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Lager Ravensbrück; Zeichnung von Aat Breur

LORETTA WALZ

»Und dann kommst du dahin
an einem schönen Sommertag«

Die Frauen von Ravensbrück

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

 

 

 

 

 

Gefördert von der Stiftung ERTOMIS, Wuppertal

In Zusammenarbeit mit dem Institut für
Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen
und der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück

INHALT

Erinnern an Ravensbrück von Sigrid Jacobeit

Vorwort von Alexander von Plato

EINLEITUNG

»ALLES VERGESSENE SCHREIT IM TRAUM UM HILFE«

BEGINN DER SAMMLUNG

FUNKTIONSHÄFTLINGE: ZWISCHEN PRIVILEG UND WIDERSTAND

BLOCKÄLTESTE IN RAVENSBRÜCK

HÄFTLINGE IN DER SS-KÜCHE

»EIN HELFERSHELFER ZU SEIN IST SCHRECKLICH FÜR DIE SEELE«

»GETEILTER SCHMERZ IST HALBER SCHMERZ«

ZWEI TSCHECHINNEN IM RAVENSBRÜCKER KRANKENREVIER

AUS DER WIDERSTANDSBEWEGUNG INS KZ

EINE JÜDIN IN RAVENSBRÜCK

DIE MEDIZINISCHEN EXPERIMENTE

»MAN KANN DAS GAR NICHT SO SAGEN, WIE’S WIRKLICH WAR …«

STERILISATIONEN VON SINTI UND ROMA

ALS KIND IN RAVENSBRÜCK

»OJ BOŽE! OJ MAMA! – OH GOTT! OH MUTTER!«

GEBURTEN IN RAVENSBRÜCK

ANHANG

ANMERKUNGEN

BIBLIOGRAPHIE

LAGEPLAN

DANKSAGUNG

ERINNERN AN RAVENSBRÜCK

Die Erinnerung an Ravensbrück braucht engagierte Menschen. Erika Buchmann, Aenne Saefkow und andere Überlebende des Frauen-Konzentrationslagers haben Beispiele gesetzt. Sie begannen unmittelbar nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee, Zeugnisse der KZ-Zeit zu sammeln, um über den Ort der unzähligen Verbrechen zu informieren. Als Zeuginnen des Geschehenen baten sie ihre ehemaligen Mitgefangenen um Dokumente, Briefe, Fotos, um Gegenständliches wie Kleidung oder Kleidungssymbole, künstlerisch Gefertigtes, bisweilen Geschnitztes, winzig klein aus Stielen von Zahnbürsten, um im Lager entstandene kleinstformatige Alben oder Büchlein, die Geburtstags- oder Namenstagsgeschenke waren, und anderes mehr.

Die erste Ausstellung der am 12. September 1959 eröffneten Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zeigte diese Überbleibsel, die im Verlauf der folgenden Jahrzehnte zu musealen Kostbarkeiten avancierten. Dennoch fehlte diesen »echten« Erinnerungsstücken oftmals eine individuelle mündliche Geschichte, die die Dinge, entsprechend dem althergebrachten museologischen Credo, zum Sprechen bringen könnte. Ravensbrück, der Verbrechensort zwischen 1939 und 1945, braucht diese Sprache, die Sprache als Erinnerung der einst an diesen Ort deportierten Frauen, Männer und Kinder.

Loretta Walz hat diese Sprache der Erinnerung schon vor mehr als zwei Jahrzehnten fasziniert. Eine erste Begegnung unmittelbar nach meinem Amtsantritt in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück im Dezember 1992 hatten wir sehr bald verabredet. Die Sowjetarmee räumte gerade das ehemalige KZ-Gelände. Wir planten gemeinsam die notwendige ›Spurensuche‹ auf dem durch militärisch genutzte Überformung verwandelten Ort; eine Spurensuche mit Ravensbrückerinnen, wie wir die Überlebenden ganz selbstverständlich nannten, begleitet von Kamera, Mikrofon und unseren Fragen. Edith Sparmann aus Dresden, Helga Luther aus Berlin und Gertrud Pötzinger/ Niederselters waren im Jahr 1993 die ersten Eingeladenen. Sie sprachen viele Stunden über ihre sehr emotional geprägten Erinnerungen, über die entwürdigende Prozedur der Ankunft, die Unterbringung in den Baracken, die Appelle auf der Lagerstraße, die Arbeit als sinnlose, aber auch als beruflich erlernte Tätigkeit, die Orte des Häftlingseinsatzes und der SS. Mit ihnen suchten wir die baulichen Relikte der KZ-Zeit innerhalb und außerhalb des Lagerkomplexes. Es entstand der erste dreißigminütige Begleitfilm »Spurensuche« zur Ausstellung »Ravensbrück. Topographie und Geschichte des Frauen-Konzentrationslagers«, die wir am 23. Mai 1993 in Anwesenheit der Interviewten eröffneten. Sie – die Überlebenden – haben wiederum Beispiele gesetzt mit ihrem Engagement für den Ort, ihrer ungebrochenen physischen und psychischen Stärke. Interviewsituationen als Begegnungen, die zur Fortsetzung mahnten, die unvergesslich sind.

Die Zusammenarbeit mit Loretta Walz und den Ravensbrückerinnen begann als Programm, für das uns Eile geboten schien. Es war nicht an den Ort gebunden, vielmehr an die Zeitzeugen selbst, die das Lagergeschehen in sich tragen. So entwickelten wir ein inhaltliches und immer wieder auch ein finanzielles Realisierungskonzept für ein Interviewprogramm in Ravensbrück, aber auch an weit entfernten Orten. Mit der Fokussierung auf die gesamte Lebensgeschichte und der Schwerpunktsetzung auf die Haftzeit war es mehr als richtig, zu den Ravensbrückerinnen nach Hause zu fahren, ob nach Warschau, Prag, Hamburg oder Odense – Ort des Lebensabends der Dänin Astrid Blumensaadt-Petersen, die uns mit ihren Ravensbrücker Zeichnungen und ihren zahlreichen Zeugnissen aus jener Zeit eine reiche Begegnung ermöglichte. Thematische Schwerpunkte kristallisierten sich heraus: so die pseudomedizinischen Versuche an Polinnen, die Geburten und die Kinder, die Rolle von Siemens in Ravensbrück, das Schicksal von Sinti, Roma und Jüdinnen, das Jugend-KZ Uckermark – der vorliegende Band ist ein Spiegelbild der umfassenden Fragestellung und Sammlung.

Loretta Walz hat mit leidenschaftlicher Hingabe und auf vorbildliche Weise das gewachsene Interesse der Historiker an kollektiver Erinnerung um die individuelle Erinnerung von Überlebenden des KZ Ravensbrück ergänzt. Sie hat Frauen und Männer befragt. Gegenstand ihres Engagements für Ravensbrück ist der Mensch oder besser die Menschen oder noch genauer die Menschen in der Zeit.

Für die Sammlung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück ist eine Mediathek als Schatzkammer entstanden, die ihresgleichen suchen wird; mit diesem Buch zugleich ein herausragend passioniertes Werk, das, um es mit Marc Bloch zu sagen, »Gelehrten und Schuljungen gleichermaßen verständlich« sein wird.

