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ZEITGESCHICHTE ENTDECKEN!




REVOLUTIONEN

Ein historisches Lesebuch

Mit einer Einleitung von Stefan Wolle
Herausgegeben von Patrick Oelze

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
 www.dnb.de abrufbar.

INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG

Patrick Oelze: Revolution, Revolte, Rebellion?
Vorbemerkung zur Auswahl der Ereignisse und Texte

Stefan Wolle: Die Frage des Lampenputzers. Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft der Revolutionen

VORBILDER:
REVOLUTIONEN VOR 1900

Frankreich 1789

Günter Liehr: Die Französische Revolution:
Schreckensbild oder Verheißung?

Egon Friedell: Die Revolution

Europa 1848/49

Heinrich Heine: Paris 1848

Gernot Jochheim: Berlin 1848

Friedemann Schreiter: Sachsen 1849

Karl Marx: Über den Klassenkampf
in Frankreich 1848

Reinhold Vetter: Ungarn 1848

DAS JAHRHUNDERT DER REVOLUTIONEN:
1917 — 1989

Russland 1917

Jörg Baberowski, Robert Kindler, Christian Teichmann:
Russland im Oktober 1917

Frank Westerman: Maxim Gorki und die russische
Revolution

Deutschland 1918/19

Siegfried Heimann: Die deutsche Revolution von 1918/19
und die Rätebewegung

Rosa Luxemburg: Die Ordnung herrscht in Berlin

Chinas Revolutionen

Marcus Hernig: Vom 20. in das 21. Jahrhundert:
große Sprünge aus der Vergangenheit

DDR, 17. Juni 1953

Stefan Wolle: Der Aufstand. Flächenbrand in der DDR

Burghard Ciesla: Was war der 17. Juni 1953?

Ungarn 1956

Christoph Dieckmann: Das Blut der Befreiung.
Ungarische Revolutionserfahrungen

Kuba 1958/59

Bernd Wulffen: Vom Guerillakrieg zur Revolution

Europa 1968

Stefan Wolle: Der Prager Frühling

Günter Liehr: Die Mairevolte in Paris

Portugal 1974

Simon Kamm: Eine typisch portugiesische Revolution

Nicaragua 1979

Raimund Krämer: Das sandinistische Nicaragua

Iran 1979

Arash Sarkohi: Ayatollah Khomeini und
die islamische Revolution

Europa 1989

Stefan Wolle: Die DDR im Oktober 1989

Hannes Bahrmann, Christoph Links:
Berlin, 4. November 1989

Reinhold Vetter: Polen: Friedliche Revolution
am Runden Tisch

Hans-Jörg Schmidt: Tschechoslowakei 1989

Thomas Kunze: Rumänien 1989

REVOLUTIONÄRE:
IDEALISTEN, POPULISTEN, KULTFIGUREN

Patrick Oelze: Der Vergessene: Joseph Fickler

Ralf Höller: Der Betrogene: Emiliano Zapata

Alexander Osang: Die letzte Guerrillera: Tamara Bunke

Michael Sontheimer: Der Geduldige: Ho Chi Minh

Ulrich Chaussy: Der Prediger: Rudi Dutschke

Nikolaus Werz: Der Populist: Hugo Chávez

REVOLUTIONEN IM 21. JAHRHUNDERT:
VON DER KRAFT DES UMSTURZES HEUTE

Thomas Kunze, Thomas Vogel: Die Rosen-Revolution: Georgien 2003

Viktor Timtschenko: Revolution in Orange: Ukraine 2004

Markus Bickel: Die Zedern-Revolution: Libanon 2005

Thomas Schmid: Die Jasmin-Revolution: Tunesien 2010/11

Frank Nordhausen: Die Sieger des Tahrir-Platzes: Ägypten 2011

Kristin Helberg: Syrien: Die unvollendete Revolution

Steffen Dobbert: Ukraine 2014

SCHLUSS:
ZUKUNFTSMODELL REVOLUTION?

ANHANG

Kleine Chronik der Revolutionen 1789 bis heute

Sachregister

Quellenverzeichnis

Literaturempfehlungen

Zum Herausgeber

EINLEITUNG

Patrick Oelze

Revolution, Revolte, Rebellion?
Vorbemerkung zur Auswahl der Ereignisse und Texte

Es gibt Daten, die in einem zeithistorischen Lesebuch zu Revolutionen in jedem Fall vorkommen müssen: 1789, 1848/49 (beide wegen ihrer Vorbildfunktion für die Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts), 1917, 1918/19, 1989, 2011. Dazwischen hilft nur auszuwählen. Wesentliche Kriterien für die folgende Auswahl waren, ob die Revolution starken Vorbildcharakter entwickelte (wie etwa die kubanische Revolution 1958/59), als ein neuer Typus (wie die sogenannte islamische Revolution 1979) oder als Sonderform (wie die verordnete »Kulturrevolution« in China ab 1966) verstanden werden kann oder am Beginn einer Reihe von revolutionären Umwälzungen stand (wie die Revolution in Tunesien 2010/11). Für eine Diskussion der Frage, ob beziehungsweise welche Revolutionen es vor 1789 gab, sei auf die Literaturempfehlungen im Anhang verwiesen.

Hinzugenommen wurden aber auch Ereignisse, die nach strenger Terminologie nicht als Revolutionen bezeichnet werden können, aber revolutionären Charakter haben oder mit der Revolution verwandt sind: Revolte, Aufstand, Rebellion, Umsturz, Staatsstreich – wer sich mit Revolutionen befasst, stößt allenthalben auch auf diese Begriffe. Und eine Geschichte der Revolution ohne auch die Betrachtung solcher Formen des Protests, des Widerstands und des Machtwechsels bleibt unvollständig. Natürlich war beispielsweise die Studentenbewegung 1968 keine Revolution im engeren Sinne, aber ihre Protagonisten verstanden sich vielfach als Revolutionäre, bedienten sich revolutionärer Rhetorik und Theorie und arbeiteten unter Umständen auch sehr konkret auf eine Revolution hin. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR wiederum ist einerseits klar als eine abgebrochene Revolution zu identifizieren und andererseits sind die Revolutionen von 1989 ohne etwa die Protest- und Reformbewegungen 1953, 1956 (Volksaufstand in Ungarn), 1968 (Prager Frühling) oder auch 1980 (Solidarność in Polen) nicht denkbar. Kurz: Die Revolution ist auch dort historisch wirksam, wo sie nicht (oder nicht sofort) stattfindet.

