Eric Barnert (Jahrgang 1968) lebt in Darmstadt. Nach Jahren als Dr. rer. nat. an den Universitäten Darmstadt und Freiburg in Forschung und Lehre ist er nun freiberuflich tätig, u.a. als Berater im Weinbau sowie als Klettertrainer, Autor und Fotograf (u.a für die Zeitschrift »Klettern« und den Panico Alpinverlag). Durch die alpin-journalistische Tätigkeit und seine Leidenschaft für gute Bücher reifte auch die Idee zu seinem ersten Krimi in den Bergen, »Kreuzkogel«.

Im Alter von 14 Jahren stand Eric Barnert auf seinem ersten Viertausender, mit 16 Jahren dann das erste Mal allein. Er sammelte über hundert Erstbegehungen, vor allem in den Dolomiten, dem Verwall, dem Frankenjura, Arizona oder an den Felsen des Odenwalds, und erkletterte viele renommierte und auch weniger bekannte Berge und Wände in den Alpen und im Yosemite.

Seit 1988 ist Eric Barnert geprüfter Fachübungsleiter Alpinklettern und Hochtouren im Deutschen Alpenverein. Er war Mitglied der Präsidialkommission Sport & Umwelt im Hessischen Landessportbund und des Bundesausschusses »Klettern & Naturschutz«. Außerdem war er am Zustandekommen mehrerer Offener Hessischer Meisterschaften im Sportklettern beteiligt und dabei als Organisator, Pressebetreuer, Sponsorensucher, Schiedsrichter oder Routenschrauber tätig. Heute betreut er u.a. die Darmstädter Hütte bei St. Anton und ist in seiner Sektion für den Spitzenbergsport zuständig.

Eric Barnert

Kreuzkogel

Bergkrimi

Bergverlag Rother

MONTAG, 17. AUGUST

1

Der Weg schlängelte sich in immer neuen Serpentinen steil empor, vorbei an rot-weißen Farbmarkierungen, die auf einzelnen Steinen am Rand feucht glänzten. Man konnte die klare Morgenluft an diesem Augusttag tief in die Lungen saugen. Sie schien Kraft zu geben, und Martin Keller wurde zusehends wacher, mit jedem Atemzug, mit jedem Schritt und jedem gewonnenen Höhenmeter. Den Duft der feuchten Erde glaubte er zu riechen, die Kräuter und Blumen der saftigen Almwiesen. Eine Bergdohle schwebte an ihm vorbei und entschwand zwischen den imposanten Wänden und Zinnen des Gebirges, das mehr als eine steinerne Kulisse für ihn war.

Endlich, dachte er, endlich bin ich hier. Er spürte, wie sich die Zeit langsam auflöste, sich alles zuvor Erlebte entfernte. Wie sehr hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt. Er konnte gehen, wohin er wollte, so schnell er wollte, er konnte eine Pause einlegen und den kargen Proviant aus seinem Rucksack verspeisen oder etwas trinken, wo und wann es ihm beliebte. Und doch war er nicht mehr der unschuldige Entdecker früherer Tage, der die Freiheit des Bergvagabunden auf Zeit genoss. Er hatte schon lange andere Prioritäten in seinem Leben gesetzt. Eigentlich hatte er sie gar nicht bewusst gesetzt, es hatte sich so ergeben. Schließlich musste er sich bei aller Bergbegeisterung auch dem realen Leben stellen. Und dazu gehörte einen Beruf zu ergreifen, der ihn ernährte und vielleicht auch die Familie, die er gerne gründen würde, aber deren Realisierung ihm meist wie ein diffuser Traum vorgekommen war. Martin Keller glaubte trotzdem, dass auch ihm die Rolle des Familienvaters vorbestimmt war, und dass er den Weg dorthin genauso wenig wissen konnte wie das Ergebnis eines Forschungsvorhabens oder das Wetter bei einer alpinen Unternehmung. All seine Erfahrungen und Erlebnisse, alles Erlernte und Ersparte sollte doch eines Tages den eigenen Kindern weitergegeben werden, aber bislang war es nicht dazu gekommen. Vielleicht würde er mit Nadine eine Familie gründen? Sie hatten schon einmal darüber gesprochen, und sie war, so schien es, nicht abgeneigt. Aber bevor es dazu kommen konnte, musste er sein Problem lösen, das in gewisser Weise auch ihr Problem war.