Es ist mir eine große Freude, dass unsere wissenschaftliche wie menschliche Zusammenarbeit aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung diese außergewöhnliche Veröffentlichung erfährt. Ich danke dem verständnisvollen Antje Kunstmann Verlag. Ich danke Loretta Walz, die gewissermaßen als Architektin und Bauleiterin, als Dramaturgin, Psychologin und Pädagogin, unterstützt von ihrer Familie und von ihrem sympathischen Team, das Werk vollbracht hat – und ich danke den Ravensbrückerinnen von ganzem Herzen.

Sigrid Jacobeit
Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/
Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten

VORWORT

Wir leben an der Schwelle von Zeitgeschichte zur Geschichte, was den Nationalsozialismus betrifft. Diejenigen, die diese zwölf Jahre bewusst erlebt oder erlitten haben, sterben aus. Damit wird bald ein wesentliches Element in der Kommunikation um diese »tausend Jahre« fehlen. Die Historiographie wird sich auf eine Geschichte ohne lebendige Zeitzeugen einstellen oder gar auf die Entwicklung von einer »erfahrungsgesättigten« zu einer »erfahrungslosen« Vergangenheit. So behauptet es manch ein Historiker. Aber ist dies noch richtig?

Es wäre wohl richtig, gäbe es nicht inzwischen eine Historiographie und einen Journalismus, die es sich zur Aufgabe machen, Erfahrungen von Zeit- und Augenzeugen in Gestalt von Audio- und Videointerviews zu sammeln. Damit werden künftigen Generationen in Wissenschaft und Journalismus Quellen für eine Erfahrungsgeschichte in einem Ausmaß überliefert, wie sie früheren Generationen nie zur Verfügung standen.

Die Filmemacherin Loretta Walz gehört an hervorgehobener Stelle zu diesen Journalistinnen. Sie verbindet die Vorzüge ihrer Zunft mit den Vorzügen einer Geschichtswissenschaft, die Erfahrungen ernst nimmt. Sie hat sich nie darauf eingelassen, Aufnahmen von Zeitzeugen und besonders -zeuginnen, vor allem des Nationalsozialismus, als einfache Illustrationen zu aus Akten oder Vorurteilen deduzierten Theorien heranzuziehen. Sie hat selbst dann lebensgeschichtliche Interviews geführt, wenn sie wusste, dass sie nur Ausschnitte daraus für ein bestimmtes Thema verwenden würde. Damit hat sie nicht nur sich – mit großem persönlichen und finanziellen Einsatz – den Blick geöffnet, um ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Erinnerung im Lichte eines gesamten Lebens und dessen Wechselfällen interpretieren zu können, sondern auch künftigen Forschern und Forscherinnen umfangreiches Interpretationsmaterial an die Hand gegeben.

Loretta Walz hebt sich damit – das darf ich nach mehr als fünfzehn Jahren der Zusammenarbeit sagen – wohltuend ab von jenen Journalisten, die Zeitzeugen unabhängig von ihrem sonstigen Verhalten zitieren oder gar ohne jeden anderen Bezug als die eigentlichen Verkünder historischer Wahrheiten auftreten lassen, etwa Teilnehmer am militärischen Widerstand des 20. Juli 1944 ohne deren vorheriges Verhalten in der militärischen Entwicklung des Nationalsozialismus. Sie nimmt damit auch die Augenzeuginnen ernster als jene, die sie politisch oder medial instrumentalisieren oder gar heroisieren. Loretta Walz hat dies im Laufe ihrer Arbeit mehr und mehr vermieden, auch wenn ihre besonderen Sympathien deutlich werden. Die Zeitzeuginnen werden nicht zu widerspruchsfreien, hehren Heldinnen der Geschichte zurechtgemodelt; Loretta Walz belässt ihnen ihre Ängste und Beschränkungen, ihre Fehler und Schuldgefühle, auch und gerade dann, wenn sie ihre Stärken, ihren Lebensmut und ihre Hoffnungen inmitten von Schreckenserfahrungen darstellt.

Auch das einfache Mitleiden mit diesen Frauen kann eine Gefahr sein, indem man sie nur als Opfer begreift, ohne die anderen Aspekte ihres Lebens zu sehen, die trotz dieser KZ-Erlebnisse in ihrer weiteren Biographie eine Rolle spielten. Gerade in diesen Teilen der Gespräche, die Loretta Walz aufgenommen hat, ist das weibliche Element besonders spürbar: die geringere Selbstinszenierung der »heroischen« Seiten ihrer Gesprächspartnerinnen, ihre Lebensfreude in einem »anderen Leben« mit seinen vielfältigen Facetten, aber auch die offene Trauer, wenn der »Ravensbrücker Teil« ihrer Erfahrungen allzu dominant wurde und in ihr neu gewonnenes Leben zerstörerisch eingriff; die Zurückhaltung in der Verurteilung von Schwächeren, die Bescheidenheit in ihrem Mut und ihr Humor.

Die Sammlung, um die es in diesem Buch geht, ist einzigartig: Seit 1980 hat Loretta Walz lebensgeschichtliche Interviews mit früheren »Ravensbrückerinnen« geführt. Inzwischen sind es mehr als 200 Gespräche geworden. Das ist für sich genommen bereits einmalig. Hinzu kommt, dass ihre Sammlung die Zeit, in der die Erinnerungen erzählt wurden, doppelt spiegelt: zum einen durch die Darstellung der Erlebnisse ihrer Interviewpartnerinnen in ihren kulturellen, familiären und politischen Umfeldern; zum anderen durch die eigene, nicht gleich gebliebene Haltung der Person Loretta Walz als Interviewerin und Filmemacherin. Auch sie hat sich verändert im Laufe der Beschäftigung mit diesem Thema, einmal durch diese Arbeit selbst, aber auch durch die Veränderungen in der »großen Politik« und in ihrem persönlichen Leben. Ihr Blick ist im Laufe der Jahre weiter geworden, hat sich den Widersprüchen im Leben ihrer Partnerinnen ebenso gestellt wie ihren eigenen Veränderungen.

Auch die von ihr befragten Frauen mussten ihre Erinnerungen angesichts der unterschiedlichen späteren Sichtweisen in verschiedenen politischen Systemen behaupten oder neu überdenken, zunächst in Ost und West nach dem Krieg, dann nach der großen Wende in ihren Heimatländern Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Es ist nicht nur eine besondere Geschichte der Bundesrepublik und der DDR, die hier zum Vorschein kommt, sondern ebenso Osteuropas nach der Wende von 1989. Damit ist diese Sammlung auch für die historische Zunft ein besonderer Gewinn, weil sie deutlich macht, inwieweit und wie die Erinnerungen der Interviewpartnerinnen von der jeweiligen Zeit mit ihren politischen Verarbeitungs- und Interpretationsangeboten beeinflusst wurden.

