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Silja Ukena

Ein Jahr in Paris

Reise in den Alltag

Originalausgabe



Alle Rechte vorbehalten
© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2007
www.herder.de



Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig



ISBN (E-Book) 978-3-451-33355-2

ISBN (Buch) 978-3-451-05742-7

Für h.r. und j.l.

Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point.

(BLAISE PASCAL)

Wie ich nach Paris kam

ES BEGANN IRGENDWANN kurz nach meinem 30. Geburtstag. Dieses kleine, nagende Gefühl, dass da doch noch etwas wäre. Warten würde. „Du spinnst“, sagte Georg, mein Freund, seit wir gemeinsam im Kindergarten der Frau Pfarrer die Bibel versteckt hatten, um zu sehen, ob sie es auch auswendig könnte. Sie konnte – aber das tut hier eigentlich nichts mehr zur Sache, jedenfalls sagte Georg: „Du spinnst. Dir geht es einfach nur zu gut.“ Womit er recht hatte, aber vielleicht war genau das der Punkt. Ich hatte einen passablen Job, einen netten Freund, der mich, zugegeben, einigermaßen langweilte, aber höchstwahrscheinlich auch heiraten würde, „wenn du das auch möchtest“. Ich hatte Freunde und eine Wohnung mit Balkon und Wäschetrockner. Alles bewegte sich in eine Richtung, die bestimmt nicht verkehrt war. Und trotzdem. Was war mit dem großen Rest? Dem Abenteuer, der Möglichkeit, auch ein anderes Leben zu leben?



„Ich gehe nach Paris.“ Wohlweislich probierte ich diesen Satz zuerst bei Georg aus. „Du spinnst“, sagte er mal wieder. Er sagte das überhaupt sehr oft. „Muss es denn gleich Paris sein? Wie wäre es mit München? Da kannst du wenigstens arbeiten. Außerdem duschen sich die Franzosen nie.“ Diese Argumentation war zugegeben nicht ganz klar. Aber man muss dazu wissen, dass Georg Frankreich und alles, was damit zu tun hat, verabscheut. Seine Kenntnisse beruhen dabei auf einem Schüleraustausch in der neunten Klasse, den wir in der Normandie verbrachten. Nun war das nicht gerade der ideale Einstieg, das stimmt. Es war unglaublich kalt und zugig, die Franzosen sprachen genauso wenig deutsch wie wir französisch, und es gab praktisch zu jeder Mahlzeit nach Salz schmeckendes Lammfleisch. Vor allem jedoch waren unsere Austauschpartner attraktivitätsmäßig betrachtet tief enttäuschend. Natürlich hätte es niemand zugegeben, aber insgeheim hatten alle auf eine romantische Begegnung gehofft. Und dann waren die Jungs klein und dünn, und die Mädchen hießen zwar manchmal Marianne, sahen aber keineswegs danach aus. Kurz, am Ende des Schuljahres hatten die meisten von uns, darunter auch Georg, Französisch als Lernfach abgewählt. Ich nicht, aus welchem Grund auch immer. Mir gefiel, wie federleicht diese Sprache klang, und ich wusste: Es gibt immer noch Paris. Die Stadt der schönen Frauen und eleganten Männer, der Mode und der Liebe und der Literatur darüber; die Heimat von Edith Piaf und Alain Delon, von Coco Chanel und Yves Saint Laurent.

Das dachte ich jetzt wieder.

Und dann tat ich es einfach.

Ich ging zur Bank und beschloss, Omas „eisernes Konto“ anzubrechen, das sie mir vermacht hatte – „für schlechte Zeiten“, wie sie immer sagte. Aber vielleicht war es auch für gute Zeiten richtig. Ich trennte mich von meinem Freund, er hatte Verständnis, und kündigte meinen Job, wofür niemand Verständnis hatte.

Und dann hatte ich plötzlich nur noch einen Koffer und alle Freiheit dieser Erde. Paris, ein Fest fürs Leben. Oder doch nicht?

Ein französischer Bekannter sagte mir später, die Idee von dieser Stadt sei immer noch stärker als ihre Wirklichkeit. Ich musste ihre Wirklichkeit erst kennen lernen, um zu verstehen, was er meinte.

