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Johannes Reimer

Gott in der Welt feiern

Auf dem Weg zum missionalen Gottesdienst

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Zu diesem Buch

Immer weniger Menschen besuchen die sonntäglichen Veranstaltungen der Kirchen und Gemeinden. Ein Dutzend Gottesdienstbesucher verlieren sich im gewaltigen Schiff einer evangelischen Kirche in Hamburg-Altona. Und in den meisten Baptistengemeinden der Stadt erscheint weniger als die Hälfte der Mitglieder zum Gottesdienst. Nicht viel anders sieht es in Berlin aus oder in Düsseldorf, in Köln, Zürich oder Wien.

Warum besuchen die Menschen keinen Gottesdienst mehr, obwohl sie sich zur Kirche zählen? Vielleicht weil die meisten Gottesdienste mit Gott selbst nur noch am Rande zu tun haben? Doch wen wundert es, dass die Krise des westlichen Christentums – die wesentlich eine Krise ihres Missionsverständnisses ist –, eine Gottesdienstkrise nach sich gezogen hat?

Dies ist ein Buch über geistliche Gottesdienst-Leitung. Denn diese Fähigkeit fehlt in vielen Gemeinden. Und oftmals ist längst aus dem Blick geraten, was Gottesdienst eigentlich bedeutet. Die Theologie dieses Buches zielt auf die Praxis und hilft, beides zu klären: das Wesen des Gottesdienstes und Prinzipien gottesdienstlicher Leitung.

Wie leitet man Menschen dorthin, wo Gott ihnen dient? Wie führt man sie dahin, dass sie selbst beginnen, Gott zu dienen? Und wie wird der Gottesdienst zu einem missionalen Ereignis (denn Kirche ist missionarisch von ihrem Wesen her)?

„Stell dir vor, es ist Gottesdienst und alle wollen hin“ – das ist die Vision, die diesem Buch zugrunde liegt.

Über den Autor

Johannes Reimer, Jahrgang 1955, ist Professor für Missionswissenschaften an der University of South Africa in Johannesburg und Dozent für Missiologie am Theologischen Seminar Ewersbach sowie am Institut für Gemeindebau und Weltmission. Er ist Autor zahlreicher Bücher.

Johannes Reimer ist verheiratet mit Cornelia, die beiden haben drei erwachsene Kinder und leben in Bergneustadt.