Die Interviewpartnerinnen sind alt geworden, stehen vor ihrem Tod und müssen befürchten, dass ihre Erinnerungen nicht mehr ernst genommen werden oder dass sich eine neue Zeit ihre Schilderungen verändert aneignet, weil man ihnen nicht glauben mag. Auch diese Sorge spürt man in den jüngeren Interviews. Aber es ist nicht nur die Melancholie der Vergänglichkeit, die einen anweht beim Ansehen und Anhören der Gespräche. Es ist auch die Hoffnung dieser Frauen, dass ihre Erlebnisse, ihr Beispiel und ihr Überleben, in dem sie – unter anderem in dieser Sammlung – Zeugnis von dieser Zeit ablegen konnten, nicht umsonst waren, sondern als Warnung für neue Generationen mit eigenen Schrecken dienen können, eventuell sogar als Beispiel, wie man sich im unerwartet Furchtbaren behaupten kann und muss. Die »Ravensbrückerinnen« wollen nicht als Heldinnen instrumentalisiert, sondern als Menschen mit allen Ängsten wahrgenommen werden, auch mit den schwierigen Situationen, in denen sie sich zwischen Widerstand, Anpassung und Kompromiss zu entscheiden hatten. Die Hoffnung allerdings, dass Kompromiss und Anpassung vielleicht doch eine positive Wirkung gegen staatlichen Terror, Rassismus, Gewalt und Brutalität haben könnten, hatte sich fast immer als vergebens erwiesen.

Eine private Bemerkung zum Schluss: Ich freue mich persönlich außerordentlich, dass Loretta Walz einen Teil ihrer Arbeiten unter unserem »Dach«, dem des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen, machen, ihre Ravensbrück-Sammlung erweitern und mit uns viele Filme produzieren konnte.

Alexander von Plato
Leiter des Instituts für Geschichte und Biographie
der Fernuniversität Hagen

 

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Filmaufnahmen im Lager Ravensbrück, 1994

EINLEITUNG

Die in diesem Buch vorgestellten Biografien sind Teil einer in fünfundzwanzig Jahren entstandenen Sammlung von lebensgeschichtlichen Videointerviews mit Überlebenden der drei Frauen-Konzentrationslager Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück.

Begonnen habe ich diese Interviews Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, nachdem ich die ersten Frauen aus dem Kreis der ›Lagergemeinschaft Ravensbrück der Bundesrepublik Deutschland‹ – dem Zusammenschluss der Überlebenden der Frauen-KZ – kennen gelernt hatte.

Ein Vierteljahrhundert ist ein vergleichsweise langer Zeitraum für ein derartiges Sammlungsprojekt und führt zu einigen Besonderheiten und Problemen in der Projektarbeit. So war meine Arbeit von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen dieser Zeit geprägt und von einem stetigen Zuwachs an immer neuen Erfahrungen und Erkenntnissen. Erworbenes Wissen ermöglichte vertiefende Fragen und schuf größere Zusammenhänge. Die Überlebenden der Konzentrationslager wiederum erfuhren in diesen fünfundzwanzig Jahren sehr unterschiedliches Interesse an ihren Erinnerungen, was die Art und Weise sowie die Inhalte ihrer Erzählung beeinflusste.

Moringen, Lichtenburg, Ravensbrück

Ab Juni 1933 wurden in ›Schutzhaft‹ genommene Frauen aus dem deutschen Reichsgebiet im früheren ›Werkhaus‹ der Kleinstadt Moringen bei Göttingen inhaftiert. Als dieses erste reine Frauen-KZ zu klein geworden war, wurden die Häftlinge im März 1938 in das KZ Lichtenburg an der Elbe gebracht. Im Mai 1939 erfolgte ihre Verlegung in das neu errichtete Frauen-KZ Ravensbrück, achtzig Kilometer nördlich von Berlin.

Ravensbrück war als so genanntes ›Schutzhaftlager‹ für zehntausend weibliche Häftlinge errichtet worden. Dorthin wurden Frauen aus Deutschland und aus den von der Wehrmacht besetzten Ländern gebracht, die sich – tatsächlich oder vermeintlich – dem NS-Regime bzw. der Besatzung widersetzt hatten oder aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihrer politischen Überzeugung nicht in das nationalsozialistische Bild der ›Volksgemeinschaft‹ passten. Andere Inhaftierungsgründe waren Kriminalität oder ›asoziales‹ Verhalten, wobei keinerlei rechtsstaatliche Grundsätze Beachtung fanden. Selbst ein Witz über Hitler, Hilfe für Verfolgte oder eine Beziehung zwischen Deutschen und Juden – die so genannte ›Rassenschande‹ – konnten Gründe für eine Haft im KZ sein.

Wie in allen KZ wurden die Häftlingsgruppen mit Winkeln gekennzeichnet: Politische Häftlinge bekamen einen roten, ›Asoziale‹ einen schwarzen, ›Kriminelle‹ einen grünen und Bibelforscherinnen (Zeuginnen Jehovas) einen lila Winkel. Jüdinnen wurden gesondert gekennzeichnet. Ausländerinnen galten in der Regel als ›Politische‹, Sinti und Roma als ›Asoziale‹.

Von 1939 bis 1945 durchliefen ca. 123.000 Frauen, Mädchen und Kinder das Frauen-KZ Ravensbrück. In diesen sechs Jahren veränderte sich der Anteil der einzelnen Häftlingsgruppen im Lager ständig. In der Anfangszeit waren überwiegend Deutsche inhaftiert. Mit Kriegsbeginn wurden zunehmend Frauen aus den überfallenen und besetzten Ländern eingeliefert. Insgesamt bildeten Polinnen und sowjetische Frauen die größten Gruppen in Ravensbrück. Bis 1942 waren nur etwa zehn Prozent der Häftlinge in Ravensbrück Jüdinnen.1 Heinrich Himmlers Anweisung, die »reichsdeutschen Lager judenfrei zu machen«, führte im Oktober 1942 dazu, dass nahezu alle Jüdinnen nach Auschwitz oder in andere Vernichtungslager deportiert wurden.2 Erst im Sommer 1944, nach der Einlieferung ungarischer, polnischer und slowakischer Jüdinnen und nach den großen Evakuierungstransporten aus Auschwitz, erhöhte sich die Anzahl der Jüdinnen in Ravensbrück wieder.

Die genaue Anzahl derjenigen, die das Lager nicht überlebten, lässt sich bis heute nicht ermitteln, da es sowohl Entlassungen gab wie auch Transporte in die zahlreichen Nebenlager der Rüstungsindustrie oder in die Vernichtungslager Auschwitz, Mauthausen, Majdanek, Bergen-Belsen u.a. Ravensbrück war bis Ende 1944 kein ›Vernichtungslager‹ im eigentlichen Sinne, auch wenn die so genannte »Vernichtung durch Arbeit« tägliche Realität war. Die Massentötung von entkräfteten oder kranken – somit arbeitsunfähigen – Frauen begann jedoch ab Januar 1945 durch Verhungern, Giftspritzen und Massenhinrichtungen. Ende 1944 war bereits mit dem Bau einer Gaskammer begonnen worden. Bis zu ihrer Fertigstellung wurden in einer provisorischen Gaskammer bis April 1945 etwa 6000 Häftlinge ermordet. Die Gesamtzahl der in Ravensbrück Getöteten wird aufgrund der Quellenlage auch in aktuellen Forschungsberichten mit »mehreren Zehntausenden« umschrieben. Bislang sind der Gedenkstätte Ravensbrück 13.500 Tote namentlich bekannt.