Mai – Anfänge

1. Kapitel, in dem ich enttäuscht bin, dem Geist von Paris nachlaufe, eine erste Bekanntschaft mache, beinahe überfahren werde und lerne, was eine grammatische „Ausnahme“ ist.



Erkenntnisse: 1. Das Baguette ist eine Frau. 2. Die Regel ist die Ausnahme.

Aufgabe des Monats: Die Franzosen verstehen und die Franzosen dazu bringen, mich zu verstehen.



ALS ICH AM FLUGHAFEN CHARLES DE GAULLE das erste Stück Pariser Himmel erblickte, da war es grau. Ich musste an Hemingway denken, an seinen Roman „Paris – ein Fest fürs Leben“, der mit dem Satz beginnt: „Dann war das schlechte Wetter da“, und dann rammte mir jemand seinen Koffer in die Hacken und raunzte etwas Unverständliches, etwas, das wahrscheinlich bedeuteten sollte, ich möge hier gefälligst nicht den Verkehr aufhalten. Die Menschen stürzten sich auf ihre Koffer, rannten hinaus über das schwarze Pflaster in den Regen, zum Taxi, zum Bus, zum Bahnsteig der RER. „Welcome to Paris“, hatte die Stewardess gesagt. „We wish you a pleasant stay.“ Vom Regen hatte sie nichts gesagt und auch nicht davon, dass der Aéroport Charles de Gaulle ein vollkommen unverständliches Ungetüm aus Sichtbeton sein würde, eine Art Gebäude gewordene Metapher der französischen Grammatik. Als internationaler Flughafen jedenfalls nur bedingt geeignet. Ich musste einen Bus finden, der mich zum Étoile bringen sollte. Dort würde Arnaud mich abholen. Arnaud war ein Freund von Freunden, und er und seine Frau Isabelle hatten sich freundlich erboten, mich in der ersten Zeit bei sich wohnen zu lassen.

Isabelle und Arnaud waren das typische Pariser Paar, das es zu etwas gebracht hat. Beziehungsweise hatte Arnaud es zu etwas gebracht, und Isabelle ihn dazu, sie zu heiraten. Inzwischen hatten sie zwei Autos und zwei Kinder, jede Menge Streit und verbrachten die Ferien mit den Schwiegereltern in der Vendée. Arnaud war Absolvent der Eliteuniversität „Sciences Po“, mit vollem Namen „Institut d’Études Politiques de Paris“1, und arbeitete in einer großen Unternehmensberatung. Isabelle machte auch irgendetwas in der Firma ihres Vaters. Was, habe ich nie genau begriffen.

Sie erwartete uns mit einem „kleinen Imbiss“. Salat, Pasteten, etwas Brot und Käse. Wein und Wasser in Karaffen. Ich glaube, das war meine Rettung an diesem Abend – diese Fähigkeit der Franzosen, zu jeder Zeit und an jedem Ort ein gutes Essen zu servieren. Meine Angst vor dem Neuanfang, die mich schon am Flughafen in Deutschland übermannt hatte, die Enttäuschung über das schlechte Wetter, die Fremdheit in dieser mit gelben Stoffen und Stores überladenen Wohnung im 16. Arrondissement.

Als ich später auf dem mit Bourbonen-Lilien gemusterten Schlafsofa lag, hatte ich die erste Lektion in Pariser Gesellschaftskunde hinter mir: wie man conversation macht. Arnaud, ganz junge Elite, hatte die Situation gewandt im Griff. Er brillierte und hatte zu allem etwas zu sagen. Zum Käse: „Unser traiteur bekommt ihn direkt aus der Gegend von Chartres, musst du wissen.“ Zur Kunst: „Du solltest ins Musée Picasso gehen. Picasso hat mir einen ganz neuen Blick auf die Welt eröffnet.“ Zur Lage der Nation: „Nein, ich würde nicht vom Niedergang sprechen. Die Nation befindet sich in einer Krise. Aber es gibt Hoffnung.“

