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Inhalt

du kamst von osten als ich schon im westen war, und ich sehnte mich nach dir, ahnend von dir nur im tiefsten innern, da wo der schmerz und die hölle ist, so tief, das[s] man meinen könnte, dort wäre das herz aus stein.

und ich sah dich in vielerlei gestalt und erkannte dich nicht, als ich dich aber zu erkennen geglaubt, hörte ich auf zu denken, in süßer ruhe gewiegt.

aber ich hatte mein tagewerk noch nicht vollbracht, ich odysseus, und während du, hellena, von paris entführt nach osten entrücktest, wollte ich dich, göttliche, heimführen, aber deine heimat ward längst da, wo du wohnhaft bist. […]

später erkannte ich dich, daß du noch nicht zum süßen spiel mir gehörst, sondern daß ich zurückkehren muß zum anfang in unendlicher irrfahrt, einzig von meinem wissen geführt, das von jedem lager mich auftrieb, damit der vater mir sterben könnte, wenn ich heimkäme, der alte, und du statt des totenhemdes ein freudenfeuer bereiten.

später habe ich dich dann erkannt und in deinem tempel o artemis die ersten stammelnden worte meiner allwissenheit niedergelegt, und dann sah ich dich, dem haupte des gottes gerüstet entsteigen, gründerin der polis, pallas athene, damit ein herd sein und der sohn geboren werde;

aber noch herrschte mangel und so zog ich aus zu weit längerer irrfahrt, bis ich im element, dem wir beide entstammen, dich endlich fand, aphrodite, du schaumgeborene; denkst du, dieses süße spiel des sommers am heiligen meer hätte mich heimgebracht?

zwar fand ich, als ich dich sah, die sprache, die zaghafte wieder, und im tanz schienen wir ganz hervorzutreten; aber noch blieb die zeugung versiegelt, weil ich das rätsel nicht gelöst.

so mußte ich […] eine größere Irrfahrt beginnen als je noch menschen unternahmen, aber langsam wuchs das süße, das wissen mir und die sprache kehrte zurück in ihrer heiligen gestalt und schon sieht mein auge des frühlichts glanz.

und während die tränen, die süßen, mir noch vom antlitz rinnen, um die maske abzuspülen, seit ich die gorgo war, siehe, da erschien mir der seher, und alle kamen und nahmen mich bei der hand um mich zu führen um die sphinx herum.

ängstige dich nicht, ich verweile nur einen augenblick bei meinen freunden, um sie recht zu verstehen, denn nach so langer irrfahrt dürstet mich nach der heimkehr.1› Hinweis

1  Geschichte einer Reise

In den letzten Wochen seines Lebens, als die Medikamente einen stocksteifen und hellsichtigen Greis aus ihm machten, sprach er mit den Lebenden und mit den Toten, und mit allen in einer anderen Sprache. Er war Odysseus und Hölderlin, Marx und Mao, Jesus und Zarathustra, Reich und Einstein. Nach Milliarden Jahren organischen Lebens auf dem Planeten war jetzt in ihm das Sein zu Bewußtsein gekommen. In einer jähen Erleuchtung seines armen Kopfes hatte er die Weltformel erblickt, die Formel des Lebens, und in einer botschaft der weltbefreiungsfront an die völker der welt hatte er sie verkündet. Aber die Presseagenturen, die er anrief, wollten die Botschaft nicht verbreiten.

Schon in München hatten die Freunde ihn für übergeschnappt gehalten, als er mit erhobenen Händen die blauen Orgonenströme aus dem durchstrahlten Azur in sich aufnahm, um die schlechten Einflüsse zu bekämpfen, die ihn, Gudruns alten Mo, immer öfter in einen MODJU verwandelten, ein Monster. Als er Ende Februar 1971 abgeholt und eingeliefert wurde, hatte er gerade einer Genossin ein Bügeleisen auf den Kopf geschlagen, weil sie Teufelshufe trug, und die Wohnungseinrichtung zertrümmert. Auf dem schneebedeckten Hof war er nackt auf den gesplitterten Brettern herumgesprungen, hatte in die erleuchteten Fenster mit den erschrockenen Kindergesichtern Steine geworfen und geschrien, dass er Jesus sei, der Sohn Gottes. Nachher, als Klaus Dörner und Elken Lindquist ihn aus der Hölle von Haar heraus- und in die stille, geschlossene Abteilung nach Eppendorf geholt hatten, erfüllte ihn diese Erinnerung mit brennender Scham.

Aber, wie Wilhelm Reich dem skeptischen Kurt Eissler schon 1952 erklärt hatte, bevor er selbst abgeholt und ins Gefängnis geworfen wurde: Wer von der Peripherie durch die »mittlere Schicht« seines Charakterpanzers hindurchstoßen will, um »zum Zentrum zu gelangen, wo das Natürliche, das Normale, das Gesunde liegt«, der »muß durch die Hölle gehen«. In dieser mittleren Schicht herrschen »Verwirrung, schizophrener Zusammenbruch, melancholische Depression«, und schlimmer: »Schrecken, entsetzlicher Schrecken, nicht nur das – auch Mord«.2› Hinweis

Somit war seine Psychose praktisch die Antwort auf den Bewußtwerdungsprozeß. Sie war der Preis, den jeder zahlen musste, der es wagte, zum Kern der Dinge und des eigenen Ichs vorzustoßen, um endlich den gattungsgeschichtlichen Sprung zu vollbringen und ein »neuer Mensch« zu werden. In seinem »philosophischen tagebuch (1)« notierte Vesper: wenn das gehirn aber seine historische bestimmung erreicht, fließen die ströme auf einem zuckermolekül (vergleichbar den nachrichtensatelliten …) und verlassen die hirnrinde, um in der ganzen, bisher ungenutzten masse der zelle einzuziehen, um sie ewig zu bewohnen. 3› Hinweis

In dieser Zeit, Anfang März 1971, schrieb er aus der Eppendorfer Klinik an den März-Verleger Jörg Schröder, er brauche noch Kohle (wenigstens 2000,–), um das Buch, das politisch immer wichtiger werde, fertig zu machen. Im Ernst: durch diese komische »Krankheit«, die in Wirklichkeit eine Gesundheit ist, habe ich als Schriftsteller einfach ganz neue Qualitäten erhalten, d. h.: die große Übersicht. Ich kann jetzt von einer durchgängig richtigen, materialistischen Gesamttheorie her schreiben, die ich natürlich nicht als Gerippe, sondern mit dem Fleisch der eigenen und der allgemeinen Geschichte servieren will, so wie man in Deutschland seit urlanger Zeit keine Literatur gemacht hat.

