Otto W. Bringer

Visionen des
Fritz Piccolo
und der Punkt
über dem i

Hautnah erlebt von
seinem Privatsekretär Justus
und dessen Intimfreund

Zum Verständnis.

Justus ist mein Freund. Auch, und das ist wichtig, Privat-Sekretär des Fritz Piccolo. Der muss ein Tausendsassa sein. Justus erzählte, er habe in den Firmenakten gelesen, dass sein Vater ihn auf Exzellens-Universitäten der ganzen Welt geschickt hat, damit er der Beste aller Piccolos werde. Als Sohn eines Einwanderers habe er sonst keine Chancen. Als er endlich die Deutsche Staatsangehörigkeit besaß, ließ er den Vornamen seines Sohnes Federico in Fritz umschreiben. Justus meinte, er habe dabei den großen Preußenkönig Friedrich II. im Kopf gehabt. Den man im Volk den Alten Fritz nennt. Klein von Gestalt, aber ein großer König. Sein Sohn sollte ihn an Einfallsreichtum übertreffen. Und eines Tages so berühmt werden wie sein Namensvetter.

Fritz selber, nicht auf den Kopf gefallen, studierte nicht nur Physik, Chemie, Biologie in Bologna, auch Romanistik an der Sorbonne in Paris. Theologie in Barcellona und Futurologie am Institut für außerirdische Phänomene in Lausanne. Jetzt ist er der Chef eines großen Unternehmens, das aus Stahlrohr alles nur Denkbare produziert. Die bekanntesten Artikel sind der Taschenschirm «Knirps», der Servierwagen «Dinett», den Beistelltisch «Variett». Außerdem noch Krankenhausbetten, Ladeneinrichtungen. Alle Nase lang ein neues Patent.

Gut, dass Justus das Vertrauen seines Chefs besitzt.

Bei allen Konferenzen dabei, das Resultat der Gespräche aufzuschreiben. Piccolo verlangte von einem der Teilnehmer am Schluss, es auf den Punkt zu bringen. Punkte seien seine Leidenschaft. Das Minimum vom Maximum, seine ständige Formel. Vielleicht kriegt Justus auch heraus, was er für Zukunfts-Pläne hat. Es würde mich sehr interessieren. Jedes noch so Geheimes wäre bei mir gut aufgehoben. Sind wir doch Blutsbrüder. Justus und ich hatten schon mit vierzehn Jahren beschlossen, Blutsbrüder zu werden. Nachdem wir in der Quarta die zweite Fremdsprache Französisch gelernt. Mark Twains Buch «Les Adventures de Tom Sawyers» im Original verschlungen.

So schnell, wie der Daumen der linken Hand das Wörterbuch blättern konnte. Spannende Abenteuer, aber auch dramatische Situationen mit und ohne seinen Jugendfreund Huckleberry Finn erlebt. Bis der von seinem Vater auf eine einsame Insel im Mississippi entführt wurde. Um an dessen Vermögen zu kommen, das ihm eine dankbare Witwe geschenkt. Traurig endete das Buch, als beide auf dem Mississippi aneinander vorbei fuhren, ohne es zu wissen. Huck auf dem Floß, Tom auf einem Dampfer. Sie sahen sich nie mehr wieder. Da haben wir mit einer Rasierklinge eine Vene am Unterarm aufgeschlitzt und das Blut des anderen abgesaugt. Und beschlossen, aufeinander besser aufzupassen als Huck und Tom. Und uns nie zu trennen.

Montag, 4. Februar 1986.

„Justus, holen Sie mir die rote Mappe aus meinem Tresor. Wilhelmstraße 1. Erste Etage links. Dritte Tür rechts. Hier ist der Generalschlüssel. Mit dem kommen Sie ins Haus, die Wohnung, den Tresor und öffnen die Mappe.“ Letzeres sagt er, um Justus, seinen Privatsekretär, auf die Probe zu stellen.

