Für Ben

Hier geht die Wanderung der Vögel zu Ende, unsere Wanderung, die Wanderung der Worte.

Und nach uns ein Horizont für die neuen Vögel, nach uns ein Horizont für die neuen Vögel.

Und wir, die wir das Kupfer des Himmels hämmern, wir schlagen den Himmel, damit er nach uns Wege baut.

Wir haben uns mit unserem Namen versöhnt auf dem Hang der fernen Wolken, dem Hang der fernen Wolken.

Bald werden wir hinuntersteigen wie Witwen auf den Platz der Erinnerungen,

Und wir werden unser Zelt für die letzten Winde aufschlagen: weht, weht, damit das Gedicht lebe

Und der Weg zu ihm lebe. Und nach uns werden die Pflanzen wachsen, und die Pflanzen werden die Wege bedecken, die wir allein gegangen sind, Wege, eingeweiht von unsern beharrlichen Schritten.

Hier werden wir in die letzten Felsen ritzen, Es lebe das Leben, es lebe das Leben.

Und dann werden wir in uns selber fallen. Und nach uns ein Horizont für die neuen Vögel.

»Hier geht die Wanderung der Vögel zu Ende«,

Mahmud Darwisch

Denn die Vögel des Himmels tragen die Stimme fort, und die Fittiche haben, sagen’s weiter.

Prediger 10, 20

Karte_deutsch

Einige Punkte, die es zu beherzigen gilt: Studieren Sie die Gegend, die Sie bereisen wollen, und die Beschaffenheit der Straßen, arbeiten Sie sich vorab in die Landkarte ein, um sich Ihre Route, ihren groben Verlauf usw. einzuprägen. Achten Sie stets auf die Straße, auf der Sie unterwegs sind; führen Sie ein kleines Notizbuch, um darin interessante Beobachtungen festzuhalten.

Maria E. Ward, Fahrradfahren für Damen, 1896

Kashgar oder
Mit dem Fahrrad durch die Wüste – Notizen

Kashgar, Ost-Turkestan, 1. Mai 1923

Mit Bedauern muss ich festhalten, dass mir in der derzeitigen Lage nicht einmal Mrs Wards Fahrradhandbuch mit Hinweisen zur Kunst des Radfahrens – Ratschläge für Anfängerinnen – Kleidung – Fahrradpflege – Mechanik – Training – Übungen usw. usf. von Nutzen ist, denn wir sind in eine missliche Klemme geraten.

Beginnen kann ich wohl ebenso gut mit den Knochen.

Von der Sonne schneeweiß gebleicht, sahen sie aus wie winzige Flöten, und ich rief dem Kutscher zu, anzuhalten. Es war früher Abend. Um unser Ziel baldmöglichst zu erreichen, waren wir, törichte Engländerinnen, die wir nun einmal sind, tagsüber gereist, in der brütenden Mittagshitze. Vogelknochen waren es, die in einem Häuflein vor einer Tamariske lagen, und aus dem Muster im Staub könnte, wenn ich es nur zu deuten wüsste, vermutlich mein künftiges Schicksal abgelesen werden.

In dem Moment hörte ich den Schrei. Ein gellendes Jammern, das hinter einer Ansammlung toter Pappeln hervordrang, durch deren Anblick die Trostlosigkeit dieser speziellen Wüstenebene in keiner Weise gemildert wurde. Ich stieg von dem Karren ab und hielt hinter mir Ausschau nach Millicent und meiner Schwester Elizabeth, konnte sie aber nirgends entdecken. Millicent reist lieber zu Pferde als im Karren, so kann sie leichter dann und wann pausieren, um eine ihrer Hatamen-Zigaretten zu rauchen.

Fünf Stunden lang war unser Weg bergab durch einen staubigen Talkessel verlaufen, in dessen tiefstem Teil hie und da verstreut Tamarisken aus den Erd- und Sandhaufen aufragten, die sich, vom Wind herangeweht, rings um die Wurzeln gebildet hatten; und dann diese toten Pappeln.

Zwischen den Baumstämmen wucherte Saksaul, ein knorriges, mit grauer Borke überzogenes Gesträuch, und hinter diesem Gestrüpp kniete vornübergebeugt ein Mädchen und gab die absonderlichsten Laute von sich, die an das Schreien eines Esels erinnerten. Ohne Eile kam nun auch der Kutscher herbei und stellte sich neben mich, und wir betrachteten sie wortlos, wobei er – unverschämt und verschlagen wie alle Burschen seiner Sorte – auf seinem Holzsplitter herumkaute. Da blickte sie zu uns auf. Sie war etwa zehn oder elf Jahre alt, mit einem Bauch, der so rund und prall war wie eine Hami-Melone. Der Kutscher starrte bloß, und ehe ich noch etwas sagen konnte, kippte sie vornüber auf den Boden, mit weit geöffnetem Mund, als wollte sie den Staub essen, und gab weiter ihr grässliches Stöhnen von sich. Endlich vernahm ich hinter mir das Hufgeräusch von Millicents Pferd auf dem losen Schotter der Piste.

»Sie steht kurz vor der Niederkunft«, sagte ich, mehr aufs Geratewohl.

