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1. Auflage 2014
 
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Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
 
Umschlaggestaltung: Melanie Melzer, nach einem Entwurf der Autorin
Umschlagabbildung: Joanne McGivern (www.joannemcgivern.com.au)
Satz: Carsten Klein, München
E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print 978-3-95705-001-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95708-002-8
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95708-003-5
 
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Wir wagen es nicht, weil es schwer ist,
sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.

Lucius Annaeus Seneca

Inhalt

Titel
Impressum
Zitat
Inhalt
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Die Autorin

Prolog

»Hey, was machst du denn noch hier?« Fröstelnd ziehe ich meine
schwarze Lederjacke über die Schultern und reibe meine eiskalten Hände aneinander. »Wolltest du nicht schon längst ...« Der Satz bleibt mir mitten im Hals stecken. Was macht sie denn hier?

Neben Daniel ist auf einmal eine Frau ins Licht der Straßenlaterne getreten. Sie hat langes, schwarzes Haar, olivefarbene Haut und rehbraune Augen. Sie trägt ein cremefarbenes Minikleid und einen schwarzen Blazer. Ihre braun gebrannten Beine enden in hautfarbenen Pumps mit unsagbar hohen Absätzen. Ihr Outfit mag vielleicht bei den Männern Eindruck schinden, ist aber ganz und gar unpassend für den bitterkalten Winterabend in Sydney.

Was mich am meisten stört? Sie sieht in echt genauso gut aus wie auf den Bildern, die ich von ihr gesehen habe.

»Hallo, ich glaube, wir kennen uns nicht! Ich bin Tessa. Und du bist?«, fragt sie mich und streckt mir ihre perfekt manikürte Hand entgegen.

Ich? Ich bin die Frau, die er für dich verlassen hat.

›Verlassen?‹ Mein verletzter Stolz schnauft verächtlich. ›Er hat dich ohne mit der Wimper zu zucken eiskalt fallen lassen.‹

»Das – ähm – ist Chloe Schwarzer, eine Freundin von mir.«

Ich kann die Nervosität in Daniels Stimme hören, als er uns vorstellt. Bei dem Wort ›Freundin‹ hätte er sich beinah verschluckt. Wir sind keine Freunde. In meinen Augen sind wir noch nicht einmal mehr entfernte Bekannte.

Tessa schaut verwirrt zwischen Daniel und mir hin und her. Sie spürt die Anspannung, die in der Luft liegt. Langsam lässt sie ihre Hand sinken.

»Alles okay?«, fragt sie Daniel und streicht mit dem Handrücken über seine gerötete Wange. Ich presse meine Lippen fest aufeinander, denn ich möchte am liebsten schreien.

Bevor Daniel antworten kann, berührt mich eine Hand am Rücken. Ich zucke zusammen und schaue mich irritiert um. Es ist Alex. Er tritt neben mich und pustet den blauen Dunst seiner Zigarette in den Nachthimmel.

Für einen winzigen Augenblick schaut er mich besorgt von der Seite an, dann wendet er sich Tessa und Daniel zu.

»Hey Tessa, ich wusste gar nicht, dass du heute auch hier bist!«, knurrt er mit einem Seitenblick zu Daniel und gibt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Ihre High Heels klackern auf dem Asphalt, als sie vortritt, um die Begrüßung zu erwidern.

»Oh, ich war nicht auf dem Konzert, wenn du das meinst. Ich bin nur hier, um Dan abzuholen«, lächelt sie und greift bestätigend nach Daniels Hand.

»Ja, ich ... ich glaube, wir sollten dann auch mal ...« Unsicher blickt Daniel in die Runde. Ich glaube, ich habe ihn in der ganzen Zeit, in der ich ihn kenne, noch nie so nervös erlebt. Langsam lässt er Tessas Hand los und legt einen Arm um ihre Schultern. Nach einem kurzen Blick auf ihr Dekolleté scheint er sein Selbstvertrauen wiedergefunden zu haben. Er grinst mich siegessicher an.