Der endgültige Titel sollte jetzt LOGBUCH lauten, nicht HASS oder TRIP, wie früher angekündigt. Und wenn Schröder – dessen Privatspekulation auf meinen Namen er übrigens völlig durchschaue – keinen Scheiß mache und mitziehe, werde es der Messehammer schlechthin.4› Hinweis

»Nachlass einer Generation«

Tatsächlich gilt Bernward Vespers posthumes Fragment DIE REISE mittlerweile als »das schlechthin gültige Buch über Bewußtsein und Entwicklung der deutschen Nachkriegsjugend« (»Der Spiegel«), in dem sich »das kollektive Scheitern jener Generation wider[spiegelt], die Mitte der sechziger Jahre aufbrach, die versteinerte Gesellschaft der westlichen Industriestaaten zu verändern« (»Frankfurter Rundschau«); »ein fürchterliches Buch, und doch das wichtigste, das in diesem (selbst)mörderischen deutschen Jahr [1977] erschienen ist« (»Die Zeit«). Ein Schweizer Rezensent nannte es gar den »Nachlaß einer Generation«5› Hinweis, unwiderlegbar beglaubigt durch den Selbstmord des Verfassers im Mai 1971. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist es in immer neuen Auflagen und Ausgaben erschienen; bis heute zählt es zum Lektürekanon germanistischer Seminare und hat inzwischen seinen festen Platz in der bundesdeutschen Kultur- und Literaturgeschichte gefunden.

Sieht man sich das originale Konvolut der tagebuchartig datierten, eng und randlos beschriebenen, in manischen Schüben zu Papier gebrachten Manuskriptseiten und die begleitenden Mappen voller fliegender Blätter, Karteikarten, Notizhefte, Ausrisse, Zeichnungen und Fotos an, denkt man allerdings eher an eine Flaschenpost. Es ist der lange, täglich fortgesetzte Brief eines Ertrinkenden, Abgleitenden, aus der Zeit Gefallenen, gerichtet an alle und an niemanden.

Dass dieses Fragment überhaupt noch in die Kunstform eines »Romanessays« gebracht und gedruckt worden ist, dass es in der Literaturgeschichte der Bundesrepublik überhaupt einen Autor namens Bernward Vesper gibt und damit (neben den Hinterlassenschaften bei Freunden und Verwandten) auch einen zugänglichen Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, ist das Ergebnis einer fast zufällig wirkenden Verkettung von Umständen. In seinem »Siegfried«-Monolog aus dem Jahr 1972, kurz nach dem Zusammenbruch des März-Verlags, hatte Jörg Schröder noch gesagt: »In den Zeitungen hat man von diesem Selbstmord nichts gelesen … Das Rohmanuskript des ungefähr in der Mitte abgebrochenen Buchs liegt bei mir. Er muss sich umgebracht haben, weil er ahnte, dass es mit diesem Buch nichts wird … [Ich] wäre genauso daran zerbrochen.«6› Hinweis

Schröders Bemühungen, das fragmentarische Manuskript bei anderen Verlagen (Rowohlt, Suhrkamp, Wagenbach) unterzubringen, schlugen fehl: Zu wirr, zu redundant, hieß es; eine unzumutbare Arbeit, diesen Text in eine lesbare Form zu bringen; dazu die absehbaren Scherereien mit all denen, die in diesem Stück schonungsloser Selbstentblößung »vorkamen«. Dass Vesper der Sohn eines völkischen Großdichters und der Ex-Verlobte einer RAF – Terroristin war, war schließlich kein Adelsprädikat. Außerdem war dieser Ex-Kollege als Herausgeber der Kampf- und Bewegungsschriften der »Edition Voltaire« und zum Schluss als ausgeflippter Narkomane ihnen lange genug auf die Nerven gegangen. War sein Selbstmord nicht einfach der Offenbarungseid eines am eigenen Größenwahn Gescheiterten?

So musste erst das Drama von Stammheim mit dem Selbstmord Ulrike Meinhofs (kurz nach dem Hungertod von Holger Meins) sich zu antikem Tragödienformat steigern, damit Jörg Schröder in einem Akt verlegerischer Intuition sich im Sommer 1976 des halb vergessenen und vergilbten Manuskriptpackens in seinem feuchten Landhaus-Keller entsann und es auf sich nahm, nach den beim Verlag vorhandenen Durchschriften selbst eine erste Lesefassung zu erstellen. Im Juli 1977 erschien sie unter dem Titel DIE REISE in der Edition »März bei Zweitausendeins«.

Die ersten Rezensionen waren eher missmutig, der Verkauf lief schleppend – bis die Zuspitzungen des »deutschen Herbstes« das Buch plötzlich in eine ganz andere, tragisch umwitterte Perspektive rückten. Wenn irgendetwas, so schien es, dann musste dieser autobiographische Bericht des ersten Lebensgefährten von Gudrun Ensslin und Sohns des »Nazidichters« Will Vesper Licht in die Vorgeschichte dieser bleiernen Zeit und ihrer Protagonisten werfen. Das Buch wie der frühe Selbstmord seines Autors erschienen nun wie eine metaphorische Vorwegnahme der Ereignisse, die die Republik erschütterten. Damit gewann diese Prosa eine Eindringlichkeit, die sie vorher nicht besessen hatte. Schreiben: Harakiri, ich ziehe meine Gedärme heraus. Dazu die totale ISOLATION. Konfrontiert mit den Tasten, der Walze, der kahlen Wand. Gefängnissituation. 7› Hinweis Auf einmal wirkte der Text wie eine Anrufung aus sämtlichen Verliesen der deutschen Geschichte. So war es fast schon ein Gemeinplatz, als Heinrich Böll Vespers Buch zum Beleg nahm, dass »wir alle … ›Hitler’s Children‹« seien. Damit zitierte er den Titel von Jillian Beckers »Story of the Baader-Meinhof-Gang«, eines internationalen Bestsellers des Jahres 1977.8› Hinweis

Tatsächlich transportierte die griffige Formel »Hitlers Kinder« jedoch vollkommen entgegengesetzte Bedeutungen. Die britische Journalistin und Romanautorin Becker wollte demonstrieren, dass die deutschen Terroristen mit »Nazimethoden« gegen einen Staat ankämpften, der eben nicht mehr faschistisch war, sondern zum ersten Mal eine Demokratie westlichen Zuschnitts, und den sie genau deshalb fanatisch hassten. In der linken und liberalen deutschen Öffentlichkeit dagegen, für die Böll sprach, hatte in den obskuren Selbsttötungen der Stammheimer Gefangenen wie im Fememord an Schleyer eine »unbewältigte deutsche Vergangenheit« ihren Tribut gefordert – wie immer das auch zusammenhing.

DIE REISE jedenfalls avancierte über Nacht zum Generationsdokument par excellence, zu einem prototypischen Kapitel des deutschen Familienromans, worin der rebellische Sohn am faschistischen Vater und der restaurativen Gesellschaft zerbricht und stirbt. Anti-Ödipus, Anno 68.