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Buch

Über den Autor

Impressum

Abkürzungen

Vorwort

Kapitel 1: Gottesdienst – und keiner geht hin

1.1 Das Ende einer kirchlichen Tradition?

1.2 Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft

1.3 Was ist Gottesdienst?

Kapitel 2: Keine Gemeinde ohne Gottesdienst

2.1 Die Korrelation Gemeinde und Gottesdienst

2.2 Gottesdienst aus der Sicht des NT

2.3 Ekklesia – die Versammlung der Verantwortungsträger

2.4 Der trinitarische Charakter des ekklesialen Gottesdienstes – das theologische Rahmenkonzept

2.4.1 Missio Dei: Gott lädt ein

2.4.2 Missio Christi: Gott dient

2.4.2.1 Gottesdienst – verständlich und kulturell relevant

2.4.2.2 Gottesdienst – menschen- und lebensnah

2.4.2.3 Gottesdienst – lokal verortet

2.4.2.4 Gottesdienst – missional und dialogisch

2.4.3 Missio Spiritu – Gott führt

2.4.3.1 Der Gottesdienst als Raum des Wirkens des Geistes

2.4.3.2 Der Gottesdienst als Ort, an dem Gemeinde geistlich ihre Gestalt gewinnt

2.4.3.3 Der Gottesdienst als Ort der Mission des Geistes

2.4.4 Gottesdienst als missionale Aktion des dreieinigen Gottes

Kapitel 3: Gottesdienst mit Inhalt

3.1 Was findet im Gottesdienst statt?

3.2 Schwerpunkte und Perspektiven

3.2.1 Geistliche Perspektive: Befreiung zur Anbetung

3.2.2 Soziale Perspektive: Befreiung zur Gemeinschaft

3.2.3 Individual-seelsorgerliche Perspektive: Befreiung zur Selbstfindung

3.2.4 Missionarische Perspektive: Befreiung zum Dienst und zur Mission

3.3 Die fünf Gaben Gottes

3.3.1 Der apostolische Akzent – Mission

3.3.2 Der prophetische Akzent – Vision

3.3.3 Der evangelistische Akzent – Kommunikation

3.3.4 Der pastorale Akzent – Transformation

3.3.5 Der lehrhafte Akzent – Verifikation

3.4 Von den Perspektiven und Akzenten zum Gesamtentwurf

3.4.1 Die fünf Charakteristika des missionalen Gottesdienstes

3.4.2 Nicht alles auf einmal und doch alles dabei

Kapitel 4: Die Gestalt des missionalen Gottesdienstes

4.1 Gottesdienst – die Mitte der Gemeinde

4.2 Inkulturation als Notwendigkeit

4.3 Formen, Strukturen, Organisation

4.3.1 Kein formloser Gottesdienst

4.3.2 Zwischen Experiment und Tradition

4.3.3 Gottesdienst-Erneuerung – ein Blick in die Praxis

4.4 Gottesdienstformen – was ist angebracht?

4.4.1 Gottesdienst als Veranstaltung

4.4.2 Veranstaltungstypen im gottesdienstlichen Geschehen

4.4.2.1 Der liturgische Gottesdienst

Stärken

Schwächen

4.4.2.2 Der traditionelle Gottesdienst

Stärken

Schwächen

4.4.2.3 Der erweckliche Gottesdienst

Stärken

Schwächen

4.4.2.4 Lobpreis-Gottesdienst

Stärken

Schwächen

4.4.2.5 Gottesdienste für Suchende

Stärken

Schwächen

4.4.2.6. Gottesdienst in der Hausgemeinde

Stärken

Schwächen

4.4.2.7 Emerging-Gottesdienst

Stärken

Schwächen

4.2.2.8 Gottesdienst in den Medien

Stärken

Schwächen

4.5. Was verbirgt sich hinter unseren Gottesdienstvorstellungen?

4.6 Veranstaltung mit Profil

4.7 Was den Gottesdienst zum Gottesdienst macht

4.7.1 Lobpreis und Anbetung

4.7.1.1 Was ist Anbetung?

4.7.1.2 Ort der Anbetung

4.7.1.3 Aufgabe der Anbetung

4.7.2 Gemeinschaft mit Gott und Menschen

4.7.2.1 Was ist Gemeinschaft?

4.7.2.2 Wo findet Gemeinschaft statt?

4.7.2.3. Aufgabe gottesdienstlicher Gemeinschaft

4.7.3 Hören auf Gottes Wort

4.7.3.1 Was ist die Aufgabe der Verkündigung in einer gottesdienstlichen Veranstaltung?

4.7.3.2 Das Kommunikationsmittel

4.7.3.3 Zweck und Ziel der Verkündigung

Kapitel 5: Gottesdienstleitung

5.1 Kein Gottesdienst ohne Leitung

5.2. Keine Leitung ohne Leitungsteam

5.3. Keine Leitung ohne Mitarbeiter

5.3.1 Menschen, die das Wesen des Gottesdienstes verstehen

5.3.2 Menschen in persönlicher Beziehung zu Gott

5.3.3 Menschen mit einem Blick für Gnade und Heil

5.3.4 Menschen mit einer Bereitschaft, Gottes Wort zu predigen

5.3.5 Menschen mit einem Blick für Kreativität und Schönheit

5.3.6 Menschen, die lernen wollen

5.4 Das Gottesdienstleitungsteam

Kapitel 6: Gottesdienstplanung

6.1 Ein kreativer Prozess

6.2 Gottesdienstziele bestimmen

6.3 Die Priorität definieren

6.4 Den Prinzipien folgen

6.4.1 Textur des Gottesdienstes

6.4.2 Anlass und Thema des Gottesdienstes

6.4.3 Zeitrahmen

6.4.4 Teilnehmer

6.4.5 Gottesdienst-Kultur

6.4.6 Kein Gottesdienst ohne Auswertung

Kapitel 7: Aus dem Werkzeugkasten des Gottesdienstleiters

7.1 Training ist Pflicht

7.2 Wie schreibe ich liturgische Texte?

7.3 Woher nehme ich Bilder und Symbole?

7.4 Wie bete ich wann und warum?

7.5 Hilfe, ich brauche ein Zeugnis!

7.6 Wo finde ich die richtigen Lieder?

7.7 Bewegung und Tanz im Gottesdienst

7.8 Anspiel, Pantomime, Rollenspiel

7.9 Wie gestalte ich den Raum?

7.10 Und dann sehen sie mich …

Nachwort

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Die Edition IGW

Über den Verlag

Abkürzungen

APEHL

Apostel, Prophet, Evangelist, Hirte und Lehrer

EKD

Evangelische Kirche in Deutschland

EKK

Evangelisch-Katholischer Kommentar

GLT

Gottesdienstleitungsteam

KGR

Handbuch für Kirchengemeinderätinnen und Kirchengemeinderäte

KMU

Kirchliche Mitarbeiter-Umfrage

ÖRK

Ökumenischer Rat der Kirchen

RKK

Römisch-Katholische Kirche

ROK

Russisch-Orthodoxe Kirche

SA

Schmalkaldische Artikel Luthers (1537)