Die Sonne kündigte sich mit einem rötlichen Horizont an. Er erahnte die Euphorie früherer Tage und doch fehlte das Feuer in ihm, das einmal so hell gebrannt hatte. Wo war diese überschwängliche Lebensfreude geblieben? Beschönigte er vielleicht die Vergangenheit? Er überlegte kurz: Nein, er war sich sicher, es hatte sich etwas verändert. Er war nicht mehr derselbe und er wusste auch weshalb.

Keller hatte die letzte Nacht in seinem Campingbus geschlafen, den er sich vor sechs Jahren gekauft, aber kaum genutzt hatte, obwohl er sich zuvor immer einen gewünscht hatte, als er noch viel unterwegs war. Als er dann vor seiner Tür stand, war dieser Bus eine Insel der Freiheit, ein Überbleibsel seines alten Lebens, das sich zusehends verlor und schließlich nur noch die theoretische Möglichkeit verkörperte, aus den neuen Realitäten auszubrechen. Bis er durch einen Zufall Nadine kennenlernte.

Am vorigen Abend war er hergekommen, im Dunkeln noch über die nicht geteerte und nur für Anrainer zugelassene Almstraße zu seinem Übernachtungsplatz auf gut zweitausend Metern hinaufgefahren, hatte ein paar Scheiben Brot gegessen, eine Flasche Bier getrunken und war in seinen Schlafsack gekrochen. Die Wettervorhersage, die er auf der Anfahrt im Radio gehört hatte, sprach von vereinzelten nachmittäglichen Schauern oder Wärmegewittern, und so hatte er sich spontan für diese Tour entschieden.

Als er zu Hause losgefahren war, hatte er kein konkretes Ziel gehabt, es war die Sehnsucht, die ihn aufbrechen ließ, die Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit, in der ihm alles klar und einfach erschien, keine Verantwortung auf ihm lastete und, was heute sicher noch schlimmer war, kein diffuses Gefühl der Schuld.

Nach einer kurzen Nacht piepste sein Mobiltelefon. Er schaltete den Wecker aus, stellte beruhigt fest, dass er keinen Empfang hatte, zog sich an, kochte sich einen Tee, frühstückte gemächlich und packte seinen Rucksack. Schließlich warf er noch einen Blick auf die Karte. Dann brach er in der Dämmerung auf.

Der Himmel war klar und wolkenlos. Er hatte diese Tour schon einmal vor vier Jahren gemacht, aber alles sah anders aus als in seiner Erinnerung. Fest entschlossen, den Nebel der Vergangenheit zu vertreiben, wollte er sich diesen Flecken Bergwelt wieder erobern, so als könnte er dadurch den Graben überwinden, der zwischen seinem früheren und seinem heutigen Leben klaffte. Unbewusst hoffte er, dadurch die innere Ruhe wiederzuerlangen, die ihm irgendwann verloren gegangen war. Als erfahrener Bergsteiger ging er gemächlich los, auch weil er noch müde war. Er gewann nur langsam an Höhe.

Doch nun war er wieder dort, wo er einst glückliche Tage verbracht hatte. Er merkte, wie sein Kreislauf langsam auf Touren kam und spürte die Wärme, die seinen Körper durchdrang, während er Kehre um Kehre des schmalen Pfades hinaufstieg. Nachdem er eine gute Stunde bergan gestiegen war, ging die Sonne auf und er fühlte sich wach und lebendig bis in die letzten Fasern seines Körpers. Gleichzeitig musste er feststellen, dass er nicht mehr so gut zu Fuß war, aber das machte nichts, er hatte sich ein harmloses Ziel ausgesucht, welches sich auch im halben Tempo bewältigen lassen sollte. Mit seinen ein Meter vierundachtzig wirkte er zwar immer noch schlank und sportlich, die Waage hatte ihm aber erst vor ein paar Tagen wieder einmal verraten, dass er zu seinen Glanzzeiten ein paar Kilo weniger gewogen hatte. Auch die ansehnlichen Geheimratsecken, die sich tief in seine kurzen, dunkelblonden Haare vorgearbeitet hatten, waren dem Umstand zu verdanken, dass er die vierzig schon vor gut drei Jahren überschritten hatte.

