklich verrückt. Wenn du nun hören willst, dass es mir leidtut … müsste ich lügen“, erzählte Dad. Seine Augen funkelten vor innerem Aufruhr. Kaum hatte er zu Ende berichtet, stießen Ska und Sonja zu uns und wollten wissen, was los war. Mein Vater machte kein Geheimnis daraus und sagte ihnen genau das, was er mir eben gesagt hatte. Mir fiel auf, dass Ska mit jedem Wort angespannter wurde. Er schob mich zur Seite und warf einen Blick in die Tonne, um gleich darauf die Säcke von dem Kadaver zu nehmen.

Ich beobachtete ihn genau, die Augen weiteten sich und seine Gesichtsfarbe nahm immer mehr die des Mehles an. Und da waren sie wieder, die dunklen Gedanken. Mein Herz hämmerte weiter heftig gegen die Rippen. Ich stellte mich dicht hinter ihn und flüsterte: „Ein schlechtes Omen?“

Ska fasste in die Tonne und bewegte den Vogel leicht hin und her. Seine Augen verengten sich, als er noch näher heranging und es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis er mir leise antwortete.

„Ein normaler Rabe … nichts weiter.“ Er atmete durch. „Was auch sonst?“

„Also kein Seelenbegleiter des Schattenreichs?“, hakte ich zur Sicherheit leise nach.

Ska wandte sich zu mir und ergriff meine leicht zittrigen Hände.

„Ich sagte doch, dass es die nicht mehr gibt. Und ich dachte, du …“

„Schon gut“, wiegelte ich ab.

„Deinen Fragen nach aber nicht“, gab er mit einem vorwurfsvollen Unterton zurück.

„Deiner Gesichtsfarbe nach aber auch nicht“, musste ich erwidern.

Ska nickte. „Das ist nur … es kamen einige unschöne Erinnerungen hoch.“

Okay, das war eine plausible Erklärung. Ich lehnte mich an ihn und atmete aus.

„Alles klar, Kinder? Was flüstert ihr da?“, fragte Sonja.

„Ja. Wir haben uns nur erschrocken“, sagte ich.

Ska nahm den Kadaver unterdessen aus der Tonne und hüllte ihn in Zeitungspapier, das er in der nebenstehenden Papiertonne fand.

„Was wird das denn?“, fragte mein Vater.

„Jeder hat ein anständiges Begräbnis verdient“, gab Ska ernst zurück und ging, ohne eine Erwiderung abzuwarten. Mit einem Mal wirkte er so fremd auf mich, was mir erneut Angst machte.

Mein Vater blickte ihm nach und anschließend zu Sonja und mir, das Erstaunen stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Ich ließ Ska ohne Kommentar gehen. Vor meinem inneren Auge zogen Bilder von damals vorbei. Bilder, die Joey in Krähengestalt zeigten und wie er gegen den Ford geknallt war. Mich fröstelte.

Aber Ska behielt recht und ich glaubte nicht, dass er mir dieses Mal etwas verheimlichte, nur um mich zu beruhigen. Bei dem Anblick des toten Vogels war nur alles wieder in ihm hochgekommen. Natürlich gab es noch Raben, allerdings hatten diese nichts mit unserer Geschichte zu tun. Es waren Vögel mit reiner Seele. Also – alles war gut, doch ärgerte es mich, dass die schweren Gedanken wieder ein Schlupfloch in meinen Kopf gefunden hatten.

„Ich war so wütend gestern, dass ich den Vogel auf eine Schaufel gepackt und in die Tonne geworfen hab. Ich gebe Tim ja recht. Ich musste nur wieder an … den Unfall von Emma denken und …“, entschuldigte sich mein Vater und hielt dann inne. Sonja legte eine Hand auf seine Schulter und strich ihm mit der anderen sanft und verständnisvoll über eine Wange, was ihm sichtlich guttat.

„Ist schon gut, Dad. Ich gehe mal nachsehen, wo S… Tim hin ist“, sagte ich, verabschiedete mich und eilte zu ihm nach Hause. Dad gab mir einen Abschiedskuss auf die Stirn mit auf den Weg und Sonja ein warmes Lächeln.