Erfahrung mal Hass2

Dass es sich bei dieser »Autobiographie« – und als solche hatte Vesper das geplante Buch in seinem ersten Brief an März im September 1969 annonciert – um ein Dokument von unhintergehbarer Authentizität handelt, steht allerdings außer Zweifel. Es stellt eine Art Protokoll oder seismographische Aufzeichnung der Radikalisierungsschübe und Bewusstseinsprozesse ihres Autors in Ist-Zeit dar.* Die Niederschrift setzt im August 1969 ein und endet Anfang Februar 1971. Das war die entscheidende Phase jenes »Roten Jahrzehnts« in der Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, in der die sich auflösende und zugleich stets verbreiternde APO – Bewegung sich in eine Unmenge radikaler Politsekten und utopischer Sozialprojekte verpuppte und einen virulenten Underground terroristischer Gruppen aus sich entband.

* Erst die 1979 von Jörg Schröder mit Hilfe von Klaus Behnken erstellte »Ausgabe letzter Hand« der REISE, in der nicht nur die Überarbeitungen Vespers am ursprünglich eingesandten Manuskript, sondern auch seine Streichungen, begleitenden Notizen, Zusätze zum Text sowie die Varianten sichtbar gemacht werden, bringt diesen Charakter eines Zeitdokuments und Bewusstseinsstroms zur Geltung.

Am Beginn der REISE stehen die halluzinatorischen Eindrücke und Gespräche eines LSD – Trips, den Vesper mit einem amerikanischen Juden in München (!) (bedeutungsvolles Ausrufezeichen im Original) eingenommen hatte. An diesem Text wollte er – so jedenfalls seine Konzeption – unter dem Einfluss neuer Trips und Reisen weiterschreiben, um seine politischen, erotischen und narkotischen Erlebnisse gleichsam »live« festzuhalten, sie mit Erinnerungen an den subtilen Faschismus seiner Jugend auf dem väterlichen Gut Triangel zu konfrontieren und durch historische Reflexionen und Kommentare zum Zeitgeschehen politisch zuzuspitzen.9› Hinweis

Im Prozess des Schreibens bewegte Vesper wie ein Gutteil seiner Freunde und Bekannten sich immer näher hin zur Alternative – oder auch zur Kombination – von Terrorismus und »proletarischer Organisation«. Über ein halbes Jahr war er im Winter 1969/70 verschwunden, und es geht die schweine einen dreck an, was ich gemacht habe. 10› Hinweis So heißt es in einer Aufzeichnung über den bewaffneten kampf, die offenbar den Schluss des Buches bilden sollte.

Dabei schlug schon die erste Seite des Buches einen Grundakkord an, der sich an tragisch-pathetischem Radikalismus schwer überbieten ließ: E = ERFAHRUNG · HASS 2 Das ist unsere Einsteinsche Formel … Die Formel unserer Krankheit und unserer Exzentrizität. Sie wird Zerstörungen zur Folge haben, gegen die Nagasaki und Hiroshima lächerlich erscheinen. Aber ich weiß, daß der Weg, den sie anzeigt, zu unserer Erlösung führt.11› Hinweis Die aus Erfahrung und potenziertem Hass gespeiste Energie (E) der Zerstörung musste schließlich zur Erlösung führen …

Vordergründig ist alles schiere jugendliche und antifaschistische Rebellion: Der Aufstand geschieht gegen diejenigen, die mich zur Sau gemacht haben, … gegen die zwanzig Jahre im Elternhaus, gegen den Vater, die Manipulation, die Verführung, die Vergeudung der Jugend, der Begeisterung, des Elans, der Hoffnung … Denn wie ich sind wir alle betrogen worden, um unsere Träume, um Liebe, Geist, Heiterkeit, ums Ficken, um Hasch und Trip …12› Hinweis Dieser unvermittelte Kontrast romantisierender Begriffe wie »Begeisterung, Elan, Hoffnung« oder »Liebe, Geist, Heiterkeit« mit dem neuen Schockvokabular wie »Ficken, Hasch, Trip« bestimmt das ganze Buch.

Die ihn umgebenden »faschistoiden Deutschen« nahm Vesper nur noch als gesichtslose »vegetables« wahr, und er variierte das in immer neuen Ausbrüchen: Ich hasse diese Deutschen, dieses auf der Straße herumrollende Gemüse (vegetable).13› Hinweis Aus diesem Grunde wollte er das Buch zeitweise HASS nennen. Dazu führte er die deutsche Natur-Mythologie und Gesellschaftsvorstellung an, wonach Auflehnung und Abweichung von der Norm noch stets als »unnatürlich« gegolten hätten. Aber vor allem sollte der Begriff der vegetables die Verstrickung in die Generationenfolge bezeichnen, die Vesper als brutale Determinierung der Persönlichkeit empfand: Die Kindheit legt alles fest … Aber wir reden von »Spontaneität«!14› Hinweis Und an anderer Stelle: Wissen, daß man … aber, Produkt dieses Landes, dieses Systems, nichts Menschliches an sich hat … Als Vegetable besitze ich nicht einmal das Verständnis dessen, was Mensch ist oder sein kann.15› Hinweis

Wer immer sich aus dieser Verkettung, diesem »deutschen Sumpf«, lösen wollte und das etwa mit langen Haaren signalisierte, den sahen diese Gemüts- und Gemüsemenschen genau mit dem Blick an, der eine direkte Verbindung zu Auschwitz herstellt.16 Denn: Wer Haare abschneiden will, will im Grunde Köpfe abschneiden.17› Hinweis So wie sie früher die Juden umgebracht hatten, so würden sie heute – wenn sie nur könnten – ihre eigenen, rebellischen Kinder umbringen.

Der Trip, weit entfernt, Erlösung zu bringen, steigerte diese Gefühle der existenziellen Bedrohung und generationellen Verkettung bis zum Verfolgungswahn. Im HOFGARTENERLEBNIS – der Schlüsselszene – ist Vesper von der Vorstellung besessen, daß ich Hitler war, bis zum Gürtel, daß ich da nicht herauskommen würde, daß es ein Kampf auf Leben und Tod ist, der mein Leben verseucht, seine gottverdammte Existenz hat sich an meine geklebt wie Napalm …, ich muß versuchen, die brennende Flamme zu löschen, aber es ist gar nicht Hitler, es ist mein Vater, es ist meine Kindheit, meine Erfahrung BIN ICH 18› Hinweis