„Zuerst die Null tippen und mit dem Generalschlüssel den Tresor öffnen. Sie wundern sich über meine Geheimnummer? Ganz einfach. Alle Leute zermartern sich das Gehirn, eine möglichst komplizierte Nummernfolge auszudenken. Ich bin, wie Sie wissen, versessen auf einfache Lösungen. Schwören Sie, dass Sie diese Nummer niemandem weitersagen. Die Mappe mir ungeöffnet übergeben. Sonst werden Sie Ihres Lebens nicht mehr froh.“ Winkt mit der Hand – „nun gehen Sie schon, ich muss nachdenken.“

Freund Justus erzählte es mir am selben Abend noch. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Als Blutsbrüder auch geschworen, Dinge, die uns direkt oder indirekt betreffen, niemandem zu verraten. Die rote Mappe, die er aus dem Tresor in der Wohnung des Fritz Piccolo holte, sollte die erste Gelegenheit sein.

Von Justus weiß ich einiges über ihn und seine Firma. Fritz Piccolo ist der Chef eines Unternehmens, in dem seit über hundert Jahren die Familie Piccolo die Mehrheit besitzt. Ehefrau und Kinder Teilhaber. Fertigen nahtlose Rohre aus Stahl aller Durchmesser. Für Gas- und Wasserleitungen in Häusern. Daneben werden Schirme hergestellt. Im regnerischen Rheinland unentbehrliches Requisit. Fritz heißt nicht nur Piccolo. Piccolo, das Kleinste ist seine Passion. Piccolissimo schwärmen Italiener, schmecken sie einen Tropfen reines Olivenöl auf der Zunge. Ein Tröpflein Limone, das fehlt an der Meerbarbe. Hier aber hielte man es für eine Untertreibung.

Für Fritz ist es Maxime: Größtmöglich zu denken, kleinstmöglich zu produzieren. Gedanken auf das substantielle Minimum zurückführen. Und alle Möglichkeinen ausschöpfen. Stahlrohre z. B. auf zwei Millimeter reduzieren. Und solche, die zwei Zehntel Millimeter größer sind im Durchmesser. Damit man die dünneren teleskopartig hindurchschieben kann. Für Konstruktionen, die es bisher nicht gab. Alternativ auch aus chrom-Nickel-Stahl oder Messing.

Fritz Piccolo beschäftigt 3021 Mitarbeiter. Dreitausend wären genug gewesen. Aber die einundzwanzig mussten sein. Mit Einundzwanzig wurde Fritz volljährig und zum stellvertretenden Generaldirektor bestimmt. Vom Aufsichtsrat, der nur aus Mitgliedern der Familie bestand. Über ihm nur ein alter Onkel, der Sohn des Firmengründers im 19. Jahrhundert. Präzise am 13. Februar 1872. Ein Jahr nach der Reichsgründung durch Bismarck. Alle euphorisch ob der Einheit aller Deutschen. Und diese Euphorie wirkte sich aus auf den Unternehmergeist. Eisenhütten entstanden, Stahlwerke, um Gewehre zu produzieren, Kanonen zu gießen. Groß musste alles sein und vaterländisch konnotiert.

Von Justus wusste ich, dass es Piccolo juckte, das Gegenteil zu tun. Kleines, scheinbar Unbedeutendes zu produzieren. Normale Bürger, vor allem Frauen erkannten sofort den Gebrauchswert und kauften. Schenkten es ihren Freunden und waren glücklich wie lange nicht. Schirme gab es schon immer, aber die waren groß und schwer. Klappten bei heftigen Winden nach hinten und man war im Nu bis auf die Haut durchnässt.

Piccolos Schirme waren kleiner, sodass sie in eine normale Damen-Handtasche passten. Nicht viel dicker als ein Stock. Das Gestell stabil und elastisch gleichzeitig. Auf den roten Knopf am Griff gedrückt und schon springt das Schirmdach auf. Diagonale dünne Stahlrohre arretieren und verhindern, dass es umklappt.