Isabelle blickte dazu auf ihren makellos gedeckten Tisch. Da meine Meinung in Arnauds Diskurs sowieso nicht gefragt war, hatte ich Zeit, sie zu betrachten. Sie war schön, Isabelle, kein Zweifel. Ihr Teint ebenso fein wie das Porzellan auf dem Tisch, allerdings ohne Landhausbemalung. Eine von diesen Frauen, die niemals enttäuschen. Immer passen die Mokassins zur Handtasche, nie verlässt ein Haar die Frisur, und dass sie zwei Kinder hat, sieht man ihr nur an, wenn sie mit ihnen unterwegs ist. Trotzdem ist da immer dieser leicht gespannte Zug um den Mund, diese Falte an der Nasenwurzel, das leise Signal. Etwas nagte in ihr. Aber sie wusste nicht, was. Meine erste Pariserin seit Madame Merseburger, unserer Französischlehrerin. Ich hatte vor, eine größere Sammlung an Modellen anzulegen. Schließlich wollte ich selbst eine werden. Doch würde das noch eine Weile warten müssen. Denn der Gedanke an Madame Merseburger brachte mich zu einem ganz anderen Problem: meinen Französischkenntnissen. Oder vielmehr deren Abwesenheit. Dabei hatte ich die Sprache doch geliebt, vom dem Moment an, als Madame – von „l’amour“ einst ins kalte Deutschland verschlagen – uns die ersten Worte beigebracht hatte. Dass deren überaus komplizierte, vollkommen unlogische und stellenweise ins Neurotische tendierende Grammatik durchaus einen Hinweis auf den Charakter ihrer Sprecher bietet, sollte ich ja erst viel später begreifen. Freund Georg fand schon damals: „Subjonctif ist krank.“ Ich hingegen lernte begeistert jede grammatische Ausnahme (es waren hunderte), las alles von Zola (geschätzte achttausend Seiten) und beschloss, gleich nach dem Abitur meine grobe Heimat zu verlassen und nach Paris zu ziehen. Wenn Madame Merseburger in Deutschland die große Liebe gefunden hatte, warum sollte mir das nicht umgekehrt gelingen?

Es kam wie immer im Leben: anders. Die Details spielen hier keine Rolle, jedenfalls blieb ich, wo ich war, studierte, arbeitete, hatte andere Dinge im Kopf. Und als ich es nun doch endlich geschafft hatte, saß ich da und brachte außer „Oui“ und „Merci“ und „C’est vrai!“ kein Wort heraus.

Als ich an diesem Abend meine Füße zwischen die fest gespannten Laken schob und mich nicht traute, sie einfach unter der Matratze hervorzuziehen, weil man hier nun einmal so schlief und ich, wenn ich in diesem Land leben wollte, versuchen musste, so zu werden wie sie, fasste ich zwei Entschlüsse. Erstens würde ich einen Sprachkurs belegen und zweitens musste ich so schnell wie möglich eine eigene Wohnung finden. In diesem Moment vermisste ich Georg sehr. „Lass dich nicht fertigmachen von denen“, hatte er zum Abschied gesagt. „Denk immer dran: Auch wir haben große Schriftsteller hervorgebracht.“



Ich lief viel umher in dieser ersten Zeit, trotz der für den Mai ungewöhnlichen Kälte, fuhr kreuz und quer durch die Stadt, verbrauchte unzählige Metrotickets, bis ich verstand, dass sie im Carnet – im Zehnerpack – billiger sind, und versuchte, den Raum dieser Stadt zu ermessen. Louvre, Madeleine, Marais, Palais Royal, Place Vendôme, Croissants bei Fauchon, Tee in der Galerie Vivienne. Ich kaufte neue Schuhe. Natürlich brauchte ich keine, aber mit den Schuhen ist das so eine Sache bei mir. Ich kann schwer widerstehen. Diese jedenfalls waren sehr sexy, schwarz und mit so einem kleinen spitzen Absatz. Kurz, ich verhielt mich wie eine Touristin, und naiv wie ich war, glaubte ich, Paris auf diese Weise kennen zu lernen.