Vaticanum II

Zweites Vatikanisches Konzil

WA

Weimarer Ausgabe der Gesammelten Werke Martin Luthers

WCCC

Willow Creek Community Church

Vorwort

Seit nunmehr fast 100 Jahren reden wir darüber, dass Deutschland ein Missionsland geworden ist.1 Genauso lang beklagen wir die Tatsache, dass evangelische Kirchen ihre Mitglieder verlieren und die sonntäglichen Veranstaltungen der Kirchen leer bleiben. Die Rede von der Krise des Gottesdienstes ist so alt, dass man längst vergessen hat, wann sie aufkam. Es wäre naiv zu glauben, ein weiteres Buch zu diesem Thema könnte aus dieser Krise helfen. Doch in vielen Gemeinden, wo die Menschen den gewohnten Gottesdiensttrott satt haben, könnte es vielleicht tatsächlich hilfreich sein.

Auch ich kann von langweiligen Gottesdiensten berichten. Es gab in meinem Dienst Zeiten, wo ich am liebsten das Handtuch geworfen hätte. Nichts schien so zu laufen, wie es geplant und vorbereitet wurde. Wenn Gott da nicht gnädig gewesen wäre! Nein, ich habe nicht aufgegeben. Dieses Buch ist dafür der beste Beweis. Gott hat mich durchgetragen. Und so gab es in meiner Gemeindepraxis mit den Jahren auch viele ermutigende Beispiele. Ich rede also in diesem Buch nicht vom grünen Theologentisch aus. Auch wenn dieses Buch theologische Grundkonzepte behandelt, geboren sind sie in der Auseinandersetzung mit der Praxis. Die Theologie, die diesem Buch zugrunde liegt, ist aus der Praxis für die Praxis entstanden.

Und so zielt dieses Buch sowohl auf jene, die sich über die Zukunft des evangelischen Gottesdienstes in unserem Land Gedanken machen, als auch auf die vielen Pastorinnen und Pastoren, die Sonntag für Sonntag vor der Frage stehen, wie ihnen ein attraktiver Gottesdienst gelingt. Die Theologie dieses Buches ist bewusst als Handlungstheorie abgefasst. Sie zielt auf die Praxis ab. Sie will und muss angewandt werden.

Dabei geht es mir speziell um die Leitung des Gottesdienstes. Das hier ist also ein Buch über geistliche gottesdienstliche Leitung. Und damit ist in mehrfacher Hinsicht die Problemlage beschrieben, um die es in diesem Buch geht. Zum einen gehe ich davon aus, dass die Krise des Gottesdienstes in unseren Gemeinden dadurch ausgelöst wird, dass genau das heute in den Gemeinden fehlt – die Fähigkeit zu leiten, und zwar ganz spezifisch, Gottesdienst zu leiten. Zum anderen wird die Langeweile, die unsere Gottesdienstlandschaft begleitet, meines Erachtens dadurch ausgelöst, dass man längst aus dem Blick verloren hat, was Gottesdienst eigentlich bedeutet. Wenn man das Ziel nicht kennt, ist das ganze Unternehmen Leitung an sich infrage gestellt.

Sie werden am Inhalt des Buches leicht feststellen, dass hier ein Missiologe schreibt. Gottesdienst kann meines Erachtens nicht außerhalb des ewigen Ratschlusses Gottes gedacht werden. Und diesen geben wir heute mit dem aus dem Lateinischen stammenden Fachbegriff der Missio Dei wieder. Das Wesen des christlichen Gottesdienstes kann nur im Kontext des Wesens der Gemeinde selbst gedacht werden und diese ist rein missionarisch zu bestimmen. Die Kirche ist missionarisch von ihrem Wesen her – dieser Satz des Zweiten Vatikanischen Konzils ist mittlerweile zu einem allgemeinen Dogma nahezu aller christlichen Konfessionen geworden. Ist das aber so, so kann der Gottesdienst nur missional gedacht werden. Wen sollte es dann wundern, dass die Krise des westlichen Christentums, die wesentlich eine Krise ihres Missionsverständnisses ist, eine Gottesdienstkrise nach sich gezogen hat? Wenn es also um eine ontologische Erneuerung der Kirche geht, dann geht es primär darum, das missionale Wesen des christlichen Gottesdienstes wieder zu entdecken.

