Kathrin Passig / Aleks Scholz

Lexikon des Unwissens

Worauf es bisher keine Antwort gibt

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Wissenswertes über Unwissen

Aal

Amerikaner

Anästhesie

Dunkle Materie

Einemsen

Ejakulation, weibliche

Elementarteilchen

Erkältung

Gähnen

Geld

Halluzinogene

Hawaii

Herbstlaub

Indus-Schrift

Klebeband

Kugelblitze

Kugelsternhaufen

Kurzsichtigkeit

Laffer-Kurve

Leben

Los-Padres-Nationalpark

Menschengrößen

Nord-Süd-S-Bahn-Tunnel

Plattentektonik

P/NP-Problem

Rattenkönig

Riechen

Riemann-Hypothese

Rotation von Sternen

Roter Regen

Schlaf

Schnurren

Sexuelle Interessen

Stern von Bethlehem

Tausendfüßler

Tiergrößen

Trinkgeld

Tropfen

Tunguska-Ereignis

Unangenehme Geräusche

Voynich-Manuskript

Wasser

Quellen

Danksagungen

 

Gewidmet allen Laborratten und ihrem unermüdlichen Kampf gegen das Unwissen.

Wissenswertes über Unwissen

There are known knowns:

There are things we know that we know.

There are known unknowns: that is to say

there are things that we now know we don’t know.

But there are also unknown unknowns:

there are things we do not know we don’t know.

And each year we discover

a few more of those unknown unknowns

Donald Rumsfeld

Was ist Unwissen?

Wissenslücken entstehen gewöhnlich durch die alte Kulturtechnik des Vergessens. Auf deutlich weniger beschämende Art und Weise wird dieses Buch bei jedem Leser 42 zusätzliche Wissenslücken ausbilden. Jede einzelne davon ist eine Qualitätswissenslücke, an der nicht nur wir uns die Zähne ausbeißen, sondern auch der Rest der Menschheit samt vielen überdurchschnittlich intelligenten Forschern. Das Lexikon des Unwissens ist das erste Buch, nach dessen Lektüre man weniger weiß als zuvor – das aber auf hohem Niveau.

Stellt man sich den Erkenntnisstand der Menschheit als eine große Landkarte vor, so bildet das gesammelte Wissen die Landmassen dieser imaginären Welt. Das Unwissen verbirgt sich in den Meeren und Seen. Aufgabe der Wissenschaft ist es, die nassen Stellen auf der Landkarte zurückzudrängen. Das ist nicht einfach, manchmal tauchen an Stellen, die man schon lange trockengelegt glaubte, wieder neue Pfützen auf. Ein Beispiel ist die Frage, wann und durch wen Amerika besiedelt wurde: Sie galt mehr als ein halbes Jahrhundert als geklärt, ist seit einigen Jahren aber wegen neuer Funde wieder vollkommen offen. Forscher vermehren eben nicht nur das Wissen der Menschheit, sondern auch das Unwissen. So waren Ende des 19. Jahrhunderts viele Physiker davon überzeugt, die Welt vollständig erforscht zu haben und nur noch Detailfragen klären zu müssen. Bis sich durch Quantenmechanik und Relativitätstheorie herausstellte, dass sie einfach in vielerlei Hinsicht zu kurz gedacht hatten – ein riesiges neues Meer aus Unwissen schwappte heran.

Unwissen lässt sich nur entlang seiner Ränder beschreiben – indem man sich an den letzten Gewissheiten entlanghangelt. Ein Beitrag im Lexikon des Unwissen funktioniert daher, um zum Landkartenbild zurückzukehren, wie die Umrundung eines Sees: Man blickt von allen möglichen Perspektiven auf das Unbekannte, versinkt gelegentlich in sumpfigen Bereichen, läuft vielleicht einmal auf einem Steg etwas weiter hinaus, kann aber trotzdem nie sagen, was genau sich dort draußen verbirgt. Die Uferlinie zwischen Wissen und Nichtwissen ist dabei nicht eindeutig auszumachen, denn fast immer konkurrieren mehrere Theorien zur Lösung eines bestimmten Problems.

Das Unwissen, mit dem wir uns hier beschäftigen, muss drei Kriterien erfüllen: Es darf keine vorherrschende, von großen Teilen der Fachwelt akzeptierte Lösung des Problems geben, die nur noch in Detailfragen Nacharbeit erfordert. Das Problem muss aber zumindest so gründlich bearbeitet sein, dass es entlang seiner Ränder klar beschreibbar ist. Und es sollte sich um ein grundsätzlich lösbares Problem handeln. Viele offene Fragen aus der Geschichte etwa werden wir – wenn nicht doch noch jemand eine Zeitmaschine erfindet – nicht mehr beantworten können.

Die eingangs zitierte Beschreibung von Donald Rumsfeld wurde zu Unrecht häufig belacht, denn sie ist ein Meilenstein in der öffentlichen Darstellung des Unwissens. Demnach lässt sich Unwissen in zwei Kategorien einteilen, Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen, und Dinge, von denen wir nicht einmal wissen, dass wir sie nicht wissen. In diesem Buch kann es nur um die erste Kategorie, die «known unknowns», gehen, weil es zur zweiten zu diesem Zeitpunkt noch nichts zu sagen gibt.

Warum ausgerechnet Unwissen?

In Douglas Adams’ «Per Anhalter durch die Galaxis» entwickeln pandimensionale, hyperintelligente Wesen den Computer Deep Thought, der die Antwort auf die Frage nach «dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest» liefern soll. Siebeneinhalb Millionen Jahre später ist diese Antwort fertig berechnet und lautet «42». Erst jetzt wird Deep Thoughts Erbauern klar, dass sie gar nicht wissen, wie die Frage lautet. Bis die berechnet ist, dauert es weitere zehn Millionen Jahre. Daraus kann man zweierlei lernen: Erstens sollte man die Frage kennen, wenn man die Antwort verstehen will. Und zweitens ist es oft schwieriger, die richtige Frage zu stellen, als sie zu beantworten – dasselbe Phänomen kann man beobachten, wenn man unerfahrenen Google-Nutzern über die Schulter schaut. Der Physiker Eugene Wigner erhielt 1963 die Hälfte des Physiknobelpreises dafür, dass er die richtige Frage – nämlich die nach dem Grund für die «magischen Zahlen» im Periodensystem der Elemente – gestellt hatte. Die andere Hälfte ging an die beiden Forscher, die die Antwort fanden.

