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ANDREAS MALESSA – Hier stehe ich, es war ganz anders | Irrtümer über Luther – SCM Hänssler

SCM | Stiftung Christlicher Medien

Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7273-8 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5610-3 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

5. Auflage 2016

© der deutschen Ausgabe 2015
SCM-Verlag GmbH & Co. KG
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-verlag.de · E-Mail: info@scm-verlag.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild und Illustrationen im Innenteil: Thees Carstens / www.theescarstens.de
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Inhalt

Vorwort

Luther war abergläubisch

Luther regte sich über den Sünden-Ablass auf

Luther pflanzte ein Apfelbäumchen …

Luther war ein Bauernsohn aus ärmlichen Verhältnissen

Luther hat ganz schön gebechert

Luther übersetzte als Erster die Bibel ins Deutsche

Luther predigte beim Essen

Luther hätte eigentlich gern eine Freikirche gegründet

Luther hat manchmal getrickst und gelogen

Luther hat heimlich geheiratet

Luthers Frau kam in einem Heringsfass zu ihm

Luther sagte: Hier stehe ich, ich kann nicht anders

Luthers wichtigste Erkenntnis kam ihm auf dem Klo

Luther war politisch eigentlich ein Kriegshetzer

Luther hatte keine Lust, das Alte Testament zu übersetzen

Luther war der erste Lutheraner

Luther wollte sich einen Namen machen

Luther nannte seine Anhänger »Protestanten«

Luther hat deutsche Sprichwörter erfunden

Luther hat 95 Thesen an die Kirchentür geschlagen

Luther hat mit einem Tintenfass nach dem Teufel geworfen

Luthers letzte Worte waren: »Wir sind Bettler, das ist wahr«

Luther und seine Frau hatten Zuschauer beim Sex

Luther empfahl Ehemännern eine Zweitfrau

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Wenn eine herausragende Persönlichkeit von Millionen Fans geliebt, vom Boulevard gefeiert und von seriösen Medien gelobt wird, nennen wir sie einen »Star«, einen »Sympathieträger«. Vorhersagbar ruft das Enthüllungsjournalisten auf den Plan, die dem Publikumsliebling »die Maske vom Gesicht reißen wollen«, wie sie sagen. Reporter, die nach Schwächen und Fehlern suchen und am liebsten einen saftigen Skandal finden. Oder er-finden. Erst hochjubeln, dann runterschreiben – das sorgt zuverlässig für ein Auf und Ab der Erregungskurve in der Öffentlichkeit. Und damit für Auflage und Quote.

Ich bin kein Enthüllungsjournalist, ich will so was nicht. Mit Martin Luther machen das in gewisser Weise die Historiker. Im Ton seriös wissenschaftlich, in der Methode aber ganz ähnlich: Haben die Medien, die Kirchen und die Kulturschaffenden diese herausragende Figur der Geschichte allzu hochglanzpoliert vergoldet – und das wird zum 500-jährigen Jubiläum der Reformation im Jahre 2017 unvermeidlich der Fall sein –, dann ruft so ein Luther-Hype vorhersagbar eine Handvoll Professoren auf den Plan, die sagen: »Es war alles ganz anders.«

Ich kann das nicht behaupten. Obwohl ich das Fach Kirchengeschichte im Theologiestudium sehr mochte. Sondern? Ich habe mich auf der Straße, unter Schülern und Lehrern, Berufstätigen und Rentnern, bei Freunden und Kollegen umgehört, was sie über Martin Luther und die Reformation wissen. Und bin auf Heldenlegenden, Horrorgeschichten, richtig falsche Zitate, vor allem aber auf viele kleine Halbwahrheiten und lustige Irrtümer gestoßen. Die hab ich mir notiert. Und mit denen – und ihrer Beantwortung – würde ich Sie gerne anspruchsvoll unterhalten und erheitern.