Desweiteren herrscht eine große Unsicherheit über den Prozess der Leitung des Gottesdienstes selbst vor. Wie leitet man Menschen zu dem Punkt, wo Gott ihnen dient? Wie führt man sie dahin, dass sie selbst beginnen, Gott zu dienen? Wie wird der reguläre Gottesdienst einer regulären Kirchengemeinde zu einem missionalen Ereignis? Mit einer bloßen religiösen Veranstaltung eines wie auch immer gearteten liturgischen Zuschnitts kommt man hier nicht weiter. Es gilt daher beides zu klären, das Wesen des Gottesdienstes selbst und die Prinzipien gottesdienstlicher Leitung.

Wie gesagt, ich komme aus der gottesdienstlichen Praxis und nichts liegt mir näher als der Wunsch, dass diese Praxis in vielen Gemeinden grundsätzlich erneuert wird. Dass dies möglich ist, beweisen nicht nur die vielen Bücher, die im Laufe der letzten Jahre zu diesem Thema geschrieben wurden,2 sondern auch die überaus ermutigenden Erfahrungen aus Gemeinden, die durch einen solchen Prozess der Erneuerung gegangen sind. Aus diesen Erfahrungen schöpfe ich die Motivation und Kraft für dieses Buch.

Vieles davon kommt im Zeugnis jener jungen Dame zum Ausdruck, die eines Tages nach dem Gottesdienst in unserer Gemeinde auf mich zu kam und sagte:

„Heute hat Gott zu mir geredet. Guck nicht so komisch, ich meine das ernst – Gott war heute hier. Ich habe ihn erfahren.“

„Aber Gott ist doch immer hier im Gottesdienst“, entgegnete ich vorsichtig.

„Kann schon sein, Pastor, kann schon sein. Ich habe ihn jedenfalls noch in keinem Gottesdienst erfahren. Heute, hier bei euch, ist das zum ersten Mal passiert. Und glaub’ mir, ich gehe seit meiner frühen Kindheit zu Kirche. Das hier war anders.“

Das, was für die junge Frau anders war und was ihr die Begegnung mit dem lebendigen und ewigen Gott ermöglicht hat, darüber will ich schreiben.

„Stell dir vor, es ist Gottesdienst und alle wollen hin“ – das ist die Vision, die diesem Buch zugrunde liegt.

Kapitel 1

Gottesdienst – und keiner geht hin

1.1 Das Ende einer kirchlichen Tradition?

Seit Jahren wird über den evangelischen Gottesdienst lamentiert. Immer weniger besuchen die sonntäglichen Veranstaltungen der Kirchen und Gemeinden. Betroffen sind Landeskirchen und Freikirchen. Die Situation in den Großstädten vermag die Lage anschaulich zu verdeutlichen. Ein Dutzend Gottesdienstbesucher verlieren sich im gewaltigen Schiff einer zentralen evangelischen Kirche in Hamburg-Altona. Und in den meisten Baptistengemeinden der Stadt erscheint weniger als die Hälfte ihrer Mitglieder zum Gottesdienst.

Hamburg ist bei weitem keine Ausnahme. Nicht viel anders sieht es in Berlin aus oder in Frankfurt und München, Zürich oder Wien. Die Situation ist prekär. Die EKD zeigt in ihrer regelmäßig erhobenen Mitgliederbefragung (4. KMU), dass 15 Prozent ihrer Mitglieder nie einen Gottesdienst besuchen, 27 Prozent einmal im Jahr oder seltener, 35 Prozent mehrmals im Jahr (in der Regel nur zu „Pflichtveranstaltungen“ der Kirche). Damit besuchen 77 Prozent der Mitglieder faktisch nie einen Gottesdienst. Mitglieder, die jeden Sonntag einen kirchlichen Gottesdienst besuchen, machen laut KMU gerade noch zehn Prozent aus.3 Wobei man realistischerweise eher von fünf Prozent ausgehen müsste, wie die Studie von Beck zeigt (Beck 2007:46). Und auch hier sind es in der Regel eher ältere Menschen, die sich in die Kirche wagen.