Die richtigen Fragen zu stellen und damit das Unwissen zu enthüllen, das ist eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft. Denn das Unwissen ist immer schon da, nur nicht für jeden offenkundig; es ist wie das schwarze Tier, das in einem Vexierbild den Raum um das weiße Tier herum füllt und das man erst erkennt, wenn man das Bild eine Weile betrachtet hat. Dann aber ist es nicht mehr zu übersehen. Wenn es diesem Buch gelingt, ein bisschen Aufmerksamkeit auf das schwarze Tier Unwissen zu lenken, hat es seinen Zweck erfüllt. Der Leser wird Unwissen dann auch erkennen, wenn es ihm in freier Wildbahn begegnet.

Wie hätte ein Lexikon des Unwissens vor 100 Jahren ausgesehen?

Unwissen ist ein flüchtiges Ding. Es verschwindet, taucht an anderer Stelle wieder auf, kurz: Man kann ihm noch weniger über den Weg trauen als dem Wissen. Darum kann ein Lexikon des Unwissens nicht für die Ewigkeit gebaut sein. Vergleicht man dieses Buch mit seinem 100 Jahre alten Vorgänger, der leider nie geschrieben wurde, so stößt man auf Interessantes: Einige Unwissensthemen waren damals noch nicht einmal bekannt, man denke an Plattentektonik oder die Dunkle Materie. Andere offene Fragen lagen zwar für jeden zugänglich in der Weltgeschichte herum, wurden aber aus verschiedenen Gründen gar nicht oder nicht mit rationalen Mitteln angegangen, das Rätsel um die weibliche Ejakulation zum Beispiel. Wieder andere Probleme sind nach wie vor ungelöst und könnten daher mit einiger Berechtigung in beiden Versionen des Lexikons auftauchen, unter anderem die Riemann-Hypothese oder der Aufbau der Materie. Am optimistischsten stimmen aber diejenigen Unwissensfelder, die in diesem Buch gar nicht auftauchen, obwohl sie vor 100 Jahren große Rätsel darstellten: So hatte man noch keine Ahnung davon, warum Sterne strahlen. Man ahnte zwar schon, dass der Erdkern nicht einfach aus Erde besteht, erfuhr aber erst zwei Jahrzehnte später, dass er flüssig ist, eine ziemlich beunruhigende Tatsache. Es war unbekannt, warum Zitrusfrüchte gegen Skorbut helfen. Ja, man wusste nicht einmal, wo die Laichgründe der Aale liegen.

Würde man heute ein hundertjähriges Lexikon des Unwissens lesen, man käme sich vermutlich sehr klug vor. Genauso wird es hoffentlich auch unseren Urenkeln gehen, wenn sie einst dieses Buch in der Hand halten. Dunkle Materie, werden sie sagen, natürlich sind das die linksgedrehten Superaxoquattrionen, das weiß doch jeder, und wie konnte man jemals glauben, Schlaf hätte irgendeine Funktion? Katzen schnurren natürlich gar nicht, das ist eine akustische Täuschung, und was Rattenkönige sind, steht ganz genau erklärt im Voynich-Manuskript. So wird dieses Buch im Laufe der Zeit immer weniger echte Unwissensthemen enthalten, bis sich eine Neuauflage der verbleibenden zwei Seiten nicht mehr lohnt. Zum Glück wird das voraussichtlich nicht zu Lebzeiten der Autoren geschehen.

Wie findet man Unwissen?

Wie findet man Löcher? Indem man so lange weitergeht, bis man keinen Boden mehr unter den Füßen hat. So ähnlich ist es auch mit dem Unwissen, man fragt und fragt, bis es irgendwann – und oft geht das sehr schnell – keine Antwort mehr gibt. (Und wir meinen hier nicht «keine Antwort» im üblichen Sinne von «Hätte ich nur damals in Chemie besser aufgepasst», sondern wirklich keine Antwort.)

Das sicherste Anzeichen für gutes Unwissen ist es, wenn Experten auf Konferenzen Wetten darüber abschließen, aus welcher Richtung die Lösung für ein bestimmtes Problem zu erwarten sei. Ideal wäre es also, Experten so lange mit Fragen zu quälen, bis sie einhellig bekunden, nicht weiterzuwissen. Leider ist das nur in wenigen Fällen praktikabel. Stattdessen muss man Unwissen mühevoll und indirekt anhand der Leerstellen in Abhandlungen über Wissen heraussuchen, die in den meisten Fällen sorgsam um das Unwissen herum erklären. Nur ganz selten findet man direkte Hinweise auf Unwissen. Dafür hat fast jede Zeitung einen Wissensteil, und mit Artikeln, die stolz von der Lösung eines Problems X berichten, könnte man ganze Ordner füllen – selbst wenn es sich bei X immer wieder um dasselbe Problem handelt. So wurde zum Beispiel allein in den letzten zehn Jahren ungefähr dreimal endgültig geklärt, wie Kugelblitze funktionieren. Solche Meldungen sind ein sicheres Zeichen für das Vorhandensein von Unwissen.

Warum hört man so viel über Wissen, aber viel weniger über Unwissen?

Ein Grund ist sicherlich die Arbeitsweise des Wissenschaftlers: Um sich nicht in haltlosen Spekulationen zu verzetteln, muss er sich an das halten, was er schon weiß, und steht daher sozusagen mit dem Rücken zum Unwissen. Nur ab und zu dreht er sich um, damit er nicht ganz aus den Augen verliert, worum es ihm eigentlich geht – um die Aufklärung von Unwissen nämlich. Diese Momente sind es, denen man nachspüren muss, wenn man nach Unwissen sucht.

Es gibt aber noch andere Ursachen für die Vernachlässigung des Unwissens in der öffentlichen Berichterstattung: Journalisten berichten lieber von abgeschlossenen Forschungsarbeiten und von neuen Erkenntnissen. Die Überschrift «Nichts Neues vom X» ist deutlich unbeliebter als «Rätsel um X endlich gelöst». Zudem lassen sich konkrete Ergebnisse ohne viel Mühe aus den Pressemitteilungen der Forschungsinstitute übernehmen, während Unwissen rechercheintensiv und damit teurer ist. Und nicht zuletzt ist es viel angenehmer, die Illusion zu pflegen, wir wüssten bereits alles Wesentliche. Dabei kann sich diese Vorstellung als ausgesprochen hinderlich erweisen. So riet der Physikprofessor Philipp von Jolly dem jungen Max Planck 1874 von einem Studium der Physik ab, da in dieser Wissenschaft schon fast alles erforscht sei – zum Glück ignorierte Max Planck seinen Rat und lieferte wenige Jahre später den Anstoß zur Entwicklung der Quantentheorie, eine Revolution der modernen Physik.