Diesmal kann ich nicht widerstehen und rolle demonstrativ mit den Augen.

»War schön, dich mal wieder gesehen zu haben, Chloe! Wir quatschen bald mal wieder, ne?«

Mit diesen Worten verabschiedet er sich und dreht sich ohne ein weiteres Wort und mit Tessa im Schlepptau um. Mit geballten Fäusten starre ich den beiden hinterher. Wie kann er es wagen? Ich will ihm hinterherlaufen und ihm und seiner Dreistigkeit eine Ohrfeige verpassen. Wütend kneife ich meine Augen zusammen und trete einen Schritt vor.

In diesem Moment greift eine Hand nach meinen Arm. Alex sieht mich lange an und schüttelt langsam seinen Kopf. Unsere Blicke verhaken sich. Er lässt mich nicht aus den Augen, bis ich langsam aus-
atme und die Wut sich mit der ausgeatmeten Luft verdünnisiert.

»Das ist gerade nicht wirklich passiert, oder?!«, frage ich nach einem Augenblick.

»Oh doch«, schnauft Alex und zündet sich eine neue Zigarette an. Er zieht einige Male kräftig, dann wendet er sich mir zu.

»Bist du okay?«, flüstert er und zieht die Stirn in Falten. Ich zucke mit den Schultern. Ich dachte wirklich nicht, dass es noch ein Gefühl gäbe, das ich in Bezug auf Daniel spüren könnte. Der Wunsch, ihm in aller Öffentlichkeit eine Ohrfeige zu verpassen, war definitiv neu.

»Hast du gewusst, dass er sie heute hier trifft?«, will ich wissen und studiere Alex’ Gesicht. Seine braunen Augen funkeln in der Dunkelheit. Seine dunklen Haare sind lässig nach hinten gegelt. Ein paar einzelne Strähnen haben sich gelöst und fallen ihm in die Stirn.

Er greift sich mit der freien Hand an das stoppelige Kinn und atmet hörbar aus.

»Nicht im Detail«, gibt er endlich zu. »Ich wusste, dass er sie trifft, solange wir in Sydney sind, aber ich habe ihn ausdrücklich davor gewarnt, sie mit zu dem Konzert zu bringen.«

»Hat er ja nicht«, schnaufe ich verächtlich und schüttle meinen Kopf. »Wie kann er so dreist sein, sich mit ihr vor meinen Augen zu treffen?«

Ich balle meine Hände erneut zu Fäusten und starre eine Leuchtreklame auf der gegenüberliegenden Straßenseite an.

»Er denkt nicht nach. Das weißt du doch«, gibt Alex leise zu und lässt seinen zweiten Zigarettenstummel zu Boden fallen. Er tritt ihn aus und sieht mich an. Plötzlich beugt er sich vor, um die Reste seiner Zigarette aufzuheben.

»Sorry, ich vergesse immer, dass ich die Dinger in Sydney aufsammeln muss.«

Er sieht mich entschuldigend an und geht die wenigen Schritte zum nächsten Mülleimer, um den traurigen Zigarettenstummel zu entsorgen. Als er zurückkommt, denke ich, dass er mich tröstend in den Arm nehmen wird. Er hebt seine Hand und schaut mich an, dann streicht er mir freundschaftlich über den Arm.

»Komm, lass uns gehen.«

Er tritt neben mich und gibt mir einen Stups gegen die Schulter und beginnt die George Street Richtung Norden zu laufen. Nach ein paar Schritten dreht er sich zu mir um.

»Wann kommt deine nächste Fähre?«

Benommen schaue ich auf meine Uhr.

»In dreißig Minuten. Ich habe gerade eine verpasst.«

»Okay. Ich bringe dich besser zum Hafen«, sagt er und drängt sich durch eine Gruppe von Menschen hindurch. Tausend Fragen schwirren durch meinen Kopf, doch ich weiß, dass für Alex das Gespräch über Daniel beendet ist.