Kurz bevor er die Scharte erreichte, an der ein luftiger Grat begann, den er zu überklettern gedachte, während der Wanderweg über steiles Geröll hinab ins südlich gelegene Kaltertal führte, streifte ihn der erste Sonnenstrahl. Froh und seltsam erleichtert setzte er sich und aß einen Müsliriegel. Sein Blick reichte jetzt weit über das benachbarte Tal auf die gegenüberliegenden Gipfel. Auf manchen von ihnen hatte er schon gestanden. Doch auch sie schienen sich inzwischen verändert zu haben. Trotzdem war er erfreut und fühlte ein wenig dieses ursprünglichen Glücks, das er immer geliebt hatte. Ein Glück, welches ihm die Berge aus freien Stücken schenkten, wenn er sich ihnen hingab. Keine Willkür oder Schufterei eines anderen Menschen hatte das bisher verhindern können. Das Bergsteigen, in all seiner Vielfalt, war immer ein ehrliches Geschäft, das nur die höhere Macht des Wetters zu verhindern wusste.

Nach einer halben Stunde Pause blickte er auf seine Multifunktionsuhr und entschloss sich zum Aufbruch, es war kurz vor acht. Etwas in ihm hätte am liebsten den ganzen Tag hier verdöst, um dann nachmittags gemütlich hinab zum Auto zu schlendern, aber nach kurzem Zaudern verwarf er diese Anwandlung. Das hätte ihn nicht befriedigt, er brauchte mehr, eine richtige Bergtour und keine halbherzige Wanderung. Er zog seine Kletterschuhe an, verstaute seine Wanderstiefel und seine Jacke im Rucksack, setzte seinen Helm auf und begann in der wärmenden Morgensonne den Westgrat auf den Roten Kreuzkogel zu erklettern. Das Gestein war zwar nicht immer fest, dafür war es nur eine eher harmlose Kletterei, die sich bis auf zwei Stellen im dritten Schwierigkeitsgrad immer in leichterem Fels abspielte. Trotzdem gehörte diesmal Überwindung dazu, sich in diese Luftigkeit zu begeben, die er hier früher gar nicht wahrgenommen hatte und die ihn nun etwas beeindruckte.

Ein wenig stockend und verunsichert stieg er die ersten steileren Meter den Grat empor und umging einen Turm auf der kalten Nordseite, auf der noch ein paar Reste von Schnee überdauert hatten, der unter seinen Sohlen knarrte. Es hatte nachts etwas gefroren, denn immerhin war die Scharte schon rund 2800 Meter und der Gipfel gut 3100 Meter hoch.

Nach ein paar leichteren Passagen fühlte er sich zunehmend sicherer und musste nun die erste der beiden schweren Stellen bewältigen. Glücklicherweise waren diese nicht so ausgesetzt. Im Falle eines Sturzes wäre er zwar unsanft auf dem breiten Band unterhalb der Passage gelandet, aber eben nicht im einige hundert Meter tiefer gelegenen Kar. Ein breiter Riss führte durch eine glatte, geneigte Platte, man konnte die Füße meist auf Klemmblöcke innerhalb stellen, nur auf einer Länge von zwei Metern war es notwendig, die Kletterschuhe und Fäuste etwas im Riss zu verklemmen und auf deren Reibung zu vertrauen. Und eben das gefiel Martin Keller nicht, obwohl er wusste, dass er sich hier, gemessen an seinen früheren Unternehmungen, in lächerlichen Schwierigkeiten bewegte. Also ließ ihn sein Stolz zwar zittrig, aber flüssig weitersteigen.

Am Ende der glatten Stelle fehlten ihm nur wenige Zentimeter zu einem vielversprechenden Griff, als ihn ein Anfall von Unsicherheit stocken ließ. Er spürte, wie ihm plötzlich kalter Schweiß ausbrach, und sein Gehirn kreiste ausschließlich um zwei Gedanken: Wie komme ich an diesen Griff, und was passiert, wenn ich hier hinunterfalle? Den zweiten Gedanken konnte er verdrängen, nachdem er die lähmende Panikattacke überwunden hatte. Nach kurzer Analyse sah er links oberhalb auf der Platte ein kleine Leiste, auf die er antreten konnte. Würde er nun den anderen Fuß ein Stück höher im Riss verklemmen, müsste er den Griff erreichen können. Als er schließlich den Arm ausstreckte und den Griff ertastete, war dieser von komfortabler Größe und rettete ihn aus seiner bedrohlichen Lage.