Dem Himmel so nah

Tim bedeckte das offene Grab des Raben mit Erde und steckte ein aus Ästen gebundenes Holzkreuz hinein, als ich bei ihm ankam. Im hinteren Teil des Gartens des ehemaligen Meyer-Anwesens hatte er damals Joeys Krähen-Hülle begraben.

„Bist du meinem Dad böse?“, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf und stierte in den Himmel. Weiße Wattewolken zogen vorüber und verdeckten kurz die Sonne.

„Ihm brannten halt die Sicherungen durch … schon verständlich nach allem, was damals und so geschehen ist.“

Behutsam legte er einen Arm um mich und fügte hinzu: „Aber bitte … glaube es. Okay? Es ist vorbei. Ich bin mir mehr als sicher.“

„Ich weiß“, flüsterte ich und hoffte inständig, mich nicht selbst zu belügen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass er mir einen skeptischen Blick zuwarf.

Ich neckte ihn, indem ich ihn anstupste. Dann küsste ich ihn. Gleich darauf packte er mich und drückte mich schnell, aber sanft auf die Wiese. Ein wenig lächelnd kniete er sich über mich. Seine Augen strahlten mit der Sonne um die Wette, während sein Gesicht sich meinem langsam näherte. Zu langsam!

„Du machst mich wahnsinnig, Angel“, hauchte er.

Du mich erst, dachte ich.

„Das tut mir leid … wirklich“, sagte ich schmunzelnd.

Das glaube ich dir nicht.“ Kaum hatte ich das ausgesprochen, küsste er mich so zärtlich und leidenschaftlich, dass mir schwindlig wurde. Ich schlang meine Arme um seinen Hals. Ehe ich michs versah, wälzten wir uns lachend im Gras und blieben nebeneinander liegen. Dieses Mal gelang es mir tatsächlich, die dunklen Gedanken nicht nur in einer Ecke meines Gehirns zu lassen, sondern sie gleich ganz daraus zu vertreiben, obwohl sie hin und wieder doch gegen die Tür trommelten.

„Ich bin so froh …“, sagte Ska. Mir schien, dass er mehr sagen wollte, und wartete. Doch er ließ den Satz unfertig.

„Froh, dass du diese Entscheidung getroffen hast, hier bei mir zu sein als Mensch, auch wenn du manches vermisst? Wolltest du das gerade sagen?“, fragte ich deshalb.

Wieder hielt er inne und unsere Blicke trafen sich. Mit einer Hand durchfuhr ich sein weiches, von der Sonne erwärmtes Haar.

„Ja. Aber nichts könnte besser sein als das hier, das Leben mit dir, Angel“, bemerkte er, nahm meine Hand und hauchte einen Kuss darauf.

„Danke“, flüsterte ich ihm zu und verlor mich abermals in seinen Augen.

„Ich danke dir … dass es dich gibt in meinem neuen Leben. Ich bin nun wieder der Tim von früher, fast jedenfalls.“

Er lächelte ansatzweise. Noch einmal fuhr ich ihm sanft durchs Haar und hielt mitten in der Bewegung inne. Täuschte ich mich oder war es in den letzten Sekunden einen Tick heller geworden? Vielleicht spielte mir das Sonnenlicht einen Streich.

Was ist?“, fragte Tim.

„Dein Haar. Im Licht der Sonne wirkt es plötzlich heller“, murmelte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Es ist nicht das Sonnenlicht. Das Krähenschwarz verschwindet langsam. Das habe ich auch schon bemerkt. Es ist das letzte Zeichen meines ehemaligen Seelenbegleiter-Daseins.“

Erneut hielten sich unsere Blicke aneinander fest.

„Was vermisst du am meisten daran?“, musste ich ihn fragen.

Er ließ seinen Blick erneut zu den Wolken schweben und zog die Unterlippe durch die Zähne, dann antwortete er:

„Nun ja, es gibt vieles. Aber am meisten … das Fliegen.“

Ich lächelte. „Oh ja, ich erinnere mich“, gab ich stammelnd zurück.