Kapitel 1

»Chloe?!« Ich schrecke hoch und sehe mich entsetzt im Raum um. Unzählige Augenpaare sind auf mich gerichtet.

»Sorry, ich – ähm ...«

»... war gerade ganz woanders?!« Megan Cardwell, meine Chefin, Chefredakteurin des australischen Modemagazins ALICIA, beendet den Satz für mich und zuckt amüsiert mit den Mundwinkeln.

»Entschuldige.«

Ich sehe sie hilflos an und bemerke, wie meine Wangen zu glühen beginnen. Das Lächeln meiner Chefin wird breiter. Sie weiß, dass sie mich gerade beim Träumen mit offenen Augen erwischt hat.

»Ich wollte wissen, wie weit du mit deiner Reportage bist, aber du kannst uns alle auch gern darüber informieren, bei welchem Mann deine Gedanken gerade waren?!«

Das restliche Blut in meinen Körper schießt Richtung Kopf. Ich habe das Gefühl, dass er gleich explodiert. Peinlich berührt blicke ich zu Boden und atme aus.

»Megan, du weißt doch, Männer und ich ...« Ich verziehe mein Gesicht zu einer Grimasse und sehe meine Chefin direkt an. »Die Männer und ich haben eine Vereinbarung. Ich bleibe ihnen fern. Sie kommen mir nicht in die Quere.«

Ich lächle, als ich das dumpfe Kichern einiger Kollegen höre. Auch meine Chefin kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Manchmal frage ich mich, ob wir die Witze-Rubrik wieder aus der Versenkung holen sollten und sie dir aufs Augen drücken sollen, Chloe«, kommentiert sie und zieht dann ihre Lippen zu einem schmalen Strich.

»So, nun. Wie weit bist du mit der Reportage?«

Verdammt. Welche Reportage? Habe ich dafür überhaupt schon etwas gemacht? Ich kann mich nicht erinnern. Mit nervösen Fingern versuche ich die Antwort aus den Dokumenten auf meinem Schoß zu fischen.

Oh, richtig, diese Reportage.

»Ich bin fast fertig, Megan. Ich brauche nur noch Aussagen von drei Vorzeigepromis. Die sollte ich aber bis heute Nachmittag auf dem Tisch haben. Die Agentin von Miranda Kerr hat sich heute Vormittag bereits mit einem Statement gemeldet.«

Megans Augen weiten sich überrascht, dann nickt sie zufrieden.

»Sehr gut, Chloe. Finn? ... Finn Bergström, wo bist du?«

Sie lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. Als sie Finn am Türrahmen lehnend sieht, nickt sie ihm zu.

»Finn, kannst du heute Nachmittag die Seite aufsetzen?«

Er nickt. Ich blicke angestrengt zwischen den beiden hin und her und versuche, ein besonders ernstes Gesicht zu machen.

›Konzentrier dich, Chloe! Schau ihn bloß nicht zu lange an‹, warnt mich meine Unsicherheit.

Zu spät. Ich kann meinen Blick nicht von dem attraktiven Schweden im Türrahmen wenden. Meine Wangen glühen erneut und ich bin mir sicher, dass ›Chloe steht auf Finn‹ in ganz großen Buchstaben auf meiner Stirn geschrieben steht.

Finns ausgewaschenes, gelbes T-Shirt hängt locker über seinen blauen Jeans. Die Muskeln an seinen gebräunten Oberarmen spannen sich an. Die Adern an seinem Hals sind hervorgetreten – gerade so, als müsste er sich körperlich anstrengen, Megans Worte zu folgen. Seine Lippen sind zu einem schmalen Strich verzogen. Seine blauen Augen starren geradeaus. Plötzlich hebt er seinen Blick und sieht mich an. Ich werde augenblicklich feuerrot und wende hastig meinen Blick ab. Mist.

›Ich habe dich gewarnt‹, kommentiert meine Unsicherheit und schüttelt ihren Kopf.