Sosehr er sich freute, diese Passage gemeistert zu haben, wusste er doch auch, dass er hier nicht wieder hinabklettern wollte. Aber das hatte er ja ohnehin nicht vorgehabt. Er wollte den Roten Kreuzkogel überschreiten, um den leichteren Nordgrat absteigen zu können, der ihn zur Oberwiesler Alm bringen würde. Diese war bewirtschaftet und er wollte dort übernachten.

Langsam stieg er weiter, sein Ziel war es, die zweite Schlüsselstelle sauber hinter sich zu bringen, dann sollte die Tour im Prinzip geschafft sein. Er hatte jetzt keine Zeit, sich mit seinen Schwächen auseinanderzusetzen, es hätte ihm auch nichts geholfen. Sosehr er eine beklemmende Anspannung verspürte, sosehr erregte ihn diese Situation auch. Er spürte förmlich das Adrenalin in seinen Adern seit diesem kurzen Moment der Unsicherheit.

Es folgten ein paar hundert Meter in leichterem Gelände und schließlich stand er unterhalb des letzten Turms, der üblicherweise direkt erklettert wurde. Hier war der Grat besonders schmal, die Kletterei besonders luftig und ein Fehler hätte mit ziemlicher Sicherheit einen kapitalen Absturz zur Folge gehabt. Die Platte führte an den Fuß einer Verschneidung, die senkrecht, aber einigermaßen griffig auf den Turm führte. Er bläute sich ein, dass diese Passage lediglich im Kopf zu bewältigen sei, denn die Kletterei war einfach, nur fand sie in einer einschüchternden Umgebung statt.

Martin Keller war kein ängstlicher Mensch und bis jetzt hatte er auch schwierige Touren ohne größere Blessuren überstanden. Die Fähigkeit, im richtigen Moment einen kühlen Kopf zu bewahren, verlernt man nicht, sagte er sich und kletterte langsam los. Er stellte sich vor, er befände sich nur wenige Meter über einer ebenen, weichen Wiese im heimischen Klettergarten, und das half ihm auch zunächst.

Nach etwa acht Metern erreichte er die Verschneidung und begann in ihr hochzuspreizen. Die Spalte in ihrem Grund öffnete sich zu einem Schulter- und schließlich zu einem Körperriss. Unwillkürlich kroch er hinein und schrubbte in diesem Sicherheit versprechenden Schlund höher. Das funktionierte recht gut – bis sein Rucksack stecken blieb. Das fehlte noch, es waren doch nur noch zwei Meter!

Er hatte sich derart tief in den Körperriss hineinmanövriert, dass er sich fast nicht mehr bewegen konnte. Seine Beine fingen an zu zittern und ein dumpfes Gefühl irgendwo zwischen Angst und Ärger bemannte sich seiner. Es musste jetzt doch noch irgendwie aufwärtsgehen! In einem Anfall von Urgewalt stemmte er sich höher und hörte ein reißendes Geräusch: der Rucksack! Seine Trinkflasche und ein paar andere Gegenstände klimperten unter ihm auf die Felsen und verschwanden in der Tiefe.

„Scheiße!“, schrie er und saß wenig später atemlos auf dem Turm. Neben der Flasche fehlten auch seine Brotzeitdose, der Fotoapparat und seine Handschuhe. Er nahm die Rolle Verbandstape aus seinem Erste-Hilfe-Päckchen und klebte das Loch im Rucksack zu.

Es ist nichts passiert, andere mussten schon für weniger ihr Leben lassen, beruhigte er sich, ich hab’s geschafft! Doch gleichzeitig war ihm klar, dass er heute ein zu großes Risiko eingegangen war. Er hatte gedacht, er könne seine Tourenplanung nach seinen alten Fähigkeiten gestalten, aber damit hatte er eindeutig falschgelegen.

Er saß noch einen Moment und wartete darauf, dass es in ihm wieder ruhiger wurde, aber das geschah nicht.