An einigen wenigen Stellen wird Unwissen aber auch ganz konkret erforscht. Das «unbekannte Unwissen» hat sich Donald Rumsfeld – obwohl es ihm zuzutrauen wäre – nicht einfach ausgedacht. Es handelt sich um ein in der militärischen Theorie wohlbekanntes Problem, das die US Army auf den Namen «unk-unk» (von unknown unknown) getauft hat. Im Krieg kann man vieles nicht vorhersehen und muss daher alles einkalkulieren, auch das Unkalkulierbare. Versäumnisse können peinlich und teuer werden. Aus dem gleichen Grund unterhält auch die NASA eine «Lessons-Learned»-Datenbank, damit Fehler aufgrund von unerkanntem Unwissen wenigstens nur einmal und nicht mehrfach gemacht werden. Diese Hinweise auf Versuche, das Unwissen zu zähmen, verdanken wir dem interdisziplinären Forschungsprojekt «Nichtwissenskulturen», das von 2003 bis 2007 an der Universität Augsburg durchgeführt wurde.

Gibt es mehr Unwissen als Wissen? Ist vielleicht alles Unwissen?

Vor etwa 300 Jahren meinte Isaac Newton zur Klärung dieser Frage Folgendes: «Was wir wissen, ist ein Tropfen. Was wir nicht wissen, ist ein Ozean.» Nun hat sich seit Newtons Zeiten einiges verändert, die Menge an Unwissen jedoch ist nicht entscheidend geringer geworden. Sobald man an einer Stelle einmal besser Bescheid wusste, ergaben sich sofort neue offene Fragen. Trotzdem sollte man daraus nicht gleich schlussfolgern, dass jede Information unsicher ist und in der Zukunft durch neue Erkenntnisse ersetzt werden wird. Man darf die Wissenschaften nicht unterschätzen. Die Situation lässt sich eher wie folgt zusammenfassen: Wir verfügen zweifellos bereits über beträchtliches Wissen, das kaum infrage zu stellen ist. (Vielleicht nicht jeder Einzelne von uns, aber doch die Menschheit als Ganzes.) Auf der anderen Seite gibt es weiterhin eine Vielzahl hochinteressanter und wichtiger ungeklärter Probleme, die einigen von uns täglich zu schaffen machen. Aber man muss das positiv sehen, schließlich wollen auch in der Zukunft noch Menschen dafür bezahlt werden, in Labors zu stehen und sich ratlos am Kopf zu kratzen.

Wie kommt die Auswahl der Themen zustande?

Im Juli 2005 veröffentlichte das Wissenschaftsmagazin Science, eine Kapazität in Unwissensfragen, eine Liste der 125 großen Fragen für die Forschung im 21. Jahrhundert. Nur etwa 15 dieser Fragen tauchen im «Lexikon des Unwissens» auf. An ihrer Seite findet man hier Dinge, die eher selten das Licht der Öffentlichkeit sehen, beispielsweise den Rattenkönig. Das liegt zum einen daran, dass es viel mehr Unwissen auf der Welt gibt, als in ein einziges Buch passt, der Verlag aber aus verständlichen Gründen nicht gleich eine 24-bändige Enzyklopädie herausbringen wollte. Zum anderen sind die Themen nur teilweise nach Relevanz ausgewählt, teilweise aber auch, weil sie veranschaulichen, wie geschickt sich das Unwissen oft im Bekannten verbirgt. Die Herkunft des Katzenschnurrens zu erforschen, ist zum Beispiel nichts, womit man einen Nobelpreis gewinnt oder das Weltbild nachhaltig verändert. Aber trotzdem ist es ein Thema von außerordentlicher Strahlkraft, vor allem wegen der allgemeinen Verfügbarkeit von Katzen. Umgekehrt ist es für die meisten schwer zu verstehen, was am Higgs-Boson interessant sein soll, obwohl einem für dessen Entdeckung der Nobelpreis fast sicher wäre. Es ist auch keineswegs leicht herauszufinden, welche offene Frage langfristig gesehen unser Weltbild prägen wird. Das Kriterium Relevanz ist daher genauso subjektiv wie jedes andere auch. Denn wer weiß, vielleicht baut man schon in 100 Jahren ein ökologisches Kraftwerk aus schnurrenden Katzen. Vor 250 Jahren hätte auch niemand gedacht, dass wir einmal in der Lage sein würden, ganz ohne Kerzen im Dunkeln draußen herumzulaufen, nur weil wir verstanden haben, warum Froschschenkel zucken.

Trotzdem: Mein Lieblingsthema fehlt

Geisteswissenschaftliche und historische Themen sind im Lexikon des Unwissens etwas unterrepräsentiert, weil sie unseren Anforderungen an sinnvoll zu erforschendes Unwissen (siehe oben) selten entsprechen. Die Frage, warum das Segelschiff Mary Celeste 1872 zwischen den Azoren und Portugal ohne Mannschaft im Atlantik treibend aufgefunden wurde, ist zwar ungeklärt, wird aber wohl auch nicht mehr zu beantworten sein. Und auch die Frage nach den Ursachen bestimmter Krankheiten kommt aus gutem Grund zu kurz. Schon bald nach Recherchebeginn stapelten sich auf unseren Schreibtischen die Berichte über Krankheiten unklarer Genese, und wir mussten einsehen, dass so gut wie kein Krankheitsauslöser als durch und durch verstanden gelten kann, abgesehen vielleicht von der Ursache des Beinbruchs (nämlich mechanische Gewalteinwirkung, oft durch am falschen Ort herumliegende Gegenstände). Vorschläge für neue Unwissensthemen, die wir in einer eventuellen Neuauflage ins Lexikon aufnehmen können, werden unter der Mail-Adresse vorschlag@lexikondesunwissens.de jedoch gern entgegengenommen.

Sind nicht vielleicht doch die Außerirdischen an allem schuld?

Erstaunlich viele offene Fragen in diesem Buch kann man mit Hilfe von Wesen aus dem All erklären. Kugelblitze zum Beispiel sind eventuell Raumschiffe aus fremden Welten. Mit Hilfe von halluzinogenen Substanzen nehmen Außerirdische Kontakt mit uns auf, das behauptet jedenfalls Rob McKenna. Und die Explosion von Tunguska hat natürlich auch etwas mit den Aliens zu tun, ganz zu schweigen vom Stern von Bethlehem. Christopher Chippindale, Archäologe und Autor von «Stonehenge Complete», führt die Alien-Spekulationen des 20. und 21. Jahrhunderts, Allzweckwaffe gegen Unwissen jeder Art, auf historische Vorbilder zurück. Lange Zeit nahmen die Bewohner von Atlantis die Rolle der Außerirdischen ein: Sie haben Amerika besiedelt, sie haben Stonehenge erbaut, und der Untergang ihres Reiches löst das Rätsel um die Fortpflanzung der Aale.