Das Kapitel »Revolutionäre« kann nur eine besonders kleine Auswahl bringen. Hier werden Menschen vorgestellt, die weitgehend vergessen sind (wie Tamara Bunke), in den sonstigen Lesetexten nicht ausreichend Berücksichtigung finden (wie Ho Chi Minh) oder anhand deren Leben sich eine Revolution besonders gut darstellen lässt (wie bei Emiliano Zapata und der mexikanischen Revolution ab 1910).

Das Lesebuch soll möglichst viele verschiedene Lektüreweisen ermöglichen: das systematische Durcharbeiten für einen ersten Überblick, die gezielte Auswahl und Zusammenstellung von Texten zu einzelnen Ereignissen oder Sachverhalten oder auch das Querlesen auf der Suche nach interessantem Lesestoff. Um diese unterschiedlichen Zugänge zu erleichtern, sind einige Texte und Kapitel mit kurzen Einführungen versehen, die zusätzliche Informationen anbieten oder Anregungen geben, wie die vielen verschiedenen Revolutionen miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Durch ein Sachregister und eine kleine Chronik der Revolutionen im Anhang gibt es weitere Möglichkeiten zur Erschließung des Lesebuchs. Eine Literaturliste gibt Hinweise für die vertiefende Beschäftigung mit Revolutionen.

Das Lesebuch kann nur eine Idee davon vermitteln, wie komplex die Geschichte der Revolutionen ist. Es ist keine Zusammenstellung der kanonischen Texte zum Thema, ebenso wenig gibt es einen historischen Gesamtüberblick, und es ist auch keine systematisch-philosophische Auseinandersetzung mit der Absicht, einen bestimmten Revolutionsbegriff durchzusetzen.

***

Stefan Wolle

Die Frage des Lampenputzers
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Revolutionen

Wörter haben ihre eigene Lebensgeschichte. Sie werden geboren, durchlaufen vielfache Wandlungen und Deutungen und werden schließlich auf dem Friedhof historischer Enzyklopädien begraben. Eines der abenteuerlichsten Wortschicksale der letzten zweihundert Jahre durchlebte der Begriff der Revolution. Neben »Freiheit«, »Recht« und »Vaterland« dürfte der Begriff der Revolution mitsamt seinen Ableitungen zu den am häufigsten gebrauchten politischen Termini der Neuzeit gehören. In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Gebrauch des Revolutionsbegriffs geradezu inflationär. Vor allem in der Geschichte entdeckte man immer neue Revolutionen. Für den Beginn der Jungsteinzeit vor einigen Jahrtausenden erfand man den Begriff der neolithischen Revolution, die Reformation und den Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts definierte die marxistische Geschichtswissenschaft als frühbürgerliche Revolution und den Beginn des Kapitalismus als industrielle Revolution. Währenddessen übte sich die westliche Linke in den Posen und Parolen des revolutionären Kampfes. Gerne exportierte sie ihre revolutionären Sehnsüchte in exotische Länder. Je ferner die Schauplätze waren, desto unbefangener konnte man dem Geist der antiimperialistischen Solidarität huldigen.

Der schmetternde Begriff »Revolution« war fast ausschließlich positiv besetzt und durch die Linke gewissermaßen okkupiert. Vielleicht ist dies der Grund, dass eine der radikalsten und folgenreichsten Umwälzungen der Weltgeschichte, der Zusammenbruch des Sowjetimperiums, nicht mit dem Revolutionsbegriff versehen wurde. Erst spät wurde, in Anlehnung an die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei, die Friedliche Revolution der DDR geboren, ohne dass der sperrige Begriff in die lebendige Alltagssprache Eingang fand. Allerdings wurden die friedlichen Massenproteste seitdem zum Vorbild für demokratische Bewegungen rund um die Welt. In manchen Fällen gelang es in den letzten Jahren, korrupte Regimes »wegzudemonstrieren«. Das bedeute nicht immer einen Fortschritt im Sinne der liberalen und demokratischen westlichen Gesellschaft. In vielen Fällen folgte auf die Volksbewegung nichts als das blanke Chaos, wie in Libyen oder Syrien. Dennoch haben die Herrschenden in aller Welt Grund genug, sich Sorgen um ihre Volkstümlichkeit zu machen. Was geschehen ist, lässt sich nicht wieder wegwischen. Die Massen lassen sich aufgrund neuer technischer Möglichkeiten der Kommunikation immer weniger disziplinieren. Man wird keinen Algorithmus der Revolution entdecken. Auch für neue Revolutionstheorien ist kaum Raum – zu unterschiedlich und widersprüchlich sind die Ereignisse, denen in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren das Etikett Revolution angeheftet wurde. Doch immerhin lassen sich einige wiederkehrende Grundmuster feststellen. Allein deswegen lohnt der Blick zurück auf die Revolutionen der letzten beiden Jahrhunderte.