Nichts wie weg hier, dachte er dann und kletterte über die leichten Felsen dem Gipfel entgegen. Das Gipfelkreuz saugte ihn förmlich an. Insgeheim hoffte er, noch andere zu treffen, die vielleicht auf einer leichteren Route zum Gipfel gelangt waren und mit denen er hätte absteigen können. Auch war er trotz allem stolz auf seine Leistung und hätte gerne etwas Anerkennung erhalten.

Als er schließlich oben ankam, war jedoch weit und breit kein Mensch zu sehen. Stattdessen bemerkte er mächtige Kumuluswolken auf der Südseite und beschloss, sofort abzusteigen. Eigentlich hatte er auf dem Gipfel rasten und seine Tour genießen wollen, aber er war zu aufgewühlt. Auch ängstigte ihn das Wetter derartig, dass man ihn hätte zwingen müssen, auch nur eine Minute länger hier oben zu bleiben. Seine Uhr zeigte Punkt zwölf. Nein, ich bin nicht mehr derselbe, schoss es ihm durch den Kopf, früher wäre ich locker geblieben, aber früher war ich auch schneller.

Er rannte auf losen Trittspuren bergab, und als er sich eine Viertelstunde später umsah, musste er feststellen, dass der Gipfel schon in den Wolken verschwand. Er stieg weiter ab und fragte sich nach einer Weile, ob das wirklich die Unternehmung war, die er sich gewünscht hatte. Wohl kaum, dachte er, als sich die Wolkendecke langsam, aber bedrohlich über ihn senkte. Fortan orientierte er sich nur noch an vereinzelten Markierungen, Trittspuren und Steinmännern. Wenig später trafen ihn erste Tropfen und der Regen begann dunkle Flecken auf die Steine zu zeichnen.

Als es richtig anfing zu schütten, war er am Fuß des Nordgrats, der ihn wegen der Nässe länger als erhofft beschäftigt hatte. Als das erste Grollen zu hören gewesen war, hatte er sofort seine Regenjacke angezogen, seinen Helm abgesetzt, die Kapuze über den Kopf gezogen und die Schuhe gewechselt. Die Luft um ihn herum wirkte nun gelblich und das Donnern kam immer näher. Es war ihm klar, was das bedeutete, und er begann, von einer Urangst ergriffen, die spärlich bewachsenen Hänge hinunterzurennen.

Mit schnellen kurzen Schritten, möglichst weich in den Knien federnd und schließlich in einer Geröllhalde abfahrend, raste er bergab, als ein Blitz laut krachend in den Bergrücken neben ihm fuhr. Das gleißend helle Licht blendete ihn und er warf sich zu Boden, er zitterte, er hatte Angst. Doch sofort rappelte er sich auf und rannte weiter, ergriffen von Panik sprang er nur noch in Rinnen bergab, immer wieder von donnernden Blitzen umgeben, bis er den ebenen Talboden der Oberwiesler Alm erreichte und merkte, dass der Abstand zwischen Blitz und Donner wieder größer wurde.

Unwillkürlich verlangsamte er seinen Schritt, auch weil er nicht wie ein angsterfüllter Derwisch in die Hütte der Alm stürzen wollte, auf die er sich, je länger die Tour dauerte, zunehmend gefreut hatte. Ja, man konnte fast sagen, sie war sein eigentliches Ziel, auch wenn er, freilich auf dem direkten Weg von seinem Bus aus, schon vor vier Stunden entspannt und trockenen Fußes hier hätte eintreffen können. Aber das war inzwischen nebensächlich, vom Verlust seiner Ausrüstungsgegenstände mal abgesehen.

Ungefähr fünfhundert Meter vor der Alm piepste sein Mobiltelefon. Er hatte es angelassen, doch er beschloss, erst unter dem Vordach der Hütte nach der SMS zu schauen, die er gerade bekommen hatte.

Die Wiese dampfte und der Regen ließ nach, als er sich der Hütte näherte. Er konnte erste Stimmen hören und der Schornstein rauchte einladend. Eine urtümliche Wärme und ein Gefühl der Euphorie begannen sich in ihm auszubreiten. Ja, er glaubte feststellen zu können, dass er gerade richtig glücklich war. Es war noch mal gut gegangen. Er würde nun eintreten, sich ein Bier und etwas zu essen bestellen und sich auf die Bank am Ofen setzen, wenn dort noch etwas frei wäre.