Nach einer Woche war ich bereits fix und fertig. Indem ich ihre Plätze abschritt und Denkmäler besuchte, wollte ich diese Stadt begreifen. Aber Paris wäre nicht die Hauptstadt des Raffinements, wenn sie es einem so einfach machte. Sie stellt es schlauer an. Sie erlaubt es jedem, nach Lust und Laune in ihr herumzuspazieren, sie zu fotografieren und romantische Ansichten mit nach Hause zu nehmen. Ihre Seele aber wird man auf diese Weise nicht entdecken. Er ist flüchtig, der Geist von Paris, und weigert sich, freundlich lächelnd fotografiert zu werden. Was nicht bedeutet, dass man ihm nicht auch in der Warteschlange vor der von I. M. Pei gebauten Glaspyramide des Louvre, der längsten Schlange der Welt, begegnen kann, wenn dort zufällig mal ein Pariser steht und einem mit einem überaus höflichen „Après vous“ den Vortritt lässt.

Die Erkenntnis jedoch, dass es in der Regel nicht ganz so einfach ist, Paris zu verstehen, verdankte ich Gaetano. Er war Italiener, in Rom geboren, Sohn einer Französin und schlug sich in Paris als Fotograf durch. Ich lernte ihn im Metrotunnel unter der Place Charles de Gaulle kennen, nachdem wir etwa eine Stunde lang den gleichen Weg gehabt hatten. Nachdem ich zum dritten Mal hinter ihm eine dieser scheinbar unendlich langen Rolltreppen hinabgefahren war, kam er plötzlich auf mich zu und sagte: „Verfolgen Sie mich etwa?“ Ich lief knallrot an, brachte dann aber ein halbwegs selbstbewusstes „Nein, ich wohne hier“ hervor. „Schade“, sagte er nur. Ich war platt. Es war klar, dass jetzt irgendetwas von mir erwartet wurde. Aber was bloß?

Es war meine erste Begegnung mit diesem kleinen Schlagabtausch, irgendwo zwischen Flirt und Scherz, den der Franzose so liebt. Der nirgendwohin führen, aber unbedingt zu Ende gebracht werden muss. Gewonnen hat, wer das letzte Wort behält. Nur Anfänger scheitern so kläglich auf den ersten Metern wie ich damals. Jeder Franzose hätte mich an dieser Stelle links liegen gelassen, zumal wenn er Pariser gewesen wäre. Sie verachten Touristen nun einmal, jedenfalls solche, die nicht in der Lage sind, eine ordentliche conversation zu führen. Gaetano aber war selbst als Fremder in diese Stadt gekommen, und so hatte ich Glück.

„Was siehst du?“, fragte er mich, als wir ein paar Tage später auf der Aussichtsplattform des Kaufhauses Samaritaine standen. Was ich sah, war ein Meer von schiefergrauen Dächern, in dem wie Bojen die Wahrzeichen der Stadt schwammen. Sacré Cœur. Triumphbogen. Eiffelturm. Am Horizont die Türme von La Défense. „Sehr gut“, sagte er. „Aber weißt du, das alles ist nur die Oberfläche. „Das Herz“ – er griff sich an die Brust – „das Herz, das musst du suchen. Da unten! Dans la Rue!“ Dann sah er mich mit seinen römischen Augen traurig an: „Du wirst noch viele Schmerzen haben, bis du Paris kennst.“

Es würde Zeiten geben, in denen ich mich beinahe täglich an diesen Satz erinnerte. In denen ich diese wundervolle Stadt dafür hassen würde, dass sie es mir so schwer machte. Mir die kalte Schulter zeigte und es nicht einmal nötig hatte, mir einen einzigen Seitenblick zu gönnen.

Zunächst aber beschloss ich, Gaetano zu meinem Freund zu machen. Er hatte mir sieben Jahre Pariser Lebenserfahrung voraus. Das war lange genug, um alles zu wissen, und kurz genug, sich auch noch einmal auf jemanden einzulassen, der nicht schon seit zwanzig Jahren im selben Viertel wohnte. Und da er seltsamerweise bisher nie versucht hatte, mir näherzukommen – nicht, dass ich so eitel wäre, aber ein halbfranzösischer Italiener in Paris, der NICHT flirtet, also bitte –, würde es wohl auch keine Missverständnisse geben. Wahrscheinlich, dachte ich, bin ich zu alt für ihn. Gaetano war vierzig.