Millicent, unsere ernannte Anführerin, Repräsentantin des Missionsordens vom Unerschütterlichen Gesicht – unsere Wohltäterin –, brauchte lange, um sich aus dem Sattel zu hieven. Nach stundenlangem Reiten war sie offenbar etwas steif. Insekten vibrierten um uns herum, herausgelockt von der nachlassenden Hitze. Ich beobachtete Millicent. Nichts passte weniger in die Wüste als sie mit ihrer herrischen Nase, die förmlich die Luft durchschnitt, während sie ohne Anmut von ihrem Pferd absaß, und dem großen Rubinring an ihrer Hand, der einen seltsamen Kontrast zu ihrer eher männlich anmutenden Kleidung bildet.

»Sie ist ja noch ein Kind.«

Millicent bückte sich und flüsterte dem Mädchen etwas auf Turki zu. Was auch immer sie gesagt haben mochte, es hatte einen Aufschrei zur Folge und danach schreckliches Schluchzen.

»Es ist in vollem Gang. Wir benötigen, glaube ich, die Zange.«

Millicent wies den Kutscher an, den Gepäckkarren zu holen, und kramte dann in unserer Habe herum, auf der Suche nach dem Verbandskasten. Während sie damit beschäftigt war, sah ich, dass auf dem Pfad eine Gruppe Frauen, Männer und Kinder – eine große Familie möglicherweise – näher kam. Sie zeigten herüber und stießen sich gegenseitig an, erstaunt über uns ausländische Teufel mit dem schweinestrohfarbenen Haar, die leibhaftig auf ihrem Weg standen. Millicent sah zu ihnen hoch und benutzte dann ihre Predigerinnenstimme:

»Lassen Sie uns bitte Platz, treten Sie zurück.«

Sie wiederholte ihre Aufforderung auf Chinesisch und Turki, was seine Wirkung nicht verfehlte. Sichtlich erschrocken stellten sie sich auf, akkurat wie für ein Gruppenfoto, und verstummten erst, als das Mädchen im Staub sich auf allen vieren vorbeugte und in einer Lautstärke losbrüllte, die ausgereicht hätte, um Bäume zum Verdorren zu bringen.

»Eva, schnell, stütze sie.«

Das weinende Kind bot mit seinem geschwollenen Leib einen abscheulichen Anblick, es wirkte auf mich wie eine geifernde Wildkatze, die ich nur ungern anfassen wollte. Dennoch kniete ich mich in den Staub, zog den Kopf des Mädchens auf meine Knie und versuchte, es zu streicheln. Ich hörte, wie Millicent eine ältere Frau um Hilfe bat, aber die Alte wich heftig zurück, wie aus Angst, sich durch Kontakt mit uns zu verseuchen. Vom Mund des armen Mädchens her, dessen Gesicht auf meinen Beinen lag, spürte ich eine Nässe, womöglich wollte sie beißen, doch dann riss sie sich unvermittelt von mir los, zurück auf die Erde. Millicent rangelte mit ihr und drehte sie auf den Rücken. Das Mädchen schrie jämmerlich.

»Halt ihren Kopf fest«, sagte Millicent. Ich bemühte mich, sie festzuhalten, während Millicent ihre Knie aufbog und mit beiden Ellbogen niederdrückte. Der Stoff um ihren Unterleib herum ließ sich leicht abstreifen.

Meine Schwester war noch immer nicht eingetroffen. Auch sie reist lieber zu Pferde, um nach Belieben Abstecher in die Wüste machen zu können und »Sand zu fotografieren«. Sie glaubt daran, in den Sandkörnern und Dünen Seinen Anblick festhalten zu können. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen … Diese und andere Worte singt sie mit der eigentümlich hohen Stimme, die sie sich angeeignet hat, seit die Macht des Glaubens vollauf von ihr Besitz ergriffen hat. Ich hielt ringsum nach ihr Ausschau, aber vergebens.

Noch jetzt klingen mir diese grässlichen, angsterfüllten Schreie in den Ohren, als Millicent ihren Finger in Fleisch stieß, um Raum für die Zange zu schaffen, bis ein Gemisch aus Blut und einer anderen Flüssigkeit herausströmte und über ihr Handgelenk rann.

»Wir sollten das besser bleiben lassen«, sagte ich. »Bringen wir sie lieber in die Stadt, dort gibt es gewiss jemanden, der mehr Erfahrung hat als wir.«

»Dazu reicht die Zeit nicht. Barmherziger Jesus, sieh auf uns«, Millicent sah mich nicht an, »Deine Diener, und behüte uns vor Bangigkeit und bösen Geistern, die danach trachten, die Arbeit Deiner Hände zu zerstören.«

Die Zange wurde hineingestoßen, und das Mädchen schrie wie am Spieß.

»O Herr, mildere die Mühsal unserer Schwangerschaft«, betete Millicent laut, während sie zog und zerrte, »und schenke uns die Kraft und Tapferkeit, zu gebären, und ermögliche dies mit Deiner allmächtigen Hilfe.«

»Wir sollten das bleiben lassen«, wiederholte ich. Das Haar des Mädchens war nassgeschwitzt, und Panik stand in ihren Augen, wie bei einem Pferd bei Gewitter. Millicent legte kurz den Kopf zurück, damit ihre Brille wieder den Nasenrücken hinaufrutschte. Dann zerrte sie mit einem heftigen Ruck, als holte sie einen Anker ein, bis ein blaurotes Geschöpf zusammen mit einem Schwall wässriger Substanzen herausgeglitscht kam und wie ein Fisch von Millicents Händen aufgefangen wurde. Aus der jungen Mutter floss Blut, das rasch einen roten Halbmond im Staub bildete. Millicent legte ihr Messer an die Nabelschnur.