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben

Am Abend des 14. Juli 1789 schrieb der französische König Ludwig XVI. in sein Tagebuch: »rien«. Das bedeutet schlicht und einfach: »nichts«. Es war der Tag der Erstürmung der Bastille, jenem Donnerschlag, mit dem die Französische Revolution begann. Die militärische Bedeutung des Sturms auf die alte Befestigungsanlage war gering, die Symbolkraft aber war ungeheuer und wurde schon damals in Frankreich und im Ausland, insbesondere in Deutschland, stark empfunden. Dem König war am Abend des welthistorischen Tages der Vorgang keiner Erwähnung wert. Kenner der historischen Dokumente haben eingewendet, es habe sich bei den Aufzeichnungen des Königs um ein Jagdtagebuch gehandelt und bedeute lediglich, seine Allerchristlichste Majestät habe an jenem Tag weder einen Bock noch ein anderes edles Wild geschossen. Tatsächlich hätte er an jenem Tag mehrere politische Unterredungen geführt und wäre über die Vorgänge in Paris gut informiert gewesen. Das mag so sein, macht die Sache aber nicht besser. Offenbar war ihm sein Jagderfolg in höherem Maß erwähnenswert als das Schicksal der Nation. Mit seinem »rien« unterschrieb er das Todesurteil für die Monarchie in Frankreich. Welche Winkelzüge und taktischen Manöver er bis zu seinem Ende unter dem Fallbeil am 21. Januar 1793 auch vollführen sollte, er hat dieses »rien« niemals zurückgenommen. König Ludwig XVI. fühlte sich als unschuldiges Opfer des entfesselten Pöbels und hoffte allein auf die Hilfe der Potentaten des alten Europa. Er gab damit ein Beispiel für die Blindheit der Herrschenden gegenüber den kommenden Dingen. Das eigene politische Ende entzieht sich immer – oder wenigstens fast immer – dem Vorstellungsvermögen der Herrschenden, ob sie sich auf das Gottesgnadentum oder das Gesetz der Geschichte berufen. Wenn ihr Sturz dann zur unabweisbaren Tatsache geworden ist, folgt fast immer eine wehleidige Uneinsichtigkeit.

So erging es zweihundert Jahre nach dem Sturm auf die Bastille Erich Mielke, dem allmächtigen und gefürchteten Minister für Staatssicherheit der DDR. Während einer Dienstbesprechung am 31. August 1989 erläuterte der Chef der MfS-Bezirksverwaltung Gera, Oberst Dieter Dangrieß, die politisch-operative Lage in seinem Verantwortungsbereich: »Genosse Minister, ich würde sagen, natürlich ist die Gesamtlage stabil. Aber diese Tendenzen … das stimmt einerseits doch viele auch progressive Kräfte nachdenklich, vor allem auch im Hinblick auf die Konsequenzen.« Der Minister unterbrach das konfuse Gestammel seines Obersten: »Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?« Man spürt förmlich, wie der altgediente Offizier Haltung annimmt: »Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.« Nach weiteren Berichten aus der DDR-Provinz mit vielen grotesken Einzelheiten wird Generalleutnant Manfred Hummitzsch, der Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig, noch einmal grundsätzlich: »Ansonsten, was die Frage der Macht betrifft, Genosse Minister, wir haben die Sache fest im Griff.« Genau dies sollte sich als Irrtum erweisen. Fünf Wochen später wich in Leipzig die bis an die Zähne bewaffnete Staatsmacht vor der unbewaffneten Menge der Demonstranten zurück, weitere vier Wochen später fiel die Mauer. Mielkes Schnüffelapparat hätte all dies voraussehen müssen. Dafür war er ja da, wie Oberst Dangrieß vollkommen richtig bemerkt hatte. Wenn irgendwo im Lande ein Mäuschen hustete, wurde dies seit Jahr und Tag zu Papier gebracht, Maßnahmepläne erarbeitet, Inoffizielle Mitarbeiter eingesetzt, Zersetzungsaktionen geplant und Aktenordner gefüllt. Die offenbaren Zeichen des Untergangs aber entzogen sich dem Vorstellungsvermögen der Allmächtigen. Kein noch so hochgezüchtetes System der Kontrolle, Überwachung und Analyse ist offenbar in der Lage, der Blindheit der Herrschenden abzuhelfen. Je fester ihre Macht gegründet scheint, auf desto schwächeren Füßen steht sie. Je tiefer die verordnete Friedhofsruhe der Despotie ist, desto heftiger sind schließlich die Explosionen, die sie eines Tages hinwegfegen.

Die Freiheit führt das Volk

Pulverdampf, malerisch drapierte Leichen, heroische Jünglinge mit Musketen, Säbeln und Pistolen und an deren Spitze die Allegorie der Freiheit mit nacktem Busen und einer im Sturmwind wehenden Trikolore. So ist Revolution – jedenfalls auf dem Gemälde »Die Freiheit führt das Volk« von Eugène Delacroix aus dem Jahr 1831. Das Bild hatte der neue König Louis Philippe in Auftrag gegeben, um damit die Revolutionäre zu ehren, die ihn auf den Thron gebracht hatten. Drei glorreiche und blutige Tage lang, vom 27. bis 29. Juli 1830, hatte das Volk auf den Barrikaden für Freiheit und Recht gekämpft. Nun sollte es nicht enttäuscht werden. Der Bürgerkönig aus dem Hause Orléans zog sich gewissermaßen die Jakobinermütze über die imaginäre Krone. Er führte die Marseillaise als Hymne und die Trikolore als Fahne wieder ein. Überhaupt sollte der Geist der großen Revolution von 1789, die damals bereits 43 Jahre zurücklag, wiederbelebt werden. Auf dem Platz, wo einst die Bastille gestanden hatte, legte der König eigenhändig den Grundstein für eine Gedenksäule. Die Helden der Erstürmung der Zwingburg sollten eine Staats pensión erhalten, und es meldeten sich erstaunlich viele, die damals dabei gewesen sein wollten. Daraufhin wurde die Zahl der Begünstigten und die Höhe der Rente stark reduziert, und auch das Gemälde von Delacroix verschwand nach dem Pariser Salon von 1832 für Jahrzehnte im Magazin des Louvre.