Außerdem – großer Pluspunkt – akzeptierte er mein unsägliches Gestotter, von dem ich zu Hause immer behauptet hatte, es sei Französisch. Das taten andere nämlich nicht. Und das war manchmal zum Verzweifeln.

Es ist so: Wenn sie dich nicht verstehen wollen, dann verstehen sie dich nicht. Punkt. Ende der Diskussion. Da ist dann nix mehr zu machen. Du kannst wiederkommen, wenn du anständig Französisch gelernt hast, sehr gerne, dann gibt man dir vielleicht eine zweite Chance.

Man sollte meinen, dass in einer der größten Städte in der Mitte Europas Englisch gesprochen wird? Nun, theoretisch schon. Praktisch kommt man damit nicht im Geringsten weiter, im Gegenteil. Wenn man einen Pariser in seiner Heimat auf Englisch anspricht, geht ein eiserner Vorhang herunter. Die amerikanischen Touristen merken das nicht. Sie trampeln ihn einfach nieder und werden dafür mit der größtmöglichen Verachtung gestraft. Natürlich lernt jeder Franzose in der Schule zwei Fremdsprachen. Er spricht sie nur nicht. Er mag sich nicht anstrengen, nur damit andere ihn verstehen.

Ich habe es gleich gar nicht erst mit Englisch versucht. Man hat ja auch seinen Stolz, und ich wollte Madame Merseburger keine Schande machen. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, was sie dazu gesagt hätte:

„Bon jur, un baguette, si vu plä.“2 So ungefähr muss es sich angehört haben. Und natürlich wurde ich prompt zurechtgewiesen: „Voilà, Mademoiselle: UNE baguette!“ Ich hatte „es“ getan. Der baguette, dem heiligen Stangenweißbrot, dem über alles geliebten und zu jeder Tageszeit und Gelegenheit konsumierten nationalen Grundnahrungsmittel den falschen Artikel zugeordnet. Das tun nur Volltrottel und Ignoranten, sprich Anfänger und Touristen. Es heißt la baguette. Und während ich mit roten Wangen aus der Boulangerie floh, schwor ich, diesen faux pas nie wieder zu begehen. Am nächsten Morgen kaufte ich meine Baguette woanders.

Zum Glück gibt es sehr viele Bäckereien in Paris. 1400, um genau zu sein. Praktisch an jeder Ecke eine. Aber man geht immer nur zu derselben. Am schönsten ist es abends, wenn die Leute von der Arbeit kommen und auf dem Heimweg in der Boulangerie vorbeischauen. Man steht Schlange, die Verkäuferinnen rotieren, man plaudert. Beziehungsweise brüllt man sich schon mal von weitem zu, wie es gerade geht, schließlich ist für einen ausführlichen Schwatz jetzt keine Zeit, und wenn Kunde und Verkäuferin endlich so dicht voreinander stehen, dass man sich unterhalten könnte, geht alles ganz schnell. Blitzartig wird ein kleines weißes Papier um den Baguettelaib gewickelt, Geld wechselt den Besitzer und dann heißt es auch schon „Bonsoir!“ und „Bonne soirée“. Und dann kommt der beste Moment, wenn man nämlich wieder auf die Straße tritt und noch im Gehen den obersten Zipfel der Baguette abbricht als kleine Wegzehrung – die im glücklichsten Fall noch ein wenig warm zu sein scheint –, als Vorgeschmack des lang ersehnten Feierabends. Die schönste Szene erlebte ich einmal in der Rue Poncelet: Es ist warm, die Abendsonne scheint noch, ein älterer Herr verlässt mit seinem vielleicht vierjährigen Enkel an der Hand die Bäckerei, beugt sich zum ihm hinunter und der Kleine darf die Spitze abbrechen. Er braucht dazu beide Hände und all seine Kraft, aber am Ende gelingt es und beide, Großvater und Enkelsohn, teilen sich dieses kleine warme Glück am Abend.

Sie finden, es wird gerade etwas klischeehaft? Mag sein. Aber wen schert das, wer sagt denn, dass die Dinge zwangsläufig leer werden, nur weil sie zu oft schon beschrieben wurden? Außerdem sind wir ja hier erst am Anfang.