Bernward und Burton

Mit diesen heroisch-verzweifelten Visionen und Tiraden traktiert Vesper seinen Trip-Gefährten Burton, den Sohn eines reichen jüdischen Anwalts aus New York, den er auf der Rückfahrt aus Dubrovnik aufgegabelt und überredet hat, das LSD mit ihm zu teilen. Aber Burton, ein Kind der Woodstock-Generation, der in einer Werbeagentur jobbt und nur einen kleinen Ausflipp hatte nehmen wollen, reagiert auf diese allzu deutschen Geständnisse mit wortkargem Desinteresse und wachsendem Befremden – was Vesper zu umso heftigeren Ausbrüchen gekränkten Selbstmitleids treibt: Ich spürte sehr deutlich die Verlassenheit. Eine Biographie, die sich bestimmt dadurch, den Vegetables zu entrinnen … – und dann erfahren, daß … niemand daran Interesse hat, außer einem selbst.19› Hinweis

Aus der Kränkung wird Wut. Vesper glaubt, Burton wolle ihn in die Enge treiben, ihn mit dieser Stadt, diesem Land, der Beklemmung, der Durchschnittlichkeit in Verbindung bringen, nur um ihn wieder an den Felsen zu fesseln, von dem ich mich gelöst hatte. 20› Hinweis »Ich habe alles geopfert«, stieß ich plötzlich hervor. Burton sah mich erstaunt an. »So? – Was?« Meine Kindheitshölle; meine Freunde-Schweine; meine Eltern-Nazis … Es war mir lieb, wert, teuer, ich litt, heulte. Burton wird es sehen. Er wird trotz aller Beteuerungen meine Schuld festhalten und aus seiner glücklichen Situation heraus … mich in den Sumpf zurückstoßen.21› Hinweis

Eine Fassbinder-Szene: der glückliche Sohn reicher Juden in all seiner überlegenen Ironie und das sich in Schuldkrämpfen windende arme deutsche Fleisch …22› Hinweis Und wie der Schwabinger Filmemacher Jahre später in seinem kokserleuchteten Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod« lässt Vesper auf seinem Trip in entgrenzter Weise ES aus sich sprechen: Diese Stadt muß … dem Erdboden gleichgemacht, der Erdboden muß den Wäldern gleichgemacht werden, alles muß gleichgemacht werden. Die Revolution … ist gerechtfertigt, die Revolution ist kein Deckchensticken. Die Massen werden siegen. Wir werden siegen. Die letzten Tage der USA sind nahe herangekommen. »Wir werden Menschen sein. Wir werden es sein, oder wir werden die Welt dem Erdboden gleichmachen bei unserm Versuch, es zu werden.«23› Hinweis

Wieder ein toller Taumel von Assoziationen, die es in sich haben. München, einst »Hauptstadt der Bewegung«, steht hier für die kapitalistischen Metropolen, gegen die die Völker der Dritten Welt sich erhoben haben. Aber mit den schwarzen und gelben Massen zusammen werden diesmal »wir siegen«. Und dann sind die »letzten Tage der USA«, die zum Hort eines globalen Imperialismus geworden sind, nahe herangekommen. So klingt aus Eldridge Cleavers Gospel der Black Power und Mao Tse-tungs Credo der Weltrevolution als gar nicht so fernes Echo Joseph Goebbels’ deutsches Nihil von 1945 heraus: »Wenn wir abtreten, dann werden wir die Tür so zuschlagen, dass das Weltall wackelt«.

Doch indem ES so aus ihm sprach, war er zum Mörder geworden und hatte das Herz durchstochen, das in der Mitte der Erde schlägt, ein Herz, das Burton gehörte: Israel. Stiegen nicht auch dort Bomber auf, die Napalm auf die braunen Dörfer der Wüste warfen –sowie in Vietnam? Und siehe da, Burtons Gesicht hatte sich verfinstert, er wuchs, der Sohn Israels, wie ein sich entrollendes Farnbüschel über meinen Kopf und schwenkte den Kopf wie eine Schlange. Jetzt waren sie beide nicht mehr nur sie selbst, sondern zwei Völker, die sich den Gott streitig machen –Deutsche und Juden. Burton belauerte mich. Er wartete auf jenen Stoß, auf den er wartete, seit er denken konnte …, der ihn wehleidig machte und kriecherisch und demütig – und doch so gewiß des Sieges, so unbeugsam sicher, sicher seiner Überzeugung …24› Hinweis

Wir Fremde, uns fremd

Diese halb bewusste Versammlung antisemitischer Stereotypen – von den zwei Völkern, die sich Gott streitig machen, von der Schlangennatur der Juden, die den Stoß wehleidig und kriecherisch erwarten und bei alledem immer siegesgewiss und ihrer Überzeugung (sprich: Auserwähltheit) sicher bleiben – wäre weniger irritierend, referierte Vesper nicht gleich im Anschluss jene maßlosen Tiraden seines Vaters, die die Juden in das Zentrum einer apokalyptischen Sicht der gesamten modernen Welt rücken und deren erschreckende sprachliche Wucht und Plastizität er ohne weiteres aus der Erinnerung reproduzieren, geradezu rezitieren kann.

Wir haben die Juden gewarnt … Die Juden haben alles überlebt. Auch die Emigranten sind alle wieder da … Jetzt sitzen sie in Paris und New York und hetzen gegen alles Deutsche … Albert Einstein fordert die totale Rassenmischung, ein weltweites Panama … Hitler ist zum Krieg gezwungen worden, das Weltjudentum hat ihm schon 1933 den Krieg erklärt … Die Asphaltliteraten in Berlin haben durch systematische Hetze alle Werte zu zersetzen versucht. Es waren Juden darunter und Nichtjuden … Die deutsche Frau und Mutter sollte zu einem gelackten, amerikanischen Flittchen werden … Wir haben heute nur die Wahl, mit den Russen kolchosisiert zu werden, oder mit den Amerikanern vertrustet … Unser krankes Volk muß gesunden … Parfümierte französische Romane sind ihm ebenso abträglich wie die zerfasernde Seelenmassage der jüdischen Psychologie … Frankreich, Amerika und England sind schon halb und halb verjudet und mit Marokkanern und Negern durchsetzt … Viele der zersetzenden Dadaisten waren Juden, die mit Lenin in Zürich geheime Absprachen schlossen. Lenin, der mit Recht gesagt hat, wer Berlin hat, hat Europa, und Trotzki hießen eigentlich ganz anders … Es gab keine KZ’s, außer in England und in Südafrika … Die Photos in den KZ’s sind gestellt … Wenn es Tote im KZ gab, dann deswegen, weil die Kapos, die zumeist Kommunisten waren, ein bestialisches Regiment führten … Heute versuchen die Minderwertigen erneut, die Herrschaft zu erlangen … Mehrheit ist Unsinn … Das heimliche Deutschland wird auferstehen. Bis dahin können wir nur für die Wahrheit kämpfen und unsere Pflicht an dem Platz tun, auf den uns das Schicksal gestellt hat.25› Hinweis

