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autonome L.U.P.U.S.-Gruppe

Die Hunde bellen …

Von A bis RZ

Eine Zeitreise durch die 68er Revolte und die militanten Kämpfe der 70er bis 90er Jahre

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© UNRAST-Verlag, Münster, 2001
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Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)
Umschlag: Guido Blum, digidada, Bad Kreuznach
Satz: UNRAST-Verlag, Münster

Inhalt

Einleitung

Ein Staatsbegräbnis für ›68‹ oder Ihr Scheitern als Erfolgsstory

Ein Streifzug durch die Frankfurter Geschichte Anfang der 70er Jahre

Die verlorene Hoffnung auf Sieg

Der Angriff des Kommandos der ›Bewegung der arabischen Revolution‹ auf die OPEC-Konferenz in Wien 1975

Wege und Irrwege

Die verlorene Unschuld – zum Teufel mit den Opfern

»Die letzte Schlacht gewinnen wir …«

Steine, Kugeln – und alles andere als ein Gedicht

Down by law – Im Hause staatlicher Kronzeugen-Präparateure?

Joschka Fischer als Zeuge vor Gericht

Offener Brief an Joschka Fischer

Interview mit dem ehemaligen RZ-Mitglied Gerd Schnepel

Eine Start- und Landebahn für den militanten Widerstand?

Zwischen Selbstauflösung und Neubestimmung militanter Politik

Tod eines Märchenprinzen

Von der Militanz der Angst

Diskussionspapier anläßlich der Gerichtsprozesse gegen die Revolutionären Zellen/Rote Zora

Offener Brief ehemaliger Bekannter an den für die Bundesanwaltschaft tätigen Kronzeugen Tarek Mousli

Chronologie von 1970-2001

Einleitung

Es müßte so Anfang der 80er Jahre gewesen sein. Eines Tages rief mich ein Freund aus Berlin an und fragte, ob zwei Genossen bei uns für 2 Wochen schlafen könnten. Sie hätten in der Nähe von Frankfurt eine Fortbildung in Fotosatz und suchten deshalb eine Übernachtungsmöglichkeit.

»Prinzipiell habe ich nichts dagegen. Aber weißt Du, mit Berliner Genossen habe ich in letzter Zeit verdammt schlechte Erfahrungen gemacht und keine Lust auf Wiederholungen.«

»Wie meinst Du das?«

»Na ja, sie kommen von wo weiß ich her, nehmen alles mit einer wortlosen, arroganten Selbstverständlichkeit in Anspruch, rauschen mit einem milden Lächeln ab und wir dürfen den Dreck wegmachen. Solche Auftritte kann ich mir ersparen. Also wenn die ne’ Putzhilfe mitbringen, bin ich einverstanden.«

Ein paar Wochen später kamen sie ohne Putzhilfe. Sie fragten jeden Tag, ob jemand abends zum Essen da ist, kochten, deckten den Tisch, spülten ab, räumten auf. So oft, so regelmäßig, daß ich mir mit meinen Vorwürfen ziemlich blöd vorkam und mich über diesen geliehenen WG-Alltag freute, den wir allein kaum noch hingekommen haben. Ich war richtig traurig, als sie nach 2 Wochen zurück nach Berlin fuhren und mich zurückließen – mit meiner Inkonsequenz und meinem Aushaltevermögen.

Mit Tarek verband mich von da ab eine Freundschaft, die für mich in dieser Intensität recht ungewöhnlich war. So ein bißchen was wie ›Liebe auf den ersten Blick‹. Ich mochte seine Art, ich genoß seine Ruhe, seine Souveränität, die sich nicht zur Schau stellte, sondern mit Bescheidenheit wirkte. Ich mochte ihn als Mann und seine großen, klaren Augen.

Mit der Zeit unserer Freundschaft wuchs auch das Vertrauen. Wir warfen damit nicht herum. Als ich ihn in Berlin die ersten Male besuchte, lebte er in einer 1 ½ Zimmer-Wohnung am Bethaniendamm, direkt mit Blick über die Mauer. Die Tür zu einem kleineren Zimmer blieb immer zu. Damals fiel mir das nicht auf und Tarek machte mich auch nicht durch geheimnisvolle Andeutungen neugierig. Sie blieb einfach verschlossen.

Bei unseren Besuchen sprachen wir oft über Demo-Erfahrungen. Für uns beide waren Demonstrationen ein wichtiger Bestandteil unseres politischen Alltags – und es gab in dieser Zeit viele, davon einige große und ab und an sogar erfolgreiche. Und so rankten sich immer wieder Gedanken und Überlegungen darum, wie man aus schlechten Erfahrungen lernen kann. Zwangsläufig kamen wir auf Zivile, auf Observationen und Abhörmethoden (Telefon, Wanzen etc.) zu sprechen. Was kann man dagegen tun? Welche technischen Möglichkeiten gibt es, sich davor zu schützen?

Es dürfte in dieser Zeit gewesen sein, als eine Hamburger Gruppe eine Broschüre von über 100 Seiten veröffentlichte, in der bis ins Details offengelegt wurde, was die politische Polizei, der Verfassungsschutz mit einigem Aufwand (›zivile‹ Einsatzwagen und -kräfte, Anmietung von ›normalen‹ Wohnungen, Sprachverschleierung, Zerhacker beim Funkverkehr … ) zu verdecken suchten: offene und verdeckte Observationsmethoden, Ausforschung von politischen Projekten und besetzten Häusern, Beschattung von ausgemachten Zielpersonen (ZP), Einsatz von Richtmikrofonen und anderen technischen Lauschmitteln zum Erfassung von Gesprächen, Diskussionen etc. Diese Broschüre dokumentierte über 1 ½ Jahre Fleißarbeit: die Fahrzeugnummern von zivilen Einsatzkräften, die Gesichter von zivilen Fahndern, die Frequenzen der Bereitschaftspolizei, des Staatsschutzes und Verfassungsschutzes in allen Einzelheiten … und eine ganze Portion fachliches Grundwissen für NeueinsteigerInnen. Diese Broschüre schlug ein – eine Bombe hätte sicherlich weniger Wirkung erzielt: Der gesamte verdeckt arbeitende Apparat des Staatsschutzes mußte umstrukturiert, neu getarnt werden. Ein politischer Erfolg, der zur Nachahmung geradezu ermutigte. So reiften in unserer Gruppe die Überlegungen heran, diesem Beispiel zu folgen. Wir besorgten uns für viel Geld einen Scanner im Ausland, da der Verkauf zu dieser Zeit in der BRD verboten war. Wir kauften uns Funkgeräte, überlegten, wie wir das kontinuierlich bewerkstelligen können und streckten die Fühler nach Leuten und Gruppen aus, die auf diesem Gebiet bereits Ahnung und wenn möglich Erfahrungen hatten.