Startpunkt Bundesrepublik

Da die Sammlung in der (alten) Bundesrepublik Deutschland begann, richtete sich mein Blick anfangs auf die westdeutschen Überlebenden. Später weitete er sich nach Westeuropa aus und erst Anfang der neunziger Jahre auf die zu diesem Zeitpunkt bereits ›ehemalige‹ DDR und nach Osteuropa.

Während das Schicksal von Frauen in den KZ zunächst nur vereinzelt erforscht wurde, setzte Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre ein regelrechter Boom von Veröffentlichungen über die ›Frauengeschichte‹ der Konzentrationslager ein3. Die ersten Frauen, deren Erinnerungen an die Öffentlichkeit kamen, waren diejenigen, die in den politischen Verfolgtenverbänden (Lagergemeinschaft Ravensbrück und/oder Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – VVN) organisiert waren. Mit wenigen Ausnahmen waren auch die meisten meiner ersten – deutschen – Interviewpartnerinnen schon in ihrer Jugend Mitglied in kommunistischen Jugendorganisationen gewesen, später in der KPD und zum Zeitpunkt des Interviews in der DKP organisiert. Andere waren Mitglieder kirchlicher, sozialistischer oder sozialdemokratischer Organisationen. Ihr Engagement in der Frauen- oder Friedensbewegung brachte sie mit Journalisten und Journalistinnen, Filmemachern und Filmemacherinnen in Kontakt, die sich für die Veröffentlichung ihrer Erinnerungen einsetzten. Lehrer und Lehrerinnen begannen die Überlebenden der Konzentrationslager in Schulen und Volkshochschulen einzuladen; bei Seminaren – beispielsweise in Frauenzentren – berichteten sie von ihren Erfahrungen während des Nationalsozialismus.

Diese erste Gruppe von ›Ravensbrückerinnen‹, die in die Öffentlichkeit traten, bildeten die ehemals politischen Häftlinge, die wegen ihres Widerstands gegen den NS-Staat in Gefängnisse, Zuchthäuser und KZ eingesperrt worden waren. Sie hatten ihren Kampf ›Gegen das Vergessen‹, für ›Frieden und Freiheit‹ nie aufgegeben, doch ihrer ganz persönlichen Geschichte oftmals keine große Bedeutung beigemessen.

Doch die Nachkriegsgeneration (zu der auch ich gehöre) hatte lange genug Geschichte aus zweiter und dritter Hand vermittelt bekommen und wollte ›erlebte Geschichte‹ erfahren. Die Möglichkeit, diejenigen zu befragen, die aus eigener Erfahrung sprechen konnten, bot auch eine Chance, das Jahrzehnte währende Verschweigen der NS-Geschichte zu durchbrechen.

Als nun die Generation der Kinder und Enkel sie darum bat, aus ihrem Leben zu erzählen, sahen die Frauen in dem wachsenden Interesse an ihrer Geschichte einerseits eine Bestätigung ihres lebenslangen Kampfes. Andererseits mussten die Überlebenden vor dem Schritt in die Öffentlichkeit erst das Schuldgefühl überwinden, überlebt zu haben. Sie wollten, dass die Würdigung und auch die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Verfolgung unbedingt einhergehen sollte mit der Würdigung derjenigen, die nicht überlebt hatten.

Entsprechend zurückhaltend und bescheiden und nur selten offensiv war der Weg der Überlebenden in die Öffentlichkeit.

Das ganze Leben

Mein Interesse galt vom ersten Interview an dem ›ganzen Leben‹. Ich wollte wissen, wie der familiäre Hintergrund meiner Interviewpartnerinnen war, wie sie aufgewachsen waren, wie sie die Verfolgung erlebt hatten oder zum Widerstand gekommen waren, wie dieser Widerstand aussah, wie sie die Haftzeit überleben konnten und wie sehr ihr Leben danach von diesen Erfahrungen geprägt war.

Doch mein Interesse an den Lebensgeschichten war für viele meiner ersten ›politischen‹ Interviewpartnerinnen befremdlich, spielte doch ›das Private‹ in ihren Augen keine große Rolle. Das, wovon sie erzählen wollten, war die Zeit des Widerstands und der Verfolgung, verbunden mit dem Appell, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Erinnerung findet im Heute statt, in der jeweiligen historischen und lebensgeschichtlichen Situation der Erzählenden. Im Erinnern spiegeln sich auch politische Überzeugungen oder religiöse Grundsätze wider.

Wer nach dem Lager die Möglichkeit hatte, über das Erlebte zu sprechen, erinnert sich anders als jemand, der damit konfrontiert wurde, mit seiner Verhaftung »Schande über die Familie« gebracht zu haben oder gar als »Verräterin« bezeichnet zu werden. Anderen wurde gesagt, dass man sie vermutlich nicht ohne Grund eingesperrt habe. Es macht einen Unterschied, ob die Gesellschaft die Überlebenden verehrt, respektiert oder stigmatisiert hat.

Das Verhältnis zu den Befragten

Als Filmemacherin wurde ich anders empfangen als beispielsweise Wissenschaftler, die die Geschichte des Nationalsozialismus und der KZ erforschten. Alle meine Interviews sind filmische Dokumente. Ein weiterer Unterschied zu den Historikern, die sich normalerweise nur auf Akten stützen, liegt in meinem persönlichen Zugang, in dem sich mein individuelles Interesse an Lebensgeschichten mit dem beruflichen der Dokumentaristin vermischte.

Bei den Interviews war ich mit meinen Gesprächspartnerinnen nie allein. Immer waren eine Kamera und ein Mikrofon dabei, ein Kameramann und oftmals noch ein Toningenieur und eine Übersetzerin. Doch obwohl so manches Wohnzimmer zum Fernsehstudio wurde, fanden die Gespräche fast immer in einer vertraulichen Atmosphäre statt.

Von einzelnen meiner ersten Interviewpartnerinnen – den früheren politischen Häftlingen aus Deutschland – wurde ich mit der Frage empfangen: »Bist du Genossin?« Als ich verneinte, spürte ich ein kurzes Zögern, dem die Feststellung folgte: »Ja, als Journalistin solltest du auch unabhängig sein!« Die meisten Bücher zu Themen des Widerstands und der Verfolgung waren entweder von ›Genossen‹ oder zumindest ›nahe Stehenden‹ geschrieben worden. Dass nun ›unabhängige‹ Journalistinnen sich der Themen annahmen, die bislang als Domäne der Parteiorganisierten galten, war offensichtlich befremdlich und gewöhnungsbedürftig.