Ich kaufte ein Fahrrad. Das heißt, ich wollte ein Fahrrad kaufen. Man erklärte mich für verrückt.

„Sie werden dir den Hals brechen!“, sagte Georg nach einer kurzen Analyse des Pariser Autoverkehrs.

„Wozu? Es gibt doch die Metro!“, sagte Arnaud und meinte: Unser hervorragendes, über Jahrhunderte hinweg verfeinertes öffentliches Transportsystem ist dir wohl nicht gut genug?! (Wobei er selbst niemals etwas anderes bestieg als seinen Renault Espace.)

„Oh. Bei euch fährt man wohl viel Fahrrad“, sagte Isabelle, und zog die Brauen sehr hoch. Man konnte sehen, wie vor ihrem inneren Auge Horden schwitzender Deutscher des Morgens zur Arbeit strampelten. „Nein, das ist in China“, hätte ich am liebsten geantwortet, verkniff es mir aber um der Völkerfreundschaft willen. Vielleicht tat ich ihr ja auch unrecht. Sicher ist allerdings, dass Isabelle niemals ein Rad bestiegen hätte. Ich glaube, sie fand es für Frauen irgendwie unanständig. Sie machte überhaupt nie Sport. Brauchte sie aber auch nicht, sie aß nämlich auch fast nichts.

Nur Gaetano sparte sich jeden Kommentar und gab mir stattdessen eine Adresse, wo man Fahrräder d’occasion, also gebraucht, bekam.

„Non, Mademoiselle. On n’a pas UNE vélo. On a UNE bicyclette ou UN vélo. Mais UNE vélo on n’a pas.“ 3

Schließlich bekam ich doch eines. Es war sehr alt und ziemlich hässlich, hatte aber tadellose Bremsen und das, so erklärte mir der Händler, sei in Paris das Zweitwichtigste beim Fahrradfahren. Dann kaufte ich noch ein Schloss. Es war riesig und kostete fast genauso viel wie das Rad. Aber das, so Monsieur, sei wirklich das Wichtigste, absolut unerlässlich. „On vole partout à Paris“, sagte er. „Lassen Sie Ihr Rad bloß nicht irgendwo herumstehen. Sie drehen sich um und – ssssssst – sofort ist es weg. Es wird immer schlimmer mit den Dieben. Sogar vor unserem Viertel machen sie nicht mehr Halt. Wer hätte das gedacht!“

Ich war beeindruckt, lernte aber bald, dass in Paris schon immer alles immer schlimmer wurde.



Die neu gewonnene Freiheit zeigte mir tatsächlich ein ganz anderes Paris. Metro zu fahren bedeutet immer, an einem bestimmten Punkt des großen Ganzen im Untergrund zu verschwinden, um dann an einem ganz anderen Ort wieder aufzutauchen. Zwischendurch wechselt man mindestens einmal die Linie, durchquert kilometerlange Gänge, wird auf Rolltreppen und Laufbändern immer tiefer in die Eingeweide dieser Stadt geschickt. Kommt man dann irgendwann wieder ans Tageslicht, fehlt einem jedes geographische Gefühl. Den Parisern natürlich nicht. Für sie sind die Namen der Metrostationen ganz selbstverständliche Orientierungspunkte.

„Métro Jaurès“4 sagt man jemandem, der aus einem fremden Viertel anreist, oder „Du fährst bis Oberkampf“. Angeblich ist kein Ort der Stadt weiter als fünf Minuten von einer Station der Métropolitain entfernt. Und wenn nicht gerade mal wieder gestreikt wird, dann benutzen die Pariser ihre Metro auch. Jeder fährt, der morgendliche Anzugträger ebenso wie die ältere Dame auf dem Weg zu ihrem Éclair im Salon de Thé des Hôtel de Crillon; die Verkäuferin vom Bon Marché wie die Studentin der Académie des Beaux Arts. Das ist es, was Paris zur Großstadt macht, zur Metropole, wenn man so will.