All das floß auch in unsere Gespräche immer wieder ein, verdichtete sich von Mal zu Mal, von allgemeinen Andeutungen hin zu praktischen Hinweisen. Irgendwann schloß Tarek die Tür zu dem kleineren Zimmer auf. Auf einem Tisch waren mehrere Scanner aufgebaut, mit Aufzeichnungsgeräten verbunden. Dazwischen waren Schaltungen eingefügt, die die Kassettenrecorder erst dann in Gang setzten, wenn es tatsächlich zu einem Funkverkehr kam.

Wenn ich in der Folgezeit immer wieder auf dieses Wissen zurückgriff, Fragen hatte oder um Tips bat, dann hatte ich nie das Gefühl, daß sich Tarek in diesem Wissen sonnte und mich das fühlen ließ. Er machte es mit einer Selbstverständlichkeit, die ich an ihm schätzte, ohne das konspirative Gehabe, das so viele an den Tag legten, die nichts zu verbergen hatten.

So richtig er es mit dem Polizeifunk machte, so richtig machte er Karate. Wenn mich meine Erinnerungen nicht trügen, dann trainierte er damals 5x in der Woche. Während ich Gürtelprüfungen ablehnte, dürfte er damals bereits den schwarzen Gürtel getragen haben.

Wir kochten gerade, in seiner spartanisch eingerichteten Wohnung, als ich auf eine Dose Proteine stieß. Ich holte sie vom Regal herunter und fragte Tarek erstaunt: »Nimmst Du so ein Zeug?«- »Ja, das geht nicht anders, wenn du 5 x in der Woche trainierst. Soviel Proteine, wie ich brauche, produziert der Körper nicht selbst.« Ich fand’s merkwürdig, dachte an Spitzensportler, und daß mann es nicht übertreiben muß – und stellte die halbleere Dose Proteine wieder ins Regal.

Tarek beherrschte nicht nur ›handwerkliche‹ Fähigkeiten, die ich schätzte, wenn man nicht bei der Theorie und klugen Einsichten stehen bleiben wollte. Ich teilte mit ihm die Lust, autonome Benimm-Regeln in Frage zu stellen. Ich kann mich noch gut an die Aufregung erinnern, die eine szene-interne Einladung zu einer beach-party in einem besetzten Haus auslöste, wo mittlerweile Tarek wohnte: »Vergessen Sie nicht Ihr Sonnenöl. Benutzen Sie die bereitgestellten Strohhalme. Das Nacktbaden ist nicht untersagt. Die Pärchen werden gebeten, sich nicht allzu offensichtlich als solche zu erkennen zugeben. Für liegengebliebene Handtücher kann keine Haftung übernommen werden.« Es gab Sekt, Cocktails und den gesamten Flair dekadenten Strandlebens. Mit verschämt-erregter Stimme wurde sogar erzählt, daß einige Frauen – auf jener Party Ende August 1986 – barbusig herumliefen. Ein Skandal, an dem Tarek mit Freude beteiligt war.

Am 12.3.1988 fand in Berlin, im Mehringhof/Ex eine Startbahnveranstaltung statt. Wir wurden eingeladen, dort über die Ereignisse und den Stand der Auseinandersetzungen nach den ›Schüssen‹ am 2.11.87 zu berichten. Der Veranstaltungsraum war mit über 500 BesucherInnen, und ziemlich unterschiedlichen Erwartungen und Befürchtungen gefüllt. Unsere Position hatten wir bereits auf einem Teach-in am 19.11.87 in Frankfurt deutlich gemacht: »Wir waren so überrascht von den Schüssen wie die Polizei. Die Schüsse sind keine Konsequenz unseres militanten Widerstandes, sie stellen für uns einen Bruch, eine Mißachtung eines gemeinsam beschlossenen Konzeptes dar. Gerade weil wir an jede Form militanten Widerstandes ein hohes Maß an Eigenverantwortung und kollektiver Verantwortung stellen, sind die Schüsse aus einer Demonstration heraus auch Schüsse gegen unseren Anspruch auf Zielgerichtetheit und vor allem Berechenbarkeit gegenüber allen, mit denen wir Widerstand leisten.«

Die Sorge, daß unsere Position zwischen Bekenntnisse für und gegen ›revolutionäre Gewalt‹ zerrieben wird, erfüllte sich nicht. Bis heute habe ich eine Konzentration, Ernsthaftigkeit und Stille in Erinnerung, die ich bei solchen Veranstaltungen nur sehr selten erlebt habe.

Tarek wußte von dieser Veranstaltung. So ging ich davon aus, ihn dort zu treffen. Doch er war nicht da. Wir telefonierten tags darauf und verabredeten uns. Er erzählte mir, daß er den Polizeifunk abhörte und mitbekam, daß die Veranstaltung observiert wurde und dabei auch Namen fielen. Besonders überrascht war ich darüber nicht – um so mehr über die Konsequenz, die Tarek daraus zog.