Das mit dem Puterrot-Werden raubt mir noch den allerletzten Nerv. Ich meine, ich werde nicht nur manchmal rot, meine Wangen glühen quasi unaufhörlich: Meine Chefin spricht mich vor versammelter Mannschaft an – ich werde rot. Ein süßer Typ schaut mich
an – ich balle das Gesicht zu einer Faust, schaue in die entgegengesetzte Richtung und meine Wangen fangen Feuer. Ich mache einen Witz, den keiner versteht – ich werde rot und bin peinlich berührt. Die Liste ist endlos lang.

Zum Glück bemerkt meine Chefin nichts von meiner Verlegenheit und beschreibt im Schnelldurchlauf, wie sie sich das Layout der Reportage vorgestellt hat.

Finn nickt gelangweilt und zieht dann einen Kugelschreiber aus der Hosentasche, um sich eine Notiz auf dem Handrücken zu
machen.

»Und benutz verdammt noch mal ein Blatt Papier! Du bekommst noch Hautkrebs von dem Zeug, das dir da in die Haut eindringt.«

Megan schüttelt angewidert den Kopf und wirft ihm einen ihrer Notizblöcke zu. Er fängt ihn mit der rechten Hand auf und betrachtet das rosafarbene Papier.

»Schau nicht so. Rosa steht dir«, kommentiert Megan amüsiert. Auf dem Tisch vor ihr liegen mindestens zehn unbenutzte Notizbücher. Nur ein Einziges war rosa. Das hält Finn jetzt in der Hand.

Widerwillig macht er sich Notizen auf dem obersten Blatt. Einige Kolleginnen kichern amüsiert und flüstern einander etwas zu. Ich bin definitiv nicht die Einzige, die für Finn schwärmt, bemerke ich irritiert.

Megan zieht eine Augenbraue in die Höhe und wartet, bis Finn wieder von seinem Notizblock aufschaut, dann geht sie zur Tagesordnung über.

»In der nächsten Ausgabe von ALICIA ...«

Gelangweilt male ich Kringel auf meinen eigenen Notizblock und frage mich, über welche phänomenalen Erkenntnisse wir wohl im nächsten Heft berichten werden. Vielleicht mal wieder Abnehmen ohne Diät? Oder mit welchen Accessoires ich am schnellsten ein Businessoutfit zu einem scharfen Partyoutfit verwandeln kann? Ich kann mich stoppen, bevor ich gelangweilt mit den Augen rolle.

›Vergiss nicht, wer es dir ermöglicht hat, heute hier zu sitzen‹, ermahnt mich meine Vernunft. Ich schließe meine Augen für einen Augenblick und massiere meine Schläfen.

›Ich weiß‹, raune ich ihr in Gedanken zu und starre an Megan vorbei aus dem Fenster.

Es war mein ganz großer Traum als Journalistin im Ausland zu arbeiten. Ich wollte in der Weltstadt Sydney leben und nicht länger im tristen Hamburg sein.

Vor knapp einem Jahr habe ich für meinen Traum alles aufgegeben: Eine vielversprechende Karriere bei einem renommierten Verlagshaus. Einen sicheren Job. Eine wunderschöne Altbauwohnung mit Elbblick.

Ich bin nach Sydney gekommen, um ein neues Leben anzufangen. Alles wollte ich hinter mir lassen. Alles, und vor allem Daniel.

Wieder denke ich an den kalten Winterabend in Sydney vor ein paar Monaten zurück und kann es nicht fassen, dass er mir bis ans andere Ende der Welt gefolgt ist. Er hat mein neues Leben in Sydney beschmutzt. Sydney war für mich wie ein weißes Blatt Papier mit allen Möglichkeiten und Chancen, einen Neustart hinzulegen. Jetzt hat das blütenweiße Papier einen dreckigen Fußabdruck. Ich schüttle meinen Kopf und schlucke die aufsteigenden Tränen hinunter.