Erst die Kontinuität meiner Arbeit über viele Jahre hinweg führte zu einem gewissen Vertrauensverhältnis. Bei jedem einzelnen Gespräch ging ich von dem Grundsatz aus, dass nichts, was mir erzählt wird, in einem persönlichen Sinn unwahr ist. Entsprach es dennoch nicht dem tatsächlichen Geschehen, gab es dafür einen Grund. Ich versuchte – so weit es möglich war, gemeinsam mit den Interviewpartnerinnen – zu verstehen, warum etwas erzählt wurde. In der Sammlung sollte die subjektive Wahrheit dokumentiert werden, weil sie etwas über die Persönlichkeit oder die Art und Weise der Verarbeitung der Geschichte aussagte, auch wo sie nicht exakt den historischen Geschehnissen entsprach.

Einzelne Frauen konnte ich mehrfach befragen, anderen bin ich nur für einen Tag begegnet. Es gab sowohl Arbeitstreffen mit dem Ziel, die persönlichen Erinnerungen an das Lager festzuhalten, als auch das mehrtägige Eintauchen in ein achtzigjähriges Leben. Zu einigen meiner Interviewpartnerinnen entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis, in dem wir auch Jahre nach dem Interview noch Briefkontakt hatten und uns gegenseitig besuchten, auch wenn es unmöglich war, mit allen befragten Frauen in Kontakt zu bleiben.

Geschichte als Prozess

Viele Frauen, die ich kennen lernte, schienen erst im hohen Alter bereit zu sein, sich mit der eigenen Verfolgungsgeschichte zu beschäftigen oder Kontakt zu früheren Leidensgefährtinnen zu suchen. Bei einigen war es der Tod des Lebenspartners, der eine Auseinandersetzung mit der Zeit der Verfolgung in Gang setzte. Manchmal waren es die Enkel, die Interesse an der Geschichte zeigten, und manchmal waren auch die im Alter wach werdenden frühen Erinnerungen der Auslöser. Oft war es ein Film, ein Artikel oder ein Jahrestag, der den Ausschlag gab, mit der eigenen Geschichte nach außen zu treten. Viele dieser Frauen sagten von sich, sie seien politisch nicht interessiert und wollten auch keiner politischen Organisation beitreten. Sie empfanden die Verfolgtenverbände als parteinahe politische Organisationen, womit sie nicht ganz Unrecht hatten.

Frauen, die bisher kaum über ihre Erfahrungen gesprochen und nichts oder wenig über die Lager gelesen hatten, in denen sie selbst inhaftiert waren, waren besonders wichtige Zeuginnen. Viele Mosaiksteine aus ihren Erinnerungen ergänzten das Bild der Lagergeschichte um wichtige Details, die anderen unwesentlich erschienen waren, weil sie nirgendwo anders erwähnt waren.

Ende der achtziger Jahre dokumentierte ich die Tagung des Internationalen Ravensbrück-Komitees4, in dem einmal jährlich Vertreterinnen der nationalen Zusammenschlüsse aus all den Ländern tagen, aus denen Frauen nach Ravensbrück deportiert worden waren. Hier lernte ich Frauen aus den westeuropäischen Ländern kennen, mit denen im Folgenden eine Reihe von Interviews entstanden.

Mit dem Film »Man musste doch was tun«5 wurde ich 1990 zur Internationalen Oral-History-Konferenz nach Essen eingeladen. Dort lernte ich den Historiker Alexander von Plato kennen, der selber filmische Erfahrungen hatte, und die Arbeit des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen. Aus dieser ersten Begegnung entstand eine bis heute anhaltende enge Zusammenarbeit, in deren Rahmen nicht nur eine ganze Reihe meiner weiteren Interviews, sondern auch dieses Buch entstand.

Für mein Vorgehen bei den bisherigen Interviews, in denen jeweils das ganze Leben abgefragt wurde, fand ich hier einen wissenschaftlichen Hintergrund, der in der Folge meine Arbeit prägte. Durch den Erfahrungsaustausch bekam meine Interviewführung ein klareres Konzept.

Hatten die Wissenschaftler bislang ihre Interviews zumeist als reine Audiointerviews aufgezeichnet, konnte nun die Diskussion um die filmischen Aspekte erweitert werden. Die aufwändigere Filmtechnik mit einem Mitarbeiterstab für Kamera und Ton und mit ihrer – damals noch – umfangreichen Ausleuchtung etc. schien zunächst für die Interviewpartnerinnen eine Herausforderung zu sein. In allen bisherigen Interviews hatte ich jedoch die Erfahrung gemacht, dass Technik und Umfeld in den Gesprächen schnell vergessen waren. Ich hatte mit meinem Team zu Arbeitsweisen gefunden, in denen auch bei professioneller Filmarbeit eine einigermaßen intime Gesprächssituation entstehen konnte.

Ein anderes Bild der Lagergeschichte

Nach der Wende und mit dem Arbeitsbeginn von Sigrid Jacobeit als Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Ende 1992, begann die Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte. Zu dieser Zeit war das ehemalige Lagergelände Stützpunkt der sowjetischen Truppen. Die damalige DDR-Gedenkstätte trug deutliche Züge der reduzierten Sicht auf die Lagergeschichte, mit fast ausschließlicher Darstellung des kommunistischen Widerstands. Es schien, als hätte sich die DDR nicht nur das Lager Ravensbrück, sondern auch die Lagergeschichte angeeignet. Ein anderes Bild der Geschichte des Frauen-KZ Ravensbrück gab es damals noch nicht.

Deshalb suchte ich Anfang der neunziger Jahre verstärkt nach Interviewpartnerinnen, deren Aussagen dem bis dahin bestehenden Bild nicht entsprachen und die bislang in der Darstellung des Lagers nicht vorgekommen waren. Die ersten Gespräche mit Jüdinnen, Zeuginnen Jehovas oder schwarzwinkligen Häftlingen leiteten eine neue Phase der Sammlung ein, in der beispielsweise die Häftlingshierarchie eine Rolle zu spielen begann und in der ich mit sehr unterschiedlichen Erinnerungen konfrontiert war. Die Lagergeschichte von Ravensbrück wurde vielschichtiger, weniger einheitlich. Widersprüchliche Erlebnisse und Erfahrungen standen nebeneinander.

1993 wurde in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück die Ausstellung »Ravensbrückerinnen« mit 27 Biografien eröffnet. Erstmals wurden in der Gedenkstätte frühere Häftlinge vorgestellt, die nicht zu den »antifaschistischen Widerstandskämpferinnen« im Sinne der DDR-Geschichtsschreibung gehörten.6

Anfang der neunziger Jahre waren erste Reisen nach Polen und in die Tschechoslowakei möglich. Dort erfuhr ich von Frauen, deren Erinnerungen aus politischen Gründen – z.B., weil sie sich vom Kommunismus abgewandt hatten – keine Erwähnung in der Lagergeschichte gefunden hatten oder weil sie aufgrund ihrer Arbeit im Lager als »unzuverlässige« Zeuginnen galten. Die Rolle der so genannten Funktionshäftlinge, d.h., derjenigen, die im Lager als Block- oder Stubenälteste, als Mitarbeiterinnen der Lagerverwaltung oder des Krankenreviers in direkter Nähe zur Lagerverwaltung oder den SS-Ärzten tätig waren, trat in den Vordergrund.