Doch das Gemälde von Delacroix schuf eine revolutionäre Ikonografie, derer sich jeder bedienen durfte, der sich den Umsturz auf seine Fahnen geschrieben hatte. Georg Büchner setzte 1833 über seine Flugschrift »Der Hessische Landbote« einen der Wahlsprüche der großen Revolution der Franzosen: »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!«. Die hessischen Bauern aber dachten nicht daran, sich gegen die Feudalherrschaft zu erheben, sondern trugen das aufrührerische Heft ungelesen zu ihrer Obrigkeit. Heroische Momente sind selten in der Geschichte, schon gar in der deutschen Geschichte. Umso mehr bedarf es der großen Geste und Symbole.

Völker, hört die Signale

Auch die sozialistische Arbeiterbewegung, die doch ein gänzlich neues Kapitel der Menschheitsgeschichte aufzuschlagen angetreten war, sah sich gerne in der Tradition jener Revolutionen, die sie nun als bürgerlich definierte, zumal deren Forderungen, wie das allgemeine Wahlrecht oder die dem Parlament verantwortliche Regierung, noch keineswegs vollständig erfüllt waren. Mehr noch als in anderen Ländern war dies in Russland der Fall. Auch führende Theoretiker der Revolution waren der Ansicht, dass zunächst eine bürgerlich-demokratische Revolution den Weg zur parlamentarischen Demokratie frei machen sollte, auf deren Basis sich dann das Proletariat und eine marxistische Partei entwickeln könnten. Die vielbändige Darstellung der Französischen Revolution von Jules Michelet gehörte zum geistigen Marschgepäck der intellektuellen Avantgarde Russlands. Der russische Anarchist Fürst Kropotkin hatte sogar eine eigene Geschichte der Revolution verfasst, die Lenin angeblich geschätzt hat und für deren Neudruck er sich nach 1917 eingesetzt haben soll.

Lenin und seine Kampfgefährten sahen sich als die Jakobiner der russischen Revolution. Angeblich ließ sich Lenin im engsten Kreise gerne Maximilien nennen, als sei er der wiedererstandene Geist von Robespierre, der als der »Unbestechliche« in die Annalen der Revolution eingegangen war. Als sein engster Kampfgefährte Trotzki von Stalin außer Landes getrieben wurde, sprach dieser gerne von einem »Thermidor«. Er meinte damit jenen Monat im französischen Revolutionskalender, in dem 1794 die Diktatur der revolutionären Tugend endete und die Herrschaft der neureichen Revolutionsgewinnler begann.

Stalin und die ihm folgenden Sowjetpotentaten und Provinzstatthalter sahen das freilich ganz anders. Bis 1989 gehörten in den sozialistischen Ländern die Revolutionen seit 1789 zum bevorzugten Stoff der Geschichtsschreibung. In der DDR blühte eine vergleichende Revolutionsgeschichtsforschung, deren Hochburg die Leipziger Karl-Marx-Universität war. Sie stellte eine Typologie der Revolutionen von der englischen Revolution unter Oliver Cromwell bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf. Doch auch in der DDR sollte es eine Revolution gegeben haben. So erfand man in der Zeit von Walter Ulbricht die antifaschistisch-demokratische Revolution von 1945, die allerdings nach Ulbrichts Sturz klammheimlich durch eine Umwälzung gleichen Namens ersetzt wurde. So bastelte die marxistisch-leninistische Historikergilde an einem umfassenden Revolutionszyklus und verschlief dabei die Revolution im eigenen Land. Eine durch und durch konservative Gesellschaft mit einer defensiven und pragmatischen Führung liebte die revolutionäre Rhetorik. Verbal wurden Fahnen geschwenkt, Revolutionslieder gesungen und sogar neue gedichtet und komponiert. Die auf Disziplin getrimmten Jugendlichen sollten »Junge Revolutionäre« sein. Wer es wirklich wurde, landete oft genug hinter Gittern.

Das blieb natürlich nicht ohne Spuren. Die Demonstranten im Herbst 1989 sangen – ehe die Sprechchöre in Leipzig und Dresden »Helmut, Helmut« skandierten – trotzig die »Internationale« und »Spaniens Himmel«. Zum einen, weil die Leute in der Schule keine anderen Lieder gelernt hatten, zum anderen, weil sie zeigen wollten, dass sie keine Konterrevolutionäre waren. Als es am 24. Oktober 1989 in Berlin zur ersten friedlichen Demonstration kam, wehte dem Zug, der von der Gethsemanekirche zum Staatsrat am Marx-Engels-Platz führte, eine einsame rote Fahne voran und die Hausfassaden im Prenzlauer Berg hallten wider von dem immer wieder gesungenen »Völker hört die Signale«. Doch dies war kein neuer Aufbruch zu den verschütteten Idealen des Kommunismus, sondern der Schlusspunkt eines langen Abschieds.

Die Revolution frisst ihre Kinder

Über die Frage, was aus den Revolutionären des Herbstes 1989 in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR geworden ist, wurde schon viel geschrieben. In wechselnden Varianten taucht dabei das Wort von der Revolution auf, die die eigenen Kinder fressen würde. Das Zitat geht auf Georg Büchners Revolutionsdrama »Dantons Tod« zurück. Der Dichter greift ein geflügeltes Wort auf, das angeblich schon während der sogenannten Schreckenszeit von 1793/94 kursierte.

Büchner schuf mit »Dantons Tod« nicht nur eines der besten deutschen Dramen, sondern auch die wohl eindringlichste literarische Darstellung revolutionärer Dynamik. Der Terror der Jakobiner richtete sich zuerst gegen die ehemaligen Aristokraten und Priester, die den Eid auf die Verfassung verweigerten, dann gegen die Gemäßigten, die dem blutigen Werk der Guillotine Einhalt gebieten wollten, schließlich gegen die Radikalen, denen eine Abschaffung des Privateigentums und des Christentums vorschwebte. Der Unbestechliche war zum »Blutmessias« geworden, wie es Danton in Büchners Stück ausdrückte. Die Freiheitsrechte galten nur noch für seine eigene Anhängerschaft, und im Reich der Vernunft regierte der Terror. Robespierre schickte ehemalige Freunde wie Camille Desmoulins und Kampfgenossen wie Georges Danton aufs Schafott und endete schließlich mitsamt seinen engsten Anhängern selbst durch das Fallbeil der Guillotine.