Er senkte den Blick wieder auf mich. „Das Fliegen ist eigentlich wunderbar. Ich habe es schon als Kind total gemocht. Mein Vater hat mich oft mitgenommen. Und es war das Höchste für mich, als ich damals den Flugschein machen durfte. Ich hab ihn auf Anhieb bestanden. Dad war mächtig stolz. Ich fühlte mich wie ein Held.“ Er hob eine Hand gen Himmel und holte damit zu einem Bogen aus. „Dort über den Wolken, Angel, da fühlt man sich unendlich frei. Nein, man ist es und man glaubt, man könne die ganze Welt umarmen. Und als Seelenbegleiter, da war es … da war es noch tausendmal schöner.“

Langsam ließ er die Hand sinken, die ich in meine nahm. Dieses Mal suchte ich seinen Blick, den er kurz darauf erwiderte.

„Mit den Augen der Krähe sieht man alles schärfer, nimmt viel mehr wahr und mit den Flügeln dirigierst du sozusagen den Wind“, erzählte Ska weiter und ich hörte gespannt zu. Es war jedes Mal aufs Neue unglaublich, wenn er von seinem damaligen Dasein sprach. Es kam zudem nicht oft vor und er hielt sich dann immer schnell wieder bedeckt. Es gab nur kleine Einblicke. Ich wusste ja weshalb. Ich sollte mich normal entwickeln, objektiv bleiben. Meiner Meinung nach kein Problem. Ich wusste doch sowieso schon so manches. Aber nun sprudelten seine Gefühle wieder über und ich liebte es, wenn Ska sein Herz auf der Zunge trug. „Und wenn du Seelen begleitest auf ihrem Weg ins Lichterreich, sie unter deinem Herzen und deinen Schwingen trägst, kannst du all das mit ihnen teilen und ihnen die Angst nehmen. Du darfst sie trösten und ihr vergangenes Leben spüren. Du kannst es sogar sehen … vor deinem inneren Auge. Eigentlich ist das alles nicht in Worte zu fassen.“

„Es ist eine wundervolle Vorstellung jedenfalls“, gab ich fasziniert zurück.

Erst jetzt merkte ich, dass ich mich regelrecht an seinen Lippen festgesaugt hatte und meine eigenen ganz trocken geworden waren, weil ich vor Erstaunen den Mund unbemerkt leicht geöffnet hielt.

Hoffend auf Weiteres schwieg ich. Trotz allem, was er mir schon anvertraut hatte, hatte er mir noch nicht viel mehr von früher erzählt und auch nicht von den restlichen Geheimnissen der Seelenbegleiter.
„Entschuldige. Ich habe es mir selbst geschworen und mich wie ein Betrunkener wieder hinreißen lassen aus Euphorie. Ich sollte dir das nicht erzählen. Du weißt sowieso schon zu viel. Wir sollten normal weiterleben, damit du gänzlich zu deinem normalen Leben zurückkehren kannst, du sein kannst. Und mich sieh als den Tim, den du dort gekannt hast. Denn der bin ich nun. Ein Mensch. Nicht mehr und nicht weniger“, sagte er.

Schnell legte ich einen Finger auf seine Lippen. Ich wusste, was er damit meinte.

„Psst. Ich weiß, ich weiß. Und ich bin dem Höheren Selbst, sprich Gott, unendlich dankbar dafür, dass er das ermöglicht hat.“

Als er noch etwas sagen wollte, zog ich mich an ihn und küsste ihn. Wieder rollten wir durch das Gras. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Dann stoppten wir und ich kniete mich über ihn.

„Tim aus Schweden, Ska aus dem Jenseits … ich, Angela, keineswegs immer ein Engelchen, von der Erde, vermutlich aber eine ziemlich Verrückte, liebe dich. Und ich bin gänzlich in mein Leben zurückgekehrt. Ich war ja im Grunde auch nie weg. Ich bleibe immer ich. Versprochen!“

Er ergriff meine Arme und legte mich auf die Seite.

„Okay. Fliege mit mir“, sagte er dann.

Meine Augen weiteten sich.