Der 50. Jahrestag der Befreiung im Jahr 1995, zu dem von der Landesregierung Brandenburgs mehr als zweitausend Überlebende aus aller Welt nach Ravensbrück eingeladen wurden, brachte zahlreiche Kontakte zu Frauen aus Osteuropa. Ihre Erinnerungen zeichneten wieder ein anderes Bild der Lagergeschichte, diesmal aus dem Blickwinkel derjenigen, die aus nationalsozialistischer Sicht als »Untermenschen« und »minderwertige Rasse« keine Chance zum Überleben haben sollten.

Mehr und mehr Überlebende aus osteuropäischen Ländern nahmen den Kontakt zur Gedenkstätte auf, vor allem auch solche, die nie im Rahmen einer offiziellen Delegation die DDR bzw. die damalige Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück besuchen konnten. Viele dieser Frauen erklärten sich zum Interview bereit, sicherlich auch in der Hoffnung, dass nun auch ihrer Sicht in die Darstellung der Lagergeschichte Raum gegeben werden könne.

Der Schwerpunkt der Sammlung verlagerte sich so ab Ende der neunziger Jahre auf ehemalige Inhaftierte aus den osteuropäischen Ländern. Auch wir als Filmteam konnten erst ab Beginn der neunziger Jahre in die früheren Ostblockstaaten einreisen und Interviews aufzeichnen. Doch entstanden auch in Westeuropa immer wieder neue Kontakte, beispielsweise zu deutschen Frauen, die nicht als politische Häftlinge im Lager gewesen waren. Die in den ersten Jahren nach der Wende neu gestaltete Gedenkstätte Ravensbrück ermöglichte es zunehmend auch ihnen, in die Öffentlichkeit zu treten, ohne eine erneute Ausgrenzung fürchten zu müssen.

Immer neue Themen

Im Lauf der fünfundzwanzigjährigen Geschichte der Sammlung veränderten sich auch meine Fragen an die Interviewpartnerinnen. Am Anfang galt mein Interesse dem Widerstand und der Verfolgung von deutschen Frauen im Nationalsozialismus, dann denjenigen, die in den westeuropäischen Ländern den Besatzern widerstanden. Mit der Erkenntnis, dass unterschiedliche Häftlingsgruppen auch das Lager unterschiedlich erlebten, wuchs nicht nur mein Interesse an der Lagerhierarchie. Der Arbeitsplatz im KZ begann eine Rolle zu spielen: Wer im Warmen arbeiten konnte, hatte größere Überlebenschancen als diejenigen, die bei Wind und Wetter schwerste Außenarbeiten verrichten mussten. Wer in seinem erlernten Beruf arbeiten konnte, verlor weniger Selbstwertgefühl als diejenigen, die zu härtester körperlicher Arbeit gezwungen waren. Es gab privilegierte Blocks der Häftlinge, die in hervorgehobenen Positionen arbeiteten, und weniger privilegierte Wohnbaracken, in denen qualvolle Enge herrschte. Manche Häftlinge konnten sich regelmäßig waschen, andere sahen Monate lang kein Wasser. Ins Zentrum meines Interesses rückten die Überlebensbedingungen einzelner Frauen und Gruppen. Gleichzeitig entstanden Querverbindungen zwischen Frauen, die zusammen gearbeitet, im selben Block gelebt oder dasselbe Schicksal geteilt hatten.

Mit den erworbenen Kenntnissen über das Lager veränderten sich auch die Interviews. Immer mehr Detailfragen konnten gestellt, Verbindungen zu anderen Gesprächen geknüpft werden. Die Vielzahl unterschiedlichster Erinnerungen an ein und dasselbe Ereignis verdichtete die Sicht auf die Geschichte von Ravensbrück.

Der Zeitpunkt, zu dem jemand in Ravensbrück inhaftiert war, erhielt eine immer größere Bedeutung. Das Lager hat sich in der Zeit von 1939 bis 1945 so sehr verändert, dass Schilderungen der ersten Jahre, 1939 bis 1940, sich gravierend von denen der Jahre 1944 bis 1945 unterscheiden. Und es wurde auch deutlich, wie sehr die Würdigung des Erlebten nach dem Krieg die Erinnerungen prägte.

Es gibt in den Erinnerungen deshalb nicht eine Geschichte von Ravensbrück, sondern vielfältige, sich überschneidende Eindrücke, die mit der Vorgeschichte der Inhaftierten, ihren Erlebnissen in Ravensbrück und mit deren Verarbeitung verknüpft sind. Es gibt so viele Erinnerungen wie Frauen, die dort inhaftiert waren. Und dabei können nur die der Überlebenden erzählt werden.

Im Verlauf der Sammlung wurde immer deutlicher, wie sehr die Erinnerung an die Haft mit dem gesamten Leben verwoben ist. In welchem Alter, mit welcher Vorgeschichte kam jemand ins Lager? Wie sehr hat das Vorleben das Erleben der Haft geprägt, das Leben danach die Erinnerung?

In den Erzählungen mischte sich bisweilen das Erlebte mit im Nachhinein Erfahrenem. Überzeugte Kommunistinnen haben propagandistische Bilder übernommen, andere haben diese bewusst demontiert. Für alle gilt, dass sie eine Sprache finden mussten, um über eine persönliche Demütigung oder gar Niederlage, als die die KZ-Haft nicht selten empfunden wurde, zu sprechen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Bedeutete die Verhaftung ein Versagen im Widerstandskampf? Hatte man einem Verräter getraut? War man in einen Hinterhalt gelockt worden? Oder war man ein Opfer rassistischer Verfolgung? Verstand man sich als Opfer oder Verfolgte? Musste das Selbstbild der eigenen Haft zurechtgeschliffen werden, um überhaupt mit den Erinnerungen leben zu können?

Tatsächlich veränderte sich die Erinnerung auch mit der gesellschaftspolitischen Entwicklung. Anerkennung und Würdigung der Verfolgung machten es leichter, eigene Demütigungen zu schildern. Durch die öffentliche Verurteilung von NS-Verbrechen (z.B. in den Hamburger Ravensbrück-Prozessen, die 1946 begannen) wuchs das Selbstbewusstsein derjenigen, die ihnen zum Opfer gefallen waren. Die Vermittlung von NS-Geschichte in den Schulen half den Verfolgten, eine eigene Position innerhalb dieser Geschichte zu finden. Bestätigung der persönlichen Erinnerung durch Berichte anderer schuf Vertrauen in die eigene erinnerte Erfahrung.

Die Methode der Oral-History, die all dem eine Wichtigkeit zumisst, was erinnert werden kann und will, schien mir auch ein Weg zu sein, meine eigene Rolle im Interview zu bestimmen. Ich hörte zu, ich ermittelte und versuchte, Ursachen und Zusammenhänge zu verstehen. Ich vertraute auf mein Wissen, mein Geschick und meine Menschenkenntnis und versuchte, den Interviewpartnerinnen niemals das Gefühl zu geben, dass ihre Schilderungen mich belasteten. Eigene Betroffenheit, so habe ich es in den allerersten Interviews durchaus erfahren, verunsicherte die Interviewpartnerin. Ihr Gefühl, mit dem Erzählen eigener Demütigungen die Interviewerin zu verletzen, gibt dem Gespräch unter Umständen eine fatale Dynamik. Sie führt in ein ›Schonprogramm‹, in dem sich die Rollen vertauschen: Nicht mehr ich begleite mein Gegenüber auf dem Weg durch die Erinnerung, sondern meine Interviewpartnerin führt mich durch eine Geschichte, die erträglich sein soll.