Vor dem Atlantis-Trend spielten die Phönizier eine wichtige Rolle bei der Erklärung des Unbekannten, Chippindale zufolge der Prototyp für die Außerirdischen von heute. Auch die Phönizier, immerhin ein echtes, historisch belegtes Volk, kommen in manchen Theorien als die ersten Bewohner Amerikas vor, und auch sie könnten Stonehenge erbaut haben. «Warum nicht?», fragt sich mancher, der verzweifelt nach Antworten ringt. «Warum nicht die Phönizier?» Genau hier liegt das Problem der Theorien aus der Halbwelt: Sie mögen überzeugend aussehen, lassen sich aber weder beweisen noch widerlegen, vor allem, weil man über die Außerirdischen (genauso wie über Atlantis und Phönizien) wenig bis gar nichts weiß. Sie sind weit weg, mächtig und mysteriös. Man erklärt etwas Unbekanntes einfach mit etwas ganz anderem Unbekanntem. Die Sache mit den Außerirdischen muss deshalb nicht falsch sein, man kann nur keine Aussage über ihren Wahrheitsgehalt treffen; die Theorie ist, wie der Physiker Wolfgang Pauli in ähnlichem Zusammenhang feststellte, «nicht einmal falsch». Das ist natürlich auch ein Wettbewerbsvorteil, denn so kann man die betreffende abseitige Lösung problemlos an ganz unterschiedliche Unwissensfragen anpassen. Eines Tages jedoch werden auch Außerirdische genauso aus der Mode kommen wie einst die Phönizier und durch etwas noch Exotischeres und Unverständlicheres ersetzt werden. Zum Beispiel Igel.

Warum sind ein bis zwei Fehler im Buch?

Das Lexikon des Unwissens enthält Fehler, weil Fehler für die menschliche Erkenntnis von großem Wert sind. Zwei Arten Fehler sind nicht vermeidbar. Zum einen handelt sich es sich dabei um Fehler durch Vereinfachung. Viele komplizierte Sachverhalte lassen sich nur verständlich darstellen, wenn man bildliche Vergleiche wählt, die streng genommen ungenau sind. Aber ohne solche Hilfsmittel wäre das Buch unlesbar. Zum anderen enthält dieses Buch mit großer Sicherheit Annahmen und Behauptungen, die man in naher oder ferner Zukunft als falsch erkennen wird. Von diesen Irrtümern ahnen aber heute weder wir noch die Experten etwas. Abgesehen von diesen zwei Ungenauigkeiten gibt es im Lexikon des Unwissens vermutlich aber auch richtige, echte Fehler, Dinge, die nicht wahrscheinlich falsch sind, sondern ganz sicher. Trotz sorgfältiger Kontrolle und Beratung durch Experten lassen sich solche Sachfehler nicht immer vermeiden, und sie sind allein unsere Schuld. Wir bitten vorsorglich um Verzeihung und außerdem um Benachrichtigung unter korrektur@lexikondesunwissens.de, sodass Fehler in künftigen Auflagen korrigiert werden können.

Aal

AALST (n.) One who changes his name to be further to the front

Douglas Adams: «The Meaning of Liff»

Aale schaffen es seit Jahrhunderten geschickt, ihre Lebensverhältnisse vor uns geheimzuhalten. Dabei kennt sie jeder, man kann sie an vielen Orten ansehen (zumindest geräuchert), und es gibt auch keinen Mangel an ambitionierten Aalforschern. Aristoteles zum Beispiel interessierte sich sehr für diese Fische, die zu seiner Zeit noch nicht mal als Fische galten, sondern als eine Art Würmer, die, so glaubte Aristoteles, aus dem Schlamm des Flussbodens schlüpfen. Bis weit in die Neuzeit hinein waren nicht wesentlich weniger absurde Theorien im Umlauf; so wurde noch 1858 behauptet, dass sich Aale bei der Fortpflanzung spindelförmig um einen Schilfhalm legen und sich durch dessen Schwingungen anregen lassen. Immerhin wusste man frühzeitig von der Aalwanderung: Erwachsene Aale schwimmen flussabwärts ins Meer, und junge kommen aus dem Meer nach, was den Schluss nahelegt, dass die Fortpflanzung im Meer stattfindet. Wo, wann und wie das geschieht, das sind die Fragen, die alle Aalinteressierten seitdem beschäftigen.

Mühsam kam die Aalforschung in den letzten dreihundert Jahren voran. Im Jahr 1777 entdeckte der Italiener Carlo Mondini die Eierstöcke des Aals und wies damit nach, dass das Aalweibchen wie jeder andere vernünftige Fisch zur Arterhaltung Eier legt. Knapp hundert Jahre dauerte es, bis die männlichen Geschlechtsorgane gefunden wurden. Der Triester Biologe Simon von Syrski spürte zwei dünne Lappenorgane auf und identifizierte sie korrekt als die Hoden des Aals. Rätselhaft jedoch für die damalige Forschung: Sie enthielten keinerlei Sperma. Mit den Hoden der Aale befasste sich in derselben Zeit auch Sigmund Freud, damals noch Student der Zoologie. Praktisch in Akkordarbeit zerschnitt Freud etwa 400 Aale auf der Suche nach dem männlichen Geschlechtsorgan. Manche glauben, dass er damit seine sexuellen Probleme bewältigte: Mit der Tötung des phallusförmigen Aals kastrierte Freud symbolisch nicht nur seine Konkurrenten, sondern auch (400-mal) den eigenen Vater – der unschuldige Aal als Opfer des Ödipuskomplexes. Für die Zoologie jedoch brachte Freuds Aalmassaker keine neuen Erkenntnisse.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam man einen Schritt weiter. Die Biologen Yves Delage und Giovanni Batista Grassi zeigten schlüssig, dass es sich bei einem durchsichtigen, flachen Meereslebewesen namens Leptocephalus brevirostris, bis dahin als eigenständige Art geführt, um die Larve des Flussaals handelt. Vor allem dem Dänen Johannes Schmidt ist die Aufklärung der Herkunft dieser Larven zu verdanken. In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unternahm er aufwendige Expeditionen, die ihn hinaus in den Atlantik führten. Schmidt verfolgte die kleinen Aale rückwärts; er fuhr immer weiter Richtung Amerika und fand immer kleinere Larven, die allerkleinsten schließlich in der Sargassosee, südlich der Bermudainseln. Diese Tiefseegegend, auch als Bermudadreieck bekannt und berüchtigt für rätselhafte Schiffsuntergänge und Flugzeugabstürze, gilt seitdem als Geburtsort der Europäischen Flussaale. Seltsam genug, dass niemand je versucht hat, einen Zusammenhang zwischen Schiffsunglücken und Aalfortpflanzung herzustellen.