Nach einer gezielten Untersuchung der Altersstruktur der Gottesdienstbesucher in 123 zufällig ausgewählten evangelischen Gottesdiensten, die die Arbeitsgruppe „Kirche für Morgen“ am 19. Oktober 2003 durchführte, sind 47,6 Prozent der Besucher über 60 Jahre alt; 28,2 Prozent zwischen 40 und 60; 17,9 Prozent 20 bis 40 und nur 6,4 Prozent unter 20 Jahre alt. Das Ergebnis der Befragung ließ die Arbeitsgruppe zu dem Schluss kommen, dass wir es mit einer „Seniorenkirche“ zu tun haben (:86ff).

Ist die traditionelle Kirche dabei, sich von der Bühne zu stehlen? Altbischof Theo Sorg hat sich jedenfalls bereits 1977 tief besorgt über den Besucherschwund kirchlicher Veranstaltungen geäußert (Sorg 1977:62). Zehn Jahre später wiederholte er seine Sorge mit gleicher Vehemenz (1987:56). Andere bestätigen seine Befürchtungen.4 Heute ist die Lage nicht viel anders.

Warum besuchen die Menschen keinen Gottesdienst mehr, obwohl sie sich nachweislich zur Kirche zählen? Liegt es daran, dass Menschen ihr Interesse für Glaubensfragen verloren haben, oder eher an der Art und Weise, wie der kirchliche Gottesdienst abläuft? Kann es sein, dass die Krise in der sich der Gottesdienst heute befindet, hausgemacht ist? Kann es sein, dass die Gestalt des typischen traditionellen Gottesdienstes wesentlich dazu beiträgt, dass Menschen sich hier nicht mehr wiederfinden? Oder, noch tiefer gefragt, kann es sein, dass der Gottesdienst sich wesensmäßig so stark verändert hat, dass derjenige, der darin seinen Dienst anbieten soll, Gott selbst, sich aus dem Gottesdienst zurückgezogen hat? Wenn der Gottesdienst der bevorzugte Ort ist, „an dem wir unsere Liebe zu Gott zum Ausdruck bringen“ (Kuen 1998:1), dann ist doch folgende Frage angebracht: Was ist an diesem Ort der Begegnung aus dem Ruder gelaufen, dass ausgerechnet eine gewollte Liebesbegegnung nicht mehr stattfindet? Oder ist etwa eine solche Begegnung gar nicht mehr im Blick? Es bedarf keiner besonderen Kunst, um festzustellen, dass die meisten Gottesdienste heute mit Gott selbst nur noch am Rande zu tun haben. Für viele Gottesdienstbesucher ist der traditionelle Gottesdienst in erster Linie ein Kasualiengottesdienst. Man geht hin, weil es gesellschaftlich angebracht erscheint, an bestimmten Passagen der eigenen Biografie gottesdienstliche Begleitung zu erfahren. Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung stehen hier hoch im Kurs. Dazu kommen unerwartete Lebenserfahrungen und Stresssituationen, die einen Gottesdienstbesuch möglicherweise wünschenswert macht. Eine solche Kasualisierung des Gottesdienstes, wie sie von bestimmten Vertretern der Kirche befürwortet wird,5 bedeutet allerdings eine massive Umdeutung des Gottesdienstes und schließlich auch eine Neudefinition des Christentums an sich. Hier ist Gottesdienst vom Menschen her gedacht. Er ist zum Ort, zur Quelle individueller geistlicher und seelischer Befriedigung geworden. Gottesbegegnung wird hier auf eine distanzierte, persönlich kaum wahrgenommene religiöse Erfahrung reduziert. Man geht hin, weil man glaubt, die Religion für sich selbst instrumentalisieren zu können.

Ist das Gottesdienst, wie ihn die Bibel lehrt? Oder hat sich hier eine genuin heidnische Grundhaltung nach vorne geschoben, die den Gottesdienst als solchen zu einer Abart seiner selbst umgestaltet hat? Hat das Kasualchristentum eine Überlebenschance in einer Welt, die zunehmend nach der Alltagsbedeutung des Glaubens fragt?

