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DIVINE

Blick ins Feuer

ein Roman von

Cheryl Kaye Tardif

aus dem Englischen übersetzt von

Lena Schöner




Copyright © 2011 by Imajin Books

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By arrangement with Cheryl Kaye Tardif

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Die Autorin ist verantwortlich für alle falschen oder unmöglichen Inhalte.

Kapitel 4

Jasi schäumte vor Wut, während sie auf Natassia wartete.
  »Ich hab alle relevanten Infos von Walshs Laptop hochgeladen«, grinste ihre Partnerin. »Und zur Sicherheit noch ein paar zusätzliche Dateien.«
  »Ich will davon gar nichts hören, Agent Prushenko«, schimpfte Jasi, beide Hände auf ihren Ohren. »Du solltest es besser wissen, als dich illegal in den Computer eines anderen Ermittlers zu hacken.«
  Auch wenn er ein Arsch ist!
  
»Hacken?« Natassia musste grinsen. »Hey! Chief Walsh hat mir die Erlaubnis erteilt, die Daten herunterzuladen. Ist ja nicht mein Fehler, wenn sich da ein paar zusätzliche Dateien auf meinen Datakom mogeln. Ist ja nicht so, als würde er das bemerken.«
  Jasi seufzte. Eines Tages würde sich ihre Freundin an den Daten der falschen Person vergreifen. Und dann würde die Hölle losbrechen.
  Ein dunkelgrüner Van kam neben ihnen zum Stehen.
  Ben saß am Steuer.
  »Der Rechtsmediziner hat die Leiche schon wegbringen lassen«, erzählte er, während die beiden einstiegen. »Natassia wird ihre Lesestunde auf später verschieben müssen.«
  Jasi saß vorne und linste vorsichtig auf dem Fenster zum Zelt.
  Brandon Walsh stand gegen einen Holzpfosten gelehnt, seine Beine waren an den Füßen verschränkt. Sein abwesender Blick wirkte ehrlich nachdenklich und traf sie unvorbereitet.
  Mit ein bisschen Glück brechen die Pfosten vielleicht zusammen und schlagen ihn bewusstlos.


Als sie sich dem Tatort näherten, machte sich Jasi bereit.
  Die ungeteerte Straße war voller Schlamm und Pfützen. Der Van schlingerte durch Schlaglöcher und kam immer wieder plötzlich zum Stehen, um unebene Stellen vorsichtig zu umfahren. Sie fuhren einen schmalen Weg entlang in dichtes Unterholz. Das Auto war umgeben von Fichten und Zedern, lange Äste kratzten unnachgiebig am Lack.
  Ben folgte der Straße vorsichtig und unter lautem Fluchen, immer wenn die Räder durchdrehten.
  »Das hier ist das Schlimmste. Da vorne kommt schon wieder Gras.«
  Und tatsächlich mündete der morastige Weg in eine offene Lichtung. Der Boden wurde fester und sie parkten einige Meter entfernt von der ehemals rustikalen Sommerhütte.
  Jasi stieg aus dem Wagen und musterte die Umgebung.
  Die Leere traf sie direkt, überfiel ihre Sinne. Die Gegend war bar jeglichen Lebens – abgesehen von ihrem PSI-Team.
  An einer Seite lagen verkohltes Holz und klumpiger schwarzer Schlamm auf einem Betonfundament. Washburns Hütte. Im Abstand von fünf Metern waren Signallampen aufgestellt worden. Die Lampen strahlten eine zwei Meter hohe Lichtwand aus, die den Bereich absicherte. Sobald jemand den Lichtstrahl passierte, wurde automatisch ein Alarm ausgelöst, der dann ein GPS-Signal mit dem Standort und der Identität des Eindringlings sendete.
  Jasi trat näher an die Hütte heran und untersuchte den Schaden.
  »Okay, in diesem Sinne: Knack und Back
  Das war ihr Ritual – etwas, das sie immer sagte, bevor sie einen Tatort betrat.
  »Natassia, du kümmerst dich um die Daten. Vergiss nicht: Ich will nichts von den Ergebnissen der X-Disc hören. Je weniger ich weiß, desto besser.«
  Jasi wandte sich an Ben. »Während wir innen sind, kannst du die X-Disc Pro reinschicken. Vielleicht haben wir ja Glück – Fingerabdrücke, Faserrückstände. Im Moment würde uns wirklich jede noch so mickrige Spur weiterhelfen. Wir brauchen was, irgendwas.«
  Natassia holte ihren Datakom heraus und stellte ihn auf automatische Sprachaufnahme ein. Auf einen kurzen Sprachbefehl hin würde der Datakom jedes Wort festhalten.
  Jasi öffnete ihren Rucksack und griff nach dem OxyBlast.
  »Nur noch einen Moment.«
  Sie zog die Maske aus und nahm ein paar tiefe Züge Sauerstoff. Dann schnappte sie sich die Klammer aus ihrer Tasche und steckte sie sich auf die Nase. Nachdem sie die Maske mit einem Band seitlich an ihrer Jacke befestigt hatte, steckte sie das OxyBlast ein.
  Ben zupfte Natassia am Ärmel. »Sie kann die Maske nicht benutzen, wenn sie liest, also –«
  »Ich weiß«, unterbrach ihn Natassia. »Pass auf sie auf.«
  »Hört auf so zu reden, als wär ich nicht da«, stöhnte Jasi. »Ich bin nicht taub, wisst ihr. Und ich brauche keine Babysitter. Komm schon, Natassia.«
  Als sie sich dem Rand des Tatorts näherten, tippte Jasi den Code in die zentrale Lampe ein, um den Alarm zu deaktivieren. Die verkohlten Ruinen der Hütte lockten sie zu sich. Asche tanzte in der Luft und sie lief behutsam weiter, als wollte sie die Vorstellung nicht stören. Der Qualm aus dem gelöschten Feuer waberte ihr entgegen. Sie konnte den beißend bitteren Geschmack wahrnehmen.
  Ein Mann ist hier gestorben, dachte sie. Bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.
  »Sprachaufnahme an!«, befahl Natassia.
  Jasi schloss die Augen. Sie musste den Kopf freikriegen. Sie stand am Rand des Tatorts und hatte die Arme über dem Kopf ausgestreckt. Sie versuchte sich zu entspannen, indem sie die Hände langsam zur Seite wandern ließ.
  Konzentriere dich. Tief einatmen … und ausatmen.
  