Wie konnte er nur so dreist sein und sich vor meinen Augen mit Tessa treffen? Denkt er denn wirklich nie über meine Gefühle nach? Wenn ich könnte, ich würde das Jahr mit ihm ganz und gar aus meiner Erinnerung streichen.

Doch wäre ich dann wirklich hier?! Hat mir nicht erst der Herzschmerz den nötigen Tritt verpasst, um meinen Koffer zu packen und das One-Way-Ticket ans andere Ende der Welt zu buchen?

Heute sitze ich im achtzehnten Stock eines verglasten Hochhauses und schaue auf die Skyline einer australischen Metropole hinunter. Anstatt wie viele andere auf einer Farm im Outback zu schuften, wohne ich in Manly, einem der beliebtesten Stadtteile in Sydney, fahre jeden Tag mit der Fähre in die Innenstadt und arbeite bei einem der bekanntesten Modemagazine Australiens.

Eigentlich sollte ich mich wirklich glücklich schätzen, dass ich es geschafft habe. Ich atme tief ein und versuche beim Ausatmen nicht zu seufzen.

Plötzlich stößt eine Kollegin gegen meinen Stuhl. Ich schrecke hoch und drehe mich irritiert um. Ich kann nicht fassen, wie viele Personen sich heute wieder in Megans verglastes Eckbüro gezwängt haben. Es müssen über dreißig Personen sein, die sich für eine halbe Stunde die ohnehin schon stickige Luft in dem kleinen Raum teilen.

Megan bevorzugt es, die wöchentliche Redaktionskonferenz in ihren ›eigenen vier Wänden‹ – wie sie ihr Büro bezeichnet – abzuhalten. Nicht, dass ALICIA keine Konferenzräume hätte, aber die sind im zwanzigsten Stock und Megan kann das Stockwerk über unseren Köpfen nicht leiden.

»Im zwanzigsten Stock bestimmen Anzugträger mit ihren Nummern und Zahlen, wo es lang geht. In den Redaktionsräumen hier unten haben wir mit unseren kreativen Ideen das Sagen«, hatte sie mir an meinem ersten Tag erklärt.

Auch heute thront Megan wieder mit ihrem Bürostuhl in unserer Mitte und dreht sich im Kreis. Meine Kollegen sitzen auf den wenigen Stühlen, lehnen gegen Megans Bücherregalen oder sitzen auf dem grauen Teppichboden.

Unbehaglich rutsche ich auf dem harten Holzstuhl hin und her. Zumindest habe ich einen Sitzplatz ergattert.

Als mein Blick auf Sofia mir gegenüber fällt, zucke ich zusammen. Meine Büronachbarin starrt mich unverhohlen an. Ich verziehe das Gesicht und gebe ihr zu verstehen, dass ich nicht weiß, warum sie mich so anstarrt. Sie grinst und kritzelt etwas auf den Notizblock auf ihrem Schoß, dann hebt sie das Blatt Papier langsam an. Mit einem schwarzen Edding steht darauf: ›Wer ist er?‹

Ich reiße meine Augen auf und gebe ihr zu verstehen, das Blatt schnellstmöglich wieder verschwinden zu lassen. Sie kichert, zerknüllt das Blatt Papier und lässt es in ihrer Hosentasche verschwinden. Ich schüttle amüsiert den Kopf.

War klar, dass sie die Einzige ist, die sich noch an Megans Anfangsfrage erinnern kann und wahrscheinlich nicht eher Ruhe geben wird, bis ich ihr von ›dem Mann in meinen Gedanken‹ erzählt habe.

»Okay, das wär’s für heute! Zurück ans Werk.«

Megan klatscht in die Hände und beendet damit die Wochenkonferenz. Zähflüssig setzt sich die Belegschaft in Bewegung. Einige Kollegen haben bereits ihr Telefon am Ohr. Langsam stehe ich auf und mache mich auf den Weg Richtung Tür. Als ich durch den Türrahmen trete, bemerke ich, wie Finn im Gang wartet.

