Erstmalig als Aufsatzserie in der Fachzeitschrift Polizei – Studium – Praxis 01/2013 – 3/2013 veröffentlicht.
E-Book
1. Auflage 2015
© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb 2015
Hilden/Rhld.
Alle Rechte vorbehalten
E-Pub-ISBN: 978-3-8011-0754-3
Mobipocket/KF8-ISBN: 978-3-8011-0755-0
www.VDPolizei.de
Ermittlungen disziplinarrechtlicher Art können jeden Beamten treffen – und das in mehrfacher Hinsicht.2 Einerseits kann der Beamte Betroffener eines Disziplinarverfahrens sein, andererseits kann er zum Ermittlungsführer bestimmt werden; dass er schließlich als Vorgesetzter die Grundzüge des Disziplinarrechts kennen muss, ist selbstverständlich.
Der erste Teil gibt zunächst einen Überblick und erläutert dann die rechtlichen Voraussetzungen für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens.
Das behördliche Disziplinarverfahren ist einheitlich geregelt (§§ 17 ff. LDG NRW3). Es gliedert sich im Teil 3 des LDG NRW wie folgt:
– Kapitel 1: | Einleitung, Ausdehnung und Beschränkung (§§ 17 bis 19 LDG NRW) | |
– Kapitel 2: | Durchführung/Ermittlungen (§§ 20 bis 31 LDG NRW) | |
– Kapitel 3: | Abschlussentscheidung (§§ 32 bis 37 LDG/BDG) |
Grundlage einer disziplinaren Verfolgung ist § 17 Abs. 1 LDG NRW.
Liegen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vor, die den Verdacht eines Dienstvergehens rechtfertigen, hat die dienstvorgesetzte Stelle ein Disziplinarverfahren einzuleiten und die höhere dienstvorgesetzte Stelle hierüber unverzüglich zu unterrichten. Die höhere dienstvorgesetzte Stelle und die oberste Dienstbehörde stellen im Rahmen ihrer Aufsicht die Erfüllung der Einleitungspflicht sicher; sie können das Disziplinarverfahren in jeder Lage des Verfahrens im Einzelfall an sich ziehen oder sich dies allgemein vorbehalten. Die Einleitung ist aktenkundig zu machen (§ 17 Abs. 1 LDG NRW).
Dabei kennt das Beamtenrecht zwei entscheidende Begrifflichkeiten: Das Dienstvergehen und die Pflichtverletzung. Die Pflichtverletzung folgt aus dem konkreten Pflichtentatbestand, der in Landesbeamtengesetzen bzw. im Beamtenstatusgesetz, aber auch in einer allgemeinen Verwaltungsregelung oder in einer Einzelweisung enthalten sein kann.
Das Dienstvergehen ist das Kernstück des Disziplinarverfahrens. Liegt ein entsprechender Verdacht nicht vor, darf der Dienstvorgesetzte auch kein Disziplinarverfahren einleiten. Das Nähere über die Verfolgung von Dienstvergehen regeln die Disziplinargesetze (§ 47 Abs. 3 BeamtStG). In den landesrechtlichen Disziplinargesetzen sind also die verfahrensrechtlichen Fragen näher zu behandeln.5
Im Unterschied zum Strafrecht enthält das Disziplinarrecht keine Aufzählung der Pflichten, deren Verletzung ein Dienstvergehen darstellt. Vielmehr werden durch § 47 Abs. 1 BeamtStG – quasi in Form einer Generalklausel – alle Pflichtverletzungen erfasst.6 Hiernach begehen Beamtinnen und Beamte ein Dienstvergehen, wenn sie schuldhaft die ihnen obliegenden Pflichten verletzen. Ein Verhalten außerhalb des Dienstes ist nur dann ein Dienstvergehen, wenn es nach den Umständen des Einzelfalls in besonderem Maße geeignet ist, das Vertrauen in einer für ihr Amt bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen.
Tatbestandsmäßig ergibt sich das Dienstvergehen aus inner- und außerdienstlichen Beamtenpflichten, wobei außerdienstlich noch besondere Voraussetzungen vorliegen müssen (§ 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG).7
Voraussetzungen eines Dienstvergehens (Überblick):6
– Beamteneigenschaft,
– Handlung (Tun oder Unterlassen) verstößt gegen eine/mehrere Beamtenpflichten (Dienstpflichtverletzung),
– Rechtfertigungsgründe liegen nicht vor,
– Verschulden,
– Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit.
Irrelevant im Disziplinarrecht sind sogenannte Bagatellverfehlungen, auch wenn sie im formellen Sinne die Voraussetzungen einer schuldhaft begangenen Pflichtverletzung erfüllen, z.B. einmaliges Zuspätkommen zum Dienst oder eine verspätete Eintragung ins Fahrtenbuch.
Es handelt sich um „bloße Unkorrektheiten ohne disziplinaren Unrechtsgehalt“8. Der Bagatellcharakter der Pflichtverletzung muss aber geradezu „auf der Hand liegen, ansonsten sind disziplinare Ermittlungen einzuleiten. Es muss eine ,Verletzung mit einem Minimum an Gewicht und Evidenz‘ vorliegen, die geeignet ist, das berufserforderliche Ansehen oder Vertrauen zu beeinträchtigen“9. Es kommt mithin auf das „Gewicht der Verfehlung“ an. Die Anforderungen an das (dienstliche) Verhalten dürfen letztlich nicht überspannt werden.