Der Wind bäumte sich auf. Sie konnte Vögel in der Ferne zwitschern hören. Atme. Der Rauch legte sich auf ihre Haut und wirbelte um ihren Körper. Er drang in ihren Mund, überfiel ihre Sinne.
  Vor ihrem inneren Auge sah sie Washburns Hütte. Sie sah den Ort, wie er einst war. Rauch stieg aus dem Schornstein, die Vorhänge bewegten sich im Wind.
  Ein Körper an einen Sessel gefesselt, bewegungslos.
  
Jasi ging einen Schritt weiter, einen Schritt näher.
  Die Dunkelheit zog sie hinein, tiefer …


Der Mann fluchte leise. Seine Angel war schon wieder verschwunden. Vielleicht wurde er einfach langsam zu alt.
  Vielleicht hatte er inzwischen schon Alzheimer.
  »Verdammter Mist! Wo hab ich sie nur wieder hingelegt?«
  Ich beobachtete ihn vom Gebüsch aus und amüsierte mich köstlich über die völlige Unachtsamkeit des alten Doktors. Er war leichte Beute. Ich wickelte den IV-Schlauch um meine Hand und bewunderte, wie robust er war. Ich sah, dass der alte Mann die Angelrute entdeckte, die ich gegen das Geländer gelehnt hatte. Ich schlich mich näher an ihn heran und verschwand hinter einer Art Trennwand, die einen Teil der Terrasse abschirmte.
  Dann hielt ich den Atem an.
  Dr. Washburn, mit seinen schneeweißen Haaren und seinem Dickwanst, stelzte durch die Tür auf die Terrasse.
  Das Schicksal hatte ihn zu mir gebracht.
  Ich zog mir eine schwarze Skimütze über mein Gesicht. Dann schlich ich mich von hinten an ihn heran, griff über seinen nach unten gebeugten Kopf und legte ihm den Schlauch um den Hals. Ich konnte spüren, wie er sich unter meinen Händen wand und krümmte.
  »Lassen Sie es einfach geschehen, Doktor«, flüsterte ich ihm ins Ohr.
  Sein Körper sank nach vorne und ich schleifte ihn ins Innere der Hütte. Nachdem ich den bewusstlosen Mann auf den alten Ledersessel gehievt hatte, zog ich seinen regungslosen Körper nach oben, bis sein Kopf auf der Kopfstütze lag. Ich beugte mich über ihn, bekam den Hebel zu fassen und brachte den Sessel in die Liegeposition. Schnell fesselte ich seinen Körper und schlang den Schlauch um seinen Hals.
  Dann setzte ich mich auf das abgenutzte Sofa.
  Und wartete.
  Nach ein paar Minuten hörte ich den Doktor stöhnen. Ich lachte, als er mit einem panischen Schrei realisierte, dass er an den Sessel gefesselt war. Die Schläuche fixierten seine Beine, Hüfte, Schultern und seinen Hals.
  »Ich würde die Beine lieber nicht so viel bewegen. Je mehr Sie sich bewegen, desto enger zieht sich der Schlauch um Ihren Hals. Ein toller Trick, den ich mal gelernt habe.«
  Ich griff nach dem Benzinkanister zu meinen Füßen. Die Marke hieß Super Clean. Nur das Beste für die Besten. Ich goss den Diesel auf den Boden um den Sessel und genoss den entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht des Doktors. Die beißenden Dämpfe ließen meine Augen leicht tränen.
  »Warum ich?«, heulte er.
  Ich starrte ihn eine Weile an, forderte ihn heraus, sich an mich zu erinnern.
  »Weil du mich einmal verbrannt hast.«
  Ich griff in die Hosentasche meiner Jeans und zog ein Gemini-Feuerzeug heraus. Während ich mit dem Kanister zur Tür ging, zog ich eine Spur von Diesel hinter mir her.
  Ich schaute dem alten Mann tief in die Augen. Er wimmerte wie ein Kind und ich beobachtete, wie eine Träne an seiner faltigen Wange hinablief.
  »Wer bist du?«, krächzte er und musterte mich mit angsterfüllten Augen.
  Ohne zu antworten, entflammte ich das Feuerzeug mit einer Hand. Ich zündete ein Stück Zeitung an und hörte das Kreischen des alten Doktors, als ich es in seine Richtung warf.
  »Ich weiß nicht, wer Sie sind!«, schrie der alte Mann. »Ich kenne Sie nicht!«
  Die Flammen leckten über die Fußbodendielen und versengten das alte Zedernholz. Sie wanderten gefräßig den Sessel hinauf, über seinen sich windenden Körper, und ein tiefes schmerzverzerrtes Stöhnen war der letzte Laut, den Dr. Norman Washburn jemals von sich geben würde.
  Zufrieden starrte ich auf den Mann, wie er von den Flammen verschlungen wurde.
  Ich schlenderte nach draußen, bis ich einen sicheren Abstand gewonnen hatte. Ich lächelte, als sich die Hütte in ein loderndes Inferno verwandelte und eine kleine Explosion durch die Wände brach. Ich warf das Feuerzeug auf den Boden und wagte einen letzten Blick auf den Trümmerhaufen. Schwere schwarze Rauchwolken quollen aus dem Dach.
  Ich zog die Skimaske aus, um wieder richtig atmen zu können.
  Aus meiner Tasche holte ich meine Liste und strich Dr. Washburns Namen fein säuberlich durch.
  »Du erinnerst dich vielleicht nicht an mich, aber ich kann mich verdammt gut an dich erinnern.«
  Dann machte ich mich auf den langen Weg zurück, vorbei an dem mondhellen Strand. Hinter mir hörte ich den Wind und gelegentlich auch das Knistern des Feuers.


Eine hohle Dunkelheit umhüllte Jasi, blendete sie.
  »Ben! Sie ist fast nicht mehr bei Bewusstsein«, erklang die besorgte Stimme einer Frau.
  Ich kann mich verdammt gut an dich erinnern!
  