Als Fritz Piccolo die Alleinherrschaft übernahm, begann ein neues Zeitalter. Der Onkel tot, Geschwister, Cousins und Cousinen abgefunden. Er installierte eine Abteilung für Forschung und Entwicklung. Ihr Chef ein promovierter Physiker, Chemiker oder Mathematiker, jeweils nacheinander. Nicht lange danach auch einen Philosophen. Dann einen Theologen, in andere Richtungen denken zu lassen. Seine Idee, alles, was Menschen Geist ersinnen und erfinden kann, nacheinander zu testen. Für seine Zwecke zu nutzen, um der Größte zu werden und zu bleiben.

In der ganzen Welt haben Piccolos, also kleine Leute, das Bedürfnis, größer zu sein als sie sind. Fritz keine Ausnahme dieser Regel. Da er aber geradezu fanatisch besessen war, das Äußerste zu wagen, riskierte er das genaue Gegenteil. Dachte groß und produzierte klein. Anders als andere Industriezwerge dachten und Riesen produzierten. Kühlschränke, die die seit Generationen gewohnte Sitzecke in Küchen verdrängten. Fleischmesser, die in keine Schublade mehr passten. Autos in keine Garage, wie in Amerika. Piccolo verzichtete darauf, in der Uniform seines italienischen Großvaters als Vizeadmiral aufzutreten. Sich strecken zu lassen. Neueste Medizintechnik war in der Lage, bis zu 3 % eines menschlichen Körpers zu strecken. Ebenso Überlängen um dieselbe Prozentzahl zu drücken.

Fritz Piccolo wollt klein sein und bleiben. Umso größer zu erscheinen. «Mehr sein als scheinen». Das Motto des Generals Alfred Graf von Schlieffen ist seines. Fühlt sich aber Friedrich II., dem Sohn des Soldatenkönigs Friedrich I. eher verwandt. Weil man ihn den Alten Fritz nannte. Ein Fritz überrascht die Welt, gemäß dem Leitspruch: «Suum cuique». Jedem das Seine, das er auf sich bezog: Mir steht zu, was mir zusteht. Veranstaltete einmal im Jahr wie der Preuße ein Tabakkolleg in einem Schloss. Das erste in Schloss Auel bei Köln. Im Jahr darauf Schloss Hugenpoet nahe der Ruhrmetropole Essen. In der kurfürstlichen Residenz Würzburg, Schloss Herrenchiemsee in Bayern. Im letzten Jahr sogar genehmigte die Verwaltung des Schlosses Sanssouci in Potsdam die Veranstaltung. Lebte Voltaire noch, hätte er ihn eingeladen, mit ihm zu philosophieren. Seitdem nennen ihn die Mitarbeiter «Monsieur Fritz».“

Freund Justus kennt die Firma aus dem ff. Seinen Chef Fritz Piccolo und dessen Gewohnheiten. Sprach aber nie darüber. Schließlich ist er sein Privatsekretär. In viele Geheimnisse eingeweiht, aber kein Alleswisser. Folglich interessiert ihn brennend, was sich in der roten Mappe versteckt. Die rote Mappe in seinen Händen zittert ein wenig: „Wüsste ich zum Beispiel von einer Liebschaft meines Chefs, einem geheimen Geldtransfer, könnte es mir eines Tages vielleicht nutzen. Er aber hat mir verboten, die Tasche zu öffnen. Ich würde meines Lebens nicht mehr froh. Aber es reizt mich, juckt in den Fingern, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Zu wissen, was ich nicht wissen darf.“

Justus weiß, dass auch ich ebenso an deren Inhalt interessiert bin. Weil wir beide Blutsbrüder sind, geschworen haben, nichts zu verraten, könnte er mir doch einen Einblick gewähren. Wahrscheinlich sind es Papiere mit brisanten Themen. Die für Monsieur Piccolo gefährlich werden könnten, kommen sie ans Licht der Öffentlichkeit. Ob es eine Liebschaft, ein geheimer Geldtransfer ist, weiß keiner von uns beiden. Was aber ist wirklich drin? Justus spielt den Gönnerhaften:

„Hör zu, bevor ich die rote Mappe meinem Chef gebe, gestatte ich Dir, einen Blick hineinzuwerfen. Schauen kannst Du, das ein und andere lesen. Damit Du weißt, um was es geht. Und mir weitersagen, solltest Du meinen, ich müsste es wissen. Aber keine Fotokopien machen. Sie könnten entwendet werden und andere, uneingeweihte Dritte den Nutzen daraus ziehen. Sollte Fritz Piccolo davon erfahren, wäre ich meines Lebens nicht mehr froh. Den Job los, verklagt wegen Verrats von Firmengeheimnissen. Zu einer hohen Geldstrafe oder gar mit Gefängnis bestraft. Die Radikale Rechte in der Regierung wollte immer schon das Gesetz ändern, die Todesstrafe wieder einführen. Nachdem die Versöhnungspartei sie vor 12 Jahren aufgehoben hat. Der Polizeioberkommandierende ließ schon eine Kopie der französischen Guillotine von 1789 anfertigen. Angeblich, um sie in Heidelberg auszustellen, Studenten zu warnen. Aber lehr mich Uniformierte kennen. Ich will nicht einen Kopf kürzer gemacht werden. Schwöre, Du wirst mir keine Probleme machen.“

„Ich schwöre! Nun gib mir die rote Mappe, mein Freund, ich kann kaum erwarten, einen Blick hineinzuwerfen.“ Noch hält er sie fest mit beiden Händen. Dieses aufreizend rote Etwas aus festem Leder. Wahrscheinlich muss man nur das Schloss in der Lasche öffnen, sie öffnen und sehen, was drin ist. Der Schlüssel müsste passen, den Justus in der Hand hat.

Ich will sie ihm aus den Händen reißen, doch er hält sie fest. Als hätte er es sich plötzlich anders überlegt: „Immer langsam mit den wilden Pferden. Ich habe sie aus dem Tresor geholt und will riskieren, einen Blick hineinzuwerfen. Nicht, weil ich Dir misstraue, aber als Privatsekretär habe ich das Privileg, als erster das Geheimnis meines Chefs zu lüften. Falls ich es überlebe. Keiner von uns weiß, ob nicht ein Sprengsatz losgeht, steckt man den Schlüssel rein. Oder eine Sirene heult los. Und alle in den Keller stürzen, die den letzten Bombenkrieg noch in den Knochen haben.“

„À propos Krieg fällt mir ein, was sein Intimus, Professor Dr. habil. Psychotherapeuticus mir erzählte. Mich schwören ließ, es niemandem weiterzusagen: Fritz Piccolo hat den Krieg überlebt, weil er nicht Soldat werden musste. Sondern freigestellt, die Produktion von kriegswichtigen Rohren zu sichern. Rohre für Gewehre und Maschinenpistolen. Ein gut bezahlter Kader kümmerte sich darum. Er selber nutzte die Nächte und stieg aufs Dach seiner Firma. Beobachtete feindliche Bomber, wenn sie im Fadenkreuz von zwei oder drei Scheinwerfern hell leuchteten wie Mücken im Licht. Fernes Brummen im Ohr.

Die Vision im Kopf: ihre Bomben schon in der Luft zur Explosion zu bringen. Bevor ihre tödliche Last Häuser in Schutt und Asche legten, tausende Menschen ums Leben kommen. Befahl seinem Cheftechniker Dr. Luftikus, schleunigst einen Teleskopmast aus Stahlrohren zu entwickeln. Die bis zu zweitausend Meter ausgefahren werden können. Und mit elektrischen Impulsen die Bomben in der Luft explodieren lassen. Bevor sie auf der Erde Tod und Zerstörung anrichten. Hermann Göring, Reichsluftfahrtminister, wird begeistert sein. Und die Herstellung aus dem Staatsfond finanzieren.