Hier nun alles, was wir über den Lebensweg des Aals heute zu wissen glauben: Geschlüpft in der Sargassosee, treiben und schwimmen die Larven des Europäischen Aals an der amerikanischen Küste entlang nach Norden und biegen schließlich, dem Golfstrom folgend, Richtung Europa ab. Dabei werden sie zunächst von den Larven des Amerikanischen Aals begleitet, die aus derselben Gegend stammen, es dann aber offenbar vorziehen, auf die anstrengende Atlantiküberquerung zu verzichten. Warum die europäischen Larven nicht auch einfach in Amerika bleiben, ist unbekannt, stattdessen quälen sie sich mehrere Jahre lang über den Atlantik. Beim Erreichen der europäischen Küsten verwandeln sich die Larven in sogenannte Glasaale, wobei unklar ist, was genau diese Metamorphose auslöst – möglicherweise ist es die Erleichterung, endlich einmal wieder Land zu sehen. Glasaale sind kleine, durchsichtige, wurmartige Dinger, die als Delikatesse gelten und in großen Mengen gefischt werden. Die Erfahrung, nach einer mehrjährigen Atlantiküberquerung auf dem Teller eines Spezialitätenrestaurants zu landen, darf man wohl getrost als antiklimaktisch, ja, enttäuschend bezeichnen.

Alle überlebenden Glasaale, und hier beginnt der schon lange bekannte Teil des Aallebens, entwickeln sich zu der adulten Form, Gelbaal genannt, und zwar in den Süßwasserflüssen Europas. (Dasselbe geschieht auf der anderen Seite des Atlantiks mit den kleinen amerikanischen Aalen.) An dieser Stelle kann man leicht viele Jahre Aalleben überspringen, weil nichts Besonderes passiert. Der erwachsene Aal lebt als Fisch unter Fischen, einige werden zwischendurch geräuchert, und wer davon verschont bleibt, den ruft, im Alter von 5, 10 oder auch 20 Jahren, eine mysteriöse Stimme zurück ins Meer. Auf dem Weg dorthin lässt er sich durch fast nichts aufhalten, nicht durch Dämme oder gar Land. Nur gegen die Turbinen der Wasserkraftwerke, die regelmäßig Aale in Fischhäppchen verwandeln, hat er noch kein Mittel gefunden. Während der Reise zum Ozean geschieht eine interessante Umwandlung, der Aal wird silbrig, seine Augen vergrößern sich, und, ganz entscheidend, der Verdauungstrakt verkümmert. Erreicht dieser sogenannte Silberaal das Meer, so ist sein Schicksal vorgezeichnet – er ist auf einer Selbstmordmission, deren Dauer durch seine Körperfettreserven bestimmt wird.

Es folgt der bis heute rätselhafte Teil des Aallebens. Aalexperte Friedrich-Wilhelm Tesch verfolgte die Aale in den Siebzigern immerhin bis zum Atlantischen Rücken, dann waren die Batterien der Sender leer, mit denen er sie ausgerüstet hatte. Andere Expeditionen entdeckten Silberaale in der Sargassosee, verloren sie jedoch schnell wieder aus den Augen. Irgendwie schaffen die Aale es anscheinend zurück zu ihrem Ursprungsort. Auf dem Weg dorthin produzieren die Männchen unter ihnen auch endlich das Sperma, das Sigmund Freud und andere so angestrengt suchten. Am Ziel angekommen, müssten die weiblichen Aale dann Laich ablegen, den die männlichen Aale befruchten, wodurch schließlich die Fortpflanzung zustande kommt. So jedenfalls die Theorie, denn trotz umfangreicher Anstrengungen hat diesen wichtigen Vorgang noch nie jemand in der Natur beobachtet. Außerdem ist unklar, was aus den Eltern wird, die eigentlich nicht anders können, als kurz nach der Atlantiküberquerung zu verhungern. Ihre Skelette allerdings wurden bislang nicht gefunden, und von Aalfriedhöfen ist nichts bekannt.

Niemand glaubt heute mehr, dass Aale einfach so aus dem Schlamm kriechen. Alle Forschungen zur Fortpflanzung von Tieren ergeben, dass eine gewisse räumliche Nähe zwischen Eltern und Kindern vorhanden sein muss, jedenfalls ganz am Anfang. Trotzdem fehlt bei Aalen jeder Nachweis einer Verbindung zwischen den Generationen. Die kleinen Aallarven entstehen scheinbar aus dem Nichts. Gleichzeitig verschwinden die erwachsenen Aale spurlos in der Sargassosee. Verwandeln sich die Eltern einfach wieder zurück in Larven? Ist der Aal somit unsterblich? Es ist ein großes Rätsel. Genau dasselbe Problem stellt sich übrigens bei den asiatischen Aalen. Man kennt oft die Herkunft der Aale, man kann nachvollziehen, wie die Larven ins Süßwasser kommen, man weiß, dass die Erwachsenen ins Meer und zu den Laichplätzen zurückkehren, aber der letzte Schritt, die eigentliche Fortpflanzung, die Verbindung zwischen Mutter, Vater und Larven, fehlt. Aalforscher müssen sich so ähnlich fühlen wie kleine Kinder, die zwar wissen, dass die Klapperstorchhypothese falsch ist, aber trotzdem keine Ahnung haben, wo die Babys herkommen.

Eine lange populäre Lösung des Problems bestreitet schlicht die Existenz europäischer Aale. Der britische Zoologe Denys W. Tucker spekulierte 1959, dass der Weg zurück in die Sargassosee viel zu weit sei und es daher keiner der in Europa lebenden Aale zurück zu den Laichgründen schaffen könnte. Stattdessen würden die Aale Europas von amerikanischen Kollegen abstammen, die sich ebenfalls in der Sargassosee fortpflanzen. Auch wenn diese Hypothese nach langen Diskussionen untergegangen ist – europäische und amerikanische Aale zeigen klare genetische Unterschiede und müssen daher als zwei verschiedene Arten betrachtet werden –, zog sie doch interessante Folgen nach sich: Eine Gruppe von «Ariosophen», Anhänger der These, dass die Arier von Atlantis abstammen, leitete aus der Tucker-Theorie den Schluss ab, dass Aale vormals in Atlantis an Land gingen und nicht in Europa. Erst nach dem Untergang von Atlantis landeten die Larven in Europa, konnten sich aber nie an den jetzt doppelt so weiten Rückweg gewöhnen. Das sagten jedenfalls die Ariosophen, die mit Hilfe der Aale ihre Heimat Atlantis wiederfinden wollten, ein Unterfangen, das noch aussichtsloser erscheint als die Suche nach sich fortpflanzenden Aalen.