Jasi zwang sich, die Augen zu öffnen.
  »Sie kommt zu sich«, hörte sie Ben sagen. »Alles in Ordnung.«
  »Hier. Ich sehe sie mir mal an.« Die Stimme war tief und überheblich.
  Jasi öffnete ihre Augen einen Spalt. Ein plötzlicher, stechender Schmerz in ihrem Kopf ließ sie zusammenzucken. Benebelt sah sie sich um. Sie war in Sicherheit, im Innenraum des Vans.
  Dann beugte sich Brandon Walsh über sie.
  Er grinste, als ihre Blicke sich trafen. Behutsam drehte er ihren Kopf und betrachtete den kleinen Kratzer auf ihrer Stirn.
  »Sie sind ohnmächtig geworden«, spöttelte er. »Und sind auf Ihrem Kopf gelandet.«
  Verärgert über sein Gehabe, stieß sie seine Hand weg. »Das ist nur eine Beule.«
  »Schade, Agent McLellan, anscheinend hat der Schlag Ihnen keine guten Manieren verpasst.«
  Walsh beugte sich nach vorne und tupfte Peroxid auf die Wunde.
  »Aua! Verdammt noch mal, Walsh!«, zischte sie.
  Sein Blick war selbstgefällig, frech. »Oh, Entschuldigung. Ich habe vergessen, Sie zu warnen. Das kann jetzt ein wenig brennen.«
  »Walsh«, knurrte Ben leise. Er beugte sich über sie und legte die Oxy-Maske über ihr Gesicht.
  Als Jasi seine bloßen Hände bemerkte, fragte sie: »Solltest du nicht deine Handschuhe tragen?«
  Ben warf ihr einen warnenden Blick zu. »Ich zieh sie an, wenn ich aus dem Wagen steige.«
  Walsh schaute die beiden an – verwundert, misstrauisch. Dann riss er eine Packung mit Verbandszeug auf und verarztete vorsichtig den Schnitt an ihrer Stirn.
  Jasi ließ seine Berührungen zu, hauptsächlich wegen der brutalen Kopfschmerzen, die sich anfühlten, als würden ihr jeden Augenblick die Augen aus dem Kopf springen. Es war, als würde ihr jemand mit einem Bolzenschussgerät in den Schädel hämmern.
  Langsam setzte sie sich auf und musterte Walsh argwöhnisch. »Was machen Sie hier? Dachte, wir hätten Sie beim Zelt zurückgelassen.«
  »Meine Güte, vielen Dank auch für die herzliche Begrüßung«, bemerkte Walsh sarkastisch.
  »Wer hat denn gesagt, dass man Sie hier begrüßen würde?«, gab sie zurück.
  Mit einem breiten Grinsen drehte Natassia ihren Kopf hin und her, als würde sie ein Tennisturnier verfolgen. Dem Ausdruck auf ihrem Gesicht nach zu urteilen, war es ein durch und durch unterhaltsames Spiel.
  »Agent Prushenko, haben Sie nichts zu arbeiten?«, brummte Jasi. An Ben gerichtet sagte sie: »Mir geht's gut. Gib mir nur ein paar Minuten, um wieder auf die Beine zu kommen.«
  Dann funkelte sie Walsh an.
  »Alleine!«

Kapitel 5

Benjamin Roberts packte Walsh fest mit seiner bloßen Hand am Arm. Leise fluchend führte er den Chief vom Wagen weg. Walsh hatte zu viele Schichten Kleidung an. Ben konnte ihn nicht genau lesen, doch seine tiefe Frustration und Skepsis waren deutlich zu spüren.
  »Oh Mann, die Frau hat Temperament«, grinste Walsh und riss seinen Kopf herum zu dem Van.
  Ben hob die Hand von seinem Arm. »Agent McLellan ist eine der besten PSIs in Kanada. Unterschätzen Sie sie nicht, Walsh. Sie macht ihre Arbeit sehr gut.«
  »Das gilt auch für mich, Roberts.«
  Walsh schritt über das Feld und steuerte direkt auf Natassia zu. Schmunzelnd warf er Ben über seine Schulter hinweg einen vielsagenden Blick zu, bevor er Natassia in den Schatten eines Baums führte.
  Verärgert biss Ben die Zähne zusammen.
  So langsam ging ihm Walsh gehörig auf die Nerven. Etwas an diesem Kerl konnte Ben einfach nicht ausstehen. Vielleicht lag es an seinem so offensichtlich unverschämten Verhalten. Oder der Art, wie er bewusst sowohl mit Jasi als auch mit Natassia flirtete.
  Ben riskierte einen schnellen Blick zu Natassia, die Walsh bereits gründlich nach Informationen abklopfte. Er musste fast laut darüber lachen, wie der Chief unbeholfen versuchte, manche Fakten zurückzuhalten. Tja, Chief Walsh würde schon bald Hören und Sehen vergehen – wenn Natassia erst mal mit ihm fertig war.
  Ben klopfte zögerlich an die Tür des Wagens. Er schob sie auf und Jasi winkte ihn zu sich herein. Sie kauerte auf der Sitzbank, eingehüllt in eine Decke. Ihr Gesicht war blass und das machte ihm Sorgen.
  »Bist du so weit?«, fragte er.
  »Los geht's.«
  »Agent Prushenko!«, rief Ben.
  Eine Minute später tauchte Natassias Kopf auf, ein Schmunzeln noch auf den Lippen. »Sie haben gebrüllt?«
  Ben stieß einen Seufzer aus. »Komm einfach rein.«
  »Lasst uns erst mal die Aufnahme abspielen«, schlug Natassia vor.
  »Was ist mit mir?«, erkundigte sich Brandon Walsh unschuldig und steckte den Kopf durch die Tür.
  »Sorry«, konterte Ben selbstzufrieden. »Exklusives CFBI-Meeting.«
  Er schlug die Tür des Vans zu, ohne sich groß zu bemühen, sein zufriedenes Grinsen zu unterdrücken.
  Walsh ist auf jeden Fall eine Nervensäge, dachte er.
  »Danke, Ben«, lächelte Jasi.
  Sein Blick wanderte zu der geschlossenen Tür. »Jederzeit.«
  Ben verbannte Walsh aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf Jasis Stimme auf der Aufnahme des Datakoms.
  Die Worte klangen tief und heiser. »Lassen Sie es einfach geschehen, Doktor.«
  Wenn Jasi eintauchte, wurde sie eins mit den Gefühlen, Gedanken und Taten des Angreifers. Sie sah alles genau wie durch die Augen des Brandstifters. Jasi erlebte diese Augenblicke vor sich, als würde sie im Körper des Täters stecken.
  Ben dagegen war ein hochqualifizierter Profiler, der einen Menschen berühren und dessen Gedanken spüren konnte. Doch seine übernatürlichen Fähigkeiten waren unzuverlässig und sporadisch.
  Das Gerät spielte Jasis Stimme ab. »Du erinnerst dich vielleicht nicht an mich, aber ich kann mich verdammt gut an dich erinnern!«
  Ben beobachtete sie genau. Er bemerkte das leichte Schaudern, als sie sich selbst wie eine Verrückte lachen hörte. Selbst nach all den Jahren war das etwas, was Jasi immer noch schwer fiel.
  Aber wem könnte es da anders gehen? Man konnte es ihr kaum zum Vorwurf machen.
  »Vorherige Bekanntschaft mit dem Opfer kann bestätigt werden«, sprach Natassia in ihren Datakom. »Ich denke, wir suchen nach einem Mann, gemessen an deiner tiefen Stimme in der Aufnahme.«
  »Irgendetwas über den Brandbeschleuniger?«, erkundigte sich Ben.
  »Es war Super Clean-Dieselkraftstoff.«
  »Was ist mit unserer X-Disc?«, schaltete sich Jasi plötzlich ein.
  Ben scrollte durch seinen Datakom und lud die Daten der X-Disc Pro herunter. »Wir haben den Teilabdruck eines Stiefels. Fast sechs Meter vom Haus entfernt, hinter dem Apfelbaum. Könnte vom Täter stammen. Die Disc hat auch eine Bodenprobe des Abdrucks genommen. Die können wir von Ops analysieren lassen.«
  »Brauchst du eine Liste der bekannten Kontakte, Jasi?«, fragte Natassia.
  »Ja«, antwortete Jasi. »Durchsuche bitte sämtliche Daten auf Dr. Washburns bisherige Kontakte. Alle Beschwerden gegen ihn, sowohl privat als auch beruflich. Gerichtsverfahren, widerrechtliche Tötung, Fehldiagnosen. Irgendjemand hatte noch ein Hühnchen mit dem Doktor zu rupfen.«
  »Gib mir dreißig Minuten. Vielleicht eine Stunde. Ich hab das Gefühl, das könnte eine ziemlich lange Liste werden.«
  Jasi stand auf und griff zur Tür. »Ich geh noch mal zum Tatort zurück.«
  Ben hielt sie am Arm fest. »Zweimal innerhalb so kurzer Zeit könnte etwas zu viel sein. Du hast uns schon einige Hinweise geliefert. Warum ruhst du –«
  »Mir geht's gut, Ben. Ich werde nicht noch mal reingehen. Ich will mir nur alles ansehen.«
  Sie rückte ihre Oxy-Maske zurecht und stieg aus dem Van, bevor er noch etwas sagen konnte.
  »Herrgott noch mal!«, hörte er sie rufen.
  Ben lehnte sich aus dem Wagen und folgte ihrem Blick.
  Dort stand Brandon Walsh gegen die Stoßstange des Vans gelehnt. »Na ja, nicht ganz.«
  Jasi ignorierte ihn und steuerte entschlossen auf Washburns Hütte zu.
  Ben war stocksauer. »Walsh!«
  Kochend vor Wut zog er den Chief vom Wagen weg. »Hey, legen Sie sich nicht mit uns an. Diese Stadt mag vielleicht ihr Territorium sein, aber Agent McLellan ist mein Territorium. Sie hat schon zu viel durchgemacht, um sich von einem egoistischen Hinterwäldler verarschen zu lassen, der –«
  »Hey! Ich ergebe mich!«, unterbrach ihn Walsh und streckte seine Arme nach oben. »Hören Sie, ich will nur helfen. Sie können mir glauben: Ihr Agent McLellan wird keine Probleme mit mir haben.«
  Ben biss sich auf die Zähne. »Lassen Sie einfach die Finger von ihr – und von Agent Prushenko ebenfalls, wo wir gerade schon dabei sind.«
  Die Anspannung zwischen ihnen schaukelte sich immer weiter nach oben.
  Dann drehte Walsh sich auf dem Absatz um und lief zu einem Einsatzwagen in der Nähe. Er sagte etwas zu dem Fahrer, der ihm gleich darauf das Funkgerät reichte.
  Ben beobachtete ihn misstrauisch.
  Was hast du vor, Walsh?
  