Geschichte und Geschichten

In diesem Buch verdichten sich unterschiedliche Erinnerungen zu einer möglichen Lagergeschichte des Frauen-KZ Ravensbrück. Aus den insgesamt 200 aufgezeichneten Interviews habe ich 35 ausgewählt.

Wie schwer diese Auswahl fiel, muss ich nicht betonen. Doch ich möchte einige meiner Kriterien benennen: Ich habe auf die Interviewpartnerinnen verzichtet, die in anderen Veröffentlichungen ausführlich zu Wort kommen. Ich wollte aus jeder Phase der fünfundzwanzigjährigen Sammlung Interviewpartnerinnen vorstellen und gleichzeitig ein möglichst umfassendes Bild der Lagergeschichte aufzeigen. Vor allem beschäftigte mich die Frage nach den Besonderheiten eines Frauen-KZ. Das Krankenrevier zeigte sich mir als ein zentraler Ort des Lagers, in dem Tod und Überleben aufeinander trafen. Dort arbeiteten die so genannten Funktionshäftlinge Hand in Hand mit ihren Feinden, bemühten sich, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln – illegalen wie gerade noch erlaubten – Leben zu erhalten.

Im Krankenrevier wurden Frauen sterilisiert, medizinische Experimente durchgeführt, ›Arbeitsunfähige‹ selektiert, und gleichzeitig kamen Kinder zur Welt. Dabei konnten die Häftlingsärztinnen und -krankenschwestern nicht verhindern und mussten tagtäglich mit ansehen, dass auch ihre Arbeit Teil der industriellen Vernichtung durch das KZ-System wurde. Die Unschärfe zwischen internem Widerstand und zwangsweiser Zuarbeit lastete gerade auf den Funktionshäftlingen noch lange nach ihrer Befreiung.

Ihre Biografien stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beschreiben sie das Lager. Die Vielzahl der Stimmen machte es mir möglich, aus sich ergänzenden und manchmal auch widersprechenden Erinnerungen ein sich verdichtendes und zugleich vielschichtiges Bild des Lagers zu zeichnen. In diesem uneinheitlichen Bild spiegelt sich auch das Paradoxe mancher Erzählungen und der sich anschließenden Biographien. Durch ihre Verknüpfung werden sie zu einem Abbild der vielfältigen Erfahrungen des Lageralltags und des Überlebenskampfes.

Ich wollte auch Frauen zu Wort kommen lassen, deren Erinnerungen aus verschiedensten Gründen in der bisherigen Darstellung der Lagergeschichte keine Rolle spielten, die zur Persona non grata im Kreis der Überlebenden geworden waren oder nie Kontakt zur Gedenkstätte und den Häftlingsverbänden aufgenommen hatten. In exemplarischen Biografien möchte ich ein bisher nur spärlich beleuchtetes Stück Lagergeschichte erzählen: vom Überleben unter Frauen.

Einige Lebensläufe stehen für sich, andere werden in den einzelnen Kapiteln zu ›verdichteten Themen‹ verwoben. Zum Beispiel die medizinischen Experimente an jungen polnischen Frauen in Ravensbrück: Da ich mehrere Frauen interviewen konnte, die Opfer der Versuchsoperationen wurden, konnte ich deren Geschichte in einer Montage aus vielfältigen Erinnerungen wiedergeben.

Andere Schwerpunkte ergaben sich aus Themen, die signifikant für ein Frauen-KZ sind: zum Beispiel die Geburten oder Mütter mit Kindern im Lager. Anderen Themen, die in vielen Interviews erwähnt wurden, haftet fast etwas Mythisches an. So sprachen viele Interviewte über die ungebrochene Stärke und Solidarität der Häftlinge in Ravensbrück oder den uneigennützigen Einsatz der so genannten Funktionshäftlinge in ihren unterschiedlichsten Arbeitsbereichen im Lager.

Ich hatte das große Glück, die letzte Generation der Überlebenden befragen zu können. In diesem Buch möchte ich ihre subjektive Sicht vorstellen. Ihre Erinnerungen habe ich, so weit es mir möglich war, in die faktische Historiographie eingebettet, zu der mir heute – im Vergleich zum Beginn der Sammlung – umfangreiches Quellenmaterial und eine Vielzahl von historischen Veröffentlichungen und Forschungsarbeiten zur Verfügung standen.

Ich möchte an dieser Stelle allen befragten Frauen herzlichst danken und betonen, dass die notwendige Auswahl für dieses Buch keine einzige ihrer Erinnerungen schmälert. Für mich persönlich war jede Begegnung innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Auch wenn ich von vielen grauenvollen Erlebnissen erfuhr, bin ich gleichzeitig großer Lebensfreude und starkem Lebenswillen begegnet. Viele meiner Interviewpartnerinnen haben, Ravensbrück zum Trotz, ein hohes Alter erreicht.

Dieses Buch erscheint – gleichzeitig mit einem 90-minütigen Dokumentarfilm – zum 60. Jahrestag der Befreiung des Frauen-KZ Ravensbrück. Nach fünfundzwanzig Jahren der Sammlung von Erinnerungen an Ravensbrück spiegeln beide gemeinsam den Versuch wider, Geschichte und das Erinnern an sie in erzählten Geschichten in neuer Form erfahrbar zu machen.

Loretta Walz
im Januar 2005

»ALLES VERGESSENE SCHREIT IM TRAUM UM HILFE«

Maria Zeh

imges

1978 lernte ich die damals 75-jährige Maria Zeh aus Stuttgart kennen. Ich arbeitete an einem Dokumentarfilm für den Westdeutschen Rundfunk mit dem Titel »Alles Vergessene schreit im Traum um Hilfe«1. Maria Zeh sollte eine der Hauptprotagonistinnen sein.

»Wir brauchen beides: die Erinnerung, um zu wissen, wer wir sind, und das Vergessen, um zu werden, was wir sein wollen. Und beides lässt sich nicht trennen.« So las ich in einer Kolumne von Elke Heidenreich. Doch was passiert mit Erlebnissen, die man nicht vergessen kann? Die so prägend sind, dass sie einem den Weg, das zu werden, was man sein will, nicht mehr offen lassen? Dies war die Fragestellung des Films.

Das Interview mit Maria Zeh zeichneten wir in meiner damaligen Wohnung in Stuttgart auf, denn sie scheute sich, drei fremde Männer – das Filmteam – in ihrer Wohnung zu empfangen.2 Das zweite Gespräch führte ich zusammen mit Helma Fehrmann3 bei ihr zu Hause. Maria Zeh war eine große, gepflegte, sehr elegante Frau mit einer starken Präsenz. Auffallend waren ihre unbändige Neugierde und Offenheit: Sie wollte nichts im Leben verpassen.