„Wie … Was?“

In einem Flugzeug. Ich habe den Flugschein noch. Ich habe ihn damals wie meinen Ausweis auch ändern lassen.“

Ich staunte. „Das machten die hier so einfach?“

„Von der himmlischen Behörde sozusagen“, legte er nach und zwinkerte mir zu. So war das also. Der Himmel griff also gern auch mal in die Trickkiste. Gleichzeitig wurde mir klar, was Anni vor ihrer Abreise gemeint hatte. Das also war Skas Überraschung. Gut, Flugangst kannte ich im Grunde nicht. Genaugenommen nicht bis zu jenem Tag, an dem Ska mich gerettet und sich ohne Vorwarnung mit mir in die Lüfte erhoben hatte. Nun löste der Gedanke bei mir Magengrummeln aus. Außerdem erstaunte es mich, dass er anscheinend ernsthaft bereit war, wieder in eine solche Maschine zu steigen.

„Mutig genug, kleine Seele? Und, vertraust du mir?“, fragte er und sah mich schmunzelnd an.

Ich schluckte so unauffällig wie möglich.

„Glaube nicht, dass ich kneife und Angst habe. Ich bin nicht schwach und ja, ich vertraue dir. Das solltest du wissen“, gab ich so selbstsicher wie möglich zurück.

Sein Schmunzeln blieb.

Ein paar Tage später saß ich zusammen mit Tim in einer schneeweißen Cessna. Ich gebe zu, dass ich ein klitzekleines bisschen zitterte, als ich in das Flugzeug stieg, und das Zittern schlimmer wurde, als die Maschine abhob. Den Wolken entgegen. Bevor es losging, hatte ich geglaubt, ein kleines Zögern bei Tim zu bemerken. Ich bewunderte weiterhin seinen Mut, wieder in ein Flugzeug zu steigen, trotz allem, was damals geschehen war. Ich lenkte den Blick durch das Seitenfenster. Unter mir entdeckte ich den See, an dem wir vor einer gefühlten Ewigkeit Leons Geburtstagparty gefeiert hatten. An seiner Oberfläche spiegelten sich schuppenartige Wolken. Ich ertappte mich dabei, dass ich genauer hinsah, als würde ich erwarten, dass etwas aus dem Wasser auftauchte. Nichts dergleichen geschah. Natürlich nicht, Angel! Was erwartete ich denn? Seelenlichter, Raben? Lass die Gedanken draußen, Angel, ermahnte ich mich und schüttelte über mich selbst den Kopf.

Unweit des Sees ruhte der Felsen mit der Höhle, in der ich damals aufgewacht war und nicht weit davon entfernt erstreckte sich die Wiese, auf die Zoe mich geführt oder genaugenommen entführt hatte.

Plötzlich drehte Ska eine Schleife, als wollte er uns schnell von hier wegbringen. Nur ein paar Sekunden später überflogen wir eine Waldreihe und große Rapsfelder. Mein Bauch kribbelte, als säße darin eine ganze Ameisenarmee. Es war wie ein Rausch, der alle Nervosität und Ängste überstieg.

„Gefällt es dir?“, fragte Ska und seine Stimme klang durch das Headset ganz anders.

„Ja, es ist … der Wahnsinn!“, rief ich.

Ska lachte und ich tat es ihm gleich.

„Ich bin so stolz auf dich“, sagte ich noch, was er nicht kommentierte.

Eine Dreiviertelstunde später näherten wir uns wieder unserer Kleinstadt. Der Flugplatz lag etwas außerhalb. Vom Himmel aus sah alles auf der Erde Liegende unwirklich sauber und klein aus und erinnerte mich an eine Playmobillandschaft.

Mein Bauch flirrte beim Landeanflug. Ich fragte mich, ob Tim auch an früher dachte. An den tödlichen Unfall, bei dem er und seine Eltern ums Leben gekommen waren. Denn er schwieg seit unserem Small Talk vorhin. Selbst nachdem wir wieder Boden unter den Füßen hatten, sagte er nicht viel. In den Augen lag jedoch ein Leuchten und ein kaum wahrnehmbares Zucken umspielte seine Mundwinkel. Als wir ausgestiegen waren, kam uns ein junger Mann entgegen und rief: „Das war klasse! Du kannst das Baby jederzeit wieder in die Lüfte heben, Tim.“

Er klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Auf jeden Fall“, entgegnete dieser und klatschte mit ihm ab.

Der junge Mann hieß Max und war Fluglehrer hier. Ich kannte ihn nur vom Sehen. Tim, so wollte ich ihn fortan nur noch nennen, hatte mir Max vor dem Flug vorgestellt. Er zwinkerte mir zu und lächelte leicht schief.