Um herauszufinden, ob Aale in der Lage sind, den Atlantik zu überqueren, veranstaltete eine niederländische Forschergruppe vor kurzem ein Testschwimmen: Sie ließen eine Gruppe Aale ein halbes Jahr lang in einem Wassertank Kreise ziehen, ohne Fütterung, ohne Werbepausen und ohne Energiedrinks. Obwohl sie ein Fünftel ihres Körpergewichts einbüßten, legten die Aale dabei eine Marathondistanz von 5500 km zurück, eine erstaunliche Leistung. Statt auf einem Siegerpodest landeten die Aale nach der Strapaze allerdings auf dem Seziertisch. Wie sie es schaffen, so ausdauernd zu schwimmen, ist unklar, dass sie es aber können, scheint damit bewiesen. Zudem gibt es Hinweise, dass Aale in der Lage sind, sich nach dem Erdmagnetfeld zu richten, was eine Möglichkeit wäre, sich im Meer zu orientieren. Auch ist es mittlerweile gelungen, Aale in Gefangenschaft beim Befruchten ihrer Eier zu beobachten – aber eben nicht in freier Wildbahn. Andererseits zeigt eine neuere Arbeit des Japaners Tsukamoto und seiner Kollegen, dass im Atlantik gesammelte Aale ihr ganzes Leben dort verbracht haben, was völlig rätselhaft ist, weil es die gesamte oben zusammengefasste Aalwanderungstheorie infrage stellt. Und weiterhin gibt es mittlerweile leise Zweifel, ob alle Süßwasseraale in Europa genetisch einwandfrei derselben Art angehören, sich daher alle untereinander paaren können und überhaupt dieselben Ziele im Leben anstreben, Laichgründe eingeschlossen, wovon man eigentlich seit hundert Jahren ausgegangen ist.

Nach wie vor also ist viel Raum für Fruchtbarkeitsmythen, Aalgötter und Spekulationen über Telekinese bei Fischen. Auftrieb könnte die Aalforschung in Zukunft durch den ebenfalls rätselhaften Niedergang der Glasaalpopulation erhalten. Immer weniger junge Aale kommen an Europas Küsten an; es könnte an Parasiten liegen, an der Meereserwärmung, Umweltgiften oder an ganz anderen Dingen. Aber weil Glasaale ein Wirtschaftsfaktor sind, besteht Hoffnung auf Rettung. Obwohl man es dem Aal zutrauen würde, eines Tages ohne jeden ersichtlichen Grund einfach so von der Erde zu verschwinden.

Amerikaner

Amerika ist kein junges Land. Es ist alt, dreckig und böse. 

Das war es schon vor den Siedlern und vor den Indianern.

Das Böse ist immer da und liegt auf der Lauer.

William S. Burroughs: «Naked Lunch»

Nachdem die Urmenschen im warmen Zentralafrika laufen gelernt hatten, zogen sie hinaus in die kalte Welt. Zunächst in den Vorderen Orient, dann von dort aus nach Europa, Sibirien und Südostasien, von wo aus sie vor ungefähr 50 000 Jahren nach Australien übersetzten. Wie dieser großräumige Exodus genau ablief, wer wann wo eintraf und wie es ihm in der Fremde erging, ist alles andere als einvernehmlich geklärt, aber das soll uns hier nicht weiter interessieren. Fast alle Forscher sind sich immerhin darin einig, dass Amerika, ebenfalls ein schöner Erdteil, sehr spät besiedelt wurde. Unklar jedoch ist, wann die ersten Menschen den Kontinent betraten – die heute gängigen Theorien decken den Zeitraum von vor 60 000 Jahren bis vor 11 000 Jahren ab. Außerdem weiß niemand, aus welcher Richtung die ersten Amerikaner anreisten, wie sie im neuen Land zurechtkamen und was schließlich aus ihnen wurde. Kolumbus jedenfalls hat Amerika nicht entdeckt, es war jemand anderes. Vermutlich hatte er einen Speer in der Hand.

Amerika sah vor 10 000 Jahren ein wenig anders aus als heute. Gerade hatte man nach 20 000 Jahren des großen Frierens die letzte Eiszeit überstanden, deren Gletscher in ihrer maximalen Ausdehnung ungefähr die gesamte Landmasse von Kanada bedeckten – und Kanada ist ein großes Land. Die drastischen Klimaveränderungen am Ende der Eiszeit markieren auch das Ende einer geologischen Periode, die heute Pleistozän heißt, und den Beginn einer neuen, wesentlich besser klimatisierten Zeit, Holozän genannt. Beherrscht wurde Amerika im Pleistozän von einer eklektischen Sammlung von Riesentieren. Man stelle sich große Tiere von heute vor, betrachte sie durch ein starkes Vergrößerungsglas, und man hat etwa eine Ahnung von der eiszeitlichen Megafauna. So werden aus dem spielzeugartigen Elefanten die urzeitlichen Mastodons und Mammuts. Riesenelche gab es, Riesenschildkröten, Riesenbiber, Riesenlöwen, Säbelzahntiger, und als wäre das alles nicht genug, liefen Kurznasenbären frei herum, die moderne Grizzlybären um mehrere Bärenköpfe überragen. Man erzählt von einem Russen, dem man im Museum von Utah den Oberschenkelknochen eines solchen Megabären zeigte und der daraufhin verzweifelt fragte: «Warum müssen die Vereinigten Staaten von allem auf diesem Planeten das Größte haben?»

Wann also betraten die ersten Menschen diesen Abenteuerpark namens Amerika? Bis vor wenigen Jahren gab es darauf eine weitgehend akzeptierte Antwort, die ungefähr wie folgt lautete: Die ersten Amerikaner, Clovis-Menschen genannt, stießen vor rund 12 000 Jahren von Sibirien aus in Richtung Osten vor. Wegen der Gletscher lag der Meeresspiegel deutlich tiefer als heute, sodass Russland und Alaska durch eine Landbrücke verbunden waren. Trockenen Fußes also gelangten die Clovis-Menschen nach Amerika. Durch eine glückliche Fügung ging die Eiszeit gerade zu Ende. Die Gletschermassen zogen sich zurück und gaben dabei einen Korridor frei, durch den die Neuankömmlinge quer durch Kanada nach Süden vordrangen. In ihrer Freizeit beschäftigten sie sich damit, Großwild wie Mammuts, Bisons, Kamele und Pferde zu erlegen, wobei sie auf charakteristische Weise hergestellte Speere verwendeten, deren steinerne Spitzen zum Markenzeichen der ersten Amerikaner wurden. Clovis heißt die Stadt in New Mexico, wo Archäologen in den 1930er Jahren die ersten dieser Speerspitzen entdeckten. Bald stellte sich heraus, dass Hunderte Speerspitzen derselben Bauart über ganz Nordamerika verstreut herumliegen.