Mit verschränkten Armen lehnt er an der weißen Wand und hat das rosafarbene Notizbuch gegen seine Brust gepresst. Als er mich aus dem Büro treten sieht, lächelt er mich an. Ich werde augenblicklich rot und streife mir nervös eine nicht existierende Strähne aus dem Gesicht.

›Bitte ball nur einmal nicht das Gesicht zur Faust. Gehe auf ihn zu und lächle!‹, befiehlt meine Unsicherheit und biegt meine Mundwinkel mit aller Gewalt nach oben.

Schüchtern gehe ich die wenigen Schritte auf ihn zu. Meine Finger krallen sich an meinem Notizblock fest. Ich wette, meine Knöchel treten bereits weiß hervor.

»Hey«, begrüßt er mich und sieht mir in die Augen.

»Hey Finn, schönes Notizbuch«, bemerke ich und ziehe eine Augenbraue in die Höhe. Sein Lächeln wird breiter. Er klopft mit der rechten Hand auf das rosa Papier und zieht das Gesicht zu einer Grimasse. Dann stößt er sich von der Wand ab.

»Hast du einen Moment?«

Mein Herz bleibt stehen. Ich lächle und nicke. Dann umklammere ich mein Notizbuch vor meiner Brust.

»Klar. Tee?«, frage ich und mache mich auf den Weg zu der kleinen Teeküche gegenüber von Megans Büro. Ich mache drei Kreuze, als ich den fensterlosen Raum betrete und keiner meiner
Kollegen hier ist. Ich versichere mich, dass Finn mir auch tatsächlich in die Küche gefolgt ist, bevor ich frage: »Was gibt es?«

Er lehnt ihm Türrahmen und blockiert das natürliche Licht, das von draußen hereindringt. Ich ziehe eine Augenbraue hoch und fülle Wasser in den Wasserkocher. Meine Hände zittern. Schnell stelle ich den Wasserkocher ab und schalte ihn an.

»Wann passt es dir heute, um das Layout der Reportage durchzusprechen?«, fragt er und vergräbt seine Hände in den Hosentaschen.

›Arbeit? Du willst nur über die Arbeit sprechen?‹

›Natürlich. Was hast du denn gedacht?‹ Meine Enttäuschung lässt sich schmollend auf einen Sitzsack nieder und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Wann immer es dir passt. Ich habe heute keine Termine in meinem Kalender«, erkläre ich ihm und lächle ihn an. Dann drehe ich mich um und bereite zwei Tassen Tee vor.

»Milch oder Zucker?«

Ich sehe ihn an und stelle fest, dass ich definitiv besser mit meiner Nervosität umgehen kann, wenn ich etwas in den Händen halte. Nichtsdestotrotz, meine Wangen glühen. Ich wette, man könnte bereits Spiegeleier auf ihnen braten.

»Zucker, keine Milch, aber das brauchst du nicht für mich machen. Danke«, sagt er, zieht die Hände aus den Hosentaschen und tritt neben mich an die Küchentheke.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen Mann derartig attraktiv fand. Das Blut pulsiert in meinen Adern und mein Herz klopft so laut, dass er es einfach hören können muss. Mit einem Satz: Ich bin mal wieder das ganze Gegenteil von cool.

Unauffällig beobachte ich ihn aus den Augenwinkeln. Er nimmt eine Packung braunen Zucker aus der Dose und reißt das Tütchen auf. Dann schüttet er den Zucker in seine Tasse und rührt um.

Scheinbar beschäftigt nehme ich die Flasche Milch aus dem Kühlschrank und schütte einen großen Schluck in meine Tasse. Mein schwarzer Tee verfärbt sich augenblicklich hellbraun. Finn starrt die Flüssigkeit in meiner Tasse an und sieht mich fragend an.

»Milch mit Tee«, erkläre ich ihm und zwinkere ihm zu. Er schmunzelt und sieht mich von der Seite an. Seine Grübchen kommen unter seinem Dreitagebart zum Vorschein.