»Es ist besser, wir brechen den Kontakt zueinander ab. Das ist besser für Dich und mich.«

Ich war so perplex, daß ich nicht einmal nach einer Begründung fragte. Das hatte weniger etwas mit unserer Art von Freundschaft zu tun, als mit der Zeit, in die diese Entscheidung fiel. Am 2.11.1987 fielen während einer militanten Nachtaktion rund um die Startbahn West, an der sich ca. 300 StartbahngegenInnen beteiligten, tödliche Schüsse. Noch in derselben Nacht und vor allem in den Tagen und Wochen danach prägten Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und sehr viele Aussagen, die unter dem Druck des Mordvorwurfes gemacht wurden, das Klima im Rhein-Main-Gebiet. Sehr wenige versuchten für eine Bewegung Verantwortung zu übernehmen, die sich – samt Selbstverständnis und Anspruch – fast in Luft auflöste. In dieser Zeit verschwanden so viele – im wahrsten Sinne des Wortes – von der Bildfläche, daß ich dafür gar keine Gefühle aufbringen wollte. Ich hatte weder die Kraft noch Energie dazu. Irgendwo dort legte ich auch die Entscheidung von Tarek ab.

Ich hatte mich schon längst mit diesem jähen Abbruch unserer Beziehung abgefunden, als ich ein paar Jahre später in Kreuzberg durch eine Szene-Kneipe lief, auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen. Meine Augen streiften durch den Raum. Für Bruchteile von Sekunden stockte meine Bewegung: Ich war mir ganz sicher, daß Tarek an einen dieser Tische saß. Zwischen dem Impuls, meinen Augen zu trauen und dem Wissen, daß Tarek unsere Beziehung abgebrochen hat, entschied ich mich für letzteres. Ich ging weiter, versuchte das Gefühl von Feigheit mit einem möglichen Irrtum zu betäuben und verließ die Kneipe.

Im Dezember 1999 bekam ich Post von einer Freundin aus Berlin. Ihrem Brief war ein längerer Zeitungsartikel aus der Berliner Zeitung beigefügt, in dessen Mitte ein Bild plaziert war, wo Polizei-Roboter den Eingang zum Mehringhof abriegelten. Ich überflog den Artikel, in dem die Durchsuchung des Mehringhofes in Zusammenhang mit Ermittlungen gegen die RZ gestellt wurden. Ich legte den Artikel beiseite.

Bereits ein paar Wochen zuvor wurde Rudolf Schindler als angebliches RZ-Mitglied in Frankfurt verhaftet. Laut Pressemitteilungen ging diese Verhaftung auf Belastungen von Hans-Joachim Klein zurück, der diesen verdächtigte, an der OPEC-Aktion im Jahre 1975 beteiligt gewesen zu sein. Nachdem auch andere mit dem Namen Rudolf Schindler nicht das geringste anfangen konnten und sein Rechtsanwalt in einer ersten Stellungnahme von einer Verwechslung sprach, gerieten diese Vorfälle an den Rand meiner Aufmerksamkeit. Den Zeitungsartikel aus Berlin legte ich ebenfalls dort ab.

Kurz vor Sylvester, beim aufräumen, stolperte ich nochmals über diesen Artikel. Dieses Mal las ich ihn aufmerksam, von Anfang bis Ende und traute meinen Augen kaum, als ich auf den Name Tarek Mohamad Ali M. stieß: »In einer groß angelegten Aktion durchsuchten Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes (BKA) und des Bundesgrenzschutzes (BGS) aus Karlsruhe und Wiesbaden … das Gebäude stundenlang nach Waffen und Sprengstoff. Auch das Spezialkommando GSG 9 war im Einsatz. Zuvor waren Sabine Barbara E. in Frankfurt am Main und Axel H. und Harald G. in Berlin in ihren Wohnungen wegen des Verdachts der Mitgliedschaft bei einer terroristischen Vereinigung ›Revolutionäre Zellen/Rote Zora (RZ)‹ festgenommen worden … Bereits Ende November wurde der Berliner Kampfsportlehrer Tarek Mohamad Ali M. unter dem Verdacht festgenommen … Kopf der ›Revolutionären Zellen‹ zu sein.« (Der Tagesspiegel vom 20.12.1999)

Ich lief auf und ab, konnte mit Mohamad und Ali nichts anfangen, suchte in meinen Gedächtnis nach seinem Nachnamen und dachte mir: So viele, die Kampfsport machen und den seltenen Vornamen Tarek tragen gibt es doch nicht. Das muß er sein.

Ein paar Tage später mußte ich die klitzekleine Hoffnung auf eine Verwechslung oder einen Doppelgänger aufgeben. Im ›Focus‹ vom Dezember 1999 war unter der Balkenüberschrift: »Das bürgerliche Leben der RZ-Terroristen: die Chefs der Revolutionären Zellen in Berlin und Frankfurt bauten über Jahre hinweg eine unscheinbare Fassade auf« sein Bild abgedruckt. Kein Zweifel: Das ist Tarek.

Und es kam noch schlimmer. Unter dem reißerischen Aufmacher: »Revolutionäre Plaudertaschen« nannte das Blatt nach dem »Plauderer Nummer eins: der 1998 gefangene Ex-Terrorist Hans-Joachim Klein … den Plauderer Nummer zwei: der Deutsch-Palästinenser Tarek Mohamad Ali Mousli. Der 40-jährige Karatekämpfer – Träger des sechsten Dan und Berliner Verbandstrainer – war am 23. November in Berlin verhaftet worden … packte aus und belastete Schindler und dessen Freundin Eckle (Kampfnamen ›Roxy‹) schwer … Als Kronzeuge der Bundesanwaltschaft legte Mousli ein umfangreiches Geständnis ab und verpfiff 50 Genossen des ›klandestinen Kampfes‹.«

Nein, das kann nicht wahr sein. Das ist eine plump lancierte Lüge. Tarek, ein RZ-Mitglied, ein Verräter und Kronzeuge?

Oder vielleicht doch? Was kann nicht alles in knapp 10 Jahren passieren, was sich mit meinen Erinnerungen nicht vertragen will?