Da tauchte Lizzie auf, mit der Leica in der Hand, in unserer Uniform, einer schwarzen, mit einem dunkelblauen Seidenrock bedeckten Satinhose und einem chinesischen Mantel aus leichter schwarzer Baumwolle. An ihrem Rocksaum haftete der rosafarbene Staub, der hier allgegenwärtig ist. Sie blieb stehen und starrte die Szene vor sich an wie ein kleines Mädchen am Rande eines Rummelplatzes, das sich verlaufen hat.

»Lizzie, hol Wasser!«

Millicents Messer trennte das Neugeborene für alle Zeit von seiner Mutter ab, die erschauderte und den Kopf schlaff zurücksinken ließ, während das Fischbaby lautstark danach verlangte, in den Himmel gelassen zu werden. Der Halbmond wurde unaufhörlich größer.

»Sie verliert zu viel Blut«, stellte Millicent fest. Das Gesicht des Mädchens war zur Seite gesunken; sie kämpfte nicht länger.

»Was können wir tun?«

Millicent stimmte ein leises Gebet an, das ich unter dem Geschrei des Babys kaum verstehen konnte.

»Wir sollten sie fortschaffen, Hilfe suchen«, schlug ich vor, aber Millicent reagierte nicht. Ich sah zu, wie sie die Hand der Mutter anhob. Sie schüttelte den Kopf, ohne zu mir hoch zu sehen.

»Millicent, nein.«

Meine Worte waren in den Wind gesprochen, in der Tat konnte ich es einfach nicht fassen: Ein Leben verschwand vor unseren Augen, versickerte in der rissigen Wüstenerde so beiläufig wie eine Bewegung in den Wolken. Umgehend brachen unsere Zuschauer in wütendes Geschrei und Gezeter aus.

»Was sagen sie, Lizzie?«, rief ich. Zwischen den Beinen des Mädchens quoll weiter Blut hervor, eine hoffnungsvolle Flut auf der Suche nach einer Küste. Lizzie starrte die roten Spuren auf Millicents Handgelenk an.

»Sie sagen, dass wir das Mädchen umgebracht haben«, erwiderte sie, »und dass wir sein Herz gestohlen haben, als Talisman, um uns vor den Sandstürmen zu schützen.«

»Was?« Die Gesichter der Menge wagten sich nun ganz dicht heran, stürmten auf mich ein, Hände mit schmutzigen Fingernägeln griffen nach mir. Ich stieß sie fort.

»Sie sagen, wir hätten das Mädchen getötet, um uns seine Kraft anzueignen, und dass wir vorhaben, das Kind zu rauben und zu verspeisen.« Lizzie sprach sehr schnell, mit dieser eigenartigen hohen Stimme. Sie beherrscht diese undurchdringliche Turki-Sprache wesentlich besser als ich.

»Sie ist eines natürlichen Todes gestorben, bei der Geburt, das habt ihr doch alle gesehen«, schrie Millicent sinnloserweise auf Englisch und wiederholte das Ganze dann auf Turki. Lizzie machte sich daran, eine Kanne mit Wasser und eine Decke zu holen.

»Sie verlangen unsere Erschießung.«

»Unsinn.« Lizzie trat mit der Decke neben Millicent, so standen sie beisammen: eine Dame und ihre Magd.

»Also, wer …« – Millicent hielt das kreischende Baby in die Höhe, als wäre es ein abgetrennter Kopf, eine Opfergabe – »… nimmt jetzt dieses Kind?«

Alle sahen sie mit großen Augen an, ohne den kleinsten Laut von sich zu geben.

»Wer ist für dieses kleine Mädchen verantwortlich? Ist ein Angehöriger anwesend?«

Ich hatte es schon geahnt. Niemand wollte sie. Nicht einer aus dem Haufen verschwendete auch nur einen Blick auf das tote Mädchen im Staub, das selbst noch ein Kind war, oder auf das Blut, das soeben zu Erde wurde. Auf ihren Beinen krabbelten bereits Insekten herum. Millicent ließ sich von Lizzie die Decke geben und wickelte das zornig quäkende kleine Wesen aus Haut und Knochen darin ein. Wortlos reichte sie das Bündel an mich weiter.

Danach wurden wir von dem Familienältesten und seinem Sohn zu den Stadttoren von Kashgar »eskortiert«, wo man, auf welchem magischen Kommunikationsweg auch immer, schon über unser Eintreffen unterrichtet war. Das städtische Gericht hatte noch geöffnet, trotz der frühen Abendstunde, und ein chinesischer Amtsträger wurde herbeigeholt, denn diese Gegend steht, obwohl überwiegend von muslimischen Turkvölkern bewohnt, unter chinesischer Herrschaft. Unsere Karren wurden durchsucht, unsere Besitztümer unter die Lupe genommen. Mein Fahrrad wurde von der Ladefläche des Karrens gehoben und erregte, genau wie wir selbst, nehme ich an, erhebliches Interesse, es fand sich eine große Schar Schaulustiger ein. Fahrräder sind eine Seltenheit in diesen Breiten, und dass sich noch dazu eine Frau damit fortbewegt, ist schlicht unvorstellbar.