„Deine Freundin ist bleich um die Nase“, fand er.

Ich lächelte schief zurück. „Bei mir ist alles prima.“

Aber auch Tim sah mich prüfend an.

„Wirklich“, ergänzte ich, verdrehte kurz die Augen und ließ die zwei Helden stehen. Ich war nicht sauer, im Gegenteil. Nur mein Magen meldete sich zurück, er schien mir den Ausflug letztendlich doch ein bisschen übel zu nehmen.

Als Tim zu mir kam, dankte ich ihm für das Erlebnis.

„Und, würdest du dich ein zweites Mal trauen?“, wollte er wissen.

Ich fasste mir an den Bauch und zog die Brauen leicht zusammen.

„Der Ameisenarmee da drin ist nur ein bisschen übel geworden nach der Landung. Ansonsten war es im wahrsten Sinne des Wortes himmlisch. Du hast das Baby wirklich gut im Griff gehabt.“

Tim legte merklich stolz einen Arm um mich und ging mit mir über den Flugplatz Richtung Kantine.

„Lass uns einen Kaffee trinken und eine Kleinigkeit essen. Danach geht es dir bestimmt besser“, schlug er vor.

Obwohl ich keinerlei Hunger verspürte, stimmte ich zu. Max stieß mit einer Tasse schwarzem Kaffee zu uns. Er und Tim fachsimpelten, die beiden verstanden sich prima. Schon nach dem ersten Treffen vor ein paar Tagen fand Tim Max sympathisch, wie er mir vorhin erzählt hatte. Die beiden wirkten fast wie Brüder zusammen. Ich biss in meinen Donut mit Erdbeer- und Schokoglasur. Der kleine Kringel und eine Tasse Kaffee schafften es, das flaue Gefühl in meinem Magen zu vertreiben. Ich war gerade fertig damit, da sprang die Tür auf und ein junges Ehepaar mit einem schätzungsweise achtjährigen Jungen, der mich ein bisschen an Jamie erinnerte, kam herein.

Ich lächelte ihm entgegen, was er sofort erwiderte. Seine Mutter, eine schlanke Blondine, wischte ihm den Schokoladenmund mit einem Taschentuch ab. Obwohl das dem Kleinen sichtlich missfiel, ließ er es ohne einen Mucks über sich ergehen.

„Der Kleine, er erinnert …“, sagte ich, hielt jedoch inne, als ich Tims Gesicht bemerkte, das starr auf die Familie gerichtet war, als wären sie Geister. Kannte er sie etwa? Diesen ersten Gedanken verwarf ich gleich wieder, denn seine Augen wurden glasig. Ich war mir sicher, dass ihn diese Familie an seine eigene erinnerte. Die Mutter lächelte ihm zu, doch sein Ausdruck blieb nach außen hin ausdruckslos. Sanft legte ich eine Hand auf seine. Tief einatmend löste er den Blick von der Familie und sah mich an.

„Gehen wir?“, fragte er leise und ich nickte nur.

Wieder zu Hause, machte Tim sich gleich daran, weiter in seinem Schuppen zu werkeln. In letzter Zeit schnitzte er häufig. Die drei Figuren, die er schon fertig hatte, faszinierten mich. Sie waren so fein und sauber gearbeitet, dass ich sie immer berühren musste, wenn ich sie sah. Ihre Oberfläche fühlte sich geschmeidig und glatt an. Von der Form her glichen sie den Seelenbegleitern. Tim hatte ihr Gesicht so deutlich herausgearbeitet, dass es schon fast beängstigend lebendig wirkte.

Sie sind wirklich wunderschön“, sagte ich.

Tim umarmte mich von hinten und stützte sein Kinn auf meiner rechten Schulter ab.

„Danke“, erwiderte er nur.

Ich drehte eine der Figuren vorsichtig in meinen Händen und legte den Kopf in den Nacken, den Tim behutsam küsste. Mein Herz hüpfte vor Aufregung. Und selbst wenn Tims Küsse weich und sanft waren, merkte ich doch, dass er in Gedanken woanders war.