Nachdem er den Rucksack unterm Vordach abgesetzt hatte, öffnete er die Deckeltasche. Er ließ seine Geldbörse in die Hosentasche gleiten und schaute auf sein Handy. „Eine Kurznachricht erhalten“, stand da. Er öffnete sie und begann zu lesen:

Wo bist du, Martin?Erreiche dich nicht, zwei Männer waren hier, wollten mit dir reden, bitte melde dich! Ich liebe dich, deine Nadine

Martin Keller starrte einen Moment regungslos auf sein Telefon und zwei Tränen liefen ihm über die Wangen.

2

Er hatte sie beruflich kennengelernt. Eines Tages Ende Mai saß er in seinem Büro oberhalb von Konstanz, als das Telefon klingelte.

„Keller, Europharma.“

„Mercier, ich bin Ärztin bei Professor Strattmann in der Albtraufklinik. Sie sind doch der Stufenplanbeauftragte für CC-784?“

„Ja, der bin ich. Gibt es etwas Neues?“

„Nun, möglicherweise schon. Professor Strattmann ist im Ausland und ich habe hier eine Komplikation bei einem Patienten, die ich Ihnen melden möchte. Auch im Sinne des Patienten wollte ich Sie in Kenntnis setzen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das Medikament weiter verabreichen sollten.“

„Um was für eine Komplikation geht es?“

„Es handelt sich offenbar um eine transitorische ischämische Attacke oder einen Schlaganfall. Wir haben noch keine Bildgebung, wollen diese aber gleich durchführen und anschließend entscheiden, ob wir gegebenenfalls intervenieren.“

„Was hat er denn für Symptome?“

„Er spricht undeutlich, hat Lähmungserscheinungen in der rechten Gesichts- und Körperhälfte.“

„Könnte ich bitte die Patientennummer haben?“

„Es ist der Patient CC-784-32-07.“

„Einen Moment, ich sehe mir seine Daten an.“

Keller öffnete das Profil des Patienten auf seinem Computer, las und überlegte. Dann schaute er in seinen Terminkalender, obwohl er eigentlich wusste, dass nichts Bedeutendes mehr anstand.

„Hm. Darf ich mir den Patienten vielleicht mal anschauen? Ginge das?“

„Wenn Sie möchten, gerne. Sie sollten dann aber am besten sofort kommen.“

„Gut, ich bin in eineinhalb Stunden bei Ihnen.“

„Der Patient liegt auf Zimmer 117, sofern er nicht noch bei Untersuchungen ist. Bis nachher.“

Zehn Minuten später saß er in seinem Firmenwagen und blickte über dessen Stern auf die Autobahn in Richtung Böblingen. Eigentlich war es eher selten bei Europharma, dass sich der Stufenplanbeauftragte selbst vor Ort begab. Aber einerseits wollte er, als persönlich haftender Verantwortlicher für die Arzneimittelsicherheit dieser Studie, keinen Fehler machen, und andererseits hatte sich die Stimme am anderen Ende der Leitung derart sympathisch angehört, dass ihm die Entscheidung leichtfiel. Dr. Mercier hatte eine eigentümliche, sehr charmante Dialektfärbung, die er noch nicht recht deuten konnte; später erfuhr er, dass sie aus dem Elsass stammte.

Als er ihr schließlich auf einem Gang der Klinik gegenüberstand, überstieg ihr Anblick seine Erwartungen so eklatant, dass er merkte, wie gehemmt er plötzlich war und, schlimmer noch, rot anlief. Sie trat auf ihn zu und gab ihm die Hand. Er hätte sie am liebsten nicht wieder losgelassen.

„Dr. Nadine Mercier“ stand auf dem Namensschild an ihrem weißen Kittel. Sie war vielleicht eins siebzig groß und sportlich. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, was ihr anmutiges Gesicht und ihre schönen braungrünen Augen noch betonte. Er senkte kurz seinen Blick und musterte unwillkürlich ihre Beine, die in Tennissocken und weißen Sportschuhen steckten und doch sehr hübsch anzusehen waren.

Sie schien seine Unsicherheit bemerkt zu haben und blickte ihn mit ihren wundervollen Augen auf eine Art an, die eine heimelige Wärme in ihm aufsteigen ließ und ihm seine Sicherheit zurückgab, ihn aber gleichermaßen verzauberte.