Täuschen mich möglicherweise meine Erinnerungen? Tagelang stöberte ich in meinem Gedächtnis. Ich versuchte mich an Situationen, an Gespräche, an Umstände zu erinnern, in denen – im nachhinein – eine Andeutung stecken könnte, die seine jetzige Haltung, seinen Verrat erklärt.

Es war nichts zu machen: Mit meinen Erfahrungen konnte ich den Verrat nicht erklären.

Und so machte ich mich mit einigen anderen auf die Suche. Wir spannen Fäden, gingen in den Erinnerungen und Nachforschungen weit zurück, stellten Verknüpfungen und Bezüge her, die für unser eigenes politisches Selbstverständnis von Bedeutung waren und sind.

Wir lasen das Buch von Hans-Joachim Klein ›Rückkehr in die Menschlichkeit‹, das wir damals nie gelesen hätten, kramten in RZ-Erklärungen, die wir damals lasen und heute anders verstehen lernten.

Wir besuchten den OPEC-Prozeß, schlossen einige Leerstellen und stießen auf neue Fragen.

Ohne es zu wollen, rekonstruierten wir damit auch einen Teil militanter Geschichte, mit der einige 68er Staat machen wollen, indem sie diese für ›glücklich‹ gescheitert erklären.

Und immer wieder unternahmen wir dabei den Versuch, die Auseinandersetzung mit militanter Geschichte nicht als etwas abzuschließendes, vergangenes zu begreifen, sondern als eine unverzichtbare Notwendigkeit, uns dem zu nähern, was noch kommen soll und muß.

So wurde ein Buch daraus.

Ein Staatsbegräbnis für ›68‹ (*)
oder
Ihr Scheitern als Erfolgsstory

(*) Die Chiffre ›68‹ soll in diesem Text so übernommen werden, wie sie in der veröffentlichen Diskussion verwandt wird: als Zusammenfassung der ›wilden‹ 60er und 70er Jahre, als Assoziationskette, die von studentischen Protesten, Anti-Vietnam-Demonstrationen bis hin zur Ulrike-Meinhof-Demonstration 1976 reicht

The good, the bad and the ugly

The bad

In jedem politischen Strafverfahren wird mehr als Recht gesprochen, wie in dem im Februar 2001 abgeschlossenen OPEC-Prozeß vor dem Landgericht in Frankfurt, wo zwei mutmaßliche RZ-Mitglieder auf der Anklagebank saßen. Dort ging es gleichermaßen darum, die Geschichte militanter, bewaffneter Kämpfe (aus-)zu richten- als »Todestripp« (Joschka Fischer), »gekenntzeichnet von Zynik und Gefühlslosigkeit« (Hans-Joachim Klein), als »Irrweg« (Joschka Fischer), der »eine gerechtere und humanere Welt versprach- und dabei zu Mitteln und Methoden griff, für die ich früher auf die Straße gegangen wäre« (Hans-Joachim Klein).

Lange bevor sich Hans-Joachim Klein als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stellte, hatte er eine Zeichnung des ›Bösen‹ angefertigt. Mit seinem Ausstieg aus der RZ 1976/77 lieferte er ein Bild von ihr und anderen bewaffneten Gruppen, das Grauen auslösen sollte: Er berichtete von angeblichen Mordplänen gegen jüdische Gemeindevorsteher in Berlin und Frankfurt. Er erzählte von Kommando-Mitgliedern, die auf wehrlose Menschen schossen und von Todesdrohungen gegen ihn selbst, der sich davon abwandte und aussteigen wollte. Neben mehreren offenen Briefen erschien 1979 sein Buch ›Rückkehr in die Menschlichkeit‹. Ein Titel, der programmatisch deutlich machen soll, wo das Böse zu Hause ist, wo mann auf keinen Fall Menschlichkeit findet.

Genau so ist auch die Lesehilfe im Geleitwort des Rowohlt-Verlages gehalten: »Klein möchte vor allem jungen Menschen, die aus eigener Isolation, aus Verzweiflung über Ereignisse und Zustände im eigenen Land oder in der Dritten Welt in die Terror-Szene steigen, die Sinnlosigkeit und die Unmenschlichkeit des Lebens in der ›Guerilla‹ vor Augen führen.«

The good

In diesem OPEC-Prozeß wurde nicht nur der »Irrweg« in den Untergrund nachgestellt – mit Hans-Joachim Klein als in sich versunkene, traurig-tragische Hauptfigur. Auf der anderen Seite der Prozeßbühne sollte eine Zeuge auftreten, der auf fabelhafte Weise Um- und Rückkehr verkörpert. Einer, der »am Abgrund entlang balanciert(e)« (Spiegel 2/2001). Einer, der »fast zehn Jahre lang unter Einsatz von Gewalt die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik umstürzen wollte« (Spiegel 32/1998). Einer, der seine Vergangenheit – ohne nach vorne zu schauen – auf den Punkt bringt: »Du wirst selbst so wie der, den du bekämpfst« (Joschka Fischer, Spiegel 2/2001). Einer, der dem ›Bösen‹ so nahe war und gerade deshalb das ›Gute‹ so schätzt, daß er es heute als Minister nach Außen vertritt.

Stakkatohaft wurden dazu Ereignisse und Bilder der 70er Jahre ins Gedächtnis gerufen: ein Polizist aus dem Jahre 1973, der im Zuge einer zerschlagenen Häuserkampf-Demonstration von mehreren Demonstranten verprügelt wird, ein brennendes Polizeiauto aus dem Jahre 1976, das während einer Ulrike Meinhof Demonstration von einem Mollie getroffen wurde, prügelnde Polizisten aus dem Jahre 1976, die gerade einen zu fliehen versuchenden Demonstranten zusammenschlagen. Wie aus dem Nichts taucht das »Gespenst der 70er- die Gegenwart der Vergangenheit« (Spiegel 5/01) auf.