Im Unterschied zum lamentierenden Vater vermag der Sohn sich aber aus dem Staub zu erheben. Was war Burton anderes als ein braver jüdischer Junge, der seinen banalen Künstlerträumen nachhing und sich vor dem Trip durch die Hölle fürchtete? Warst Du eifersüchtig auf die Unendlichkeit in mir? … Deine Angst hat mir den Trip verdorben … Du wirst Dich durchschlagen. So groß sind Deine Träume nicht, daß sie sich nicht verwirklichen ließen … Zuletzt haben wir geschwiegen. War es Ungeduld, war es Gleichgültigkeit oder versteckter Haß? … Wir, Fremde in einer fremden Stadt, uns fremd …26› Hinweis

Sie trennen sich fast wortlos – nach einer schäbigen Kabbelei um die »Schulden«, die Burton bei Bernward noch hat und die auf unklare Weise dessen »Schuldgefühlen« korrespondieren. Am Ende gibt Burton ihm 20 Schillinge – und man assoziiert Silberlinge. Ihre Adressen auszutauschen, kommt beiden nicht in den Sinn.

In Vaters Garten

Mit dem Abgang Burtons ist die Bahn bereitet für den erlösenden Traum. Im PEYOTL-MÄRCHEN, nun ganz im Zarathustra-Ton gehalten, ist ICH ein Erleuchteter im Garten, der da bei der Stadt lag. Und ich wußte, daß ich verraten war von allen, die ich liebte, und dass es an der Zeit war zu sterben. Und ich sah im Weiß der Wolke über den Baumkronen den VATER, und ich breitete die Arme aus und kniete im Gras und flüsterte: »Vater, ich bin gekommen, ich bin Jesus!« … Und ich rief: »Warum hast Du mich verlassen.« Doch war dieser Filius kein Opferlamm, sondern ein Jesus der Gewalt, ein moderner Wiedergänger jenes Proleten Jesus …, der vor zweitausend Jahren Gott herausforderte, ohne zu wissen, daß es die Menschen waren, die Gott gemacht und über sich gesetzt hatten als ihren Vater, der sie bedrohte und liebte, der aber unfähig war, seine Liebe zu zeigen. 27› Hinweis

Das war der Moment der Katharsis, auf den der ganze Trip und das HOFGARTENERLEBNIS zuliefen: Ich dachte an meinen Vater und versöhnte mich mit ihm. Er war ein Gefangener in dem Gestänge seiner Illusionen, ein weißer Lichtstrahl verband seine Gestalt mit der Gestalt Adolf Hitlers, seines Führers … Später nahm ich die Axt, die immer am Kopfende seines Bettes stand, und zerschlug diese Achse in nachträglicher Wut.28› Hinweis

Eine Szene von fast penetranter Symbolik: Der Sohn, der jesusgleich für den Vater gelitten hat, nimmt in »nachträglicher Wut« die Axt vom Kopfende seines Bettes – aber nicht, um ihn zu erschlagen, sondern um den Lichtstrahl zu durchtrennen, der diesen mit seinem falschen Abgott Hitler verband. Dann endlich kann er sich mit ihm versöhnen, dem Gottvater seiner Kindheit, der ihn so oft bedroht und gequält hatte und doch nur »unfähig war, seine Liebe zu zeigen« …

Schon diese ersten (und vielleicht eindrucksvollsten) Passagen der REISE verraten, sofern man genau liest, etwas von den Unter- und Gegenströmungen, die den epischen Fluss desperater Anklagen und Erinnerungen begleiten und immer von neuem verwirbeln. Vespers Programm einer literarischen Selbstanalyse, eines »Hand vor Hand«Heraufholen[s] der in den Brunnen gefallenen Kindheit, gibt mehr und ganz anderes preis, als ihm bewusst wird – und gerade dort, wo er die Nabelschnur radikal kappen will, die ihn mit seiner Herkunft verbindet.

Dass diese Kindheitserinnerungen unter dem fortlaufenden Titel EINFACHER BERICHT den gesamten Text immer mehr überwuchern und schließlich dominieren, ist denn auch kein Zufall; so wenig wie die Tatsache, dass sie stilistisch ungleich geschlossener, konventioneller, »heiler« sind als der übrige Text. Sie berichten in kindlich-sinnlicher Weise vom »subtilen Faschismus« der Eltern, von Unterwerfung und Verstoßung, Indoktrination und Abrichtung, aber auch vom Glück der einfachen Dinge, von Trotz und Rebellion wie vom heißen Wunsch nach Anerkennung und Versöhnung.

Das Bild des Vaters, das in diesen Berichten entsteht, ist das eines Tyrannen, dessen Macht weniger auf physischem Zwang oder materieller Einschränkung als auf psychischer Vergewaltigung und geistiger Verführung beruht. Ich wurde nur wenige Male geschlagen. Und diese Schläge hätten nicht ausgereicht, mich den Haß zu lehren … Die unendliche Gemeinheit lag nicht in der offenen Konfrontation …, sondern in den hinterhältigen, langsam aber entsetzlich wirkenden Methoden.29› Hinweis

Mit seiner totalen patriarchalen Präsenz hält Will Vesper die Sippe als verschworene Gemeinschaft auf »Gut Triangel« beieinander, das sich wie eine Festung gegen die Welt da draußen abschottet. In apokalyptischen Tischreden beschwört er den sicheren Zusammenbruch jener Welt des moralischen Verfalls und der geistigen Zersetzung herauf, die im Mai 1945 endgültig über das Deutsche Reich gesiegt hat.

Als Fünfzehnjähriger macht Bernward fanatisch Propaganda für die »Deutsche Reichspartei« und teilt die maßlose Enttäuschung der eklatanten Wahlniederlage 1953. Und selbst als er beginnt, mit seinem Vater über die Lüge von den 6 Millionen ermordeter Juden zu streiten, da geht es anfangs nur um die Klarheit einer gemeinsamen Sache. 30› Hinweis Aber mit der schrittweisen Entfernung vom väterlichen Gut (als Schüler auf sommerlichen Tramp-Fahrten durch ganz Europa, dann mit der Verlagslehre bei Westermann in Braunschweig 1959, schließlich mit dem Weggang zum Studium nach Tübingen im Wintersemester 1960/61) wächst auch die innere Distanz zum Elternhaus. Das ist jedenfalls das Bild, das die REISE vermittelt – und vermitteln möchte.