Ben wandte seinen Blick ab und schützte seine Augen mit einer Hand vor der grellen Sonne. Jasi kam dem Tatort immer näher. Er sah, wie sich ihre Muskeln als Antwort auf das Chaos um sie herum anspannten. Er hoffte inständig, dass die Maske keine giftigen Dämpfe durchlassen würde, die ihre Fähigkeiten auslösten.
  Jasmine McLellan war wie eine Schwester für ihn. Eine sture, selbstständige, kleine Schwester, die manchmal gerettet werden musste. Sie war von einer Aura der Unschuld umgeben, trotzdem setzte sie sich täglich dem Bösen aus. Ben bewachte sie, beschützte sie und liebte sie auch … so wie ein Bruder die eigene Schwester lieben sollte.
  Doch vor allem stand er in ihrer Schuld.
  Seit den Parlamentsmorden …
  
Er sprang in den Van und beugte sich über Natassias Schulter, um den Datakom-Bildschirm sehen zu können.
  »Der gute alte Doktor hatte genug Feinde, um eine eigene politische Kampagne finanzieren zu können«, lächelte sie mit finsterer Miene.
  »Irgendjemand, den wir kennen?«
  »Ein paar Anklagen wegen widerrechtlicher Tötung. Erinnerst du dich noch an diese Schauspielerin, Stacey Beranski? Ihr Sohn reichte Klage ein, weil sie auf dem OP-Tisch gestorben ist. War eigentlich nur eine Blinddarmentfernung. Angeblich war Dr. Washburn während des Eingriffs betrunken und versaute das Ganze.«
  Ben lehnte sich weiter nach unten zu dem Bildschirm. »Was passierte mit Washburn? Gab es eine Anklage wegen widerrechtlicher Tötung?«
  Natassia rümpfte ihre Nase. »Er wurde intern abgemahnt. Sieht so aus, als wäre das mit dem Alkohol vertuscht worden. Sie ließen es so aussehen, als hätte er während der OP einen leichten Schlaganfall erlitten. Er ist davongekommen. Fall geschlossen.«
  »Wie heißt der Sohn?«
  »Jason Beranski, Alter neunundzwanzig. Er ist Apotheker, arbeitet bei Pharmacity in Kelowna.« Natassia sah von ihrem Datakom auf. »Also der hat ganz bestimmt Zugang zu medizinischer Ausrüstung.«
  »Wollt ihr zwei euch den mal vornehmen?«
  Natassia grinse ihn an, also wollte sie sagen: Nichts lieber als das!
  Er war sich sicher, dass sich irgendwo in der Liste ein Hinweis versteckte – die Identität des Serientäters. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn finden würden. Doch die Zeit lief ihnen davon.
  Ben spürte, dass der Brandstifter wieder zuschlagen würde … und zwar schon bald.
  Zwanzig Minuten später hörte er von draußen laute, verärgerte Stimmen. Jemand hämmerte aufdringlich gegen die Tür. Natassia sperrte die Tür auf und öffnete sie. Ben blickte über ihre Schulter hinaus.
  Ein gut gekleideter Mann in einem hellen, kastanienbraunen Anzug stand vor dem Wagen. Seine sonnengebleichten blonden Haaren, die markante Nase – die wohl schon einmal gebrochen gewesen war – und seine funkelnden braunen Augen machten sein Gesicht zu einem der bekanntesten in Nordamerika. Vor ihnen stand kein anderer als Allan Baker – der Ministerpräsident von British Columbia … und der Sohn des verstorbenen Dr. Washburn.
  »Wo ist er?«, verlangte Baker leise.
  »Wo ist wer?«, fragte Ben und stieg aus dem Van.
  Allan Bakers Augen flackerten feindselig. »Mein Vater.«
  Ben musterte den Mann sorgfältig, versuchte ihn einzuschätzen. Baker wirkte nicht gerade so, als wäre sein Herz gebrochen. Bestürzt, ja, aber nicht unbedingt das Bild eines trauernden Sohnes.
  Baker musterte ihn verächtlich. »Wer hat hier die Leitung? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
  Ben streckte seine Hand aus. »Ich bin der stellvertretende Leiter. Agent Benjamin Roberts, CFBI.«
  Natassia hüpfte aus dem Van und fing den Blick des Ministerpräsidenten ein. »Agent McLellan hat die Leitung, aber sie ist gerade am Tatort.«
  Baker sah unruhig hinüber zu den verkohlten Ruinen der Hütte am See. Dann warf er Ben ein herablassendes Stirnrunzeln zu. »Gut, also wo ist er?«
  Ben runzelte die Stirn. Was genau war dem Ministerpräsidenten gesagt worden?
  »Es tut uns wirklich sehr leid, aber Ihr Vater ist tot«, sagte Natassia sanft.
  »Natürlich ist er tot!«, fauchte Baker. »Ich wäre nicht hier, wenn es nicht so wäre. Ich will wissen, wo sein Leichnam ist. Ich muss einige Vorbereitungen treffen.«
  Ben gab Natassia ein kurzes Zeichen, auf welches sie mit einem knappen Nicken antwortete.
  »Herr Ministerpräsident, gehen wir dafür doch an einen ruhigeren Ort«, schlug sie vor.
  Ben folgte in einigem Abstand hinter Natassia, die Baker zu einem Besprechungszelt am Straßenrand führte. Allan Baker hatte sich soeben auf Platz Eins der Hauptverdächtigen auf Bens Liste katapultiert. Es war allgemein bekannt, dass Vater und Sohn nicht gerade viel füreinander übrig hatten und dass Baker seinen Vater verachtete, weil er ihn als kleinen Jungen nicht als seinen Sohn anerkannt hatte.