Diese Tragödie wiederholte sich unter wechselnden Vorzeichen immer wieder. Offenbar waltet hier eine innere Logik der Revolution. Die hohen Menschheitsideale, in deren Namen Revolutionen veranstaltet werden, erweisen sich im Kampf gegen die Gegner der Revolution als untauglich. Zunächst wird die Glücksverheißung auf unbestimmte Zeit verschoben, dann vergessen und schließlich ins Gegenteil pervertiert.

Wie Stalin in den 1930er Jahren die alte Garde der Bolschewiki abschlachtete, ist oft geschildert worden. Mit den Protagonisten des illegalen Kampfes, der Revolution und des Bürgerkriegs starben auch die revolutionären Ideale. Von ihnen blieb schließlich nicht mehr als einige Redensarten.

Nach anderen Revolutionen waren die Verhältnisse teilweise zivilisierter. Die Aktivisten des Widerstands und des Kampfes verschwanden meist von der politischen Bühne, oder sie wurden, soweit sie sich nicht längst selbst demontiert hatten, auf einflusslose Posten abgeschoben. Dass einige von ihnen, wie Václav Havel oder Lech Wałęsa, mehr oder weniger kurze Zeit als Aushängeschild der neuen Demokratie fungierten, änderte an dem Grundprinzip wenig. Als idealtypisch darf vielmehr das Schicksal der Kranführerin Anna Walentynowicz gelten, die tatsächlich im August 1980 Streikführerin auf der Leninwerft in Danzig war und nach der Wende von einer kläglichen Rente vergessen in einer Einzimmerwohnung lebte. Das Geheimnis dieses Rotationsprinzips ist nicht schwer zu erklären. Eine Widerstandshaltung gegen herrschende Systeme weniger aus ideologisch präformierten Denkmustern, sondern weit mehr aus charakterlichen Strukturen. Diese aber sind der gesunden bürgerlichen Aufstiegsmentalität geradezu konträr. Aus Rebellen werden nur selten brave Beamte.

Wie man revoluzzt und dabei trotzdem Lampen putzt

Der Dichter und Anarchist Erich Mühsam schrieb 1907 ein satirisches Lied, das er ausdrücklich und natürlich in hämischer Absicht der deutschen Sozialdemokratie widmete. Der »Revoluzzer als Lampenputzer« war für ihn der ewige Sozi, der im »Revoluzzerschritt« mit den Revoluzzern geht. Als diese beginnen, die Lampen »zwecks des Barrikadenbaus« aus dem Straßenpflaster zu reißen, bittet der Lampenputzer sie darum, die Laternen zu schonen, die er sein Leben lang treu und brav geputzt hat: »Wenn wir ihn’ das Licht ausdrehen, / Kann kein Bürger nichts mehr sehen, / Laßt die Lampen bitte stehen, ich bitt / Denn sonst spiel’ ich nicht mehr mit!« Natürlich findet er kein Gehör: »Doch die Revoluzzer lachten, / Und die Gaslaternen krachten«. Der Lampenputzer schlich sich davon und schrieb zu Hause ein Buch, »Nämlich, wie man revoluzzt / Und dabei doch Lampen putzt.«

Den Widerspruch zwischen revolutionärer Gewalt und Humanität durfte Mühsam während der Münchener Räterepublik durchleben. Nun wurde das Verseschreiben über die Revolution zum blutigen Ernst. Entsetzt wandte er sich vom Terror der Kommunisten ab, was ihn und andere Kaffeehausrevolutionäre der Schwabinger Boheme nicht vor langen Haftstrafen bewahrte. Unmerklich verkehrte sich der Sinn des berühmten Liedes in sein Gegenteil. Auch die Tatsache, dass der Text seit den 1960er Jahren von mehreren linken Liedermachern aufgegriffen wurde, ändert daran nichts. Die »zwecks des Barrikadenbaus« aus dem Straßenpflaster gerupften Gaslaternen werden im Lichte der Erfahrung des 20. Jahrhunderts zur Metapher für die zerstörerische Kraft der Revolutionen, die sich oft genug nicht allein gegen die Straßenbeleuchtung richtete, sondern auch vor Hekatomben von Menschenopfern nicht haltmachte. Die revolutionäre Folklore hat ihre Anziehungskraft verloren. Systemsprengende Theorien gelten wenigstens in der westlich-liberalen Welt als wenig brauchbar. Die großen Gesellschaftsutopien des 19. Jahrhunderts haben ihre Unschuld verloren. Die Zeichen stehen auf Evolution, nicht auf Revolution.

Dennoch begann im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts offenbar eine neue Serie von revolutionären Ereignissen. Als im Frühling 2011 in Tunesien und Ägypten die Massendemonstrationen gegen die vom Westen finanzierten Diktaturen begannen, fühlten sich viele Menschen an die Bilder von 1789, 1848 oder 1989 erinnert. Dank der modernen Kommunikationsmittel erlebte die Welt hautnah einen neuen Aufbruch. Doch gerade erfolgreiche Revolutionen durchlaufen nach dem Zauber des Neubeginns eine Phase der Differenzierung und der Desillusionierung. Solange auf dem Maidan im Zentrum Kiews die Menschen geschlossen und heroisch gegen eine korrupte und gewalttätige Führungsclique standen, durften sich die Helden der Revolution der Sympathien der Welt sicher sein. Im Moment des Sieges begannen, wie bereits nach der Orangenen Revolution des Jahres 2004, die Probleme, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Trotzdem zeigen die Volksbewegungen der letzten Jahre eine neue Qualität. An die Stelle der Flugschriften von 1789 und der Telegrafenmeldungen von 1917 ist das Internet getreten, das offenbar keine Diktatur der Welt mehr beherrschen kann. Gleichzeitig aber zeigt sich, dass die europäischen und nordamerikanischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts in der arabischen Welt, in Osteuropa oder in Asien nicht einfach zu kopieren und damit historisch nachzuvollziehen sind. Wo eine potenzielle Mehrheit dem religiösen Fundamentalismus und rückwärtsgewandten Lebensvorstellungen zuneigt, hebt sich der Gedanke der Demokratie selbst auf. Zukunftsweisend ist tatsächlich die Frage des verhöhnten Lampenputzers: »Nämlich, wie man revoluzzt / Und dabei doch Lampen putzt.«