Angst hatte Monsieur Fritz keine auf dem Dach. Auch nicht, als die ersten Brandbomben das flache Teerdach eines seiner Gebäude entzündeten. Rannte zum Löschzug, fuhr zur Brandstelle, schraubte den Schlauch an die Wasserleitung. Und spritzte, was das Zeug hielt. Der Staat verlieh Fritz Piccolo für seinen beispielgebenden Einsatz an der Heimatfront das Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse. Er soll es vor der Presse heruntergespielt haben: „Lieber allein den Geruch brennender Teerdächer in der Nase als im Gedränge eines Luftschutzkellers ersticken.“ Den Orden ließ er auf dem nächsten Betriebsfest als Rarität versteigern. Den Erlös spendete er Mitarbeiterinnen, deren Männer an der Front ihr Leben lassen mussten. “

Sein Chef scheint ein toller Hecht zu sein. Justus: Der Krieg zum Glück über zwei Jahrzehnte vorbei. Aber Bomben oder Raketen in der Luft zur Explosion zu bringen hilft heute wie gestern, Tote auf der Erde zu vermeiden. Man könnte sie im Golfkrieg einsetzen. Oder Ronald Reagan verkaufen, dem amerikanischen Präsidenten, und hundert Millionen Dollar kassieren. „Hör mal Justus, vielleicht ist die Formel für diese Konstruktion in der roten Mappe. Mach sie schon auf, damit wir wissen, was drin ist. Schüttele sie mal kräftig, sonst mach ich es. Eine Bombe kann man hören, auch wenn sie nicht explodiert.“

Justus zögert. Reiße ihm die rote Mappe aus den Händen. Schüttele sie mit aller Gewalt, rechts, links, rauf und runter. Werfe sie auf den Boden: Nichts rührt sich. „Gib mir den Schlüssel.“ Hinein gesteckt und umgedreht. Warte eine Sekunde. Keine Sirene heult. Lege die Lasche um, will die Mappe aufschlagen. Dieses lederne, rote Etwas, das jetzt bald sein Geheimnis offenbaren wird.

Aber es geht nicht. Erblicke an zwei Seiten einen Reißverschluss mit einem Zipp. Ritsch, ratsch und aufgeklappt. Ein Umschlag zeigt sich, in einem tieferen Rot als die äußere Mappe. Nichts sonst. DIN C 4 groß. Kein Hinweis, kein Faden der Ariadne, an dem ich mich entlang hangeln könnte. Das heiß ersehnte Unikum zu erblicken.

Öffne den Umschlag, er ist zum Glück nicht zugeklebt. Finde wieder einen Umschlag, der mich brombeerrot anlacht. Obwohl er kleiner ist, geschätzt DIN B 5. Lauter Rotes, als hätte Rot eine große Bedeutung. Für Monsieur Fritz, Berater und Mitarbeiter . Mitarbeiterinnen hatte er nicht wenige, sogar in der Fertigung, erzählte Justus. Alles war automatisiert bei Monsieur. Die Arbeit leicht, sie von Frauen erledigen zu lassen. Nannte sie «Mes chère Madames» hielt er eine Ansprache. Mit einer Pariserin glücklich verheiratet und trotzdem oder gerade deswegen liebte er Frauen. Schenkte jeder Arbeiterin eine rote Rose an ihrem Geburtstag. Interne Kommunikation war ihm ebenso wichtig wie externe. Rot also des Rätsels Lösung? Rot für Liebe?

Meine Neugier steigert sich, während Justus gelassen zuschaut. Beruhigt offensichtlich, dass nichts explodierte, keine Sirene aufheulte, um nie mehr aufzuhören.

Fingere aus dem brombeerroten einen weiteren, wiederum kleineren Umschlag heraus. Schätze DIN C 6. Farbe nicht schwer zu erraten: Erdbeerrot. Warmes, leckeres Rot zum Reinbeißen. Ob es der Letzte Hüter des Geheimnisses ist? Lüpfe die Klappe, schau hinein und siehe da: wieder ein Umschlag. So winzig, dass DIN keine Norm dafür fand, ihn in die Reihe zu bringen. Ob Fritz ihn selber gebastelt hat? Zuzutrauen wäre es ihm. Leuchtet so hell und so rein wie das Rot auf Martin Schongauers «Maria im Rosenhag» in Colmar. Müsste eine Pinzette nehmen, den winzigen Umschlag aufzuschlagen. Zu sehen, was drin ist oder nicht. „Justus, bin gleich wieder da.“

Leih mir von Friseur Fritz um die Ecke eine Pinzette.