Im Februar 1962 lernte Bernward Vesper seine Kommilitonin Gudrun Ensslin kennen. Das Cannstatter Pfarrhaus der Ensslins muss ihm als Gegenwelt, aber auch als Gegenstück zum Gutshaus in Triangel erschienen sein. Hier wurde statt des deutschnationalen »Reichsruf« die protestantisch-pazifistische »Stimme der Gemeinde« gelesen, die aus einer völlig anderen, aber ähnlich angewiderten Position den realpolitischen Opportunismus und die amoralische Geschichtsvergessenheit der Bundesbürger geißelte. Gudrun Ensslin, die lange in der evangelischen Jugendarbeit aktiv war, studierte nach einem Gastjahr in den USA in Tübingen Germanistik, Anglistik und Pädagogik. Man traf sich im großen Freitagabend-Kolloquium bei Walter Jens und diskutierte über die alte und die neue deutsche Literatur.

Aber erst der Tod Will Vespers im Frühjahr 1962 bedeutete eine erste Zäsur. Meine Geschichte zerfällt deutlich in zwei Teile. Der eine ist an meinen Vater gebunden, der andre beginnt mit seinem Tod. Als er starb, flüsterte ich ihm noch den Namen ›Gudrun‹ ins Ohr, die ich gerade kennengelernt hatte. Sterbeszene. Ich saß acht Tage an seinem Bett und heulte. So heißt es in einer der frühesten Passagen der REISE. 31› Hinweis

Gudruns Lied

Ein Medium dieser Auseinandersetzung mit seiner Herkunft und biographischen Prägung waren neben allen weltanschaulichen Positionsverschiebungen die Prozesse der lebensweltlichen Entbindung und Radikalisierung. In seinen Notizbüchern spricht Vesper über sein sado-masochistisches verhältnis zu gudrun, das nur die fortsetzung der autoritätsfixierung gewesen sei, und sogar von der übertragung der mutter-(vater-) beziehung auf sie. 32› Hinweis Dagegen seien die Ekstase, der Rausch, die Romantik, der Schmerz (die Ausnahmezustände) … reserviert für die Anderen geblieben.33› Hinweis

Auch davon handelt DIE REISE:von der manischen Suche ihres Helden nach Selbstbefreiung und Selbst(er)findung im Sexus. Für den Spätdeflorierten wird eine entgrenzte Sexualität neben und inmitten der immer weiter getriebenen Politisierung zur ersten und eigentlichen Droge. Was ihn eigentlich umtrieb, blieb ihm unklar: Immer, wenn Du ein Mädchen liebtest, hast du gemerkt, daß Du eigentlich etwas ganz anderes wolltest.34› Hinweis So war, was wie wahllose Promiskuität aussah, immer auch die Jagd nach dem Gral der »wahren Liebe« und nach ihrer Einmaligkeit (Ewigkeit) … – zu deren Qualitäten auch Treue, Ausdauer, Auschließlichkeit gehören35› Hinweis, wie Vesper ja durchaus bewusst war. Gerade diese Qualitäten aber vermochte er niemals aufzubringen – anders als Gudrun, seine »Isolde«, die er verlor, weil er sie verriet: Gudrun war da. Ich konnte immer wieder zu ihr zurückgehen, und sie nahm mich auf, wir liebten uns und: »Immer?« »Ja, immer!« Wunder, daß sie es eines Tages satt hatte und mich heute haßt?36› Hinweis

Mitte Mai 1967 war ihr Sohn Felix zur Welt gekommen, gezeugt aus den Genen zweier Löwen37› Hinweis – ein Wunschkind, das sie enger hätte verbinden sollen. Aber als mit der fortschreitenden Schwangerschaft die Frage einer Heirat auftauchte, verweigerte sich Gudrun Ensslin. Die Rollen begannen sich in raschem Tempo zu verkehren. Und die Erfahrungen des 2. Juni 1967 in Berlin katapultierten beide, wie Zehntausende ihrer Altersgenossen, in einen neuen, »vierten« Zustand der politischen Radikalisierung. Bei einer der Protestaktionen traf Gudrun Ensslin auf Andreas Baader, der gerade aus dem Gefängnis kam, wo er eine Jugendstrafe abgesessen hatte. Seine Aktionsvorschläge übertrafen die aller anderen an Radikalität. Er wird der Mann ihres Lebens – für zehn Jahre, bis der Tod sie scheidet.

Der Trip in den Terror, der mit der Frankfurter Kaufhausbrandstiftung im April 1968 scheinbar spielerisch begann, bedeutete für Ensslin wie für Baader die Trennung von ihren Kindern – wie sich herausstellte, für immer. In ihrer lebensgeschichtlichen Verbindung war dafür kein Platz. apokalyptische vision vom endkampf – dieser unmaterialistischen annahme wurde felix geopfert38› Hinweis, heißt es in einer späten Notiz Vespers, die Gudrun als eine Medea der Revolution zeichnete, oder eben als jene Sphinx, die er als eingebildeter blinder Sänger in den letzten Wochen seiner Eppendorfer »Haft« immer wieder anrief.

Aber auch er hatte das Kind, als er auf seine REISE ging, bei Pflegeeltern abgeliefert. Doch inmitten seiner Canetti’schen »Blendung« im Münchner Hofgarten erscheint ihm FELIX, die kleine Sonne, und wird der Wunsch übermächtig, ihn zurückzuholen. So ist DIE REISE auch eine odysseeische Rückkehr zum verlorenen Sohn. Felix, so hofft er, werde das Instrument sein, das mir meine eigene Geschichte erschließt. Und aus dem Buch, das er schreiben will, soll der Sohn einmal erkennen, wer sein Vater war: Es gibt einen Leser dieses Buches. Felix … Mein Vater hatte Millionen Leser. Aber für mich sind seine Bücher vollkommen uninteressant, denn sie sagen nichts über ihn, was man nicht aus seiner ›schematischen‹ Existenz selbst ableiten könnte.39› Hinweis

Dem wiedergefundenen, dann wieder verlorenen Sohn ist DIE REISE denn auch gewidmet – und zugleich Gudrun, deren radikale Lossagung von ihm und ihrem gemeinsamen Kind er niemals verwunden hat und die (spätestens mit der Baader-Befreiung im Mai 1970) in den bewaffneten Untergrund gegangen war. Sie ist auf ihrem Trip, und falls sie heute mit Haß oder Verachtung auf diese Zeit blickte, hieße das nur, daß sie mit Haß und Verachtung auf sich selbst blickte.40› Hinweis

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Bernward Vesper bei seinem letzten Besuch im März Verlag, Anfang Februar 1971

2  Liebe, Traum und Tod

Dass der »schonungslose Autobiographismus« der REISE auch ein Generationsgestus war und nicht einfach wörtlich zu nehmen ist; dass es sich vielmehr um eine stark ideologisierte Darstellung des eigenen Bildungs- und Werdegangs handelt, die in vielem Züge einer Rückerfindung der eigenen Biographie trägt; dass es in dieser Geschichte nicht nur Ausblendungen und Auslassungen, sondern – wie in der geschilderten Konfrontation mit Burton – einen unbewussten Subtext gibt, war bald nach den ersten Lektüren des Buches klar.