1.2 Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft

Als bewusste Alternative zu den Kasualiengottesdiensten verstehen sich all jene Vorschläge zur Gottesdienstgestaltung, die sich darum bemühen, den modernen Menschen da abzuholen, wo er sich wirklich befindet. Einen „menschengerechten Gottesdienst“ fordert beispielsweise Winfried Blasig (1981). Im Zeitalter der Unterhaltung ist persönliches Erleben von zentraler Bedeutung. Die Erlebnisgesellschaft unserer Tage verlangt nach der Befriedigung persönlicher Erlebnisbedürfnisse.6 Der Gottesdienst kann und soll, so wird argumentiert, jenen religiösen Raum bieten, wo die Erlebnisdefizite auf spiritueller Ebene abgebaut werden.7 Wo Unterhaltung zum Gestaltungsprinzip des gesellschaftlichen Daseins erhoben wird, muss der Gottesdienst zur Unterhaltung werden. Der Gottesdienst wird somit zu einem Kunstwerk (Grözinger 1998:98ff), zu einer „theatralischen Inszenierung“ (Kunz 2006:65), die „fantastisch inszeniert ist, die Menschen in Staunen versetzt, aber keine […] praktischen Konsequenzen zur Folge hat“ (Beck 2007:47).

Doch ist eine solche Schlussfolgerung nicht auch gefährlich? Ist eine Veranstaltung, in der die Besucher ihren spirituellen Kick bekommen, allein deshalb Gottesdienst, weil es hier um Spiritualität geht? Und ist der Geist der Unterhaltung gleichzusetzen mit der Gegenwart des Heiligen Geistes? Oder muss man vielmehr davon ausgehen, dass die Unterhaltungsmentalität am Ende zum Leichenhaus der Kirche wird? Mit dem berühmten Buchtitel von Neil Postman (2000) gesprochen, amüsieren wir uns nicht auch in der Kirche zu Tode, wenn wir unsere Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie dem Zeitgeist überlassen? Nicht wenige vermuten genau das, wie H.-G. Heimbrock in seinem Artikel „Gottesdienst in der Unterhaltungsgesellschaft“ anschaulich darstellt (Heimbrock 1999:143f).

Und offen gefragt: Womit unterscheiden sich denn Erlebnisgottesdienste von jenen verpönten traditionellen Kasualgottesdiensten? Wesentlich geht es doch hier wie da darum, dass der Mensch auf seine Kosten kommt. Hier wie da wird in der Religion eine Quelle ausgemacht, die man für sich persönlich nutzbar machen kann. Hier wie da ist der Mensch selbst im Zentrum dessen, was wir Gottesdienst nennen.

Könnte es sein, dass gerade hier das eigentliche Problem verborgen liegt? Könnte es sein, dass wir eine radikale Wende vollziehen müssen, wenn wir zu einer anderen geistlichen Qualität des Gottesdienstes in unseren Kirchen und Freikirchen kommen wollen?

1.3 Was ist Gottesdienst?

Theo Sorg kommt in seinen Überlegungen zum Thema Gottesdienst zur entscheidenden Feststellung: Es kommt darauf an, was denn die Kirche mit ihrem Gottesdienst will (Sorg 1987:55). Gottesdienst muss Gottesdienst bleiben. Aber was heißt das? Wie sehen Gottesdienste aus, wenn sie so ablaufen, wie sie biblisch gesehen sein müssten? Was findet da statt? Wie werden sie gestaltet, wie geleitet? Mit anderen Worten – was ist das Wesen des evangelischen Gottesdienstes; eines Gottesdienstes, der vom Evangelium her kommt und Gottes ursprüngliche Vision wiedergibt?

„Was Gottesdienst ist, das weiß doch jeder“, wird man vielleicht sofort einwenden. Berge von Büchern sind dazu bereits geschrieben und publiziert worden. Warum also die Mühe? Ich bin nicht sicher, ob die Fülle an Literatur eine eindeutige Antwort geben kann. In den christlichen Gemeinden, die ich besuche, staune ich über die allgegenwärtige Unkenntnis zum Thema. Will man aber Erneuerung, dann muss zu allererst der Status quo geklärt werden. „Wir sind dem Leben aus Gott entfremdet“, sagt der Apostel Paulus, „aufgrund unserer Ignoranz und der Verhärtung des Herzens“ (Eph 4,17f). Wir müssen erst einmal die Ignoranz und die Verhärtung der Positionen notieren, bevor wir diese verändern können. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch freimachen“, dieser Grundsatz Jesu (Joh 8,32) gilt auch hier.