  Also wenn das kein gutes Motiv wäre, dann weiß ich auch nicht!
  
In jedem Fall würde er Allan Baker noch genauer unter die Lupe nehmen.
  Apropos unter die Lupe nehmen …
  Ben ertappte Baker dabei, wie dieser Natassia ausgiebig musterte.
  »Premier Baker«, knurrte er. »Setzen Sie sich doch bitte. Wir haben einige Fragen an Sie. Hätten Sie gerne einen Kaffee?«
  »Ja, bitte. Mit viel Milch und etwas Zucker.« Baker warf Natassia einen unverhohlen anzüglichen Blick zu. »Ich steh auf Süßes.«
  Ben wollte dem Typen eine reinhauen. Stattdessen reichte er Baker die Dosenmilch und ihre Hände berührten sich. Sofort durchfuhr ihn ein Kaleidoskop der Gefühle und Gedanken.
  Wut, Trauer, Geheimnisse und Lügen.
  
»Herr Ministerpräsident«, antwortete Natassia kühl. »Die Überreste Ihres Vaters wurden in seiner Hütte gefunden. Was genau möchten Sie gerne wissen?«
  »Alles«, gab er hochmütig zurück.
  Ben zuckte mit den Schultern.
  Baker wollte alles im Detail erfahren? Dann würde er genau das bekommen.
  »Premier Baker, Ihr Vater wurde ermordet. Er wurde an einen Sessel gefesselt und danach wurde die Hütte in Diesel getränkt. Er starb entweder an einer Rauchvergiftung oder an schweren Verbrennungen. Genauer lässt sich das erst sagen, wenn die Gerichtsmedizin mit der Obduktion fertig ist.«
  Baker ballte die Hände zu Fäusten. Nachdem er sie wieder geöffnet hatte, rieb er seine Handflächen, als würde er endlich einem unerträglichen Juckreiz nachgeben.
  Bens Blick fiel auf ein verblasstes Netz winziger Narben auf Bakers Händen. Die Linien waren fein und silbrig, so als hätte er seine Haut einer Laserbehandlung unterzogen, um die Narben verschwinden zu lassen.
  »Können Sie uns sagen, wo Sie in den letzten zwölf Stunden waren?« Natassia unterbrach Bens Gedankenstrom mit ihrer Frage.
  Baker lächelte – ein Politikerlächeln. »Ich war in British Columbia unterwegs. Gestern verbrachten wir den Großteil des Tages in Kelowna. Gestern Nacht war ich bis etwa zwei Uhr morgens Gastgeber im Paloma Springs Hotel in Penticton.«
  Plötzlich verengte sich sein Blick, als er begriff, worauf diese Frage anspielte.
  Unvermittelt sprang er auf und explodierte förmlich: »Was denn, Sie glauben, ich habe ihn getötet? Sind Sie verrückt?«
  Ben lehnte sich nach vorne, seine Hände klammerten sich an den Tisch, der ihn von Baker trennte. »Nein, wir sind hier sicher nicht die Verrückten.«
  »Das ist eine verfluchte Frechheit!«, zischte Baker. »Zu Ihrer Information: Ich habe mit meinem Vater schon seit fast einem Jahr nicht mehr gesprochen oder ihn gesehen. Ich war mit meinem Wahlkampf beschäftigt. Es gab mehr als genug zu tun. Und egal, welche Probleme ich in der Vergangenheit mit Doktor Norman Washburn hatte, im Moment bewerbe ich mich um das Amt des Premierministers. Ich kann also keine schlechte Publicity gebrauchen.«
  Ben verschränkte seine Arme vor der Brust. »Wir benötigen eine Kopie Ihres gestrigen Terminplans und zwar mit sämtlichen Personen, die Ihren jeweiligen Aufenthaltsort bestätigen können.«
  »Sie meinen mein Alibi«, schnaubte Baker. »Wissen Sie, dieser Mistkerl hatte es nicht anders verdient. Erwarten Sie nicht, dass ich ihm noch nachweine.« Er ließ sich zurück in seinen Stuhl fallen und legte seine Arme auf den Tisch.
  Natassia tippte weiter auf ihrem Datakom. »Niemand hier erwartet irgendetwas von Ihnen.«
  »Was soll das denn bitte heißen?«, knurrte Baker.
  Sie hob den Kopf. »Es bedeutet ganz einfach, Premier Baker, dass Sie trauern können, wie Sie möchten. Uns geht es hier rein um Fakten und Beweise.«
  Ben verzog seine Lippen zu einem kleinen Schmunzeln. »Sobald wir Ihre Aussage bestätigt haben, können wir Sie von der Liste streichen. Sollte alles kein Problem sein, oder?«
  Allan Baker warf ihnen einen bösen Blick zu, dann erhob er sich.
  Er strich sein Jackett glatt und erwiderte knapp: »Meine Assistentin wird Ihnen meinen Tagesplan und die Liste der entsprechenden Personen zufaxen, sobald ich wieder in meinem Büro bin.«
  Ben schaute Baker nach, wie er in eine schicke schwarze Limousine stieg. Der Wagen fuhr davon und wirbelte jede Menge Staub auf.
  »Ich übernehme Baker«, teilte er Natassia mit. »In der Zwischenzeit kümmert ihr beiden euch um Beranski.«
  Er fuhr mit einer Hand durch sein dichtes Haar und seufzte schwer. »Ich habe das Gefühl, dass Dr. Washburn einige Feinde hatte. Und ich glaube, sein Sohn verheimlicht etwas.«
  »Ich suche mal unsere furchtlose Anführerin«, murmelte Natassia, nachdem sie ihren Kaffeebecher mit einem Zug geleert hatte.