VORBILDER

REVOLUTIONEN VOR 1900

FRANKREICH 1789

Die Französische Revolution von 1789 ist so etwas wie die Urfassung dessen, was seitdem und bis heute als (politische) Revolution verstanden wird: Eine umfassende Umwälzung, ein plötzlicher Umsturz der Staatsverfassung, der nicht aus den bestehenden Verhältnissen selbst hervorgeht, sondern die häufig gewaltsame, illegale, in jedem Fall aber massenhafte Erhebung erfordert. Allerdings ist es heute in der Regel keine Monarchie mehr, wie 1789 in Frankreich, die solcherart gestürzt wird, sondern es sind totalitäre Regime. Und den Titel der Revolution verleihen wir unter Umständen auch dann, wenn der Umsturz keinen Erfolg zeitigt, er ein Versuch bleibt.

Der Historiker Karl Griewank (1900 — 1953) fügte in seiner Definition des Revolutionsbegriffs dem »stoßweise[n] und gewaltsame[n] Vorgang« sowie den »Gruppen- und Massenbewegungen« ein drittes Element hinzu: »die ideelle Form einer programmatischen Idee oder Ideologie, die positive Ziele im Sinne einer Erneuerung, einer Weiterentwicklung oder eines Menschheitsfortschrittes aufstellt.«1 Im Falle der Französischen Revolution wird diese »ideelle Form« meist in die Formel »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« gefasst. Für Griewank ist die Revolution als politisches Phänomen also daran geknüpft, dass der Umwälzung die Idee von einer anderen (gerechteren, freieren, solidarischeren) Zukunft zugrunde liegt, die es zu erreichen gilt. Die Philosophin Hannah Arendt (1906 — 1975) argumentiert in eine ähnliche Richtung, wenn sie als Ziel der Revolution die »Freiheit für alle« definiert und feststellt, dass die Modernität der Revolution vermutlich nichts so charakterisiere, »als daß sie von vornherein beanspruchte, die Sache der Menschheit zu vertreten«.2 Und in der Tat unterscheidet sich die Revolution von einem Staatsstreich, Putsch oder einer Rebellion auch dadurch, dass sie durch die Vorstellung von einer besseren Welt getragen wird; wobei nicht jeder unter »besser« dasselbe versteht.

Ursprünglich war der Begriff »revolutio« nicht auf die Herstellung eines neuen Zustandes im Sinne einer Vorwärtsbewegung gerichtet, sondern bezeichnete im Gegenteil die Wiederkehr, »Bewegungen des Herumwälzens und des in sich zurückkehrenden kreisförmigen Umlaufes«, etwa den Mondumlauf.3 Nikolaus Kopernikus nannte um die Mitte des 16. Jahrhunderts die sich wiederholende, gleichförmige Bewegung der Himmelskörper »revolutio«. Und auch am Anfang seiner politischen Karriere stand der Begriff der Revolution nicht für die radikale Abkehr vom Gegebenen, sondern für die Rückkehr zu einem früheren Zustand, der als besser, gerechter, natürlicher oder gar als göttlich verstanden wurde. In diesem Sinne waren die Protagonisten des Bauernkrieges 1525 mit ihrer Forderung nach der Rückkehr zu einem »alten« oder »göttlichen« Recht re-volutionär. Im 17. Jahrhundert ist dies schon anders. Mit der »Glorious Revolution« in England 1688 ist »Revolution« endgültig als Bezeichnung für einen »dauerhaften politischen Umschwung« etabliert.4 Doch erst 1789 – und das macht die welthistorische Bedeutung der Französischen Revolution wesentlich aus – wurde die Revolution zu einem bewussten Instrument zur Gestaltung der Zukunft: »Hier zuerst ist Revolution nicht nur nachträglich festgestellt, sondern bewußt erlebt und in langen Kämpfen durchgesetzt, schließlich auch wieder bestritten worden.«5 Mit anderen Worten: Eine Revolution lässt sich ab 1789 nicht mehr nur im Nachhinein feststellen, sie wird gemacht.

Die Amerikanische Revolution (1763 — 1776) konnte im Vergleich zur Französischen Revolution nie eine ähnlich bedeutende Vorbildfunktion gewinnen, auch wenn die Verfassung der Vereinigten Staaten und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als wahrhaftig tiefgreifende Neuordnung der sozialen und politischen Verhältnisse und in diesem Sinne als revolutionär aufgefasst werden können. Für die beschränkte Wirkungsmacht der Amerikanischen Revolution als unmittelbarer Anstoß für Revolutionen anderswo lassen sich sicherlich viele Gründe anführen. Die beiden wichtigsten sind wohl, dass sich erstens die Umwälzungen in Nordamerika nicht in einem kurzen, klar definierten Zeitraum vollzogen, sondern über Jahrzehnte andauerten und eher als Unabhängigkeitsbewegung verstanden wurden denn als Revolution.