Millicent erklärte: »Wir sind Missionarinnen und vollkommen friedlich. Auf die junge Mutter sind wir ganz zufällig gestoßen, auf dem Weg zu Ihrer Stadt.« Dann flüsterte sie: »Sitzt so still da wie ein Buddha. In einer derartigen Lage ist Gleichmut die beste Strategie.«

Der Schädel des Babys war ein sonderbares, warmes Ding in meiner Hand, nicht weich, aber auch nicht hart; eine schmiegsame Form, erfüllt von neuem Leben. Nie zuvor hatte ich ein Kind im Arm gehalten, das erst seit so kurzer Zeit auf der Welt und obendrein weiblich war. Ich zurrte die Decke eng um die Kleine herum und drückte sie an mich, um so die wütenden Fäuste und das purpurrote Gesicht einer zornigen Seele zu beruhigen, die vor Empörung und Todesangst brüllte wie am Spieß. Schließlich schlief sie vor Erschöpfung ein. Vor Angst, dass sie sterben könnte, sah ich immer wieder auf sie hinab. Wir waren bemüht, so reglos wie nur möglich dazusitzen, während die Menge rings um uns murmelte und diskutierte in dem zungenbrecherischen hiesigen Dialekt. Millicent und Lizzie zischten mir zu: »Bedecke dein Haar.«

Hastig richtete ich mein Kopftuch. Mein Haar ist leider ebenso leuchtend rot wie das meiner Mutter, und offensichtlich erregt das hier einiges Aufsehen. Besonders auf der letzten Etappe unserer Reise von Osch nach Kashgar starrten Männer mich mit offenen Mündern an, als ob ich nackt wäre oder mit Flügeln am Rücken und silbernen Ringen in der Nase vor ihnen umhertollen würde. In den Dörfern rannten Kinder erst mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mich zu, um dann furchtsam zurückzuweichen, bis ich es schließlich leid war und dazu überging, mein Haar wie eine Mohammedanerin unter einem Kopftuch zu verbergen. Das funktionierte. Doch während des Getümmels im Staub war es heruntergerutscht.

Millicent übersetzte: Aufgrund der Anschuldigungen der Zeugen würden wir uns, angeklagt wegen Mord und Hexerei (oder Teufelsbeschwörung), vor Gericht verantworten müssen. Oder vielmehr Millicent. Denn sie war diejenige, die das Baby in die Höhe gehalten und bei dem Mädchen ihr Messer benutzt hatte.

»Wir werden uns durch Bestechung aus der Affäre ziehen müssen«, flüsterte Millicent uns zu; ihr Gesicht war so hart wie die sonnenverbrannte Wüstenerde.

»Wir werden Ihnen das Geld geben«, sagte Millicent, mit leiser, aber deutlicher Stimme, »dazu müssen wir jedoch unsere Unterstützer in Schanghai und Moskau kontaktieren, was einige Tage dauern wird.«

»Sie werden unsere Gäste sein«, erwiderte der Beamte. »Unserer großartigen Stadt Kashi ist es ein Vergnügen, Sie zu beherbergen.«

Daher sind wir also gezwungen, in diesem staubigen rosafarbenen Talkessel zu bleiben. Nicht direkt unter »Hausarrest«, auch wenn wir einer Erlaubnis bedürfen, um das Haus zu verlassen; worin genau da der Unterschied besteht, verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht.

London, Gegenwart
Pimlico

Die Duftkerzen anzuzünden war ein Fehler gewesen; nun roch es im Zimmer wie in einem künstlichen Kiefernwald. Energisch pustete Frieda sie nacheinander aus. Es war zwanzig nach eins in der Nacht. Sie schloss das Fenster, indem sie den Schieberahmen mit einem Knall herunterriss, und sah in den Spiegel. Ihr seidenes Trägerhemd schimmerte kühl und silbrig wie das Innere einer Muschel, und dieser Perlmuttton bleichte sie aus, schmolz sie geradezu ein. Sie sah sich nach einer Strickjacke um und kippte die Flasche Wein, die sie schon vor geraumer Zeit geöffnet hatte – um den Wein atmen zu lassen –, über der Spüle aus, beobachtete, wie die blutrote Flüssigkeit im Ausguss verschwand. Jetzt konnte er atmen, so viel er nur wollte. Dem Geruch nach zu urteilen, war es ohnehin eher eine Plörre. Wenigstens habe ich nicht auch noch für ihn gekocht. Sie sah zu ihrem Handy, das auf dem Tisch lag. Kein Anruf, keine SMS, nichts.

Flüchtig dachte sie darüber nach, ob sie sich ein Bad einlassen sollte, hatte aber nicht die Kraft, sich ins warme Wasser sinken zu lassen, oder wenn doch, könnte sie später nicht entscheiden, wann sie es wieder verlassen sollte. Mit einem Wattebausch schminkte sie sich die Augen ab. Das letzte Mal, als sie mit Nathaniel im Bett gewesen war, vor einigen Monaten, hatte er gesagt: »Dass du einen Schmuddeltypen wie mich neben dir liegen lässt, unglaublich.« Sie rieb sich das Gesicht mit einem Handtuch trocken. Warum sie ihm das gestattete, war ihr selbst ein Rätsel. Auf der Fensterbank standen drei Kakteen, aufgereiht wie müde Soldaten, die auf Anweisungen warten. Sie legte einen Finger gegen einen gelben Stachel des größten Kaktus und stieß zu, um den Stich zu spüren, doch der Stachel war weich und fiel bei ihrer Berührung ab. Die Kakteen waren voll anämischer Stellen und mussten dringend gegossen werden. Sie ging in die Küche.