Die Clovis-Spitzen und die dazugehörigen Jäger breiteten sich offenbar rasend schnell über den Kontinent aus, «schnell» jedenfalls für eine Zeit, in der es an so grundlegenden Dingen wie Straßen und Bahnlinien mangelte. In weniger als tausend Jahren, so die Theorie, eroberten die Clovis-Leute den gesamten Kontinent und wanderten von Alaska bis zur Südspitze nach Feuerland. Jede Generation muss dazu etwa 500 Kilometer weiter in Richtung Süden vorgedrungen sein und sich gleichzeitig vorschriftsmäßig fortgepflanzt haben. Nahrung gab es zwar reichlich in diesem neuartigen Kontinent, leider war sie nur allzu oft mit großen Zähnen ausgestattet. Zeitgleich mit dem Eroberungsfeldzug der Clovis-Jäger kam es in Amerika zu einem seltsamen Massensterben, bei dem alle oben beschriebenen Riesentiere verschwanden. In der traditionellen Clovis-Theorie hängt beides, das Auftauchen der Menschen und das Verschwinden der Tiere, eng zusammen: In einer Art Blitzkrieg zogen die Clovis-Leute durchs Land und rotteten auf ihrem Weg die gesamte amerikanische Megafauna aus, sodass am Ende nur noch kleine, niedliche Tiere übrigblieben.

Diese Geschichte klingt zwar spektakulär, ist aber höchstwahrscheinlich falsch. Der entscheidende Fund, der letztlich zu ihrer Widerlegung führte, stammt aus dem Süden Chiles, genaugenommen von einer Stelle namens Monte Verde, wo der Amerikaner Tom Dillehay und sein Team seit den 1970er Jahren Ausgrabungen vornehmen. Was sie zutage förderten, war revolutionär: Feuerstellen, Reste einer Art Ansiedlung, uraltes Mastodonfleisch und von Menschenhand gefertigte Werkzeuge, die nicht nur anders aussahen als alles, was man von Clovis kannte, sondern zudem auch 12 500 Jahre alt waren. Sogar einen menschlichen Fußabdruck fand man im Boden, normalerweise ein recht eindeutiger Beweis für die Anwesenheit von Menschen. Nach dem Clovis-Paradigma hätten die Urmenschen von Monte Verde früher als bisher angenommen über die Landbrücke nach Amerika gelangen müssen, in einer Zeit, in der große Teile Nordamerikas noch von Eis bedeckt waren. Die Wanderer wären nur bis in die Gegend des heutigen Fairbanks gekommen und dann auf den unüberwindlichen Gletscher gestoßen. Es muss also einen anderen Weg nach Monte Verde gegeben haben – und damit eine Prä-Clovis-Besiedlung Amerikas.

Monte Verde war nicht der erste Ort Amerikas, an dem man Spuren der Clovis-Vorgänger fand, aber in allen anderen Fällen konnte sich die Archäologengemeinde nicht zu einer einigermaßen einheitlichen Meinung durchringen. Jahrzehntelange Kontroversen gab es zum Beispiel um die Ausgrabungsstelle Meadowcroft, eine Wohnhöhle in Pennsylvania, in der James Adovasio und seine Kollegen in den 1970er Jahren Speerspitzen und andere Werkzeuge freilegten, deren Alter teilweise auf 16 000 Jahre geschätzt wurde – deutlich vor der Clovis-Schwelle. Viele Jahre versuchte Adovasio vergeblich, die Kritiker von seinem Fund zu überzeugen. Strittig waren dabei vor allem die Altersangaben. Die wichtigste archäologische Methode zur Altersbestimmung misst den Gehalt an «C14», einem Isotop des Kohlenstoffs, das radioaktiv ist und im Laufe der Zeit zerfällt. Die Menge des heute noch vorhandenen C14 kann daher als eine Art Uhr eingesetzt werden – sofern es einem gelingt, in den jahrtausendealten Ausgrabungsstätten die Kontrolle über alle Atome zu behalten. Zum Beispiel muss sichergestellt sein, dass die alten Knochen nicht auf verschlungenen Wegen mit jüngeren Kohlenstoff-Atomen verunreinigt wurden. Trotz aller Probleme: Im Falle von Monte Verde einigte sich die Fachwelt nach mehr als zwanzig Jahren Debatte auf eine allgemeine Akzeptanz der Prä-Clovis-Daten. Im Jahr 1997 kontrollierte ein ausgewähltes Konsortium aus Experten, von Adovasio als «Paläopolizei» bezeichnet, den Ausgrabungsort und bestätigte Dillehays Ergebnisse. In den Worten eines anderen Experten, David Meltzer aus Dallas, der dem Gremium angehörte: «Monte Verde war der Wendepunkt. Die Clovis-Latte war gerissen.» Seitdem herrscht wieder Ungewissheit über die Geschichte Amerikas.

Die Fundstücke aus dem Süden Chiles sind nicht das einzige Problem der Clovis-Theorie. So ist es zumindest zweifelhaft, ob die ersten Amerikaner wirklich alleine imstande waren, die Megafauna auszurotten. Heute geht man meist davon aus, dass entweder die extremen Klimaveränderungen am Ende der Eiszeit oder aber eingeschleppte Krankheitserreger den Urmenschen beim Kampf gegen die großen Felltiere zu Hilfe kamen. Andere Bedenken gegen das Clovis-Paradigma kommen von Linguisten, die seit langem klagen, dass 12 000 Jahre nicht dafür ausreichen, aus der Sprache der Clovis-Menschen die etwa 900 Indianersprachen zu entwickeln, die man zu Kolumbus’ Zeiten in Amerika vorfand. Entweder müsse Amerika deutlich früher besiedelt worden sein oder aber nacheinander von verschiedenen Völkern. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommen Genetiker: Von bestimmten Genen weiß man ungefähr, wie oft sie sich durch Mutation verändern. So kann man durch Vergleich der Gene von Nordamerikanern und Asiaten abschätzen, wie lange es her ist, dass sie sich voneinander trennten. Auch hier erhält man Daten, die auf eine Besiedlung Amerikas vor 15 000 bis 30 000 Jahren hindeuten, in Übereinstimmung mit dem, was die anderen Wissenschaften sagen.

In der Archäologie kommen die entscheidenden Argumente jedoch immer aus dem Boden. Darum waren viele froh, als im letzten Jahrzehnt die Erkenntnisse von Monte Verde an Ausgrabungsstellen mit Namen wie Cactus Hill, Topper und Taima-Taima, verstreut über ganz Amerika, bestätigt wurden. Nachdem die Clovis-Latte einmal gerissen war, gab es kein Halten mehr – einige der neueren Funde sind womöglich 30 000 bis 50 000 Jahre alt. Anhaltende Streitigkeiten unter den amerikanischen Archäologen sind für die nähere Zukunft garantiert.