Steckt in dem ›guten‹ Außenminister Joschka Fischer doch noch das ›Böse‹ des Straßenkämpfers? Der Außenminister nimmt Stellung, gibt Interviews, räumt ein und weg, entschuldigt sich und bettet ein, bekennt sich und beweist Läuterung. Dazwischen springt die Tochter von Ulrike Meinhof, Bettina Röhl, herum, deren Andeutungen und Mutmaßungen ebenfalls in den Kreislauf des Frage- und Antwortspieles eingespeist werden.

Es geht nicht um den Außenminister Joschka Fischer – gerade weil einige Rechte als einzigen Grund für einen Rücktritt nur seine militante Vergangenheit in Anschlag bringen können. Es geht auch nicht um den Ex-KB-Kader und heutigen Umweltminister Trittin, dem vorgeworfen wurde, mit ›Mescalero‹ zusammen »klammheimliche Freunde« angesichts des Todes des Generalbundesanwaltes Siegfried Buback empfunden zu haben. Sie sind heute allesamt Kronzeugen eines Staates, der radikale Opposition nicht nur durch Repression, sondern auch kraft seiner Integrationsleistungen ausgeschaltet hat. Was einige Rechte aus macht-politischem Kalkül noch nicht wissen wollen, ist längst gesellschaftlicher Konsens: »Die Rangfolge der Spitzenpolitiker auf der Sympathieskala blieb … fast unverändert. An der Spitze steht nach wie vor Außenminister Joschka Fischer (Grüne), mit dessen Arbeit 69 Prozent (-2) der Bürger zufrieden sind … Offenbar konnte … die Kritik an der militanten Vergangenheit des Außenministers (seine) hohe Reputation nicht beschädigen … Zwei Drittel der Bevölkerung bewerten diese Taten als eine nicht nur im juristischen Sinne verjährte Jugendsünde.« (FR vom 13.1.01). Mehr noch. Will man der ›Infratest dimap‹-Umfrage vom Januar 2001 glauben, so hat sich die 68er Bewegung auch einen respektabler Platz im Bewußtsein der Repräsentativ-Bevölkerung erobert: »Für eine deutliche Mehrheit (59 Prozent) steht die 68er Bewegung für einen gesellschaftlichen Aufbruch zu mehr Demokratie und Offenheit. Nur ein Fünftel (22 Prozent) versteht unter dem Stichwort Gewalt und Auflehnung gegen den Rechtsstaat.« (FR vom 3.2.01)

Warum läßt die etablierte Rechte diese militanten Vergangenheiten nicht ruhen?

Über die NS-Vergangenheiten im Nachkriegsdeutschland wurde parteiübergreifend geschwiegen. Man verleugnete und integrierte sie. Und wenn es gar nicht mehr anders ging, distanziert man sich eben, recht und schlecht.

Ganz anders die 68er aus Politik, Regierung und Kultur. Sie reden nicht nur darüber. Sie wollen auch noch aus ihrem Scheitern eine Erfolgsstory machen. Sie beanspruchen ein pompöses Staatsbegräbnis, in der ›ihre‹ Revolte feierlich zu Grabe getragen wird – damit sie in der geläuterten Gestalt der Zivilgesellschaft wieder ›auferstehen‹ kann. Das kann recht(s) nerven. Den Marsch durch die Institutionen haben diese 68er längst erfolgreich abgeschlossen. Jetzt geht es um die Verstaatlichung des 68er Erbes, um einen respektablen Platz in den deutschen Geschichtsbüchern. Die Zeichen dafür stehen gut – auch wenn die etablierte Rechte dagegen Sturm läuft.

Persönlich haben sich die bekannt gemachten Protagonisten der ›wilden Jahre‹ schon längst versöhnt. Peter Boenisch, Leitartikler der ›Bild‹ und journalistischer Auftraggeber für den Mord(-versuch) an Rudi Dutschke weiß heute um die »beiderseits gewalttätige(n) und hasserfüllte(n) Vergangenheit« und zieht einen Schlußstrich: »Heute entscheiden allein seine diplomatischen Ergebnisse.« (Spiegel 2/2001, S. 37)

Ähnlich versöhnlich kommt der damals verhaßte Frankfurter Polizeipräsident Knut Müller daher. Damals wies er arrogant -lächelnd den Vorwurf der Mißhandlung und der Folter zurück. Heute sagt er lapidar: »Es hat Übergriffe gegeben« (FR vom 13.1.01). Damals ließ er besetzte Häuser nach unzähligen Scheinangriffen, Zermürbungs- und Kriminalisierungsversuchen gewaltsam räumen. Heute schreibt er den Hausbesetzungen der 70er Jahre den Verdienst zu, »daß der Stadtteil erhalten geblieben ist« (FR vom 13.1.01). Städtebaulich im ›Alt erhalten, neu gestalten‹ angekommen, bleibt er, was die notwendige Verteidigung der besetzten Häuser anbelangt, dem damals und heute verpflichtet: »Der Rechtsstaat kann keine Gewalt dulden« (s.o.) – außer der eigenen.

Dieselbe Friedenspfeife raucht Kalli Berkemeier, damals Vorsitzender im Planungsausschuß der Stadtverordnetenversammlung, als er für die Eskalation der Gewalt die Polizei verantwortlich machte: »Die (Polizei) hat zuerst zugeschlagen und danach erst die Putzgruppe. Ansonsten hätte es die nie gegeben.« (FR v. 13.1.01)

Wo so viele Friedenspfeifen geraucht werden, ist höchste Zeit für eine Historisierung. Schließlich stehen die, die sich gegenseitig das (Stich-)Wort geben, nicht mehr unversöhnlich gegenüber, sondern arbeiten gemeinsam an der Ausgestaltung dieser Demokratie und an der Einfriedung und Einbettung der ›68er‹ Revolte in die deutsche Nachkriegsgeschichte.