Als Blaupause für eine revolutionäre Erhebung war der explosionsartige Ausbruch von 1789 mit dem Sturm auf die Bastille da viel besser geeignet als der langwierige Freiheitskampf der englischen Kolonien in Nordamerika. Hinzu kommt, dass die Revolution in Frankreich sich als Idealtypus anbot, weil sie so viele unterschiedliche Phasen wie in einem natürlichen Zyklus durchlief – der Kulturhistoriker Egon Friedell spricht von der »tadellosen Parabel«, in der sich die »Kurve der Revolution« vollziehe: Monarchie, konstitutionelle Monarchie, Etablierung der bürgerlichen Republik, Sieg der radikalen Demokraten, Steigerung zur Terrorherrschaft, Rückkehr zur Republik, bürgerlichen Republik, konstitutionellen Monarchie und schließlich wieder zur Monarchie. Am Anfang der Französischen Revolution steht König Ludwig XVI., in der Mitte (auf dem Scheitelpunkt der Parabel) Bürger Robespierre, am Endpunkt steht Kaiser Napoleon …

Zweitens zeitigte die Französische im Gegensatz zur Amerikanischen Revolution ganz unmittelbare politische Folgen weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus. Die Französische Revolution wurde mit anderen Worten sehr rasch ein europäisches Ereignis und wälzte die geistige und politische Landschaft des Kontinents vollständig um. So wurde sie unmittelbar zum Vorbild etwa für deutsche »Jakobiner«. Und durch die Koalitionskriege – die Kriege des revolutionären und später des napoleonischen Frankreichs gegen die europäischen Monarchien wie Österreich, Russland, Spanien, Preußen oder Großbritannien – wurde das französische Revolutionsmodell schließlich regelrecht in weite Teile Europas exportiert.

Insbesondere in den deutschen Staaten betrachteten viele, je nach politischem Standpunkt und je nachdem, welchen Grad an Radikalisierung die Revolution erreicht hatte, die Ereignisse des Jahres 1789 in Paris mit Bewunderung oder Abscheu.

Günter Liehr

Die Französische Revolution: Schreckensbild
oder Verheißung?

Mit dem Sturm der Pariser Volksmassen auf die Bastille am 14. Juli 1789 wurde der Untergang des Ancien Régime besiegelt. Eine tiefgreifende Umgestaltung von Staat und Gesellschaft setzte ein, Feudalrechte wurden abgeschafft, die Erklärung der Menschenrechte verabschiedet.

Ein Funke der Begeisterung sprang auch auf andere europäische Länder über. Gottes- und obrigkeitsfürchtige Deutsche verteufelten die Revolution mitsamt den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, denn auch die Machtstrukturen in den vereinzelten deutschen Kleinstaaten waren dadurch gefährdet. Bei unabhängigeren Geistern allerdings stieß das Ereignis – anfangs zumindest – auf sehr positive Resonanz: »Von diesem Moment an erwachte neues Leben in mir, voller unerhörter Hoffnung auf eine vollkommene Veränderung der Welt«, jubelte Johanna Schopenhauer, als sie vom Sturm auf die Bastille hörte.6 Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel schwärmte vom »herrlichen Sonnenaufgang«, während Friedrich Gottlieb Klopstock 1789 in seinem Gedicht »Kennet euch selbst« ausführlich »des Jahrhunderts edelste That« besang, wofür ihn die Pariser Nationalversammlung mit einem Bürgerdiplom ehrte. »Wer hätte den französischen Sprudelköpfen die Besonnenheit zugetraut, mit der sie jetzt zu Werke gehen?«, staunte auch der Literat Johann Heinrich Voß. Im liberalen Hamburg organisierten weltoffene Kaufleute 1790 eine Bastille-Feier und erhoben ihre Gläser auf die Abschaffung des Fürsten-Despotismus. »Es war ein herrlicher Tag, und es wurde manche Thräne der Rührung vergossen«,7 berichtete Adolph Freiherr von Knigge. […] Als Sieg des Lichts über die Finsternis wurde von kritischen Geistern in deutschen Landen die Revolution gefeiert. An deutschen Universitäten begann es zu gären. Professoren wetterten gegen die Kleinstaaterei und riskierten Berufsverbot. Unzählige reisten als deutsche Revolutionspilger nach Paris, um das weltgeschichtliche Ereignis in Augenschein zu nehmen oder, wie es Joachim Heinrich Campe in seinen »Briefen aus Paris« ausdrückte, »dem Leichenbegängnis des französischen Despotismus beizuwohnen«. Campe beschwerte sich über die böswillige, ungerechte »Beurtheilung der großen, für die gesammte Menschheit so überaus wohlthätigen französischen Revolution«, die die deutschen Medien durchzog.8 Den Besuchern, die sich ins Pariser Getümmel stürzten, musste die Allgegenwart der ungehinderten politischen Debatten wie ein Wunder erschienen sein, und sie ließen sich von der revolutionären Begeisterung mitreißen.

Aber dann, nach den Septembermorden des Jahres 1792, als angesichts der Bedrohung durch die preußischen Truppen die Insassen Pariser Gefängnisse vom eindringenden Plebs recht wahllos massakriert wurden, wandte sich doch mancher ab, der zunächst die Umwälzung begrüßt hatte. Deutsche Geistesgrößen sahen nun die Gefahr einer »Pöbelherrschaft« auf Europa zukommen. Dieses Blutbad bestätigte die Meinung konservativer Revolutionsgegner und erleichterte die Diffamierung der Revolutionssympathisanten. […]

Dennoch gab es weiterhin jene, die trotz allem das revolutionäre Ideal im Blick behielten. Eine Hochburg der Revolutionsanhänger war die Universität Jena noch Mitte der 1790er Jahre. Es gab dort geheime politische Klubs, man heftete sich Kokarden an den Hut, malte sich die rote Jakobinermütze in die Stammbücher und schrieb dazu Verbalradikales wie »liberté ou la mort« oder auch »Die Menschheit wird von bitterm Harm und Tyrannei gekränkt, bis an dem letzten Pfaffendarm der letzte König hängt«. Jugendlicher Übermut, gewiss. Manche aber machten ernst, engagierten sich bei den französischen Revolutionstruppen und fielen für die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Vergessen sind die meisten ihrer Namen.