Kinder gehen vor. So ist das nun mal. Gäbe es so etwas wie einen Wettbewerb, einen Auswahlprozess oder eine Rangfolge, wären Kinder immer die Nummer eins. Oberste Priorität: die Jungen. Die anscheinend nachts nur deshalb unruhig schliefen und immer wieder aufwachten, um sich zu überzeugen, dass Papa da ist, dass er im selben Zimmer atmet, dass seine Hand dicht bei ihrem Kopf liegt und sie in der Dunkelheit niemals allein gelassen werden. Ihre Träume sind voller Schrecken – Monster, Piraten und Einsamkeit –, genauso wie manche Gedanken, die sie noch nicht zu beherrschen oder richtig in Worte zu fassen vermögen. Dass er in der Nacht ein paar Stunden verschwindet, um an der Tankstelle Zigaretten zu besorgen, ist das Letzte, was sie sich wünschen.

Ihre Handteller juckten, waren erst heiß, dann kalt. Eine ganze Weile hatte es mit Nathaniel gut geklappt, das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Intimität. Du bist ein Freigeist, Frie’. Du kommst und gehst. Das Reisen und das Landen und dann Nathaniels heiße, tiefe, nahe Leidenschaftlichkeit – eine Zeitlang gab ihr das eine Leichtigkeit und machte ihren Alltag unwirklich und nebensächlich, so dass es nicht weiter ins Gewicht fiel, dass er kaum darin vorkam. Sie hatte alles unter Kontrolle, damals, und als Nathaniel davon sprach, seine Frau zu verlassen, um mit ihr zusammenzuleben, hatte sie abgelehnt. Schließlich wollte sie nicht die Herzen dreier kleiner Jungen auf dem Gewissen haben. Doch das war nicht ihr einziger Beweggrund. Er war einer dieser Männer, die ständiger Pflege bedurften, ganz wie ihre verkümmerten Kakteen. Das war eindeutig nicht ihr Fall.

Sie stand an der Küchenspüle. Ihr erster Abend zurück in London, und er hatte sie versetzt. Von irgendwoher wehte kühle Septemberluft herein. Draußen tauchte ein Zug auf, der unterwegs war zur Victoria Station. Stromleitungen über den Gleisen traten aufblitzend miteinander in Kontakt, wobei eine Lichtspur entstand, die Friedas Gesicht und Hals wie ein Laserstrahl zerteilte, so dass sie ganz kurz belichtet wurde, ein Röntgenbild vor weißem Hintergrund, und dann sofort wieder in Dunkelheit versank. Es war eine Wohltat, wieder zu Hause zu sein. Diese letzte Reise, das letzte Hotel war alles andere als angenehm gewesen: ein Vier-Sterne-Hotel, aber ohne Zimmerservice und mit einer leeren Minibar. Polizei- und Militärfahrzeuge, die auf dem Platz vor dem Hotel umherkurvten, und Lautsprecher, aus denen Anweisungen dröhnten. Das Internet war von den Behörden in der gesamten Region gesperrt worden, und die Straßen waren wie leergefegt, abgesehen von den Soldaten, die in Achterreihen mit vorgehaltenen Schutzschilden dahintrabten. Sie hatte am Fenster gestanden und ihr Telefon angestarrt, als wäre es ein gebrochenes Herz in ihrer Hand. Jedes Mal, wenn sie eine Nummer im Ausland wählte, leuchtete im Display die Anzeige »Keine Verbindung« auf. Irgendwelche inneren Unruhen, doch was genau los war, entzog sich vollständig ihrer Kenntnis; sie wusste nur, dass sie an jenem Ort fehl am Platz war. Wo? Das spielte eigentlich keine Rolle. Die Städte waren mittlerweile so gut wie austauschbar. Es war einfach ein weiterer Ort, an dem sie, als Engländerin, als Frau, nicht länger sicher war. Wobei das Hauptproblem ihre Nationalität war. In Taxis erzählte sie den Fahrern immer, sie sei Irin. Die Iren werden von niemandem mehr gehasst.

Sie hatte den nächstmöglichen Flug zurück nach Hause genommen und während der gesamten langen Reise an Nathaniel gedacht. In der Flughafenlounge – dieser existentiellen Zone für Alleinreisende – kam sie zu dem Schluss, dass die Frage der Kontrolle in letzter Zeit nicht mehr so eindeutig zu beantworten war. Nathaniels Unzuverlässigkeit löste in ihr eine brutale, fast schon lähmende Frustration aus. Sie fühlte etwas Neues in sich und erkannte mit Schrecken, dass es Bedürftigkeit war oder, schlimmer noch, eine Sehnsucht nach Beständigkeit. Zum ersten Mal genügte ihre Arbeit ihr nicht mehr.

Vor der Wohnungstür wurde gehustet. Verflucht. Wo sie sich doch gerade abgeschminkt hatte. Sie ging auf die Tür zu, blieb dann aber stehen. Da war wieder das Husten. Es war nicht Nathaniel. Sie wartete einen Augenblick, schlich dann leise zur Tür und spähte durch den Spion. Im Treppenhaus brannte das Nachtlicht, und auf dem Boden vor ihrer Tür saß ein Mann. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und hatte die Beine vor sich ausgestreckt. Seine Augen waren geschlossen, nur wirkte er nicht so, als würde er schlafen.