Schon bei der Arbeit an der »Ausgabe letzter Hand« und zu einem komparativen Ergänzungsband zur REISE (dessen Publikation dann unterblieb) war Jörg Schröder 1979 im »Triangeler Nachlass« Vespers auf einen ganzen Untergrund deutschnationaler Texte und Korrespondenzen gestoßen, die über den Rahmen einer Jugend in Deutschland in den Fünfzigern weit hinausgingen und mit dem Tod des Vaters 1962 keineswegs abbrachen. Auch über eine aktive Mitwirkung Gudrun Ensslins bei der Vesper’schen Traditionspflege ist hier und dort schon gemunkelt worden. Aber niemand ist dieser Geschichte so weit nachgegangen, dass mehr herausgekommen wäre als linkes bis liberales Kopfschütteln oder literarisch-feuilletonistische Betrachtungen allgemeiner Art.41› Hinweis

Dabei wird die Geschichte Vespers in diesen diffusen biographischen Überschneidungszonen der frühen sechziger Jahre mentalitätsgeschichtlich überhaupt interessant. Erst wenn man die REISE auch im Sinn forcierter Rück- und Neuerfindungen liest und dechiffriert; wenn man den Text mit dem Material aus dem Nachlass des Autors unterlegt und konfrontiert, das Jörg Schröder und Barbara Kalender in den achtziger und neunziger Jahren als »Triangeler Nachlass« und »Eppendorfer Nachlass« im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (als Teil des März-Archivs) deponiert haben; und wenn man schließlich mit Personen spricht, die ihn und seine Gudrun / Isolde damals gekannt haben und die als Freunde, als Geliebte oder als Angehörige noch über andere persönliche Materialien oder Informationen verfügen, als in den Archiven zu finden sind – kurzum, erst wenn man tiefer in den Brunnen dieser beiden exemplarischen Biographien hinabsteigt, bis als drittes, sprengendes Element schließlich die Anarchenfigur des Andreas Baader auf den Plan tritt, führt diese Reise ins Herz des deutschen Familienromans.

Frühes aus dem Sekretariat

Gezielte Bohrungen im Massiv des Vesper’schen Nachlasses in Marbach, wie sie dank des sorgfältigen Inventars des März-Archivs seit einigen Jahren möglich sind, ergeben sehr bald recht verblüffende Ergebnisse. So übersendet zum Beispiel am 11. September 1963 gudrun ensslin, 7 stuttgart-cannstatt, wiesbadener str. 76 (unter einem Briefkopf in modischer Kleinschreibung) der Zeitschrift »Das deutsche Wort« in Köln ein zweiseitiges Manuskript mit dem Titel: »Liebe Traum und Tod. Zum ersten Band der Gesamtausgabe der Will-Vesper-Werke – Eine Aufgabe für das nationale Deutschland«. Der Artikel kündigt an, dass der »mutige junge Verlag Dr. Bertl Petrei, Maria-Rain / Kärnten« rechtzeitig zur Buchmesse den ersten Band einer Gesamtausgabe der Werke Will Vespers vorgelegt habe, die Sammlung seiner Novellen – »ein Genuß für jeden, der sich durch modische Experimente und allzu grüblerische Haltung mancher modernen Autoren noch nicht den Genuß am Erzählten, an der Geschichte selbst, am spannenden Stoff hat nehmen lassen«. Die geplante siebenbändige Werkausgabe habe zum Ziel, einen Verfemten, der »mit vielen seiner Zeitgenossen das Schicksal des Vergessenwerdens« teilen musste, wenigstens posthum einer neuen, jungen Generation wieder zugänglich zu machen, »die sich erst langsam einen Weg aus der Tagesmode zur deutschen Literatur gebahnt hat«.

Will Vesper, heißt es weiter, habe sich im Laufe der zwanziger Jahre der politischen Rechten genähert und »wurde Nationalsozialist, nicht ohne seine Meinung auch in der Zeit des Dritten Reiches offen zu sagen«. Aber »als die Zeitumstände ihm eine freie Arbeit nicht mehr gestatteten, [kehrte er] auf den Acker zurück, von dem er, der Bauernsohn, der seine ersten Gedichte hinter dem Pflug schrieb, gekommen war«. Auch nach dem Krieg habe er in stiller Zurückgezogenheit auf seinem Moorgut Triangel bei Hannover gelebt, »nur von Zeit zu Zeit in Privatdrucken seine Freunde mit neuen Arbeiten beschenkend«. Jetzt, nach seinem Tod, sei »die Zeit gekommen, wo sich das lesende Publikum wieder auf ihn besinnt«.42› Hinweis

Die 23-jährige Gudrun Ensslin als Souffleuse des »nationalen Deutschland« und Anwältin einer »modischen Experimenten« und »allzu grüblerischen Haltung« abholden, volkstümelnden Literatur? Wir werden sehen. Vieles spricht dafür, dass der Text von Bernward Vesper stammte. Aber verbürgt ist auch, dass Gudrun Ensslin mit ihrem Verlobten in spe und seinen vielseitigen Karriereplänen als Verleger, Schriftsteller und Publizist vollkommen identifiziert war und selbst an ihnen teilhaben wollte. Neben ihren Studien entwickelten die beiden, seit sie im Frühjahr 1962 ein Paar geworden waren, eine schier unheimliche Betriebsamkeit. In dem Dutzend Ordnern mit Korrespondenzen der Jahre 1961– 65 dominieren maschinenschriftliche Briefe mit den Diktatzeichen »ens«, »sek« oder »E.« – Kürzel für Gudrun Ensslin, die in diesem Vesper’schen Gesamt-Unternehmen die Funktion des Sekretariats innehatte (wie ein Jahrzehnt später im Infosystem der RAF – Gefangenen auch).

Alte Dichtung + neue literatur

Tatsächlich schmiedeten die beiden neben der Herausgabe der Werke Will Vespers auch schon ganz andere Pläne. Im Februar 1963 suchte ein »studentischer arbeitskreis für neue literatur« per Annonce im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels »für seine publikationsfolge ›seria nova‹ (prosa, lyrik, grafik, polemik)« einen Verleger.43› Hinweis Die ersten Vorhaben waren: ein Band mit Gedichten des modernen spanischen Lyrikers Gerardo Diego, die Vesper nach einer Rohübersetzung selbst ins Deutsche übertrug, sowie eine Grafikreihe »Wider die Dummheit und den Krieg«.44› Hinweis

Zur Vorgeschichte dieser ambitionierten Gründung dürfte im Übrigen auch ein Brief des Suhrkamp-Lektors Walter Boehlich vom November 1962 gehören, worin es recht amüsiert heißt: »Sehr geehrter Herr Vesper, was immer Sie über unsere Pläne gehört haben mögen: die Neruda-Rechte sind nicht frei«.45› Hinweis Offensichtlich hatte Vesper den poetus laureatus des Weltkommunismus und späteren Nobelpreisträger Pablo Neruda ins Programm nehmen wollen.