Was ist also unser Gottesdienstverständnis? Was ist Ihr Gottesdienstverständnis? Folgende Übung soll Ihnen helfen, Klarheit zu gewinnen. Bitte ergänzen und vervollständigen Sie folgende Sätze:

Unter Gottesdienst verstehe ich:

Zu einem richtigen Gottesdienst gehören unbedingt folgende Elemente:

Folgende Personen spielen im Gottesdienst eine entscheidende Rolle:

Meine Rolle im Gottesdienst ist:

Gottes Rolle im Gottesdienst ist:

Es wäre hilfreich, wenn Sie diese Fragen auch Ihren Mitchristen in der Gemeinde stellen würden. Ideal wäre es, wenn sogar die Gesamtgemeinde einmal darauf antworten würde.

Jeder Weg hat einen Anfang. Der Weg der Erneuerung nimmt seinen Anfang immer an dem Punkt, wo die zu erneuernde Wirklichkeit bloßgestellt wird. „Perestroika beginnt mit Glasnost“, dieser Satz des ehemaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der UdSSR, Michail Gorbatschow, der eine radikale Neustrukturierung der Welt eingeleitet hat, bleibt auch in unserem Zusammenhang in Kraft. „Perestroika“ bedeutet Transformation, „Glasnost“ heißt Transparenz. Veränderung beginnt also mit Offenheit und Ehrlichkeit.

Und dann fragen Sie einmal Menschen, die keinen christlichen Gottesdienst besuchen: Was denken sie darüber, was in den vier Wänden Ihrer Kirche Sonntag für Sonntag stattfindet? Fragen Sie Nachbarn in der unmittelbaren Umgebung Ihrer Kirchengemeinde. Sie werden staunen, was diese alles für möglich halten!

Und dann vergleichen Sie Ihre eigenen Vorstellungen mit denen anderer Menschen. Sind diese Vorstellungen kompatibel? Wird den Menschen geboten, was sie erwarten oder vermuten? Wenn nicht, dann sind Probleme vorprogrammiert. Warum sollten Menschen in eine Veranstaltung gehen, die sie missverstehen? Warum sollten sie von Gottesdiensten begeistert sein, die ihnen nichts sagen?

Und schließlich ist da ja noch Gott. Was denkt er über Gottesdienst? Wollte und will er das, was wir Gottesdienst nennen? Wenn ja, wo finde ich in der Bibel eine entsprechende biblische Bestätigung? Oder hat auch er sich längst aus unserer Mitte verabschiedet, weil er in der Veranstaltung, die wir anbieten, für sich selbst keinen Platz findet?

Zugegeben, es sind einfache und direkte Fragen. Sie sind leicht zu beantworten. Doch leider wird genau das kaum gemacht. Wagen Sie es!

Die Lektüre dieses Buches wird eine andere Qualität erhalten, wenn Sie jetzt erst einmal nicht weiter lesen, sondern die vorgeschlagene Übung machen. Und wenn Sie damit fertig sind, füllen Sie die Tabelle auf der folgenden Seite aus. Vergleichen Sie die einzelnen Aussagen miteinander. Wenn Sie Widersprüche und Spannungen in den Aussagen ausmachen, notieren Sie diese in der Spalte „Spannungen“.

 

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Gemacht? Klasse! Jetzt gehen wir an die Arbeit. Welche Fragen in Bezug auf den Gottesdienst sind bei Ihnen offen? Welche Fragen sollte dieses Buch beantworten? Notieren Sie sich diese Fragen!

Kapitel 2

Keine Gemeinde ohne Gottesdienst

2.1 Die Korrelation Gemeinde und Gottesdienst

Nichts ist so typisch für eine christliche Gemeinde wie der Gottesdienst. Wo immer sich Christen versammeln, feiern sie zusammen Gottesdienst. Das war seit Anbeginn des Christentums so. Der Gottesdienst ist „das wichtigste Treffen der Gemeinde“ (Kuen 1998:1). Theo Sorg schreibt dazu:

Würden durch äußeren Druck oder Krieg alle Kirchen geschlossen und keine Glocken mehr läuten, so kann doch eine Gemeinde ohne die Versammlung im Namen Jesu nicht wirklich Gemeinde sein. Sie kann in Roms unterirdischen Katakomben oder in einem sibirischen Arbeitslager zusammenkommen, aber versammeln muss sie sich. Die christliche Gemeinde und ihr Gottesdienst sind nicht voneinander zu trennen (Sorg 1987:54).