Frieda wich mit heftigem Herzklopfen zurück, konnte indes nicht widerstehen und sah abermals hinaus. Er blickte jetzt zu ihr herüber, als könnte er durch die Tür hindurchsehen. Sie rechnete halb damit, dass er aufstehen und auf sie zukommen würde, doch er senkte den Blick auf seine Hand, in der er einen Stift hielt, und rührte sich nicht.

So leise wie möglich kehrte sie in die Küche zurück. An der Pinnwand steckte die Telefonnummer der City Guardians, einem Verein freiwilliger Helfer, die sich darum kümmerten, Obdachlose von der Straße zu holen; diese Leute könnte sie jederzeit anrufen, oder doch die Polizei? An der Tür befand sich ein doppeltes Schloss, aber wenn sie es jetzt vorhängte, würde er das hören und sie nur unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Stattdessen ging sie ins Wohnzimmer und stellte sich wieder ans Fenster. Die Gruppe Jugendlicher mit ihren Handys unten auf der Straße war nun verschwunden, und da draußen schien niemand mehr zu sein – bloß der Regen und der in der Nässe aufquellende Beton und die Bäume, die unter der Last des Wassers zitterten. In Abständen hörte sie das Husten aus dem Treppenhaus. Ein Stadtfuchs, mager und räudig, kam sekundenkurz unter den Müllcontainern zum Vorschein. Frieda blickte auf die leere, nasse Straße hinab und traf einen Entschluss. Aus einem Schrank holte sie eine Decke und ein Kissen. Sie spähte ein weiteres Mal durch den Spion. Er hatte sich inzwischen auf dem Boden zusammengerollt, so dass sie nur seinen gekrümmten Rücken sehen konnte, seine Lederjacke, seinen schwarzen Haarschopf.

Sicherlich war es unklug, ihm den Nachweis zu liefern, dass eine junge Frau hier wohnte, mutmaßlich allein, dennoch öffnete sie die Tür. Sofort richtete der Mann sich vom Boden auf und sah sie an. Er hatte einen Schnauzbart und verschlafen wirkende Augen, kein unsympathisches Gesicht. Frieda sagte nichts, lächelte nicht, reichte ihm einfach nur das Kissen und die Decke und schloss dann eilig wieder die Tür. Fünf Minuten später warf sie noch einmal einen Blick durch den Spion. Er saß, mit dem Kissen im Nacken, an die Wand gelehnt da, hatte sich die Decke um die Beine gewickelt und rauchte eine Zigarette.

Am Morgen fand sie die Decke säuberlich zusammengefaltet vor, mit dem Kissen darauf, und an der Wand neben ihrer Tür prangte eine große Zeichnung: ein Vogel mit langem Schnabel, eigenartigen Beinen und einem Federschweif – keine Art, die sie hätte identifizieren können. Daneben standen ein paar Worte auf Arabisch, die sie, obwohl sie Arabisch in Grundzügen beherrschte, jedoch nicht zu entziffern vermochte. Darunter war auf Englisch zu lesen:

Wie der große Dichter sagt, leidest du,
gleich mir, unter dem Reisedrang eines Vogels.

Neben den Vogel war ein Schnörkel aus Pfauenfedern gesetzt, und daneben die komplizierte Zeichnung eines Schiffs, das aus einem Schwarm Möwen zusammengefügt war, die sich im Flug neu formierten zu einem Sonnenuntergang. Frieda trat auf den Flur hinaus, um sich die Zeichnung genauer anzusehen. Kurz fuhr sie mit einem Finger über die schwarzen Linien und beugte sich dann über das Geländer, um durch den Schacht des spiralig gewundenen Treppenaufgangs nach unten zu sehen. Im Erdgeschoss schwang gerade der Putzmann seinen Mopp über den Fliesenboden. Er sah zu ihr hoch und nickte.

Für Anfängerinnen: Aufsteigen und losfahren! Wie leicht sich das anhört. Für den Neuling ist es nicht so einfach, wie es aussieht, doch jeder, oder fast jeder, kann das Radfahren erlernen, wobei es freilich eine Vielzahl von Herangehensweisen gibt.

Kashgar oder Mit dem Fahrrad durch die Wüste – Notizen

2. Mai

Man hat uns in einem muslimischen Gasthaus untergebracht, da wir angeblich Unglück bringen und es Chinesen daher nicht zuzumuten ist, uns zu beherbergen. Wir sind »Gäste« in diesem Haus der Harmonischen Brüderlichkeit, und ich fühle mich an die Worte Marco Polos über die unter der Hitze ächzenden Stadt erinnert:

Die Bewohner der Stadt Kashgar sind Heiden. Über ihre Zaubereien kann man nur staunen. Sie bringen sogar ihre Götzen zum Reden. Mit Teufelskünsten vermögen sie den Ablauf der Zeit zu verändern, den Tag zur Nacht werden zu lassen. Mit Hexerei und Geschicklichkeit bringen sie Unwahrscheinliches zustande, dass, wer es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, es nie glauben würde.

Ich kann es glauben. Es würde mich nicht wundern, den Teufel in jeder Ecke dieses Innenhofs lauern zu sehen, in den wir eingepfercht sind.