Komisch alle netten Leute heißen Fritz. Frauen Friederike, wie meine Cousine. Ich wollte sie heiraten, weil sie mich geküsst an meinem vierzehnten Geburtstag. Statt irgend so ein blödes Jugendbuch zu schenken. „Bring mir die Pinzette gleich zurück,“ ruft mir der Friseur nach. Es könnte ein Kunde kommen, dem ich Härchen aus der Nase zupfen muss.“

„So, da bin ich wieder.“ Justus gibt mir den letzten Umschlag zurück, den kleinsten von vier bisher. Seine Augen blicken mich spöttisch an, als wollte er seine Neugier kaschieren. Bin sicher, er ist gespannt wie ich auf den Inhalt des letzten Umschlages. Was ein Haar aus Nasenlöchern reißen kann, wird auch aus einem winzigen Umschlag das entscheidende Stück Papier holen, und sei es noch so klein. Die Frage aller Fragen eine Antwort bekommen. Rot muss sie sein, sonst hätte der ganze Zirkus keinen Sinn gehabt.

Wäre Pinzette eine Angel, hätte sie bald den Fisch am Haken. Der Neugier für Futter gehalten und schon sein Leben ausgehaucht. Wir aber wollen nichts Totes. Rotes suchen wir. In so vielen roten Hüllen kann nur Rotes zu finden sein. Letzten Endes. Doch das Ende ist kein Ende. Immer noch etwas viereckiges rotes, das wir öffnen müssen, um zu wissen. Winziger als alles bisher. Nicht größer als eine Briefmarke.

Mein Gott, wie schwer ist es, an Wissen zu gelangen. Fast so schwer wie zu behalten, was man weiß. Wer die Weisheit erfunden hat, sollte sie für sich behalten. Und nicht anderen zumuten, die keine Geduld aufbringen. Frage nach Frage, nach Frage stellen, aber keine Antwort bekommen. Zornig und wütend auf alles, was denken kann.

Auf den sechs Quadratzentimetern kein Porträt von irgendwem, wie bei Briefmarken. Kein Bauwerk von Weltruhm. Keines mit Früchten oder Automobil-Klassikern. Schlichtweg nur ein roter Punkt. Dick. Rot. Und rund.

Rot gemixt aus allen Rottönen der Palette. Das ideale Rot sozusagen. Rot international. Red international. Rouge international. Rosso internazionale. Rojo internacional.

Halte die Marke zwischen Daumen und Zeigefinger. Fühle sie dicker als Briefmarken sonst. Doppelt gefaltetes Papier zusammengeklebt zu einem, wie es scheint. „Moment, hole mir eine Rasierklinge.“ Die Marke zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand, die Klinge in der rechten. Auch von Daumen und Zeigefinger festgehalten. Nichts darf schief gehen. Statt das Papier zu spalten, den linken Zeigefinger um seine Kuppe bringen.

Just in diesem Augenblick wird mir klar, alles wirklich Wichtige erledigt man mit zwei Fingern: Die Nadel, den Faden durchs Öhr zu fädeln. Gelingt es nicht, der Mantel ohne Knopf kein Schutzmantel mehr. Wie eine Hand keine Hand mehr ist, wenn zwei Finger fehlen, Klavier zu spielen. Oder bis fünf zu zählen. Mon Dieu, welch Gedankenspiel. Achtung, jetzt die Klinge angesetzt.

Nie bisher hatte ich eine so diffizile Aufgabe vor mir. Nie vorher war Schärfe so eminent wichtig wie jetzt. Nie war ich so aufgeregt, dass meine Hand zittert. „Ruhig bleiben!“ befehle ich mir. Stütze beide Ellbogen auf den Tisch. Atme tief ein. Nähere die Klinge dem papiernen Minimum. Setze die Schärfe zwischen die beiden Papiere. Beginne langsam, ganz langsam die Ränder des Papierchens ringsum aufzuschlitzen. Drei Seiten erledigt, fällt mir auf, dass sich die obere Hälfte bewegen lässt. Umblättern im Kopf. Vorsichtig lege ich sie um, wie man einen gefalteten Briefbogen auffaltet. Neugierig was mir der Absender geschrieben hat. Hier ergibt sich ein längliches Rechteck. Mit einem mikrokleinen Text. Hurra!!!!