Angekommen bei der deaktivierten Absperrung, ließ Natassia den Blick über die zerstörte Hütte schweifen. Der unebene Boden war verkohlt und schwarz. Die Trümmer waren inzwischen abgekühlt, doch der Geruch von verbranntem Fleisch lag weiterhin in der feuchten Luft.
  Sie fand ihre Freundin über einen Trümmerhaufen gebeugt, als sie mit behandschuhten Händen vorsichtig Bretter und geschmolzene Plastikteile auseinanderklaubte. Natassia arbeitete erst seit Kurzem mit Jasmine McLellan zusammen, doch sie bewunderte den Einsatz dieser Frau. Sie war dankbar für die Chance, mit Jasi arbeiten zu dürfen – und mit Ben.
  Natassia hielt sich abseits der Absperrung, um den Tatort nicht zu verunreinigen und rief Jasi zu: »Irgendetwas gefunden?«
  Ihre Partnerin sah kurz auf und winkte. »Noch nicht. Ich werde abwarten müssen, bis alles eingesammelt und gesichert wurde.«
  Natassia sah dabei zu, wie sich Jasi vorsichtig auf den Weg zurück zu der zentralen Lampe machte, um sie wieder zu aktivieren, und dabei in ihre Fußstapfen aus dem Hinweg trat.
  »Wir haben einen Verdächtigen, Jasi.«
  »Wen?«
  »Jason Beranski, ein Apotheker aus Kelowna. Und unser Hauptverdächtiger hat uns auch schon einen Besuch abgestattet.«
  Natassia fing Jasis schockierten Blick ein.
  »Ministerpräsident Allan Baker«, löste sie schnell auf.
  »Was? Baker war hier und ich hab's verpasst?«
  »Da hast du sicher nicht viel verpasst. Der Kerl ist ein widerliches Schwein. Ich kann einfach nicht fassen, dass er der Ministerpräsident von British Columbia ist. Er war hauptsächlich daran interessiert, wie schnell er Daddy unter die Erde kriegen konnte.«
  Vielleicht hat Baker ihn dort auch hingebracht!
  
Jasi schnaubte laut. »Ja, das ist Baker. Was hat er als Alibi angegeben?«
  »Er sagt, er war auf einer Veranstaltung im Paloma Springs Hotel in Penticton. Ben möchte Baker gern übernehmen.«
  »Dann nehmen wir den Apotheker.«
  Natassia hielt einen vorbeifahrenden Einsatzwagen an. Während sie einstiegen, bat sie den Officer, sie zum Helikopter zu bringen.
  Jasi rief Ben an.
  »Wir machen uns auf den Weg nach Kelowna, um Beranski zu vernehmen«, informierte sie ihn. »Wir treffen uns dort, wenn du fertig bist.«
  Während Jasi ein paar Worte mit Ben wechselte, hörte Natassia zu und versuchte, das Aufflackern von Eifersucht zu unterdrücken, das jedes Mal ausbrach, wenn sie über die enge Freundschaft zwischen den beiden nachdachte. Ben und Jasi waren lediglich Freunde – das wusste sie.
  »Wir hätten Beranski zu Ops bringen lassen können«, schlug sie Jasi vor, nachdem diese aufgelegt hatte.
  »Nein, wir statten Mr. Beranski einen Überraschungsbesuch ab.«
  Natassia holte ihren Datakom heraus und grenzte die Liste von Washburns möglichen Feinden weiter ein. Solange die Presse keinen Wind vom Verdächtigenstatus des Ministerpräsidenten bekam, würden die Ermittlungen problemlos weitergehen können.
  Im Helikopter legte Natassia den Sicherheitsgurt an, während Jasi an einer Dose OxyBlast zog, um ihre Lungen zu reinigen. Nach wenigen Minuten war Jasi eingeschlafen.
  Natassia fühlte sich hellwach und nervös. Sie versuchte, ihren rumorenden Magen zu beruhigen.
  Nach dem Gespräch mit Jason Beranski würde es Zeit für sie werden, zur Gerichtsmedizin in Kelowna zu fahren.
  Irgendwo im Inneren des Leichenschauhauses lag ein Mordopfer auf einem Metalltisch – ein Opfer, das etwas zu sagen hatte.
  Etwas, das nur Natassia hören konnte.

