Buchcover

Karl Pilny

Japan Inc.

Thriller

Saga

Alles ist in uns selbst vorhanden

Meng Tse

Prolog

Die vier Chinesen, die am 1. Mai des Jahres 2012 kurz vor 02:30 Uhr morgens den Haupteingang des Shanghai World Financial Centers an der Century Avenue betraten, wurden vom Facility Manager bereits sehnlichst erwartet. Sie waren mit Overalls der deutschen Firma »ThyssenKrupp Elevator« bekleidet und trugen, wie es Vorschrift war, Montagehelme aus Polycarbonat, auf denen ebenfalls das Firmenlogo prangte. Es handelte sich um einen Wartungstrupp, bestehend aus einem Ingenieur und drei Mechatronikern. Die Techniker hatten zwei schwere Werkzeugkoffer sowie ein Mini-Laptop dabei. Sie waren etwa acht Minuten zuvor alarmiert und vom Facility Manager persönlich über die Störung informiert worden. Anscheinend steckten zwei Gäste des zweithöchsten Hotels der Welt in einem Fahrstuhl zwischen der 93. und der 94. Etage fest. Es handelte sich allerdings nicht um einen hoteleigenen Aufzug des Park Hyatt. Genaueres ließ sich nicht sagen, da die eingebaute Überwachungskamera offenbar ausgefallen und auch die Notrufleitung seit dem ersten Hilferuf unterbrochen war. Das alles ließ auf ein größeres technisches Problem schließen.

Die vier Männer passierten die Sicherheitsschleuse ohne Beanstandung, die Metalldetektoren blieben stumm. Ihre Namen auf den elektronischen Firmenausweisen stimmten mit der vorliegenden Personenliste überein. Die holografischen Porträtfotos ebenfalls. Daraufhin wurden die Werkzeugkoffer und das Mini-Laptop nur oberflächlich untersucht.

Die gesamte Sicherheitskontrolle dauerte kaum zwei Minuten. Danach bestiegen die Techniker in Begleitung des nervösen Facility Managers einen der insgesamt vier Doppeldecker-Fahrstühle, die von ThyssenKrupp Elevator eigens für das World Financial Center entwickelt worden waren. Sobald sich die aerodynamisch geformten Türen geschlossen hatten, wurden die fünf Männer mit einer Geschwindigkeit von zehn Metern pro Sekunde nach oben katapultiert – im schnellsten Aufzug der Welt.

Als sie einige Tage später von chinesischen Sicherheitsbeamten befragt wurden, konnte sich keiner der Mitarbeiter des Wachpersonals, die in dieser Nacht Dienst gehabt hatten, an irgendwelche Auffälligkeiten erinnern. Die vier einheimischen Mitarbeiter des deutschen Konzerns seien absolut glaubhaft und souverän aufgetreten. Im Übrigen habe man während der dreijährigen Planungs-, Fertigungs- und Montagephase, in der ThyssenKrupp Elevator für den Einbau von über 40 verschiedenen Anlagen im gesamten Gebäude verantwortlich gewesen war, stets ausgesprochen gute Erfahrungen mit den Mitarbeitern des Unternehmens gesammelt. Ja, der Publikumsverkehr sei an jenem frühen Morgen vielleicht etwas stärker gewesen, als zu solch nachtschlafender Stunde gemeinhin üblich, was jedoch aufgrund der zahlreichen anstehenden gesellschaftlichen Ereignisse im Haus zu erwarten gewesen sei. Nein, die routinemäßige Sicherheitsüberprüfung sei trotzdem streng vorschriftsmäßig durchgeführt worden. Ja, absolut korrekt und vorschriftsmäßig. Nein, es habe wirklich auch nicht die leisesten Hinweise auf etwaige terroristische Absichten oder Ähnliches gegeben. Selbstverständlich nicht.

Es dauerte keine zwei Minuten, bis die Männer ihren Einsatzort im 94. Stockwerk erreicht hatten. Hier oben befindet sich die knapp 800 Quadratmeter große »Sky Arena«. Hunderte von Metern über den großen Konferenzsälen in den niedrigeren Etagen gelegen, ist diese höchste Veranstaltungsplattform der Welt exklusiven Anlässen wie den festlichen Banketten der chinesischen und internationalen Hautevolee oder der werbewirksamen Präsentation neuer Luxusprodukte vorbehalten. Hier sollten, auf Einladung der Moto Corporation, drei Tage später rund 200 Persönlichkeiten aus der internationalen Politik- und Geschäftswelt zusammenkommen, wenn die Firma ihren Festempfang zu Ehren ihres Präsidenten Minato Moto gab. Dieses Event, das mehr oder weniger zufällig zeitgleich mit der Eröffnung der großen ostasiatischen »New Energy Conference« in den Konferenzräumen viele Etagen tiefer stattfinden sollte, wurde als eines der wichtigsten gesellschaftlichen Großereignisse des Jahres 2012 im World Financial Center gehandelt.