Aber die Schrift kann ich nicht lesen. Eine Lupe muss her. Meine von Optiplus vergrößert 300%. Brauche sie, um die winzigen Punzen in silbernen Gegenständen zu identifizieren. Vasen, Kerzenleuchtern oder Tabletts. Auf der aufgeklappten Innenseite vergrößert lese ich. Laut, damit Justus es mitkriegt:

Der Taschenschirm «Knirps» von Fritz Piccolo. 1932 erfunden und patentiert. Der einzige mit einem roten Knopf am Griff. Und jeder weiß, man muss ihn drücken, und schon wird aus dem Minimum ein maximaler Regenschutz. Schirmseide in den jeweils aktuellen Modefarben. Erstes Gebrauchs- Produkt mit Überlebens-Garantie. Will heißen, er überlebt seinen Besitzer. Also vererbbar. Soweit so gut. So weit bekannt. Im Plan ein neues Knirps-Modell, das als fliegender Briefträger Botschaften zuverlässig und portofrei zum Empfänger bringt. Von Minidüsen getrieben und einem Mini-Navigator gesteuert, Höhen erreicht, die es ermöglichen, die Alpen zu überfliegen zum Beispiel. Einen Liebesbrief von Romeo für Julia in Verona auf ihrem Balkon deponieren. Ohne dass ihre Eltern etwas davon bemerken. Im neuen Marken-Logo Knirps ersetzt den bisherigen Punkt ein roter Granat über dem i. Symbol für Mehrwert.

Solingen, 1. Mai 1932 gezeichnet
Fritz Piccolo, Dr. Legislativus, Notar

„Da hat sich Piccolo schon früh einfallen lassen, was auch heute noch jeden vom Hocker reißt. Die Fantasie entfacht bei Jung und Alt trotz Telefon und Eilbriefen Botschaften versendet, wenn ʼs nicht regnet. Und auch noch portofrei. Wie mögen seine Leute es wohl hingekriegt haben? Gespannt, ob es je realisiert wird. Zum Papierchen: es ist älter als wir beide. Weißt Du Justus, was an diesem Datum war? Es muss Wichtiges passiert sein. Sonst stände es hier nicht drauf.“

„Erinnere mich an eine gerahmte Urkunde hinter dem Schreibtisch von Piccolo. Moment, muss mich konzentrieren. Ja, da fällt mir ein, 1932 übernahm Fritz Piccolo die Firma. Nachdem er alle Verwandten ausgezahlt hatte. Dieses Datum muss für ihn wie eine Wiedergeburt gewesen sein. Die Idee gehabt, den schon seit 1928 verkauften Taschenschirm noch kleiner zu machen. Technisch zu verbessern und die Marke «Knirps» zu kreieren. Selber ein Knirps und Großes im Kopf. Der erste taugliche Taschenschirm, der diesen Namen verdient. Wir haben auf 2 x 3 Quadratzentimetern Papier erfahren, dass Piccolo zu Großem fähig ist. Kleines, selbst Minikleines macht sich groß. Der rote Granat über dem i das neue Symbol für Genialität. Eines Tages wird dieser 25 Zentimeter kleine Knirps die 4748 Meter des Mont blanc überfliegen. Und wieder der Größte sein. Um es auf den Punkt zu bringen. Piccolos Mantra.“

„Das also ist des Pudels Kern“, Justus soll wissen, dass ich meinen Faust kenne. „Markenkern eines Taschenschirms, der eigentlich Piccolo heißen müsste, nach seinem Erfinder. Aber Dein schlauer Fritz sah die Welt wie sie war. Noch sind nicht genügend italienische Pizzabäcker in unserem Land, Deutsche kennen Piccolo nur als kleine Sektflasche, den Vormittag in zwei erträgliche Hälften zu teilen. Das Wort Knirps aber ist allen geläufig. Unter Zehn sind alle Kinder Knirpse. Monsieur Fritz wird diese Chance erkannt und seinen Taschenschirm «Knirps» genannt haben. Selber nicht größer als ein Meter zweiundfünfzig, mit dem Zollstock gemessen. Mehr sein als scheinen der Beweis. Wie Du mir erzähltest, eroberte schon der erste Knirps die ganze Welt. Überall da, wo es plötzlich schauern könnte, Leute mit einem Knirps in Hand- oder Aktentasche unterwegs. Beruhigt, er schützt sie vor bösen Überraschungen. Sollte eines Tages der neue Knirps die Alpen überfliegen, könnte er noch einen Mehrwert bieten: Salz auf den vereisten Gotthardpass streuen und sein Besitzer von der Schweizer Bergpolizei Geld dafür verlangen.