Binnen eines Jahres wurde aus dem Arbeitskreis ein agiler Kleinverlag namens »studio neue literatur«, dessen Angebote zur Subskription genau jenem Programm »modischer Experimente und allzu grüblerischer Haltung« folgten, das die beiden in ihren Will-Vesper-Werbetexten zur gleichen Zeit so beredt geißelten. Andererseits war die Namensgebung »neue literatur« irritierend: Zwar hatte es einen von Kurt Wolff herausgegebenen Almanach dieses Titels im Jahr 1916 gegeben. Aber »Neue Literatur« hieß auch die Zeitschrift, die Will Vesper in den dreißiger Jahren geleitet hatte, worin er eine völkisch bereinigte und »entjudete« Nationalliteratur eines nationalsozialistischen Dritten Reiches propagierte.

Das »studio neue literatur« dagegen feierte seinen Einstand im Sommer 1964 mit einer Anthologie »Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe«. Der bibliophil aufgemachte Band versammelte Lyrik, Prosa, Essays und Reden von gut dreißig namhaften deutschsprachigen Autoren, sowohl aus der DDR (Anna Seghers, Stephan Hermlin, Peter Huchel, Arnold Zweig) wie aus der Bundesrepublik, aus Österreich und den Ländern der Emigration. Die Auswahl der Namen und Texte tendierte bereits deutlich nach links; allerdings finden sich neben Nelly Sachs oder Bertolt Brecht auch ein Hans Baumann, der sich im Dritten Reich als Autor populärer Gedichte und Lieder wie »Es zittern die morschen Knochen« hervorgetan, nach 1945 als Verfasser von Kinderbüchern, »zeitloser« Lyrik und Theaterstücken eine neue Karriere gemacht und noch 1962 im Zentrum eines Literaturskandals gestanden hatte.46› Hinweis

Die Redaktion der Anthologie lag dem Impressum zufolge bei Gudrun Ensslin; Verlagsadresse war »stuttgart-cannstatt«, das Pfarrhaus der Ensslins also. Bernward Vesper firmierte als Herausgeber und steuerte ein Vorwort bei, das auf den März 1964 datiert ist. Gewidmet war der Band dem 1959 verstorbenen Hans Henny Jahnn, dessen nachgelassenes Drama »Der staubige Regenbogen« die Vision einer atomaren Verstrahlung und Vernichtung behandelt hatte: mahnend, beschwörend, klagend und anklagend. Auf diesen gravitätischen Ton war Vespers Einführungstext über Macht und Ohnmacht der Schriftsteller gestimmt, deren Stimme zu einem entscheidenden Druckmittel gegen totalitäre Verplanung werden könnte – wenn sie diese Verantwortung nur wahrnähmen! Vergleiche man jedoch die verschwindend wenigen Werke, die sich mit dem Problem auseinandersetzen, von dessen Lösung das Weiterbestehn alles Lebens abhängt, mit den vielen anderen, in deren Raum die Wirklichkeit keinen Zutritt fand, scheint Resignation am Platze. 47› Hinweis

nationalismus / humanismus

Später, in seinen politisch-biographischen Reflexionen, die der Ausgabe letzter Hand der REISE (1979) als »Materialien« beigefügt wurden, schrieb Vesper mit einiger Hellsicht: die atombombe war das ideale agitationsobjekt – da sie nämlich im Besitz der Siegermächte war und unterschiedslos auf alle fiel. Hier war der punkt gefunden, wo alle widersprüche aufhören mußten.48› Hinweis Und an anderer Stelle: kein wehrdienst (halb humanistische, halb nationalistische motive) das positive am revolutionären nationalismus / humanismus. 49› Hinweis

Diese Verwandtschaft der linken und rechten Motive des Protests war nirgends greifbarer als in der Periode, von der hier die Rede ist, als Bernward mit Hilfe seiner Freundin Gudrun versuchte, die verlorene Ehre seines Vaters zu retten und gleichzeitig mit den politisch-literarischen Tendenzen der Zeit Schritt zu halten. Es war ein grotesker Spagat, den die beiden vollführten, ohne dass es ihnen bewusst zu sein schien.

So wurden parallel zur Korrespondenz mit den ins Auge gefassten Beiträgern der Anthologie »Gegen den Tod« – und womöglich mit gleicher Post – die Belegstücke der Will-Vesper-Novellen verschickt, mit der Bitte um wohlwollende Stellungnahme oder Rezension. Das Cannstatter Pfarrhaus hatte dabei eine erstaunliche Doppelrolle inne: Neben dem »studio neue literatur« hatte hier auch die »Pressestelle f. d. A.« (»für das Ausland«) des Dr. Bertl Petrei Verlags seinen Sitz. Und Fräulein Ensslin firmierte in einer Person als Vertreterin ihres avantgardistischen Literaturverlags und als Pressesprecherin eines Kärntner Verlags mit deutschvölkischer Orientierung.

In welch holder Verwirrung das geschah, lässt sich aus einigen der Korrespondenzen erschließen. So schrieb mit Datum 15. Oktober 1963 M. Y. Ben-gavriel aus Jerusalem: »Sehr geehrte Frau Ensslin, Sie haben mir unaufgefordert ein Buch von Will Vesper geschickt. Ich halte es für eine außerordentliche Geschmacklosigkeit, einem jüdischen Publizisten das Werk eines Nazis zur Rezension zu schicken.

Sie dürfen doch nicht glauben, daß wir nicht von uns aus unterrichtet sind, welche Schriftsteller … es für opportun hielten, gegen Juden und ›Kulturbolschewisten‹ zu hetzen. Ich behalte mir vor, die Sache öffentlich zu behandeln … Das Buch geht mit gewöhnlicher Post an Sie zurück.«

Darauf folgte eine lange und lebhafte Antwort der »Pressestelle« des Dr. Bertl Petrei Verlags, wieder aus der Maschine Gudrun Ensslins. Bernward als der Sohn Vespers hielt sich wohlweislich im Hintergrund. Es habe ihnen gänzlich fern gelegen, schreiben Ensslin / Vesper, den Adressaten mit der Zusendung dieser – übrigens völlig unpolitischen – Geschichten von Liebe, Traum und Tod zu kränken. Man teile die politischen Ansichten, »die Will Vesper etwa 10 Jahre seines 80-jährigen Lebens vertrat, in keiner Weise«. Im Gegenteil, man bekämpfe sie. Aber es sei eine Tatsache, dass viele der »echten Machthaber« von damals »wieder – oder noch immer – in führenden Stellungen sind, wo Militarismus und Autoritarismus ihr Haupt frech erheben«.