Dies hat auch sehr schnell die SPD erkannt, die damals in der großen Koalition und später als sozial-liberale Koalition für die 68er Revolte und das, was folgte mitverantwortlich war. Sie stellt das parteipolitische Kalkül, den grünen Mitkonkurrenten ein Bein zu stellen, hinten an. Schließlich geht es darum, dem Phantasma von einer Zivilgesellschaft ein historisches Fundament zu verpassen. Und das geht nicht ohne die 68er Revolte, bzw. das, was man von ihr übrig läßt. Mit Ex-KB und Ex-RK-Mitgliedern in der Regierung, mit einem Ex-KBW-Mitglied im Planungsstab des Außenministeriums erklärt die SPD-Parteizentrale den CDU-Versuch, »Deutungshoheit über wichtige Teile der deutschen Geschichte« zu erlangen, für gescheitert. Denn, so die SPD-Parteistrategen, die Protestgeneration von 68 ist längst »in der Mitte der Gesellschaft angekommen« (FR vom 25.1.01). Deshalb könne die CDU den alten »hegemonialen Diskurs« über den gesellschaftlichen Wert des 68er Protestes nicht gewinnen. Was die einen als »Kulturkampf« (Vize-Präsidentin Antje Vollmar/Grüne) bezeichnen, läßt sich weniger sozial-darwinistisch als Kampf um kulturelle Hegemonie werten. Gramsci läßt grüßen.

Wer die in die 50er aufgegangenen 30er und die in die 90er aufgegangenen 68er bei der Neuverteilung des kulturellen Kapitals stört, der bekommt es mit der Schlagkraft der ›68er‹ zu tun. Jonny Klinke, Ex-RK-Mitglied in den 70er Jahren und heute Chef des bundesweit renommierten Frankfurter Varietés ›Tigerpalast‹, in einem Interview der FR vom 26.1.01: »Peter Boenisch … verteidigt den wertvollen inneren Frieden … Der BKA-Chef der 70er Jahre, Horst Herold, … ist froh, daß wir heute von einer befriedeten Situation ausgehen können … Wer jetzt neuen Haß sät, sollte es sich gut überlegen und vor allen Dingen seine Bibel kennen: Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Das ist keine Drohung.« Und sein Ex-RK-Genosse Mattias Beltz, heute »gleichfalls national gefragter Kabarettist«, assistierte ihm dabei und erklärte, wie er mit linken KritikerInnen der 68er Revision umgeht: »Ich war zu einer Talkshow eingeladen, hab‹ gehört, Jutta Ditfurth ist auch da, und ich habe gesagt, ich setze mich nicht mit Denunzianten an einen Tisch, ich würde das auch mit Christian Schmidt nicht machen«. Ein interessantes Zeugnis aus der neugeschaffenen Mitte, die sich Streitkultur und Zivilgesellschaft auf ihre Deutschland-Fahnen geschrieben haben.

Eine weniger persönliche Variante wurde schließlich beim politischen Aschermittwoch der Grünen in Biberach gefunden: Dort wurde nicht nur der gescheiterte rechte Angriff auf deutsche Geschichtshoheit mit Spott bedacht, sondern auch mit ›Gegen-Aufklärung‹ gedroht. Wenn die Rechte weiterhin in der militanten Geschichte heutiger Staatsdiener bohrt, dann »müßten sich gefälligst auch die erklären, die einst das rassistische Regime in Südafrika hofiert, Diktatoren wie Franco und Pinochet die Aufwartung gemacht und andererseits ›Nelsen Mandela für einen Terroristen gehalten‹ hätten. Ich halte nichts von diesen Debatten. Aber wenn, dann müssen wir dieselben Maßstäbe an alle anlegen« (FR vom 1.3.01).

Daraufhin registrierte die FR »erstmals rhythmischen Beifall«. Und in der Tat, die Staats-Rechte hatte die Drohung verstanden – und wurde Tag für Tag kleinlauter.

Der Kreis derer, die über das Erbgut der 68er streiten durften, war klar umrissen: Er reichte von Peter Boenisch (Bild) bis Thomas Schmidt (FAZ), von Horst Herold (BKA) bis zu Knut Müller (Polizeipräsident). Wer seine militante Geschichte als Jugendsünde, als schick-gebrochene Biographie, als dritten Bildungsweg zur höheren Beamtenlaufbahn begreift, wurde zur Genmanipulation an der 68er Geschichte recht herzlich eingeladen. Verdient haben sie sich allemal gemacht.

And the ugly

Abgesehen von den Eifersüchteleien, wer, wie deutsche Geschichte schreiben darf, blieb ein Problem: die Steine.

Die Steine waren (und sind) nicht aus dem Bild zu kriegen, die brennenden Polizeiautos auch nicht. Manchmal flogen gar Mollies durch’s gepflegte, bereinigte (Geschichts-)Bild. Molotow-Cocktails, die immer wieder zu Irritationen führten. Molotow-Cocktails, die die verstaatlichte 68er eigentlich den Vertretern des »Todestripps« in die Hände gelegt hatten. Doch allein die Erinnerungspolitik sponti-naher Buchautoren ließ diese Art der Waffenschieberei scheitern.

Wohin also mit den ›Steinen‹, wo – bei allen Streitereien – Mitte rechts und Mitte links eines ganz fest zusammenhält: die Unantastbarkeit des staatlichen Gewaltmonopols?

Man könnte meinen: Mitte links und rechts hätten die Steine, die Mollies einfach unter den Tisch fallen lassen können. Wenn da nicht die 68er ›Du darfst‹-Version wäre, in der ›Steine‹ als Moderniserungsbeitrag einfach vorkommen müssen.

Die 68er Legende will es, daß damals die USA einen ungerechten Krieg gegen Vietnam geführt hat, daß damals der Staat mit Notstandsgesetzen jede innere Opposition ausschalten wollte, daß damals die Polizei mit unnötiger Härte gegen Demonstrantinnen vorging, daß damals ein gesellschaftliches Klima der Hetze und Lynchjustiz herrschte, daß deswegen – und jetzt ein letztes Mal – damals Steine fliegen mußten, um dorthin zu kommen, wo zumindest ein kleiner Teil der 68er Generation zufrieden angekommen ist: in der Zivilgesellschaft.