Was aber, wenn ein Neunmalkluger einen roten Punkt auf das i in «Saite» setzt, beispielsweise. Sich von anderen Saiten-Anbietern abzuheben. Ohne zu ahnen, dass der Punkt bereits vergeben ist. Auch wenn es ein Granat und kein Punkt mehr ist. Das Patentamt wird seinen Antrag ablehnen. Aber ein Strich in Saite ohne Punkt auf dem i wird missverstanden. Er müsste aufgeben, umfallen und nur noch als Strich in der Landschaft, oder als Zahnstocher taugen“.

„Du hast Recht, ein Punkt ist Überlebensgarantie. Für den, dem es gelingt, ihn rechtzeitig patentieren zu lassen. Mit allen Varianten, die denkbar sind. Eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages mit einem Granat. Granate sind rot, rot wie der Punkt auf dem i in Knirps bis jetzt. Ein Rotes über dem i wird auch dem Dümmsten auffallen. Mein Chef weiß das, weil er langfristig denkt. Du und ich haben ihn gesehen und den Text verstanden. Kein anderer weiß, welche Rolle roter Punkt oder Granat in Zukunft noch spielt, außer uns beiden. Wir werden es hüten, weil wir Blutsbrüder sind. Das Geheimnis Knirps mit dem roten Punkt im Markenlogo bleibt unser Geheimnis, solange wir leben. Auch der rote Granat auf dem i wird von keinem kopiert werden können.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“ kann ich mir nicht verkneifen. Oh je, da fällt mir ein, ich muss dieses briefmarkenkleine Papierchen wieder zusammenklappen, die Ränder verkleben. Damit alles wieder so ist wie es war. Und Monsieur Fritz nicht merkt, dass einer dieses Minimum geöffnet hat. Das Geheimnis aller Geheimnisse entdeckt und möglicherweise an Apple verkauft für sein geplantes iPhone. Piccolos Sohn Manfred, Chef seiner Niederlassung in den USA wird es als Erster entdecken. Den CIA bitten, in Deutschland nach Spuren zu suchen.

Oh Gottogott, was dann? Justus einen Kopf kleiner gemacht. Und ich? Fingerspuren würden mich verraten. Ziehe Gummihandschuhe über die Hand, alle zehn Finger. Streiche Pelikanol hauchdünn auf die Ränder. Drücke die aufgeklappte Briefmarke wieder zusammen. Achte darauf, dass die zwei Seiten deckungsgleich sind. Schiebe sie sehr vorsichtig ins offene Kuvert DIN C6. Verschließe es mit der Klappe. Hinein in DIN B6, in DIN C4 wie gehabt. Justus hält mir die lederne Mappe hin. Sodass alles, was rot ist, ineinander gelegt und die Klappe des Umschlages reingesteckt. Wie gehabt. Verschließt die Mappe mit dem Universalschlüssel. Wischt eventuelle Fingerabdrücke mit einem Staubtuch weg und geht. Seinem Chef die Mappe auf den Schreibtisch zu legen. Auftrag erfüllt. Diskretion gewahrt. Geheimnis gehütet.

„Justus, ich denke, Du wirst den neuen Knirps von Deinem Chef bestimmt geschenkt bekommen. Als Prämie für Deine Zuverlässigkeit. Und einen Granat für einen Ring. Ich schlage vor, Du wirst mir beides in Deinem Testament vermachen. Er soll mich immer an diesen denkwürdigen 4. Februar 1986 erinnern.“