Nachdem der dienstliche Teil vorüber war, lud er sie zum Essen ein und sie lächelte ihn daraufhin mit einem Gesichtsausdruck an, der ihm mehr als eine Ermutigung signalisierte, es lag schon fast eine Antwort darin. Diese Magie der unwiderstehlichen gegenseitigen Anziehung war für Keller ein Wunder. Er hatte so etwas noch nie erlebt, nein, er hatte sogar schon den Glauben daran verloren, dass ihm so etwas noch passieren könnte.

Beim Essen hatte sie ihm erzählt, dass ihre Vorfahren als Weinbauern zu Zeiten Napoleons aus dem Burgund ins Elsass eingewandert waren. Während sich auch heute noch einer ihrer Onkel dem Weinbau widme, sei ihr Vater ebenfalls Arzt, Allgemeinmediziner mit einer Praxis in einem kleinen Ort südwestlich von Straßburg namens Châtenois. Ursprünglich hatte sie die Praxis eines Tages übernehmen wollen, dann aber Karriere in Deutschland gemacht, und so würde es wohl nicht mehr dazu kommen. Keller war fasziniert von ihrem Gesicht, das ihn im Schein der Tischkerze anstrahlte, von ihren dunklen Augen, die ihn wie funkelnde Murmeln fixierten und von denen er seinen Blick nicht lösen konnte. Schließlich verabredeten sie sich für den nächsten Nachmittag.

Am folgenden Tag besuchten sie nochmals gemeinsam den Patienten, dessen Symptome mittlerweile verschwunden waren, gingen gemeinsam dessen Befund durch und anschließend lud sie ihn in eine kleine Gaststätte bei ihr um die Ecke ein. Nach einem Verdauungsspaziergang waren sie zu ihr gegangen, sie hatten sich angelächelt und er hatte mit klopfendem Herzen ihre Hand berührt und schließlich ergriffen. So durchquerten sie den Hof, stiegen das Treppenhaus hinauf und küssten sich zum ersten Mal, nachdem sie hinter ihm die Tür geschlossen hatte.

Die anschließende Wohnungsbesichtigung, immer wieder von Zärtlichkeiten unterbrochen, endete im Schlafzimmer, das sie bis zum Morgen nicht mehr verließen. Ihre Liebesnacht hatte nichts Animalisches, nichts von rasendem Verlangen, es war einfach ebenso natürlich wie selbstverständlich, und dabei lustvoll und erfüllend.

Als er am nächsten Morgen neben ihr erwachte, betrachtete er sie, streichelte über ihre weiche Haut, hörte ihr wohliges Knurren, genoss es, wie sie sich an ihn schmiegte, ihre Wärme, ihren Duft und sein wieder aufkeimendes Verlangen. Er war glücklich und mit sich im Reinen. Und er war sich sicher, dass sein in den letzten Jahren so farbloses Leben gerade eine ganz und gar positive Wendung genommen hatte.

Ob seine Kollegen etwas gemerkt hatten von seinem Wandel in den folgenden Wochen, ob sie ahnten, dass er nicht mehr solo, sondern glücklich verliebt war? Um diesen Verdacht nicht zu nähren, versuchte er sich wie immer zu verhalten. Trotzdem merkte er ständig, wie sehr ihn der Umgang mit ihr verzückte, und er glaubte auch in ihren Augen ein Glänzen zu sehen. Und diesen Zauber nahm er mit in die Firma. Nun ging er täglich mit einer fiebrigen Freude zur Arbeit und wartete nachmittags nur noch auf den Dienstschluss, um sie zu treffen. Er freute sich auf ihren Duft, ihre Stimme, die Gänsehaut, wenn sie sich berührten, das Gefühl, zusammen die Zeit anhalten zu können, für ein paar Momente, eine Nacht oder ein gemeinsames Wochenende.

Nach einem knappen Monat tauschten sie die Wohnungsschlüssel.

Das war nun ein paar Monate her, und da es beiden am Bodensee besser gefiel, wohnten sie inzwischen im Grunde bei ihm, wenn es ihre Dienstpläne zuließen. Eigentlich, sagte er sich, war alles wunderbar, unglaublich schön und genau so, wie er es sich immer erträumt hatte. Und er empfand es als ungerecht, dass ausgerechnet jetzt diese Probleme auftraten.