Schließlich war die Moto Corporation für das Shanghai World Financial Center nicht irgendein Unternehmen – sie hatte es gebaut. Elf Jahre nach dem ersten Spatenstich und nach so manchen Problemen und zwischenzeitlichen Unterbrechungen konnte die japanische Firma im Sommer 2008 endlich den erfolgreichen Abschluss der Bauarbeiten vermelden. Die wahren Kosten waren geheim gehalten worden, die Schätzungen reichen von »etwa 875 Millionen« bis »weit über 1,5 Milliarden US-Dollar«. Auf jeden Fall ist das SWFC ein Bauwerk der Superlative. Mit seinen 492 Metern dominiert der schlanke, komplett verspiegelte Turm die spektakuläre Skyline der Pudong New Area: jenes gigantischen Stadtteils aus der Retorte, der seit 1990 in atemberaubender Geschwindigkeit aus dem Boden gestampft worden ist. Wo 20 Jahre zuvor noch sumpfiger Ackergrund war, leben und arbeiten inzwischen mehr als drei Millionen Menschen. Mit dem »Oriental Pearl«-Fernsehturm, dem Jin Mao Tower, der Börse und dem Pudong New International Airport beherbergt Pudong alle neuen Wahrzeichen der wiedererweckten »Stadt über dem Meer« – denn nichts anderes bedeuten die chinesischen Schriftzeichen »Shanghai«. Auch wenn das zeitgleich errichtete »Taipeh 101« auf Chinas »abtrünniger Provinz« Taiwan dem SWFC knapp den Rang abgelaufen hat, ist es immerhin das höchste Haus auf dem ostasiatischen Festland. Die zahlreichen Störungen während der langen Bauphase hatten zum Teil auch politische Gründe – kein Wunder, wenn ausgerechnet ein japanischer Konzern ein chinesisches Bauwunder errichten soll. So hatten die Architekten, um den in knapp 500 Metern Höhe oft starken Winden weniger Angriffsfläche zu bieten, zwischen 93. und 97. Stockwerk ursprünglich einen kreisrunden Durchlass vorgesehen. Doch dieser Entwurf erinnerte vor allem die chinesischen Patrioten fatal an eine aufgehende Sonne. Die japanische Nationalflagge! Nach allerlei wütenden revanchistischen Protesten musste der Entwurf geändert werden. Jetzt krönt ein trapezförmiger Durchlass zwischen 96. und 100. Stockwerk das elegante Gebäude. So kam das Shanghai World Financial Center zu einem wenig charmanten Spitznamen: Flaschenöffner.

Letztendlich hatte die Moto Corporation durch den Riesenbau aber doch ein deutliches Zeichen der japanischen Präsenz auf dem asiatischen Kontinent gesetzt. Ein unübersehbares Zeichen! Und das ließ da und dort alte Wunden erneut aufbrechen, die eigentlich nie so richtig vernarbt waren. Japanische Aktivitäten auf chinesischem Boden hatten für China in der Vergangenheit selten Gutes bedeutet. Nanking war nicht vergessen. Nanking durfte niemals vergessen werden.

Aus Furcht vor terroristischen Attacken – ob nun von nationalistisch-revanchistischer, fundamentalistischer oder anderer Seite – war nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York das Sicherheitskonzept für das in Bau befindliche Gebäude gründlich überdacht und verbessert worden, was entsprechend die Baukosten noch einmal deutlich in die Höhe getrieben hatte. Doch der Mehraufwand hatte sich ausgezahlt: Man war in Shanghai nun überzeugt, mit dem SWFC den sichersten Wolkenkratzer der Welt zu haben.

In den Verhören durch Beamte der chinesischen Geheimpolizei einige Tage später erinnerte sich Facility Manager Herr Shi, dass die Techniker als Erstes eine Telefonverbindung in die stecken gebliebene Aufzugskabine hergestellt hatten. Wenn sie nun erleichtert waren, so ließen sich die vier Männer das mit keiner Miene anmerken. Auch die Stimmen der beiden Eingeschlossenen hätten vor allem ruhig und gefasst geklungen.

Offenbar hatte es einen Kurzschluss gegeben, der das automatische Bremssystem auslöste. Nachdem man sich davon überzeugt hatte, dass für die beiden Hotelgäste in der Kabine keine Gefahr bestand und man sie in wenigen Minuten würde befreien können, bat der Ingenieur, der das Laptop mit sich führte, den Facility Manager höflich, ihn kurz in die Steuerungszentrale im 24. Stock zu begleiten, wo sich auch der zentrale Kontrollraum für die Aufzugsanlagen befindet. Es sei unbedingt erforderlich, die betreffenden Strom- und Anschlusskreise schnellstens auf eventuelle Fehler zu überprüfen – gerade im Hinblick auf die bevorstehenden Großveranstaltungen, zu denen man so viele Gäste erwartete. Dazu ließe es sich leider nicht vermeiden, die beiden nebeneinanderliegenden Aufzugsschächte zwischen dem 79. und 100. Stockwerk für etwa drei Minuten komplett außer Betrieb zu nehmen. Ob sich dies vielleicht rasch und diskret bewerkstelligen ließe? Solch peinliche Pannen wie ein stecken gebliebener Aufzug sollten sich schließlich keinesfalls wiederholen.