Maria Zeh war 1903 in Stuttgart zur Welt gekommen. Im ersten Interview erzählte sie von ihrer Kindheit in einer warmherzigen, kinderreichen Familie in einem Stuttgarter Vorort am Neckar, vom Besuch der Marxistischen Arbeiterschule und von ihrem Engagement in der oppositionellen Lehrerschaft. »Ich hatte Freundinnen, die waren Pfarrerstöchter und Lehrerinnen, und die haben mich mitgenommen in die Marxistische Arbeiterschule. Das war für mich eine neue Welt. Ich war seit 1931 verheiratet, sportlich sehr aktiv, und das hat mich so gepackt, dass ich da richtig eingestiegen bin. Zu der Zeit war ich nicht mehr berufstätig. Mein Mann war Beamter auf Lebenszeit geworden; da wurde ich als Doppelverdienerin entlassen. Ich war 28 Jahre alt. Die Arbeit hat mir gefehlt. Ich war soziale Helferin in einem Betrieb, und das bin ich mit Leib und Seele gewesen. Obwohl es uns wirtschaftlich gut ging, war ich schockiert und hab mich dann da richtig reingestürzt. Da ist mir natürlich eine ganz neue Welt eröffnet worden. Ich habe viele Bildungslücken bei mir entdeckt und nicht nur Genossinnen, sondern Freundinnen gewonnen. Mein Mann war Sportler, er war gut und in jeder Beziehung großzügig. Ich hab ihm gesagt, dass ich in Kurse gehe, mit Mädchen, und die kamen auch zu uns, da war er ein großer Gastgeber. Es waren meist Lehrerinnen aus der Umgebung von Stuttgart, und sonntags war bei uns der Treff. Das war die Zeit der Erwerbslosigkeit und Geldnot. Als der Faschismus begann, wurden die Lehrerinnen entlassen, und die Anlaufstelle war ich. Sie kamen alle zu uns in ihrer ersten Ratlosigkeit

Anfang der 30er Jahre trat Maria Zeh in die Kommunistische Partei ein. »Das war eine Zeit, wo man den Faschismus schon geahnt hat, und damals wurden wir speziell geschult für die illegale Arbeit. Man hat uns gesagt, wenn der Faschismus kommt, dann werden wir von der Marxistischen Arbeiterschule dran sein, weil das als kommunistisch gilt. Es wurde auch gesagt, wenn einer andere belastet, der belastet sich selbst. Also: Wenn man anfängt, auf einem Treppengeländer zu rutschen, dann kann man sich nicht mehr halten. Genauso ist es mit den Aussagen: Wenn man einmal anfängt, gibt’s kein Ende mehr. Daran hab ich mich immer gehalten. Ich habe dann aktiv in der oppositionellen Lehrerschaft mitgearbeitet, dort kamen Blätter raus, wurden Informationen verschickt, gab es Schulungen usw.

Das wurde dann immer härter, es kamen die ersten Verhaftungen, und die Sache wurde ernst. Manche meiner Freundinnen konnten nicht mehr zu Hause sein, und ohne viele Worte hatte ich dann die Aufgabe, nach Quartieren, Geld und Papieren zu gucken, sodass sie in die Illegalität konnten. Geld hatten sie auch keines. So kamen halt alle zu uns. Als die ersten abgerückt sind, mussten die dann auch versorgt werden, man musste Geld überbringen und so weiter – da ist man immer so in Sorge gewesen, dass keiner hochgeht, dass man an sich selbst nie gedacht hat. Ich hab das aus selbstverständlicher Kameradschaft gemacht. Da hab ich erst gemerkt, wie viele Bekannte ich anpumpen konnte. Meine Schwiegermutter war gut gestellt und hat mir immer Geld geschenkt für Modellkleider oder Schuhe, da ging alles Geld hinein. Für mich hat es gar nichts mehr gegeben außer der illegalen Arbeit. Die Kurierdienste waren immer eine gefährliche Sache, deshalb hab ich mein Äußeres damals sehr geschützt. Ja, und dann kam der große Tag meiner Verhaftung, alle Männer, die mit uns arbeiteten, waren ja schon verhaftet worden. Mein Mann hatte am 30. Juli 1935 Geburtstag. Ein Freund hat uns angerufen, wir sollen zu ihm kommen, es gibt für ihn ein Fest. Dort sind wir hingefahren, es war eine lustige Nacht, und alle haben dort geschlafen. Morgens kam das Mädchen und sagte, wir sollen aufstehen. Ich sag: ›Mein Mann hat doch Urlaub.‹ Dann hat mein Mann gesagt, wir müssten auf eine Behörde. Das war die Gestapo. Dann bin ich nicht mehr wiedergekommen

Zwei Tage und Nächte wurde Maria Zeh im Stuttgarter Gefängnis Büchsenstraße verhört. »Vor allem wollten sie Namen wissen, wer die Leute unterstützt, die Papiere besorgt, Flugblätter gemacht und verteilt hat usw., und natürlich wussten die schon vieles ganz genau. Ich hab mir – aufgrund meiner marxistischen Schule – eine Geschichte ausgedacht, und bei der bin ich geblieben. Später kam ich zur Untersuchungshaft ins Frauengefängnis in der Weimarstraße. Es gab täglich viele Gegenüberstellungen, und der Mußgay4 hat gesagt: ›Guck doch der ihre Augen an, die sagt nichts.‹ Ich hab jeden Tag – wie ein Examinand – meinen Text aufgesagt, genau das, was ich bei der Gestapo gesagt hab. Das ist sehr schwierig, wenn man überhaupt nichts zu schreiben hat. Es ist schrecklich, in einer Zelle zu sitzen, ohne alles. Dann kamen immer mehr Verhaftungen und Gegenüberstellungen. Da war einer, dem ist’s Blut runtergelaufen, der Rudi Bergmann: ›Der hat gerade alles gesagt, und so geht’s Ihnen auch.‹ Da gab es auch Genossinnen, die gesagt haben, was die Gestapo weiß, das kann man ruhig zugeben. Aber das hab ich nicht gemacht

»Unwürdig, die Frau eines Beamtenoffiziers zu sein«

»Eines Nachts kam ein Wärter und brachte mich in einen Saal, in dem ungefähr zwanzig Personen und mein Mann waren. Er sagte, er lässt sich nicht scheiden, und die Gestapo hat gesagt: ›Sie werden geschieden!‹ Mein Mann war so traurig und sagte: ›Was haben Sie aus meiner Frau gemacht?‹ Man kann sich ja vorstellen, wie man aussieht, wenn man monatelang da drin hockt. Ich durfte keine Garderobe rein- oder rausgeben und musste immer das Gleiche anhaben, wegen Schmuggelgefahr. Am 24. Dezember, an Heiligabend 1935, kam ein junger Gestapomann und hat mir die Scheidungsurkunde gebracht: ›Unwürdig, die Frau eines Beamtenoffiziers zu sein.‹ Er war ein kleiner Beamter und älter als ich. Ich vergesse nie die Glocken von der Hospitalkirche, da musste ich mit kaltem Wasser siebzig Treppen runterwaschen. Am selben Abend! Ich war geschieden! Die meinten, wenn ich geschieden bin, würde ich vielleicht was sagen