Oder verfassungspatriotisch ausgedrückt: Die ›Steine‹ waren notwendig, um von der Unverhältnismäßigkeit zur Verhältnismäßigkeit staatlicher Gewaltpolitik zu gelangen.

Daß sexistische, rassistische oder neo-faschistische Gewalt der ›Straße‹ seit Gründung der BRD Verständnis bis hin zur offenen Unterstützung von seiten nicht-staatlicher und staatlicher Repräsentanten und Institutionen findet, ist so banal wie normal. Diese greift nicht (essentiell) das staatliche Gewaltmonopol an, sondern exekutiert dieses, stellvertretend und manchmal unpassend.

Daß linke Gewalt genau dies tut, daß revolutionäre Gewalt das in Frage stellt, was mit dem staatlichen Gewaltmonopol geschützt werden soll, daß eine militante Politik nicht nach (ewiger) Herrschaft ruft, sondern ihre Beseitigung anstrebt, wissen all diejenigen, die mit der lächerlichen ›Gewaltfrage‹ rechte und linke Gewalt gleichzusetzen versuchen.

Gerade weil sie sich nicht gleicht, eint Mitte links und rechts gleichermaßen die Sorge, wie man jene ›Steine‹ ein für allemal entsorgt, damit niemand auf die Idee kommt, sie noch einmal aufzunehmen. Denn wer sagt denn, daß ›Steine‹, die damals notwendig waren, nicht heute oder morgen notwendig sind, um die verkrusteten, öden Verhältnisse zum Tanzen zu bringen?

Da hilft auch nicht, daß der Bundestagspräsident Thierse (SPD), um Ausgleich bemüht, als nächsten Außenminister einen Skinhead vorschlägt.

Er hat das Problem nicht begriffen.

Das 68er Erbe im Abklingbecken

Kommen wir zurück auf den Versuch, die Verdienste der 68er an der »Selbstzivilisierung dieser Gesellschaft« auszutaxieren und einzulagern.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD-Entwicklungsministerin) will den »Impetus von Demokratie und Gewaltfreiheit, der mit der 68er-Bewegung verbunden war« (FR v. 16.1.01) anerkannt sehen.

Für Joschka Fischer als Außenminister haben »68 und die Folgen … zu mehr Freiheit in diesem Land geführt und nicht zu weniger Freiheit!« (FR v. 18.1.01)

Gerd Koenen, einst KBW-Funktionär und heute Publizist, versteht unter der Chiffre 68 »im großen und ganzen … eine Erfolgsgeschichte«, die in eine »schrittweise Selbstzivilisierung dieser Gesellschaft« (FR v. 27.1.01) mündete.

Bundestagspräsident Thierse (SPD) will uns sagen, daß »diese 68er Bewegung, die zwar einen Freiheitsimpuls hatte, aber eben nicht nur demokratisch war, doch viel Demokratisierung bewirkt hat.« (FR v. 22.1.01)

Klaus Hartung hat »die Vision von 68 als einer zweiten, nachholenden Gründung der Nachkriegsdemokratie« (Die Zeit v. 25.1.01) und fügt brav hinzu: »Zur Klarstellung: Ich gehörte in jener Zeit zum Berliner SDS und machte später in der Roten Hilfe mit, einer Organisation, in der man sich einbildete, man solle das staatliche Gewaltmonopol angreifen. Heute bin ich froh, daß aus Phrasen keine Wirklichkeit wurde.«

Und bereits erwähnter Varieté-Besitzer Jonny Klinke will endlich Anerkennung dafür, »daß wir die ersten Modernisierer des deutschen Nachkriegskapitalismus waren.« (FR v. 26.1.01)

Das zweite Schweigen

Interessant an diesen Ausdeutungen der Folgen der 68er Revolte sind nicht die verblüffenden Übereinstimmungen in der Sprachregelung. Vielmehr Aufmerksamkeit verdient das konzertierte Schweigen, was das »mehr an Freiheit« heute ausmachen soll, wo genau die Realität von der »schrittweisen Selbstzivilisierung dieser Gesellschaft« zu finden ist. Kein einziger Beitrag, der im Zuge dieser 68er Debatte geschrieben und veröffentlicht wurde, füllt diese Leerstelle auch nur ansatzweise. Statt dessen herrscht konsensuales, überparteiliches Schweigen von CDU bis hin zu den Grünen. So heftig auch innerhalb der neuen und alten Mitte darüber gestritten wird, was in die deutschen Geschichtsbücher Eingang finden darf, so einig sind sie sich in der Weigerung, die Entwicklung der letzten 20 Jahre an dem angeblichen Demokratisierungsschub oder gar »Freiheitsimpuls« der 68er Revolte messen zu lassen.

Ich möchte im folgenden drei Entwicklungslinien der letzten 10, 15 Jahre nachzeichnen, um die Verdrängungsleistungen dieser ZivilgesellschaftlerInnen – zumindest in Ansätzen – deutlich zu machen.

Daß nicht sie diesen Staat verändert haben, sondern der Staat sie, daß die heutige Verfaßtheit von Staat und Gesellschaft ›68‹ geschichtlich nicht überflüssig gemacht hat, sondern von der Geschichte erst noch eingelöst werden muß, darf zwischen jeder Zeile herausgelesen werden.