„Willst du darüber reden?“, fragte ich deshalb frei heraus.

Augenblicklich löste er sich von mir, umrundete mich und nahm mir die Figur ab. Vorsichtig stellte er sie in das Regal an der Wand zurück und zeigte mir dann eine, die noch nicht fertig war. „Die Familie vorhin … sie erinnerte mich an damals, an meine eigene. Oft waren meine Eltern und ich an den Wochenenden am Flugplatz. Mein Vater konnte mich von Anfang an für sein Hobby begeistern. Ich war so stolz auf ihn, als er den Flugschein geschafft hatte. In der Schule war das der Hit. Meine Freunde beneideten mich. Aber das war nicht der Grund. Mein Vater zeigte mir, was Freiheit bedeutet und Mut. Er war mein bester Freund und meine Mutter meine beste Freundin. Der Absturz damals …“

Er brach ab, schnappte sich ein Schnitzmesser und setzte es an die Figur an. Dann begann er zu schnitzen. Er arbeitete präzise und schnell. Ich beobachtete ihn und hörte ihm aufmerksam zu. Um ihm zu zeigen, dass ich immer an seiner Seite bleiben würde, wenn er das wollte, und auch die Schattenseiten teilte, rückte ich näher zu ihm.

„Ich sollte dir nicht mehr sagen. Ich breche mein eigenes Gebot …“

„Doch, du solltest. Es ist schlimmer, wenn Ungesagtes zwischen uns steht“, machte ich ihm klar. Nach ein paar Sekunden fuhr er fort.

„Es ging so schnell, Angel. Die Cessna hatte plötzlich einen Motorausfall. Mein Vater, der das Flugzeug flog, sprach uns noch Mut zu. Ich erinnere mich aber an die Schweißperlen auf seiner Stirn, als er sich zu uns umwandte und an dieses Aufblitzen in seinen Augen. Fieberhaft versuchte er, den Motor wieder zum Leben zu erwecken. Aber es war vergebens. Wir stürzten Richtung Erde.“ Er holte tief Luft. „Wenn ich daran denke, dann höre ich den Aufprall, sehe mich Sekunden danach neben dem Wrack stehen, das Feuer fing, sehe die brennenden Körper, unsere Körper. Meine Eltern winkten mir von der anderen Seite aus zu. Sie lächelten, aber es war ein bemühtes Lächeln. Dann, Sekunden später … kamen sie.“

Ich erwiderte: „Du meinst die Seelenbegleiter des Schattenreichs?“

Er nickte und starrte geradeaus, direkt in den Tunnel der Erinnerung.

„Zwei von ihnen waren schneller als die des Lichterreichs, sie haben die Seelen meiner Eltern entführt, während ich von den Seelenbegleitern des Lichterreichs gerettet wurde. Als ich von dem Krieg zwischen Licht und Schatten erfahren hab, da wusste ich, ich musste sie zurückholen. Ich musste und wollte selbst Seelenbegleiter werden.“

Fasziniert und traurig zugleich hing ich an seinen Lippen. Die Bilder, die er dort vor dem inneren Auge sah, mussten schrecklich sein.

„Du konntest sie letztendlich retten. Das war unglaublich mutig, Tim. Du hast so viel durchgestanden“, sagte ich irgendwann flüsternd.

Er sah mich intensiv an. Daraufhin setzte er seine Arbeit fort, nur energischer als vorhin.

„Ich bin da“, sagte ich und lehnte meinen Kopf an seine Schulter.

„Danke, Angel.“

Eine ganze Weile schwiegen wir miteinander und ließen uns von den Gedanken tragen, dann brach ich die Stille mit einer Frage: „Wie ist es? Ich meine … ich weiß, wie es geschieht. Ich habe gesehen, wie die Seele den Körper des Mannes im Krankenhaus verlassen hat. Sie ließ diese Hülle hinter sich.“

„Es ist nicht immer so leicht“, gab er zurück.