Kapitel 6

Kelowna, British Columbia

Jason Beranski lächelte einer älteren Dame freundlich zu, während er ihr Rezept für Arthrotec einlöste.
  »Eine Kapsel enthält einhundert M-Milligramm. Nehmen Sie es nicht auf l-leeren Magen, sonst wird I-Ihnen schlecht, Mrs. Beaumont.«
  In nur wenigen Apotheken in Kelowna war so viel zu tun wie in Pharmacity. Heute war anscheinend besonders viel los. Aber Jason war das egal. Heute war ein großartiger Tag und nichts würde ihm die Laune verderben.
  »Ich mach jetzt P-Pause«, informierte er seine Assistentin Doris.
  Er hatte sein Mittagessen ausfallen lassen und brauchte unbedingt eine Tasse von der Brühe, die die Geschäftsführung als Kaffee bezeichnete. Er zog seinen orangegestreiften Kittel aus, legte ihn auf einen Hocker und verschwand nach hinten. Die Regale waren voll mit abgelaufenen Arzneimitteln und neuer Ware.
  Er stieß einen Karton in die Ecke, bevor er sich einen Kaffee einschenkte. Dann schlüpfte er durch die Hintertür nach draußen.
  Er hockte sich auf eine leere Kiste und atmete die heiße, feuchte Luft ein.
  Der Weg war übersät mit Abfall. Ein riesiger verrosteter Müllcontainer quoll bereits über – ein Potpourri aus abgelaufenen, gammligen Lebensmitteln … und noch etwas anderem. Urin. Neben dem Container maunzte eine getigerte Katze herzzerreißend mit Hoffnung auf ein Leckerli. Sie witterte Gefahr und hielt einen sicheren Abstand zu dem hageren Mann mit der Glatze.
  Diese Gasse war Jasons Revier.
  Die anderen Angestellten blieben während ihrer Pausen im Gebäude. Sie konnten nicht nachvollziehen, warum er lieber zwischen Müll und Gestank saß, statt das saubere, wenn auch unordentliche Hinterzimmer zu nutzen.
  Wie sollte er ihnen auch verständlich machen, dass er seinen Frieden genoss? In dieser Gasse verurteilte ihn niemand. Niemand machte sich über seinen Sprachfehler lustig.
  Er beobachtete die Katze, wie sie ein Stück Zeitung angriff, das über den Gehsteig geweht wurde.
  »Ich nehme an, Sie sind kein Katzenliebhaber«, sagte plötzlich eine Stimme.
  Jason drehte sich um und erschrak beim Anblick einer Frau mit langen kastanienbraunen Haaren, die im Türrahmen stand.
  »Jason Beranski?«
  Er nickte mit der Befürchtung, dass sein großartiger Tag vorbei war.
  Die Frau holte eine Marke aus ihrer Tasche und trat einen Schritt auf ihn zu. »Agent Jasmine McLellan, CFBI.«
  »CFBI? W-was wollen S-Sie denn von m-mir?«, stammelte er unruhig. »Ich habe n-nichts verbrochen.«
  Agent McLellan beäugte ihn und er wand sich in Unbehagen.
  »Wir ermitteln gerade in einem Fall. Ich habe ein paar Fragen. Macht es Ihnen etwas aus?«
  Er zögerte mit seiner Antwort. »Würde das d-denn etwas ä-ändern?«
  Sie ignorierte ihn und holte ihren Datakom heraus. Sie stellte sich neben ihn, zog eine weitere Kiste heran, fegte kurz die Oberfläche ab und setzte sich.
  Ich weiß, worum es hier geht, überlegte er. Dieser Mistkerl hatte bekommen, was er verdiente.
  Er warf der Frau einen kurzen Blick zu und war sich sicher, dass sie seine Schuld sehen konnte.
  »Sprachaufnahme an«, befahl sie.
  Jason spürte, wie ihm ein Schauer der Angst über den Rücken lief.
  

In der Apotheke ging Natassia direkt auf eine zierliche junge Frau mit feuerroten, kurzen Haaren zu. Die Apothekenhelferin, Doris Richards, wurde leichenblass, als Natassia ihre Marke zeigte.
  »Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
  Die Lippen der Assistentin bebten. »Ich habe nichts falsch gemacht.«
  Natassia seufzte ungeduldig.
  Warum sahen die Leute nur immer so verängstigt aus, wenn sie sie befragen wollte? Vielleicht sollte sie es mit einer sanfteren Taktik versuchen.
  »Miss Richards, ähm … darf ich Sie Doris nennen?«
  Die Frau nickte zögerlich.
  »Wir ermitteln nicht gegen Sie, aber wir wären über Ihre Hilfe wirklich sehr dankbar.« Natassia biss sich bei dem Wort Hilfe fast auf die Zunge.
  Doris Augen wurden groß. »Natürlich. Was kann ich tun?«
  Sie gab Natassia ein Zeichen, ihr in den Hinterraum zu folgen.
  »Wir ermitteln im Zuge eines Brandanschlags und Mr. Beranskis Name tauchte hierbei auf. Ich sage damit nicht, dass er ein Verdächtiger ist, wir müssen nur allen Spuren nachgehen. Verstehen Sie, Doris?«
  »Mr. Beranski?« Die Frau sah nervös über die Schulter zur Hintertür. »Er ist ein guter Chef.«
  Natassia holte ihren Datakom hervor. »Sprachaufnahme an! Vernehmung von Doris Richards, Apothekenhelferin und Kollegin von Jason Beranski, Fall H085A. Miss Richards, verstehen Sie, dass es sich hierbei lediglich um eine informelle Vernehmung handelt?«
  Die Frau lächelte schüchtern und nickte ruckartig.
  Ungeduldig deutete Natassia auf ihren Datakom, woraufhin Doris laut bestätigte: »Ja!«
  »Wie lange arbeiten Sie schon mit Mr. Beranski?«
  »Etwa acht Monate. Ich wechselte von Shoppers, als sie Pharmacity übernahmen.«
  »Was können Sie mir über ihn erzählen?«
  »Als Chef ist er okay. Ich meine, er lässt mich einfach in Ruhe meine Arbeit machen.« Doris lächelte zaghaft. »Er bleibt meistens für sich. Seitdem seine Mutter letztes Jahr zu Weihnachten gestorben ist, macht er seine Arbeit und geht dann nach Hause.«
  Natassia fragte sich, wie wütend der Mann über den Tod seiner Mutter war. Wie nah hatte Beranski ihr gestanden, bevor sie gestorben ist? Möglicherweise nahe genug, um sich an Washburn zu rächen.
  Doris zupfte nervös an einer stark gegelten Haarsträhne.
  Die Frau ließ anscheinend regelmäßig eine schöne Stange Geld in diesen ganzen Haarläden, überlegte Natassia.
  Die Assistentin riss sie aus ihren Gedanken. »Was vermuten Sie denn, was er getan hat? Ich meine, ich arbeite mit ihm. Ich würde es gerne wissen.«
  »Tut mir leid, Doris. Wir stecken noch mitten in den Ermittlungen.«
  Natassia spürte ihre Enttäuschung und fügte hinzu: »Ich habe noch ein paar Fragen und dann können Sie gehen. Verhielt sich Mr. Beranski in den letzten zwei oder drei Tagen irgendwie ungewöhnlich?«
  »Er verhält sich immer ungewöhnlich!« Die Frau verschränkte die Arme und atmete tief aus. »Na ja, heute hat er sich etwas komisch verhalten.«
  »Was meinen Sie?«
  Doris zucke mit den Schultern. »Normalerweise ist er still. Er macht seine Arbeit, aber er spricht mit niemandem. Die meiste Zeit wirkt er nicht besonders glücklich. Wissen Sie, was ich meine?«
  Natassia wusste genau, was sie meinte.
  Beranski war ein Einzelgänger. Er blieb für sich, keine richtigen Freunde, keine Familie. Ein Hauptkandidat für jemanden, der sich endlich einmal richtig beweisen wollte. Ein Hauptverdächtiger.
  »Also was ist heute anders?«, erkundigte sich Natassia.
  »Jay – ich meine, Mr. Beranski pfeift und lächelt heute schon den ganzen Tag. Sogar zu unseren Kunden ist er freundlich, erkundigt sich, wie es ihnen geht. Alle paar Minuten höre ich ihn sagen 'Heute ist ein großartiger Tag', als hätte er im Lotto gewonnen oder so.«
  »Doris, was glauben Sie, warum er so glücklich ist?«
  Die Assistentin grinste. »Das kann ich Ihnen genau sagen. Heute Morgen im Radio? Wir haben alle gehört, dass irgendein Arzt in Kelowna in einem Feuer ums Leben gekommen ist. Der ganze Laden wurde still – alle außer Jason. Er räumte gerade eine neue Lieferung ein und ließ einen Karton Amoxil fallen. Zum Glück war es gut verpackt.«
  »Er ließ also die Medikamente fallen … und dann?«
  Doris Augen wanderten zur Decke, während sie versuchte, sich an die genaue Abfolge des Geschehenen zu erinnern.
  »Ja«, brachte sie endlich heraus. »Und dann hat er gelächelt. Es war seltsam. Wir standen hier alle in Gedanken an die arme Familie des Arztes, und Mr. Beranski lächelte.«
  »Ist das alles?«
  »Nein. Als ich ihn fragte, was denn so lustig sei, da sagte er nur: 'Es ist ein großartiger Tag. Der Mistkerl hat endlich bekommen, was er verdient hat.' Und seitdem lächelt er und ist zu allen freundlich. Komisch! Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
  Doris kaute an einem Fingernagel, dann blinzelte sie.
  »Hey! War das der Brand, wegen dem Sie ermitteln?«
  »Sprachaufnahme beenden«, antwortete Natassia, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Es tut mir leid, aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
  Sie bedankte sich bei Doris für ihre Zeit und sah zu, wie sie zurück in die Apotheke eilte.
  Der Klatsch und Tratsch in der Mittagspause würde heute spannend werden.
  Natassia schaute auf die Uhr. Zeit, sich zu Jasi und Beranski zu gesellen. Aber erst würde sie eine schnelle, wenn auch illegale, Durchsuchung des Hinterzimmers vornehmen. Vielleicht beinhaltete einer der Kartons IV-Schläuche. Und sollte davon ein Stück ganz zufällig auf dem Boden liegen, wäre das Grund genug für genauere Ermittlungen. Sie wusste, dass Jasi Jason Beranski noch mindestens weitere fünfzehn Minuten beschäftigen würde.
  Damit blieb Natassia mehr als genug Zeit.