Eindrücklich beschreibt Plinius, der Abgesandte des römischen Kaisers Trajan, das gottesdienstliche Geschehen unter Christen, die er um das Jahr 110 am Schwarzen Meer kennenlernt:

Sie versammeln sich gewöhnlich an einem festgesetzten Tag vor Sonnenaufgang und singen Christus als ihrem Gott im Wechsel Lob; und verpflichten sich mit einem Eid, nicht etwa zu irgendeinem Verbrechen, sondern geradezu zur Unterlassung von Diebstahl, Raub, Ehebruch, Treulosigkeit und Unterschlagung von anvertrautem Gut. Danach ist es bei ihnen Brauch gewesen, auseinanderzugehen und später wieder zusammen zu kommen, um ein Mahl einzunehmen, allerdings ein ganz gewöhnliches und unschuldiges.8

Die unmittelbare Verknüpfung zwischen Gottesdienst und Leben der Christen ist hier deutlich evident. Gottesdienste gehören damit zur eigentlichen Mitte dessen, was eine christliche Gemeinde ist. Die heute weit verbreitete Haltung, dass Christsein auch ohne Gottesdienst möglich wäre, ist biblisch nicht zu halten. Unmissverständlich lehrt uns der Schreiber des Hebräerbriefes:

„Verlasst eure Gemeindeversammlungen nicht, wie es sich einige angewöhnt haben, sondern ermahnt euch gegenseitig, und das um so mehr, als ihr seht, dass sich der Tag neigt“ (Hebr 10,25).

Und Eberhard Hahn fasst die Theologie des Gottesdienstes im Neuen Testament zusammen und schreibt:

„Wo der Gottesdienst nicht im Zentrum der Gemeinde und des persönlichen Christenlebens steht, da regiert bald Gesetzlichkeit, Krampf oder Zwang. Alles kommt darauf an, dass die Prioritäten richtig gesetzt werden“ (Hahn 1998:7).

Walt P. Kallestad, Gemeindepastor aus den USA, bezeichnet den Gottesdienst mit Recht als „das Herz der Gemeinde“ (Kallestad 2002:88).

Doch was ist Gottesdienst? Wie verstehen wir in der Gemeinde Gottesdienst? Einen Gottesdienst zu leiten, ohne zu verstehen, was er ist, wäre mehr als fatal.

Gottesdienst steht für eine wöchentliche religiöse Veranstaltung, die in der Regel von den Christen am Sonntag, den Juden am Samstag und den Muslimen am Freitag veranstaltet wird.9 Inhalt, Formen und Gestaltung des Gottesdienstes unterscheiden sich zum Teil erheblich voneinander, je nachdem, wo man gerade in dieser Welt lebt.10 Doch was ist Gottesdienst biblisch gesehen? Wie sehen die Autoren des Alten und Neuen Testaments Gottesdienst? So einfach die Frage, so kompliziert die Antwort.

2.2 Gottesdienst aus der Sicht des NT

Eine einheitliche Sicht dessen, was die Bibel unter Gottesdienst versteht, vor allem unter der einen „richtigen“ Form des Gottesdienstes, fehlt in der Schrift. Diese Tatsache wird von verschiedenen Autoren unterstrichen.11 Das NT lehnt sich nicht an die in der Antike bekannten Vorstellungen vom Gottesdienst an. Die von Jesus bevorzugte Form der Versammlung im Haus ließ die Gemeinde zu einer Art „Oikosgesellschaft“ werden, die keine Parallelen kennt, wie Gehring sie einmal bezeichnet hat (Gehring 2000:51ff).

Der neutestamentliche Gottesdienstbegriff hat eine doppelte Bedeutung, die sowohl die Versammlung als auch eine im Alltag gelebte Haltung des Gehorsams meinen kann.12 Es geht hier um den Vollzug des Glaubens. Volker Gäckle kann daher mit Recht über die apostolischen Gemeinden schreiben:

„Die Gemeinden ‚lebten‘ Gottesdienst im ganzheitlichen Sinne, integriert in ihren Alltag“ (Gäckle 2005:39).

Die alten Griechen bezeichneten ihre religiösen kultischen Dienste, die sie einer Gottheit gegenüber brachten, mit dem Wort latrea. Das Verb latreuein steht für kultisches Dienen und wurde von den Übersetzern des AT nur an vier Stellen verwandt – Jos 22,27; Ex 12,25.26; 13,5. Dabei geht es um die kultische Verehrung Jahwes, vor allem durch Opfer.13 Wichtig hierbei ist die innere Haltung des Opfernden. Der Gottesdienst ist demnach nicht nur eine äußere Opferhandlung, sondern schließt bewusstes Teilnehmen am Gottesdienst mit ein. Opferbereitschaft setzt also Hingabe voraus.

Im NT kommt der Begriff latreia