Während der intensiven Verhöre sollte sich der Facility Manager auch daran erinnern, dass sich die angeblichen Mitarbeiter des Wartungstrupp untereinander kaum unterhalten hatten. Auch sei kein einziger Name gefallen. Er habe sich auf die Bitte des IT-Spezialisten hin mit ihm nach unten begeben und könne daher keine genaueren Aussagen über die Arbeiten machen, die die Mechatroniker während seiner Abwesenheit am Aufzug erledigt hatten. Soviel er wisse, sei auch keiner der Wachmänner direkt vor Ort gewesen. Und als er hinterher das Ergebnis ihrer Tätigkeit inspiziert habe, war alles bereits wieder wunschgemäß instand gesetzt. Nur als es den drei Mechatronikern gelungen war, über die Notausstiegsluke der Fahrstuhlkabine zu den Eingeschlossenen vorzudringen, habe es einen kurzen telefonischen Kontakt gegeben. Außerdem habe der IT-Spezialist, sobald er sein Laptop im Kontrollzentrum verkabelt hatte, seine drei Kollegen knapp darüber informiert, dass nun die Energiezufuhr für die abgesprochenen drei Minuten unterbrochen werde, damit er sein Fehlerdiagnoseprogramm durchführen könne. Bald darauf hätten sie sich beide gemeinsam wieder auf den Rückweg in den 94. Stock gemacht. Ja, bei den beiden Befreiten habe er sich persönlich entschuldigt. Das seien sehr höfliche und verständnisvolle Männer gewesen, die sich nach dem Schock zu ungastlicher Stunde verständlicherweise rasch auf ihre jeweiligen Zimmer zurückgezogen hätten. Was sie mitten in der Nacht mit ihren grauen Anzügen und schwarzen Köfferchen, die sie wie Vertreter aussehen ließen, ausgerechnet im Stockwerk über der höchsten Hoteletage zu schaffen gehabt hatten, habe er sie nicht gefragt. Er habe sich auch keine Gedanken darüber gemacht. Nein, es habe keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die beiden Männer im Fahrstuhl und die vier von der Wartungstruppe sich bereits gekannt haben könnten.

Von den Ergebnissen des Abschlussberichts der chinesischen Polizei wurden zweifellos nicht alle Details an die Öffentlichkeit weitergegeben. Möglicherweise hatten die beiden Männer im Fahrstuhl einen speziell manipulierten Elektroschocker benutzt, um den entscheidenden Kurzschluss auszulösen, der das automatische Bremssystem des Aufzugs aktiviert und die Elektrik des Fahrstuhlschachtes lahmgelegt hatte. Das Gerät könnten sie, zusammen mit den Sprengkörpern, leicht in ihren Musterkoffern transportiert haben. Fest steht, dass die vier etwa handtellergroßen Haftminen, mit denen die Aufzüge bestückt wurden, jeweils mit einem starken Magneten sowie einem kleinen Funkempfänger versehen waren, über den die Zündung ausgelöst werden konnte. Weniger Klarheit herrscht hinsichtlich der Frage, wie die Männer die Zünder am oberen Rand der Laufschienen der Fahrstuhltüren im 94. Stockwerk angebracht hatten. Und zwar in beiden Fahrstuhlschächten. Möglicherweise hatten sie die drei Minuten, in denen der Facility Manager auf Bitten des IT-Spezialisten die Fahrstühle außer Betrieb genommen hatte, dazu genutzt, um von dem einen Schacht in den danebengelegenen zweiten zu gelangen. Um an den Verstrebungen der Wände hinüberzuklettern, bedurfte es allerdings eines außerordentlich geschickten, durchtrainierten und minutiös vorbereiteten Mannes, der gewillt war, eine nicht nur lebensgefährliche, sondern offenbar auch recht schmerzhafte Kletterpartie auf sich zu nehmen – dass sich an den messerscharfen Kanten einer der weniger stark zerstörten Querstreben Spuren von Blut entdecken ließen, sprach jedenfalls für die Richtigkeit dieser nicht unumstrittenen Hypothese.

Alle etwaigen weiteren Erkenntnisse halten die chinesischen Behörden nach wie vor unter Verschluss. So ist zum Beispiel völlig unbekannt, was aus den vier chinesischen ThyssenKrupp-Mitarbeitern geworden ist. Ein wenig mehr weiß man über das mysteriöse Verschwinden der beiden aus dem Fahrstuhl befreiten Hotelgäste: Es handelte sich um zwei Japaner, die noch am gleichen Tag ausgecheckt hatten und in ihr Heimatland zurückgeflogen waren. Offenbar waren sie unter falschen Namen im Park Hyatt abgestiegen, denn beim Versuch weiterer Ermittlungen in Japan verlor sich schon bald ihre Spur.

Erster Teil

Die Sendung