Draußen in der Gasse kochte Jasi vor Wut.
  Sie hatte ihre Zeit damit vergeudet, etwas über Beranskis Vergangenheit und seinen Aufenthaltsort in den frühen Morgenstunden zu erfahren. Der Mann war planlos und brachte sie zur Weißglut.
  »Mr. Beranski, ist Ihnen bewusst, dass Dr. Norman Washburn heute Morgen ermordet wurde?«
  »Ja, na und? Soll ich j-jetzt Mitleid f-für ihn haben?«
  »Wir sind genau informiert über die Anzeige, die Sie gegen Dr. Washburn eingereicht haben. Wir wissen auch, dass er als nicht schuldig im Fall der widerrechtlichen Tötung Ihrer Mutter erklärt wurde.«
  Beranski lief auf und ab und kickte eine verrostete Kaffeedose gegen den Container.
  »Nicht schuldig? Das b-besoffene Arschloch hat meine Mutter getötet! Er h-hat sie im OP dermaßen zermetzelt, dass kein anderer Chirurg mehr in der Lage war, sie w-wieder zusammenzuflicken. Und der K-Krankenhausvorstand? Diese Schweine h-haben ihn verteidigt. Die haben sich als Ausrede ü-überlegt, dass er u-umgekippt ist. Schlaganfall, haben sie gesagt.«
  Jasi klemmte sich ihren Datakom an die Jacke und schob ihm ein Foto hin.
  »Hassen Sie ihn so sehr, dass Sie ihm das hier antun würden?«
  Die X-Disc hatte die Aufnahme im Flug gemacht. Sie zeigte Washburns Leiche, übersät von Blasen und schwarzen Verbrennungen. Tatsächlich war es unmöglich zu erkennen, wo die Leiche aufhörte und wo der Sessel begann. Es war ein Bild des Todes, ein makabrer Anblick für einen Verdächtigen.
  Aber Jasi wollte die Reaktion des Mannes sehen. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass sein Gesicht grün anlaufen würde.
  »Der Gerichtsmediziner musste die Leiche durch das Gebiss identifizieren«, fügte sie hinzu. »Jeder Zentimeter seines Körpers war verschmort, das Fleisch löste sich von seinen Knochen wie von einem verkohlten Truthahn.«
  Der Apotheker stand auf und stieß dabei seine Kaffeetasse um. Verzweifelt griff er zur Hintertür, um der Situation zu entkommen.
  »H-hören Sie auf.«
  »Sehen Sie sich das Bild noch mal an, Mr. Beranski, und dann versuchen Sie sich daran zu erinnern, was Sie heute Morgen gegen ein Uhr gemacht haben.« Sie merkte, dass er gegen den Würgereiz ankämpfte.
  Als er nach der Tür griff, hielt sie ihm das Foto vors Gesicht.
  Es gibt gewisse Momente, in denen alles scheinbar wie in Zeitlupe passiert. Dieser Augenblick gehörte in jedem Fall dazu, wie Jasi etwas zu spät erkennen musste.
  Genau als Beranksi zur Tür griff, wurde diese von innen geöffnet. Agent Natassia Prushenko trat unglücklicherweise genau in dem Moment durch die Tür, in dem der Apotheker versuchte, ins Bad zu gelangen.
  Beranski schaffte es nicht.
  Natassias Bluse ebenfalls nicht.