Angesichts der Massen, die praktisch zu jeder Tageszeit unter dem Asphalt unterwegs waren, so dachte ich, konnte der Verkehr eigentlich nicht mehr so schlimm sein. Das dachte ich genau so lange, bis ich zum ersten Mal versuchte, von der Rue Brunel mit dem Rad zur Sorbonne zu gelangen. Danach hielt ich die Tour de France für ein Kinderspiel. Um mich nicht zu verfahren, hatte ich geglaubt, es sei das Klügste, mich an die großen Boulevards zu halten: Champs Elysées, Place de la Concorde, Boulevard Saint-Germain, Boulevard Saint Michel. Jeder, der Paris kennt, wird sich jetzt fragen, wie man nur so naiv sein kann, und da kann ich Ihnen auch nur Recht geben. Am Ende war ich schweißgebadet, hatte „in diesem bewegten Chaos, wo der Tod von allen Seiten auf einmal im Galopp auf uns zustürmt“5, ungefähr sechsmal mein Leben riskiert. Isabelle, Arnaud und Georg hätten bei meinem Anblick stille Genugtuung empfunden. Aber aufgeben – niemals. Und tatsächlich ist es ganz einfach: Man geht, fährt oder parkt eben nur nicht nach Schildern oder Vorschriften, sondern nach Gefühl und Verstand. Das einzige Problem, das sich hieraus ergibt, ist, dass mitunter die Vorstellungen von dem, was ein der Verkehrslage angemessenes Verhalten wäre, beträchtlich voneinander abweichen. Jeder hat nun mal seine eigenen Ansichten. Und natürlich hat jeder Recht, besonders zur abendlichen Rushhour. Stellen Sie sich den Pont de la Concorde vor, eine dieser breiten, von prächtigen Balustraden gesäumten Seine-Brücken, die direkt am Palais Bourbon endet, wo die Assemblée Nationale, die erste Kammer des französischen Parlaments, ihren Sitz hat. Es ist etwa 18.30 Uhr, ein gewöhnlicher Wochentag. Alle haben hart gearbeitet, alle wollen schnell nach Hause. Aber nun kommt es zwischen Pont de la Concorde, Quai d’Orsay und Boulevard Saint-Germain zu dem, was der Franzose embouteillage nennt, manchmal, wenn es drastischer ist, auch bouchon. Das bedeutet Stau, zugleich in der Sprache der Winzer aber auch „Abfüllung“ und „Korken“. Weshalb es in der abendlichen Hitze des Asphalts nicht selten auch zur Gärung kommt. Und in der Regel dauert es nicht allzu lange, bis sich angesichts dessen, dass man eingepfropft zwischen einem Haufen Idioten feststeckt und nichts mehr geht, der Emotionsstau Bahn bricht. Dann wird das Fenster heruntergekurbelt, und man teilt einander ungefiltert mit, dass man sich für einen inkompetenten Trottel hält. Die Hupe verleiht den Gefühlen zusätzlichen Ausdruck. Bald geht es hoch her, nur die Wachen der Assemblée Nationale versehen, ohne mit der Wimper zu zucken, stoisch ihren Dienst. Jetzt ist der Moment gekommen, an dem ein Flic am Knotenpunkt auftaucht. Mindestens 1,90 Meter groß ragt er aus der Menge hervor, ein Farbiger mit weißen Handschuhen und Trillerpfeife. Wie ein Dirigent nimmt er die Sache in die Hand, fuchtelt und pfeift, richtet nichts aus, das aber mit sichtlichem Genuss. Er nämlich ist hier derjenige, der von Amts wegen Recht hat, und so ist es ihm auch gestattet, allen Beine zu machen: „Avancez! Avancez! Vous débutants!“ – Vorwärts, ihr Anfänger, auf geht’s!