Die »Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers«, also alle Bücher, Bibelkommentare, Predigten, Tischgespräche, Vorlesungen und Aufsätze, Flugblätter und Verhandlungsprotokolle von ihm, umfasst rund 80 000 Seiten in 127 Bänden. Es gibt 2 585 Briefe, die er geschrieben hat, und 926, die an ihn geschrieben wurden. Es gibt von Martin Luther dermaßen viele Texte, dass man mit seinen Zitaten fast alles – und das jeweilige Gegenteil – belegen könnte. Erst recht mit den Zitaten zeitgenössischer Freunde und Feinde. Man könnte damit das traumatisierte Kind und den respektvollen Sohn untermauern. Den selbstquälerischen Asketen und den alkoholumnebelten Genießer. Den vulgären Grobian und den feinsinnigen Poeten. Den zärtlich-romantischen Ehemann und den herrischen Macho. Den populistischen Volksredner und das intellektuelle Genie. Luther, der schlitzohrige Politiker, Luther, der fromme Beter, Luther, der Freigeist … Er selbst ahnte schon, was nach seinem Tode passieren würde: »Jetzt wollen alle triumphieren und jeder will seine Gedanken ausschütten. Darum saget Prediger Salomo mit Recht ›des Büchermachens ist kein Ende‹! Ihr werdet Euch noch wundern, wenn ich im Sande liege, wie viel des Bücherschreibens (über mich) sein wird!«1

Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage. Hab ich jetzt den »wahren« Luther herausdestilliert? Natürlich nicht. Aber vielleicht hab ich Sie am Ende dieses kleinen Lexikons neugierig darauf gemacht, welche Gedanken und Gefühle, welche Lebens- und Gotteserfahrungen dieses sehr fernen Mannes uns heute ganz nahe kommen. Was uns heute – und über das Jubiläumsjahr 2017 hinaus – persönlich treffen und betreffen könnte. Würde mich freuen.

Andreas Malessa

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Luther war abergläubisch

Im März 2014 veröffentlichte die EKD ihre fünfte soziologische Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung unter der Überschrift »Engagement und Indifferenz«. Darin steht: »15 % der Evangelischen glauben an den Nutzen von Amuletten, Steinen oder Kristallen und 22 % haben eine Affinität (positive Haltung) zur Astrologie. Von denen, die wöchentlich am Gottesdienst teilnehmen, hängen 22 % dem Glauben an Steine an. Von denen, die nie oder seltener als mehrmals im Jahr den Gottesdienst besuchen, nur 12 %. Wenn wir dieses Ergebnis verallgemeinern, dann sind außerkirchliche Religiositätsformen innerhalb der Kirche wahrscheinlicher als außerhalb2

Auf Deutsch: Kirchgänger sind abergläubischer als Kirchenferne. Und dabei konnten ja nur die gezählt werden, die es zugeben … Da ist man doch glatt versucht, ein Lutherwort augenzwinkernd zu zitieren, das er selbst bitterernst meinte: »Ich will Deutschland nicht aus den Sternen wahrsagen, aber ich kündige ihm den Zorn Gottes aus der Theologie an! Es ist unmöglich, dass Deutschland ohne schwere Strafen davonkommen sollte.«3

War Martin Luther nun abergläubisch oder nicht?

Ziemlich, ja! Das ist kein Irrtum über Luther. Aber – er war’s mit schlechtem Gewissen und manchmal sogar selbstironisch. Im Alter gewann er eine kritische Distanz zum Aberglauben. »Es gibt nichts Mächtigeres in der Welt als den Aberglauben, aber vor Gott ist er ein Gräuel.«4

Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen ist magisch, mystisch, voller bedrohlicher Rätsel. Die Natur ist von Engeln, Teufeln, Hexen, Feen und Trollen, von Tiermenschen und Untoten bevölkert; die Kultur ist von Orakelsprüchen, Geheimnissen, Schicksalsglaube und Tabus durchzogen; Häuser und Kleidung sind mit wirkmächtigen Amuletten und Symbolen geschmückt und geschützt. Aberglaube – wir würden heute sagen: esoterisches Geraune, vermeintliches Geheimwissen, eine Spiritualisierung von Naturkräften – liegt einfach selbstverständlich in der Luft, gehört zum »Common Sense« und zum geistigen Klima der Zeit.

Margarete Luther, geborene Lindemann, Martins Mutter aus dem Dorf Möhra, verliert eine Tochter am plötzlichen Kindstod. Sie ist fest davon überzeugt, die böse Nachbarin sei in Wirklichkeit eine Hexe und habe ihre kleine Magdalene verflucht. Als die verdächtigte Frau eines Tages erschlagen auf dem Dorfanger liegt, äußert Martins Mutter keinerlei Bestürzung, sondern Erleichterung. Nun habe sich Satan eine der Seinen geholt, lautet ihr Kommentar.5

Wittenberg ist schon 23 Jahre lang das Zentrum der Reformation, aber deshalb gesellschaftspolitisch nicht etwa »aufgeklärt« in unserem Sinne, als am 29. Juni 1540 eine Frau namens Prista Frühbottin auf dem Marktplatz als Hexe verbrannt wird. Der Vorwurf: Wetterzauber und Weidevergiftung. Lukas Cranach der Jüngere hat es gemalt. Als Gerichts- und Bildreporter sozusagen.