»Die Brandstifter sitzen (auch) in Bonn«

(Aufruf zur Bundestagsblockade anläßlich der Abschaffung des Asylrechtes 1993)

Seit 1989 zählt das Bundeskriminalamt über 100.000 rassistische Straftaten. Flüchtlingsheime wurden unter aktiver Teilnahme der Bevölkerung angegriffen und angezündet, während die Polizei ›Schichtwechsel‹ machte und Politiker von CDU bis SPD Verständnis für die ›berechtigen Sorgen‹ aufgebrachter Bürger äußerten. An verschiedenen Orten dieser BRD existieren ›national befreite Zonen‹, innerhalb derer alles, was nicht deutsch aussieht, um sein/ihr Leben fürchten muß. Die Zivilgesellschaft schaut(e) zu, legt(e) in Wort und Tat(enlosigkeit) die mörderische Brandspur, der bisher über 50 Menschen zum Opfer fielen. 1993 wurde all dies – mit einer satten 2/3 Mehrheit im Bundestag – in Gesetz gegossen. Die faktischen Abschaffung des Asylrechts und dessen Ausweisung in sogenannte ›sichere Drittländer‹ kann man mit Fug und Recht als Höhepunkt dieses Wechsel- und Zusammenspiels aus Pogromstimmung der ›Straße‹ und staatlichem Rassismus bezeichnen.

Hätte sich eine solche Entwicklung irgend jemand 1968 vorstellen können? Wäre damals ein solcher rassistischer Konsens von unten und oben auf so wenig Widerstand gestoßen?

Wenn in dieser nationalistischen und rassistischen Entwicklung der letzten 10 Jahre irgend etwas aufscheint, dann mit Sicherheit nicht 68, sondern deren absolute Abwesenheit, das fast völlige Verschwinden der Vision von einer befreiten Gesellschaft, in der Hautfarbe, Herkunft, nationale Zuschreibungen keine Rolle mehr spielen. Nicht, weil es die 68er Revolte und die anschließenden sozialen Kämpfe gab, sondern weil sie mit allen Mitteln (weitgehend) wirkungs- und folgenlos gemacht wurde, konnte die Entwicklung mit der sogenannten Wiedervereinigung Deutschlands 1989 seinen ›freien‹ Lauf nehmen.

›Schafft eins, zwei, drei Vietnams‹

(einer von vielen Demonstrationsslogans gegen den US-Krieg in Vietnam)

Ein wesentlicher Anstoß für die 68 Revolte war die Wiederbewaffnung der BRD, die Restaurationsbemühungen des Nachkriegsdeutschland, wieder ein ganz ›normaler‹ imperialistischen Staat zu werden, der seine Interessen weltweit auch militärisch durchzusetzen in der Lage ist. Der Krieg der USA gegen Vietnam, die Ermordung von über 2 Millionen ›ZivilistInnen‹ und über 1 Millionen Vietcong-KämpferInnen, hat ›68‹ die Propaganda des freien Westens von einem Krieg für Freiheit und Demokratie im Mark erschüttert und desavouiert. Die Große Koalition aus CDU und SPD gab diesem imperialistischen Krieg nicht nur politische Rückendeckung, sondern auch logistische. Von deutschen Standorten aus wurde der Luftkrieg gegen Vietnam koordiniert. So galten die Anti-Vietnam-Demonstrationen nicht nur der USA, sondern gleichermaßen einer BRD, die sich anschickte, Zug um Zug an der weltweiten Ausbeutung und Unterdrückung Anteile zurückzugewinnen. ›Schafft eins, zwei, drei Vietnams‹ sollte als Parole die Absicht bekunden, den Kampf des Vietcong gegen Imperialismus und Kolonialismus in die Metropolen hinein zu verlängern, den Imperialismus im eigenen Lande zu bekämpfen. Als (vermeintliche) Lehre aus dem deutschen Faschismus sollte ›Nie wieder Krieg‹ von deutschem Boden aus geführt werden (können).

Die USA verloren diesen Krieg nicht nur militärisch. Sie verloren ihn auch innenpolitisch, im eigenen Land. Das änderte nichts daran, daß die USA (und die BRD) Diktaturen in aller Welt unterstützten und etablierten, Militärputsch organisierten, Unterdrückung und Ausbeutung weltweit aufrechterhielten. Die antiimperialistischen Bewegungen in der BRD setzten sich dazu ins Verhältnis. Sie unterstützten den bewaffneten Befreiungskampf im Trikont – sie bekämpften den wachsenden Militarismus in der BRD (öffentliche Rekrutenvereinigungen, Gelöbnisse). Und einige sahen nicht nur die Zeit für gekommen, sondern auch die Bedingungen dafür gegeben, den bewaffneten Kampf (RAF) in der BRD aufzunehmen, als Teil eines weltweiten Befreiungskampfes.

Währenddessen setzte die BRD konsequent und unbeirrt den Weg zur ›außenpolitischen Normalität‹ fort. Ökonomisch und politisch war und ist sie längst zur Weltmacht aufgestiegen. Es fehlte nur noch der geeignete Ernstfall, um die militärischen Fähigkeiten zur Kriegsführung in Marsch zu setzen. Die letzten 10 Jahre waren deshalb auch davon geprägt, dafür die politischen Rahmenbedingungen (Selbstmandatierung der NATO, Anpassung der NATO-Statuten an das faktische Kriegsbündnis) und die gesellschaftliche Akzeptanz nach innen zu schaffen.

Was Joschka Fischer noch 1994 als Gefahr beschrieb, wurde mit Eintritt der Grünen in die Regierung 1998 außenpolitische Realität:

»Für die Zukunft sehe ich die erhebliche Gefahr, das die Bundesregierung, Koalition und Generalität nach den Gesetzen der Salamitaktik Anlässe suchen und Anlässe schaffen werden, um die Barrieren abzuräumen, die es gegenüber der Außenpolitik des vereinten Deutschland noch gibt. Als Vehikel dienen dabei die Menschenrechts- und Humanitätsfragen.« (›Die Woche‹ vom 30.12.1994)

Es fing mit einem Bundeswehr-Sanitätstrupp in Somalia an, es ging mit der Teilnahme an ›friedenssichernden‹ Maßnahmen der UN weiter. Was die CDU-Regierung unter Kohl lange und geduldig vorbereitete, brachte die rot-grüne Regierung zu Ende: der erste Angriffskrieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg 1999 gegen Jugoslawien.