Heute Morgen, als wir auf Millicent warteten, haben Lizzie und ich uns bemüht, einen Blick auf die Frauen zu erhaschen, die in Schleiern und Umhängen auftauchten und wieder verschwanden. Sie tragen grellbunte Schultertücher über Tuniken und gemusterte Kopftücher, und obwohl ihre Gesichter verhüllt sind, erlaubt die Art des Kopfputzes wohl Rückschlüsse darauf, ob die Trägerin ansehnlich oder eher unscheinbar ist.

»Sie sind farbenfroher gekleidet, als ich gedacht hätte.« Wir saßen auf dem Boden, auf bunten Polstern und Kissen, in einem Empfangsraum, der auf den Hof hinausging. Lizzie saß mir gegenüber und nestelte an ihrer geliebten Kamera herum.

Vor dem Haupteingang dieser Herberge steht eine Holztafel, auf die in Rot die Worte »Eine Wahre Religion« gepinselt sind. In der beengten Küche stehen reihenweise Blechtöpfe in den Regalen, und im Diwanzimmer werden stolz aufwendig verzierte Teekannen mit beinernen Schnörkelhenkeln zur Schau gestellt. Mohammed, unser Wirt, gießt uns persönlich grünen, bitteren Tee ein, wobei er die seltsam anmutende Teekanne sehr hoch über die Tassen hält und das Getränk in einem langen, glitzernden Faden herabströmt. Das Frühstück wird auf großen Kupfertabletts serviert, die so platziert werden, dass wir auf das Herzstück des Hauses hinausblicken können, einen kleinen Springbrunnen, dessen sprudelndes Wasser in ein flaches Becken plätschert, in dem die Blütenblätter von Rosen und Geranien treiben. Geschnitzte Säulen aus Pappelholz ragen zu den Dachsparren empor, und im Obergeschoss verläuft eine in kräftigen Farben getünchte Galerie, von der weitere Räume abzweigen. In dieser ausgedörrten Wüstenregion versinnbildlicht das sprudelnde Wasser des Brunnens wohl den persönlichen Wohlstand dieses Mohammed.

»Es sind so viele. Millicent sagt, es seien teils Ehefrauen, teils Töchter.«

»Lizzie, ich möchte wegen dem Baby nachfragen. Meinst du, es lebt noch?«

Lizzie zuckte die Achseln.

Mohammed kehrte zurück und bedeckte den Tisch systematisch mit Krügen voll Pfirsich- und Melonensaft, Tellern mit wabbeligen, kaum gekochten Eiern, Fladenbrot, Rosenjoghurt und mit Zucker bestreuten Tomaten. Als Nächstes wurden blaue Tonschüsselchen mit Honig, Mandeln, Oliven und Rosinen zusammen mit Schalen voll dicker, wurmartiger Nudeln nebeneinander aufgereiht. Hinter seinem eigenartigen Bart ist Mohammeds Gesicht schmaler und jünger, als man zunächst vermutet, und obwohl sein Englisch mehr als dürftig ist, ist mir aufgefallen, dass er gestern Abend, als Millicent ein leises Tischgebet sprach, den Kopf abwandte und vernehmlich schnaubte, wie ein Pferd, wenn es an seinen Zügeln zerrt.

Lizzie und ich erschraken ein wenig und blickten auf, als Millicent in einem blauen Baumwollmantel aus einem der dunklen Zimmer zum Vorschein kam. Ihr gekräuseltes Haar, das sich widerspenstig all ihren Versuchen widersetzt, es mit Haarwachs zu bändigen, umrahmte wie üblich in einer Wolke ihren Kopf.

»Es wird einige Wochen dauern, bis das Bestechungsgeld von der Inlandsmission eintrifft. Wir werden also wohl oder übel hier in Kashgar bleiben müssen.« Sie kniete sich an den Frühstückstisch, ohne ein Lächeln, aber mit hochgerecktem Kinn, als wollte sie es auf einem imaginären Sims ablegen. Millicent hat die etwas widersprüchliche Figur einer Frau gewissen Alters, die kinderlos geblieben ist: verblüffend mädchenhaft um Hüften und Taille, als wäre die Milch der Weiblichkeit an ihr vorübergegangen, und doch ist sie kein Mannweib, obwohl sie außerhalb der für Frauen üblichen Beschränkungen agiert, was in seltsamem Widerspruch steht zu ihrem weiblichen Mund, ihrem hellen Lachen und ihrer hohen Stimme.

»Und das Baby, Millicent?«

»Man hat eine Amme für sie gefunden. Sie wird uns in Kürze wieder ausgehändigt.« Millicent trank ein Schlückchen Pfirsichsaft und fuhr sich mit der Zunge über die schmalen Lippen. Sie sah mich an.

»Wie es mit der Kleinen weitergeht, ist noch ungeklärt, aber vorläufig wirst du für sie verantwortlich sein.«

»Liebe Güte, Millicent, ich habe nicht die leiseste Ahnung von Säuglingspflege. Ich wollte mich nur vergewissern, dass sie nicht tot ist oder gerade auf einem Scheiterhaufen verbrannt wird.« Sie überging meinen Einwand und zündete sich eine Hatamen an.