Der katholische Theologe und Frankfurter Domherr Johann Cochläus behauptet in seiner 1549 geschriebenen Luther-Biografie, die flotte Margarete Lindemann aus Möhra habe sich leidenschaftlich mit dem Teufel amüsiert und dabei sei der kleine Martin gezeugt worden. Luther, ein Satansbraten, was sonst. So etwas wurde – auch unter Gebildeten – nicht etwa als geschmackloser Unsinn ignoriert, sondern als ernsthafte Möglichkeit diskutiert. »Preußen ist voll von Teufeln, in Lappland gibt’s viele Zauberer. In der Schweiz ist auf einem hohen Berg ein See, den heißt man Pilatusteich, dort wütet der Teufel. In meiner Heimat ist auf dem Pichelsberg ein Teich, wenn man da einen Stein hineinwirft, entsteht ein großer Sturm.«6 Luther glaubte das offenbar.

Vom Mai 1521 bis März 1522 muss er sich auf der Wartburg bei Eisenach verstecken. Freunde Martin Luthers haben ihn hierhin »entführt«, damit die Rückreise vom Reichstag in Worms nicht auf dem Scheiterhaufen endet. Er wohnt in einem Teil des weitläufigen Gebäudes, der nur über eine Zugtreppe erreichbar ist. Zweimal täglich mit Essen versorgt wird er von zwei Hausangestellten, die nur wissen, dass der Fremde »Junker Jörg« heißt. Luther ist einsam – und er meint, einen Poltergeist im Zimmer zu haben: »Nun hatten sie mir einen Sack Haselnüsse gekauft, die ich aß und in einem Kasten verschloss. Als ich des Nachts zu Bette ging, da kommt mir’s über die Haselnüsse – eine nach der anderen quizt an die Balken mächtig hart, rumpelt mir am Bette. Und wie ich nun ein wenig entschlief, hebt’s an der Treppe ein solch Gepolter, als werfe man ein Schock Fässer die Treppe hinab. So ich doch wohl wusste, dass die Treppe mit Ketten und Eisen verwahret, sodass niemand hinauf- oder Fässer hinunterkonnten. Ich stehe auf, will sehen, was da sei, da war die Treppe zu. Da sprach ich: ›Bist du’s, so sei es!‹ und befahl mich dem Herrn Christus, von dem geschrieben steht: ›omnia subiecisti pedibus eius‹ (›alles hast du unter seine Füße gelegt‹), wie Psalm 8, Vers 7 sagt. Und legte mich wieder nieder ins Bette.«7

Luthers Unerschrockenheit nachts mit einem Poltergeist allein auf einem Burgzimmer erstaunt uns heute. Man kann sich das in frommer Bewunderung erklären und sagen: »Da sieht man mal, wie geborgen in Christus, wie unerschütterlich dieser Glaubensmann war!« Man kann sich das in trockener Nüchternheit erklären und sagen: »Ein Sack voll Haselnüsse zieht Mäuse an oder enthält bereits welche. Deren Rascheln …« Man kann das religionspsychologisch deuten: »Da sieht man mal, wie selbstverständlich und souverän der mit Übersinnlichem rechnete.«

Man kann die Szene auch anzweifeln und sagen: »Na ja, Luther erzählt das Jahre später in seinen Tischreden, vielleicht übertreibt er in der Erinnerung etwas.« Und als hätte er diesen Einwand geahnt, erwähnt Luther noch eine weitere Person, die vom Poltergeist auf der Wartburg um den Schlaf gebracht worden sei: die Frau des Schlosshauptmanns der Wartburg, Madame von Berlepsch, 1521 zeitweilig getrennt lebend: »Nun kam Hans von Berlepschs Frau gen Eisenach und hatte gerochen, dass ich auf der Burg sei, und hätte mich gern gesehen. Es konnte aber nicht sein. Da brachten sie mich in ein anderes Gemach und legten dieselbige Frau von Berlepsch in meine Kammer. Da hat’s die Nacht über ein solches Gerumpel in der Kammer gehabt, dass sie meinte, es wären tausend Teufel drinnen.«8

Mit dieser »Kronzeugin« des Wartburger Poltergeistes handelt sich Luther allerdings böse Verdächtigungen ein: Wie wahrscheinlich ist es, dass man hohen Damenbesuch ausgerechnet in ein abgelegenes Spukzimmer einquartiert? Warum übernachtet sie nicht in den – vergleichsweise luxuriösen – Gemächern ihres Mannes? Das deutet auf eine ziemlich beendete Ehe hin. Woher wusste Luther, wie es Frau von Berlepsch nachts ging, wenn es offiziell »nicht sein konnte«, dass sie sich begegnen?