Im Mittelpunkt dieser Diskussionen steht seit Sommer 1996 das Gerippe eines Mannes, der vor etwa 9000 Jahren im Nordwesten der USA lebte, in der Nähe der Stadt Kennewick. Damit ist der «Kennewick-Mann» fast doppelt so alt wie der europäische Eiszeitmensch «Ötzi». Der arme Mann muss ein hartes Leben geführt haben; er überstand verschiedene Blessuren an Schädel und Rippen und trug eine Speerspitze in seiner Hüfte mit sich herum. Die Nachbildung seines Gesichts, die in den Zeitungen erschien, sieht für den Laien verdächtig europäisch aus; in Wirklichkeit hatte er wohl eher Ähnlichkeit mit den Ureinwohnern Japans. Auf keinen Fall jedoch sieht er so aus wie die modernen Indianer, die sich gern als «First Americans» bezeichnen. Woher er auch stammt, er lag auf (oder vielmehr unter) dem Land, das vormals die Umatilla-Indianer besiedelten, und zwar, wie deren Volksglauben sagt, «seit Anbeginn der Zeit» und nicht erst seit ein paar Jahrtausenden, wie die Wissenschaft behauptet. Nun räumt ein amerikanisches Gesetz den Indianern das Recht ein, Überreste ihrer Vorfahren zu bestatten, und zwar ohne die Knochen vorher nach allen Regeln der Kunst untersuchen zu lassen. Wenn der Kennewick-Mann auf Umatilla-Boden lebte, dann war er, so sagen die Indianer, ein Umatilla. Archäologen erwidern, es sei stark zweifelhaft, ob das urzeitliche Skelett irgendetwas mit den modernen Indianern zu tun hat, und sähen es lieber im Labor als begraben. Seit mehr als zehn Jahren liegt Mr. Kennewick mehr oder weniger tatenlos herum und wartet auf ein Ende der Gerichtsverhandlungen. Letztlich geht es hier nicht nur um ein paar alte Knochen oder um akademische Streitereien, sondern um die Frage, wem Amerika gehört.

Wer aber waren sie nun, die Ureinwohner Amerikas, und wo kamen sie her? Seit die Zweifel am Clovis-Paradigma unübersehbar sind, werden vielfältige Varianten diskutiert. Die beste Lösung wäre natürlich eine Abstammung von Außerirdischen, aber darüber äußern sich ernsthafte Archäologen nur selten. Eine populäre Theorie behauptet, die Besiedlung Amerikas sei ein ausgedehnter Bootstrip entlang der Pazifikküste gewesen – oder, wie Adovasio es nennt, «der Yachtclub des späten Pleistozäns». Möglicherweise sind Urjapaner während der Eiszeit nichtsahnend in Richtung Amerika aufgebrochen – mit Paddel- oder Segelbooten nach Norden bis zur Bering-Landbrücke und anschließend der amerikanischen Küste folgend bis weit in den Süden. Hilfreich dabei: Der Kontinent war nie komplett mit Eis bedeckt, denn an der Küste blieb jeweils ein schmaler Streifen eisfrei, über den vermutlich auch Braunbären nach Süden vordrangen. Zudem war fast die gesamte Küstenlinie mit Urwäldern aus Seetang ausgestattet, was zum einen Meerestiere anlockte, die man als Wegzehrung verwenden konnte, zum anderen aber auch das Meer beruhigte und so die Seefahrt vereinfachte. Ein weiterer Vorteil der Bootstheorie: Man muss nicht mühsam durch Wüsten und Urwälder wandern und dabei ständig neue Riesentiere totschlagen. Am Ende hat die Besiedlung Amerikas vielleicht sogar Vergnügen bereitet. Leider ist die Yachtclubtheorie schwer zu beweisen, weil alle infrage kommenden Siedlungsorte an der Küste heute wegen des gestiegenen Wasserspiegels überschwemmt sind. Zudem liegen einige alte Fundstellen auf der anderen Seite Nordamerikas, und um dort hinzukommen, hätte man doch wieder harte Gewaltmärsche absolvieren müssen.

Eine weitere Idee, die seit einigen Jahren durch die Archäologie-Journale geistert, klingt wesentlich spektakulärer als ein geruhsamer Segeltrip entlang der amerikanischen Westküste. Offenbar ähneln die Clovis-Speerspitzen denen, die von den europäischen «Solutreanern» hergestellt wurden – zumindest behaupten das Wissenschaftler wie Dennis Stanford vom Smithsonian Institute. Die Solutreaner lebten vor etwa 20 000 Jahren an den Küsten Südeuropas und, so die Theorie, setzten von dort aus per Boot nach Amerika über, ein für diese Zeit einmalig waghalsiges Abenteuer. Menschen haben zwar schon weit früher Boote benutzt, aber gleich einen ganzen Ozean überqueren, mit Wind, Seekrankheit, Haifischen und allen möglichen anderen Unwägbarkeiten? Stammen die Amerikaner also von Europäern ab? Eine Hypothese, die in der Fachwelt mit gemischten Gefühlen betrachtet wird – einige halten sie vorsichtig ausgedrückt für Unfug, andere immerhin für plausibel. Die Besiedlung Amerikas könnte natürlich auch in mehreren Wellen erfolgt sein, zunächst per Boot aus Asien, dann per Schiff aus Europa, dann zu Fuß aus Asien oder umgekehrt oder ganz anders.

Wenn man den Atlantik überqueren kann, dann müssen auch andere Ozeane machbar sein. Deshalb schlagen einige Wissenschaftler Szenarien vor, in denen die Uramerikaner quer über den Pazifik entweder aus Asien oder aber aus Australien in ihre neue Heimat vordrangen. Unter anderem, um herauszufinden, ob großanlegte Seefahrtsabenteuer für Steinzeitmenschen prinzipiell infrage kamen, segelte der norwegische Abenteurer Thor Heyerdahl 1947 mit dem primitiven Floß Kon-Tiki von Südamerika nach Ozeanien. Letztlich hat er damit allerdings nur bewiesen, dass Thor Heyerdahl mit skurrilen Schiffen Weltmeere überqueren kann, über die Urmenschen sagt das wenig aus. Denn nicht alles, was machbar ist, wird von der Welt auch tatsächlich durchgeführt. Möglichkeiten für die Besiedlung Amerikas jedoch gibt es viele. Am Ende kamen «sie» gar aus der Antarktis: Schließlich ist es viel zu kalt dort und überdies die Hälfte des Jahres dunkel. Wer würde unter solchen Umständen nicht auswandern?