»Vergiss nicht, er duldet uns Ungläubige nur deshalb in seinem Gasthaus, weil wir Frauen sind, das ungefährliche Geschlecht – diese Gelegenheit sollten wir nicht ungenutzt lassen. Eine der mittleren Töchter, Khadega, spricht Russisch, wie ich festgestellt habe, und so konnten wir uns hervorragend verständigen. Es ist abgemacht, dass wir sie in Phonetik unterrichten werden. Sie möchte gern ›ihr Englisch üben‹.«

Millicent ist darauf aus, junge Frauen in einem heiligen Netz zu fangen, wie ein Fischer eine Elritze fängt, und welch ein Fang würde ihr hier gelingen: im Hause des falschen Propheten geradewegs in die Arme des einzigen wahren Propheten.

»Wie kannst du sicher sein, dass sie ›Englisch üben‹ will?«, fragte ich. »Vielleicht will sie tatsächlich erst mal Englisch lernen.«

»Dürfte ich dich …«, Millicent erhob sich und schob ihre Brille hoch, »… an Matthäus 28, Vers 16 bis 20 erinnern und an die elf Jünger zu Galiläa, die an Jesus zweifelten. Was hat er getan? Er trat auf sie zu und sprach: ›Mir ist alle Macht gegeben, im Himmel und auf Erden. Darum geht hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie alles zu halten, was ich euch befohlen habe.‹«

Ich beendete den nächsten Vers für sie: »›Und siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis ans Ende der Welt.‹«

Sie ließ ein leises Zischen vernehmen. Es verdrießt Millicent, dass ich in der Bibel so gut bewandert bin, und in letzter Zeit zitiert sie oft die bekannteren Stellen. Lizzies ohnehin immer große und feuchte Augen wurden noch größer und feuchter: nicht, Eva. Ich frage mich, wie es so weit kommen konnte.

»Nun, dieser Ort, nehme ich an, ist so gut wie jeder andere, um eine Mission zu eröffnen.«

Lizzie sah mich an. Es ist viele lange Monate her, seit wir die Victoria Station (wo ich mein prachtvolles grünes Damen-Tourenrad von BSA abholte) verlassen haben. Auf den Schildern an unserem Gepäck prangten phantastische Namen: BERLIN. BAKU. KRASNOWODSK. OSCH. KASHGAR. Vor unserer Abreise sprach Reverend James McCraven über unser Reiseziel (sofern wir eines hatten), das ihm zufolge der am wenigsten besuchte Ort auf Erden war. Seine schrumpeligen Finger zerstießen unsichtbare Seifenblasen in der Luft, während er erregt von kargen Wüsten voll böser Götzen berichtete, von Lebewesen, die nicht besser waren als Tiere, wobei sein Blick nahelegte, dass ich in irgendeiner Weise schuld an dieser ungeheuren Kargheit, dieser trostlosen, heidnischen Einöde war. Ich lag in dem schmalen, unbequemen Bett im Ausbildungsseminar der Inlandsmission in Liverpool und hielt unter der Decke einen gestohlenen, unrechtmäßigen und mir daher sehr kostbaren Apfel in der Hand. Während mein Finger an der glänzenden roten Schale des Apfels herumschabte, versuchte ich mir eine Wüste vorzustellen, rief mir riesige, leere Räume vor Augen, voller Lichtspiegelungen und einer endlosen Vielfalt von Sand in unterschiedlichen Farbtönen. Ich durchstieß die Schale, so dass der Saft austrat, und bohrte mit der Fingerspitze ein Loch ins Fruchtfleisch, nicht anders als ein Wurm, voll heimlicher Sehnsucht nach einem Ort der Weite, der Ruhe und des Friedens halber, die in einer solchen Landschaft herrschen mussten. Diese beseligende Leere habe ich noch nicht gefunden. Stattdessen ist die Reise bisher eine einzige Plackerei: Zugfahrkarten und seltsame Hotels, Reisetaschen voll Heftpflaster und Chinin, das Aus- und wieder Einrollen eines Schlafsacks der Firma Jaeger, Streitereien mit Dragomanen, Gepäck, das laufend ein- und wieder ausgeladen werden muss, und quälende Kopfschmerzen. Nachdem wir Osch hinter uns gelassen hatten, fanden wir uns schließlich auf einem schäbigen Provisorium von Postkarren wieder, auf dem einem die Knochen entsetzlich durchgerüttelt werden und die Muskeln einer elenden Tortur ausgesetzt sind. Ohne Übelkeit geht es auch nicht vonstatten, da viele, wenn nicht alle der erhältlichen Speisen uns ungenießbar erscheinen, von den Flöhen, die einen hier endlos plagen, ganz zu schweigen.

Dennoch, nach all den beschwerlichen Wochen unterwegs sind Lizzie und ich zu der Auffassung gelangt, dass wir bis ans Ende der Welt und wieder zurück reisen würden. Damit, dass wir irgendwann haltmachen würden, haben wir, glaube ich, beide nicht gerechnet. Ich war Lizzie dankbar für diesen Blick. In letzter Zeit kommt es mir vor, als hätte Millicent sie mir abspenstig gemacht, sie irgendwie behext. Durch die Nähe beim Reisen ist jede Vertrautheit zunichte gemacht worden, so dass ich mir selbst überlassen bin, während ich die beiden beobachte; aber ich habe gesehen, dass auch sie nicht hierbleiben möchte. Zumindest in dieser Sache sind wir uns einig.