Luther litt furchtbar unter seiner Einsamkeit. »Ich brenne durch das große Feuer meines ungezähmten Fleisches. Ich sollte brünstig sein im Geist und bin doch brünstig im Fleisch.«9 So hat er sich dem Schlosshauptmann gegenüber seelsorglich anvertraut. Könnte es also sein, dass Hans von Berlepsch seinem einsam »brennenden« Gast und seiner auf Luther erpichten Noch-Gattin einen, nun sagen wir, großzügigen, diskreten Gefallen tat …? Dann hätte das »Gerumpel in der Kammer« keine okkult-magische, sondern eine sehr menschliche Ursache gehabt … Einige Lutherforscher jedenfalls meinen das.10

Schon in den späten 20er-Jahren des 16. Jahrhunderts zeichnet sich ein zunehmend kritisch-rationales Denken Luthers gegenüber dem mittelalterlich-magischen Zeitgeist ab, typischerweise mit der Bibel als Instrument dieser Entzauberung: »Der Teufel kann mich so ängstigen, dass mir im Schlaf der Schweiß ausbricht. Aber ich kümmere mich nicht um Träume oder Vorzeichen. Ich habe Gottes Wort. Daran lasse ich mir genügen. Ich wollte auch nicht, dass ein Engel zu mir käme. Ich würde ihm jetzt doch nicht glauben.«11

Auch gegenüber der Horoskop-Gläubigkeit, dem ängst­lichen Verfolgen der Sternkonstellationen, entwickelt Luther eine kritische Distanz, und die natürlich (noch) nicht aus naturwissenschaftlichen Gründen: »Zeichen und Gestirne sind nicht deshalb geschaffen, dass sie mich meistern, sondern mir zu Nutz und Dienst. Über Tag und Nacht sollen sie regieren, aber über meine Seele sollen sie kein Regiment noch Gewalt haben. Der Himmel ist dazu gemacht, dass er Licht und Zeit gebe. Die Erde, dass sie uns trage und speise. Mehr können sie nicht von sich geben noch wirken.«12 Salopp ausgedrückt: Die Sterne lügen nicht. Sie schweigen. Theologisch gesagt: Gestirne sind geschöpflich, nie schöpferisch.

Aber die Astrologen schweigen natürlich nicht und sind keineswegs unkreativ. Luther hat schon oft beobachtet, dass sie eingetroffene Vorhersagen gern erzählen, falsche Ankündigungen aber verschweigen: »An Sterngucker denke ich wie an einen, der Würfel feilbietet und sagt: Siehe, ich habe gute Würfel, die werfen immer die 12. Nun, du wirfst sie hin und wenn die 12 kommt, ist’s recht. Man sieht aber nicht, wie oft man zuvor 2, 3, 4, 5 und 6 geworfen hat, und wenn es schief geht, schweigen die Astrologen still.«13 Allerdings räumt er ein: »Astrologia ist eine feine Kunst, aber sehr ungewiss. Sie bedarf wohl guter Deutung und viel Bedenkens.«14

Ein guter Freund Luthers, ein hochintelligenter Sprachwissenschaftler und stets sehr rational argumentierender Mensch, kümmert sich sehr um Vorzeichen. Er »deutet und bedenkt« viel: Philipp Melanchthon. Der ist so sehr von den Empfehlungen und Warnungen seines persönlichen Astrologen beeinflusst, dass er sich weigert, mit Martin Luther auf einer Holzbrücke über die Elbe in die Stadt Wittenberg zu gehen. Weil es sein Horoskop verbietet. Luther schlägt vor, in einen Gasthof diesseits der Elbe einzukehren, und sagt später: »Der Philipp Melanchthon schaut in die Sterne, ich auf den Grund meines Kännlein Bieres. Das Ergebnis ist das Gleiche. Du willst nicht nach Hause, weil du Angst vor dem Wasser hast – und ich, weil ich noch was trinken will.«15