Ich runzelte die Stirn. „Nicht?“

„Nein. Manche haben dennoch Angst oder wollen nicht loslassen. Das sind meist diejenige, die das Leben vorschnell verlassen müssen. Es gibt auch welche, die ihren Sinnen nicht trauen. Andere werden regelrecht herausgeschleudert. Bei einem Unfall etwa. Jeder Mensch, jede Seele, ist anders. Ich muss … ich musste bei jeder Einzelnen behutsam sein, sie wachsen einem ans Herz, denn sie sind in diesen Momenten irgendwie wie eigene Kinder.“

Meine Fantasie malte Bilder in rauschenden Farben und Formen. Aber wie war es wirklich? Ich war gierig nach weiteren Einblicken, die mich Tim noch näherbrachten als ohnehin schon.

„Damals durfte ich Adam nicht weiter begleiten. Er schickte mich aus dem Krankenzimmer, nachdem der Mann gestorben war. Ich wüsste aber gern, wie es dann weiterging. Was genau kommt danach?“, bohrte ich vorsichtig weiter. Ich wollte Tims Nerven nicht überstrapazieren.

„Nein. Das genügt jetzt.“

Er stand auf und stellte die unfertige Figur ins Regal zurück.

„Wieso? Ich dachte, das sei nun geklärt?“, widersprach ich.

Ohne sich umzudrehen, antwortete er: „Eigentlich darf keiner der Seelenbegleiter sein Wissen einer sterblichen Seele anvertrauen. Das weißt du inzwischen genauso gut wie ich. Auch wenn ich kein Seelenbegleiter mehr bin, sollte ich mich daran halten. Die Regel ist nicht nur eine Floskel.“ Er stierte auf einen Punkt in der Ferne. „Aber“, sagte er nach einer kleinen Weile, „vielleicht ist es dennoch besser, wenn du manches noch erfährst.“

Warum dachte er das plötzlich? Hatte er doch Angst, das Schattenreich könnte auferstehen. Irgendwie.

„Tut mir leid“, warf ich ein, als ich seine Verzweiflung bemerkte. Als säße er komplett zwischen den Stühlen. Wegen meiner Neugierde, die ich unbedingt zügeln musste. Es würde nicht einfach werden.

„Du weißt sowieso schon zu viel, ein wenig mehr Wissen gebe ich dir noch, aber danach ist Schluss, du Nervensäge“, unterbrach er mich und schmunzelte.

Gespannt hörte ich weiter zu. „Nach der Reise vergessen die Seelen uns wieder, es muss so sein. Das, was du erlebt hast, die Reise ins Jenseits, hatte nichts mit der zu tun, die du eines Tages selbst erleben wirst. Wer weiß, vielleicht entscheidet sich deine Seele irgendwann sogar für das Seelenbegleiter-Dasein. Dann muss das mit reinem Herzen geschehen, die Entscheidung objektiv gefällt werden. Wie gesagt, du weißt eigentlich schon viel zu viel. Hauptsächlich muss es dir darum gehen, dienen zu wollen, den Seelen auf ihrem letzten Weg zur Seite zu stehen. Verstehst du? Ich machte es für meine Eltern, aber auch für die anderen.“

Er wandte sich um und blinzelte. Für eine Sekunde glaubte ich, Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen.

„Ich glaube schon, Tim. Wer weiß, vielleicht entscheide ich mich wirklich irgendwann dafür. Ich, Angela, als Seelenbegleiterin.“

Vielleicht erhoffte er sich das sogar, würde es aber nie aussprechen und ging daher über seine Grenzen.

Mein Kopf war noch immer ein Kinosaal voller magischer Szenen und meine Gedanken die Zuschauer, welche sie gierig aufsogen und zu verarbeiten versuchten, nur gelang mir dies nicht wirklich.

„Schade“, murmelte ich.

Er kam zu mir und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn.

„Was?“, wollte er wissen.

„Diese Regeln … immer gibt es Regeln.“

„Die ich eben teilweise schon gebrochen habe … wegen dir, immer wegen dir. Ich hatte nur Glück, dass mir verziehen wurde.“

Nur eine Frage, die brannte schon seit Wochen in mir. Mehr als alle anderen. Nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich den Mut hatte, sie zu stellen. Danach würde ich die Bohraktivitäten nach weiteren Erkenntnissen über die Seelenbegleiter definitiv einstellen.

„Fühlst du dich manchmal schlecht, weil du es aufgegeben hast … meinetwegen?“

Seine Augen suchten meinen Blick.

ist