Der Anfänger in Paris sollte es genauso machen. Es gibt so vieles, das einen einschüchtert (falls man nicht gerade aus Mexico City einreist): der Verkehr; die Menschen, deren Verhalten allzu oft zwischen Ruppigkeit und Arroganz zu wechseln scheint; die Sprache, die selbstverständlich nichts mit dem zu tun hat, was man in der Schule lernt; die schiere Größe der Stadt. Doch wer sich davon beeindrucken lässt, der hat verloren. „Sie testet dich“, sagte Gaetano, der von Paris oft wie von einer schwierigen Frau sprach. „Wenn sie dich anfaucht, musst du zurückfauchen. Dann hast du irgendwann bestanden.“ Tatsächlich scheint es einen Punkt zu geben, an dem sich etwas verändert. Dann stehen Sie eines Tages am Boulevard Saint-Germain, innerlich darauf eingerichtet, dass es Stunden dauern wird, bis sich eine winzige Chance bietet, die Seite zu wechseln, als plötzlich das Unerwartete eintritt: Ein Pariser bremst ab und bedeutet Ihnen freundlich (!), doch vor ihm die Straße zu überqueren. Wie es dazu kommt? Nun, Sie haben den Test bestanden. Sie wirken nicht mehr wie eine Touristin. Wie man das macht? Keine Ahnung, fragen Sie mich später noch mal.

Zunächst einmal sehen Sie mich die heiligen Hallen der Universität Sorbonne betreten (genau genommen ist es ein Nebengebäude). In neuen Schuhen, versteht sich. Schwarze Ballerinas, irre bequem und doch elegant. Es ist 8.30 Uhr, und mit mir sind hunderte auf demselben Weg. Unser Ziel sind nicht wirklich die altmodischen Klassenzimmer, sondern eigentlich die Feinheiten der französischen Sprache. „Salut!“, tönt es hinter mir. Jeder Franzose wäre angesichts dieser Lautstärke zusammengezuckt. Es ist Marc. Er ist Amerikaner und Philosoph. Er hatte es damals an der Universität von Pittsburgh als Sartre-Spezialist schon einigermaßen weit gebracht. Dass er kein Wort Französisch sprach, schien dort niemanden weiter zu stören. Bis er eines Tages selbst den Ehrgeiz entwickelte, „seinen Sartre“ auch im Original lesen zu können. Zu diesem Zeitpunkt allerdings waren wir alle davon noch einigermaßen weit entfernt. „Débutants C“ hieß unser Kursniveau. Was nicht völlig peinlich war. Es gab noch die Débutants D und E, so hatte man immer jemanden, auf den man herabblicken konnte. Bei Marc allerdings war mir nicht ganz klar, wie er diese beiden Stufen hatte überspringen können. „Salut“ war nämlich tatsächlich sein mehr oder minder einziges Wort Französisch – er sprach es „Säljut“ aus und jedes Mal, wenn er sich im Unterricht zu Wort meldete, breitete sich auf dem Gesicht unserer Lehrerin Mademoiselle de la Chapelle ein schmerzlicher Ausdruck aus, so als habe sie plötzlich schreckliches Zahnweh. Es gibt wahrscheinlich nur wenige Dinge, die für Franzosen schlimmer sind, als Ausländern ihre Sprache beibringen zu müssen. Aber irgendwer muss es ja tun. Bei Marc allerdings schien alles verloren, ihn verstand niemand. Was aber auch daran liegen konnte, dass nicht vorhandenes Französisch für zwanzig verschiedene Menschen aus fünfzehn verschiedenen Nationen als kleinster gemeinsamer Nenner einfach zu wenig ist. Vielleicht hätten wir lieber über unseren Traum sprechen sollen. Denn den hatten wir alle. Tomer aus Tel Aviv ebenso wie Monica aus Barcelona oder Ahmed aus Riad. Tomer war Wissenschaftler, Monica Filmregisseurin, Ahmed der Sohn des saudischen Botschafters, der einen Mathematikstudienplatz an einer der Grandes Écoles bekommen und dann bemerkt hatte, dass man mit mathematischen Formeln allein in dieser Stadt nicht weit kommt. Insgesamt war unser Kurs ein guter Querschnitt des Pariser Migrantentums. Des wohlhabenden, versteht sich. Ein Pakistani, der in der Rue Levis gefälschte Yves-Saint-Laurent-Taschen verkauft, hat kein Geld für Vokabeltests. Dennoch ist der Impuls, hierher zu kommen, am Ende wahrscheinlich immer der gleiche. Es ist der Traum von Paris. Der Traum davon, dass diese Stadt mehr als alle anderen auf der Welt Freiheit und Gleichheit bedeuten könnte. Die Freiheit, zu sich selbst zu finden. Ein poetisches Leben zu führen. Die Liebe zu finden. Seine Meinung äußern zu dürfen.