Es gehört auch zur Führungsverantwortung Vorgesetzter, kleinere „Verfehlungen“ (Entgleisungen einmaliger Natur) als solche zu erkennen und entsprechend zu bewerten.10
Der Tatbestand des Dienstvergehens setzt objektiv die Verletzung einer Pflicht und subjektiv ein Verschulden voraus. Ein versuchtes Dienstvergehen gibt es nicht und damit auch keinen Rücktritt vom Versuch (§ 24 StGB).11 Verstößt der Beamte durch einen strafrechtlichen Versuch schuldhaft gegen seine Dienstpflichten, so liegt ein (vollendetes) Dienstvergehen vor.12 Für das Vorliegen eines Pflichtverstoßes kommt es nicht auf den Charakter als Vorbereitungs- oder Versuchshandlung an. Die begonnene, aber nicht realisierte Pflichtverletzung ist nicht vorwerfbar. Gegenstand eines Dienstvergehens ist immer eine vollendete Pflichtverletzung, auch wenn vielleicht die sachgleiche
Straftat selbst unvollendet blieb. Entscheidend für den Pflichtentatbestand ist der Handlungswille, nicht der Erfolg.13 Der Rücktritt vom Versuch (§ 24 StGB) hat im Disziplinarrecht nicht dieselbe (strafbefreiende) Wirkung wie im Strafrecht. Nichtsdestotrotz kann der Rücktritt objektiv das Gewicht des Dienstvergehens herabsetzen und subjektiv für die Einsicht des Beamten und damit für ein geringeres Pflichtenmahnungsbedürfnis sprechen.14 Die strafrechtlichen Teilnahmebegriffe wie Beihilfe (§ 27 StGB), Anstiftung (§ 26 StGB) und Mittäterschaft (§ 25 StGB) spielen im Disziplinarrecht keine Rolle.15 Eine bloße Gehilfenschaft kann aber Milderung zulassen.16
Ein objektives pflichtwidriges Verhalten indiziert regelmäßig ein rechtswidriges Verhalten, sofern der Beamte keine Rechtfertigungsgründe geltend machen kann, die im Disziplinarrecht indes Ausnahmecharakter haben. Wer gegen Beamtenpflichten verstößt, kommt seiner Dienstpflicht nicht nach. Er handelt dienstrechtlich vorwerfbar, mithin rechtswidrig. Ein rechtfertigendes Verhalten kann aber z.B. im Falle einer Pflichtenkollision vorliegen.
Nichtanzeige einer schweren innerdienstlichen Verfehlung einer Beamtin oder eines Beamten durch dessen Freund und Kollegen aus Gründen der Interessenkollision.16
Ansonsten kommen die gesetzlich normierten Rechtfertigungsgründe in Betracht (§§ 32, 34 StGB; § 127 StPO; §§ 227, 228, 859 f., 904 BGB; § 15 OWiG). Rechtfertigungsgrund ist auch die erfolglose Remonstration bei einer rechtswidrigen Weisung (§36 Abs. 2 BeamtStG).18
Voraussetzung für das Vorliegen eines Dienstvergehens ist zudem, dass der Beamte schuldhaft gehandelt hat (Schuld = subjektive Vorwerfbarkeit). Nur die schuldhafte Verletzung einer Beamtenpflicht ist ein Dienstvergehen. Das Schuldprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gelten auch im Disziplinarverfahren.19
Es gelten diesbezüglich die gleichen Regeln wie im Strafrecht, d.h., vorwerfbar ist sowohl vorsätzliches als auch fahrlässiges Handeln. Bei der Frage, ob überhaupt ein Dienstvergehen vorliegt, ist die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit irrelevant. Jede pauschale Gleichstellung fahrlässig begangener Dienstvergehen mit vorsätzlich begangenen verbietet sich gleichwohl, weil die Rechtsordnung den Unrechtsgehalt vorsätzlichen und fahrlässigen Handelns regelmäßig unterschiedlich bewertet.20
Die Feststellung eines Verschuldens eines Beamten setzt weiterhin voraus, dass dieser auch schuldfähig gewesen ist, d.h., es dürfen keine Schuldausschließungsgründe vorliegen (vgl. §§ 33, 35 StGB). Ein schuldhaftes Handeln entfällt somit, wenn Schuldausschließungsgründe vorliegen. Insoweit gilt im Disziplinarrecht nichts anderes als im Strafrecht. In Betracht kommen also subjektive Zwangslagen, wie Notstand (§ 35 StGB) und Notwehrexzess (§ 33 StGB).21
Diese Schuldausschließungsgründe sind im Disziplinarrecht praktisch ohne Bedeutung. Eine danach schuldlos verursachte Rechtsgüterverletzung betrifft regelmäßig nicht den beamtenrechtlichen Pflichtenkreis, stellt also dann auch kein Dienstvergehen dar. Die Schuld ist auch ausgeschlossen in Fällen der Schuldunfähigkeit und im Falle eines entschuldigenden Verbotsirrtums (§§ 17, 20 StGB). Ein Handeln auf den Rat eines Rechtsanwaltes hin kann sich als Tatbestandsirrtum respektive als Verbotsirrtum darstellen.22