Ich könnte an Ort und Stelle dahinschmelzen.

›Reiß dich zusammen!‹ Meine Unsicherheit meldet sich zu Wort. Ich trete augenblicklich einen Schritt zurück und lehne mich mit dem Rücken gegen den Kühlschrank. Dann blicke ich ihn fragend an. Der Ausdruck in seinem Gesicht verändert sich schlagartig. Er wirkt unsicher und verwirrt. Gerade so, als hätte ich ihn gefragt, ob er sich an Ort und Stelle ausziehen könne.

Bei dem Gedanken schmunzle ich und nehme einen Schluck von meinem lauwarmen Tee.

»Du hast noch nicht gesagt, wann du Zeit hast, um über das Layout zu sprechen.«

Er atmet hörbar auf. Amüsiert schüttelt er den Kopf und lächelt mich an. Diese Grübchen und das markante Kinn! Oh Mann.

»Was hältst du davon, wenn wir nach der Mittagspause darüber sprechen?«

»Super. Das passt. Soll ich zu deinem Schreibtisch kommen?«

Er nickt und ich überlege krampfhaft, wie ich das Gespräch am Leben erhalten kann.

»Wie waren die Wellen heute Morgen?« – Surfen. In Australien immer ein todsicheres Thema.

Finns Gesichtsausdruck verändert sich. Seine Augen beginnen zu glänzen und seine Körperhaltung wirkt sofort entspannter.

»Manly war komplett flach. Freshwater sah ganz gut aus, aber viel zu viele Surfer im Line-up. Curl Curl war perfekt und es war auch keine Menschenseele im Wasser. Warst du surfen?«

»Nein, leider nicht. Ich schaffe es nur selten vor der Arbeit«,
lüge ich. Um ehrlich zu sein, ich war seit Wochen nicht mehr auf meinem Surfbrett.

»Bist du bei diesem Wetter immer noch mit dem Fahrrad unterwegs?«, fragt er mich plötzlich.

Ich schaue überrascht auf und nehme meine Teetasse in die andere Hand. Woher weiß er, dass ich mit Fahrrad zur Arbeit fahre?

»Sofia hat mir erzählt, dass du dein Rad mit auf die Fähre nimmst und dann durch den Hyde Park radelst.«

Ich nicke. Warum um Alles in der Welt redet Finn mit Sofia über mich? Ich lege meinen Kopf schief und schaue Finn neugierig an.

Unsicher geht er einen Schritt auf mich zu und lehnt sich gegen die Wand neben dem Kühlschrank. Meine eigene Unsicherheit kommt aus ihrem Versteck und formt meine Lippen zu einem verkrampften Lächeln.

»Solange das Wetter mitspielt, fahre ich mit dem Rad«, beantworte ich seine erste Frage und erkläre ihm: »Mit dem Fahrrad komme ich meist schneller in der Stadt voran als mit der Bahn.«

»Ist der Verkehr in der Innenstadt nicht mörderisch?«, fragt er mich besorgt und verschränkt die Arme vor der Brust.

Ich zucke gleichgültig mit den Schultern.

»Man gewöhnt sich daran. Mich daran zu erinnern, auf der linken Seite zu fahren, war für mich viel schwieriger.«

Er schmunzelt und schweigt. Nach einer Weile sieht er mich an und steckt seine Hände in die Hosentaschen. Ich trinke den letzten Schluck von meinem Tee und stelle die leere Tasse auf der Theke ab.

»Also, nach dem Mittag, ja?«

Er stößt sich von der Wand ab und greift nach seinem Notizblock auf der Küchentheke.

Ich nicke.

Finn wirft mir lächelnd einen Blick zu, nimmt seine Tasse pechschwarzen Tees und verschwindet aus der Küche.

Ich starre in die Richtung, in die er verschwunden ist und schlage mir dann mein Notizblock peinlich berührt vor das Gesicht.