Im Oktober 1792, als die französischen Truppen im Krieg gegen die revolutionsfeindliche Koalition den Rhein entlang vorstießen, wurde in Mainz nach Pariser Vorbild der Jakobinerklub »Freunde der Freiheit und Gleichheit« gegründet. Im März 1793 rief der frisch gewählte Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent für das Gebiet von Landau bis Bingen einen »freien, unabhängigen und unteilbaren Staat«, die Mainzer Republik, aus. Ihre Souveränität wurde allerdings schon nach drei Tagen aufgegeben, denn bedrohlich näherten sich die feindlichen Truppen. Daher entschloss sich der Mainzer Freistaat, sich mit der französischen Republik »brüderlich und unzertrennlich« zu vereinigen. Dennoch eroberten preußische Truppen im Juli das Gebiet zurück und machten dem Experiment ein Ende. Die Freiheitsfreunde, sofern sie nicht fliehen konnten, wurden eingekerkert. In Paris sammelten sich geflohene Republikaner. Wie sie wurden später auch andere deutsche Jakobiner verfolgt, ins Exil getrieben und totgeschwiegen.

Etwas weiter nördlich, im französisch besetzten Gebiet zwischen Köln und Koblenz, schickten sich republikanische Rheinländer im Sommer 1797 an, eine Cisrhenanische (also links des Rheins gelegene) Republik zu gründen, mit grün-weiß-roter Trikolore als Flagge. Aber die zunächst auch von Frankreich angestrebte deutsche Tochterrepublik kam dann doch nicht zustande. Im November wurde stattdessen das gesamte linksrheinische Gebiet, darunter auch Mainz, annektiert, und es entstanden vier neue französische Départements.

(Aus: Liehr: Frankreich. Ein Länderporträt, S. 17 – 19)

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Die Französische Revolution wurde in vielen Dingen stilprägend. Die Nutzung eines geheimen Untergrunds etwa gehört zum Repertoire einer Revolution wie die Errichtung von Barrikaden oder die Besetzung eines städtischen Zentralplatzes. Der Pariser Untergrund war seit 1789 immer wieder Rückzugsort für Aufständische und Widerstandsgruppen und Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen. Im Juni 1848 metzelten Regierungstruppen Hunderte u.a. in den Höhlen von Montmatre nieder und beendeten damit den Aufstand der Arbeiter (Junirevolution), die von der bürgerlichen Februarrevolution in Frankreich enttäuscht waren. Im Mai 1871 flohen zahlreiche Anhänger der Pariser Kommune, des revolutionären Stadtrates, der versuchte, eine sozialistische Republik zu errichten, in den Untergrund von Paris. Hunderte wurden dort von den französischen Regierungstruppen aufgespürt und wahllos exekutiert.

Wie sehr sich der Untergrund als Ort des politischen Widerstandes etabliert hat, zeigt seine heutige Verwendung im übertragenen Sinne: Wer »in den Untergrund« geht, verlässt laut dem »Deutschen Universalwörterbuch« der Dudenredaktion die Gesellschaft bzw. die Legalität.

Die Französische Revolution wurde recht bald in die Tradition der Volkserhebungen gestellt, die vom 14. bis zum 18. Jahrhundert immer wieder die feudale Ordnung Europas erschütterten. Für Heinrich Heine vollendete die Französische Revolution beispielsweise die Forderungen des blutig niedergeschlagenen deutschen Bauernkriegs 1524/25, eine Auffassung, die später von Friedrich Engels und Karl Marx aufgenommen wurde. Der Theologe Thomas Müntzer, die Leitfigur des Bauernkriegs in Thüringen, rückte dabei wegen der Radikalität seiner Forderungen ins Zentrum, er wurde als früher Revolutionär aufgefasst. Für Heinrich Heine war er gar »einer der heldenmütigsten und unglücklichsten Söhne des deutschen Vaterlandes, ein Prediger des Evangeliums, das nach seiner Meinung nicht bloß die Seeligkeit im Himmel verhieß, sondern auch die Gleichheit und Brüderschaft der Menschen auf Erden befehle …«.9 In der DDR wurde Thomas Müntzer ein wichtiger Posten für die Bildung einer revolutionären Tradition, auf die man sich berief.

Egon Friedell (1878 — 1938) sah die Französische Revolution in seiner zwischen 1927 und 1931 erschienenen »Kulturgeschichte der Neuzeit« deutlich kritischer. Für Friedell war sie keineswegs die historische Vollendung eines jahrhundertelangen Kampfes breiter Bevölkerungsschichten um Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Er betrachtete politische Massenbewegungen, jede vom »Pöbel« ausgehende Politik, mit misstrauischer Zurückhaltung und sah in der revolutionären Befreiungsbewegung immer schon den Umschwung zur »Diktatur der Kommune« angelegt. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Weimarer Republik zur Zeit der Abfassung seiner Kulturgeschichte ist diese Skepsis durchaus verständlich, schließlich waren es die auf Massenmobilisierung und »Volksbewegung« abzielenden Nationalsozialisten, aber auch Kommunisten, die mit Straßen- und Saalschlachten und kurzlebigen »Erhebungen« Terror verbreiteten und die Erosion des demokratischen Rechtsstaates maßgeblich vorantrieben. Der Begriff der »Revolution« war wohlfeil und wurde vor viele ideologische Karren gespannt. Nationalkonservative Kreise in Deutschland propagierten unter dem Stichwort der »nationalen Revolution« die Abkehr von der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Zeit und die Etablierung eines autoritären Staates unter Führung einer kleinen (natürlich konservativen) Elite. Und Joseph Goebbels sprach ausdrücklich von der »nationalsozialistischen Revolution«, um den radikalen Umsturz der Verhältnisse in weiten Teilen der Gesellschaft ab 1933 zu beschreiben.

Friedells Abrücken von einem positiven Verständnis von Revolution als Fortschrittsmotor der Weltgeschichte, wie es vielen nahelag (und bis heute naheliegt), ist vor diesem Hintergrund verständlich, auch wenn man ihm in seinen Einschätzungen nicht folgen muss. Friedells Text (erstmals 1928 erschienen) zeigt exemplarisch, wie sehr das Reden und Schreiben über Revolution von den politischen Einstellungen des Verfassers und seiner Zeit abhängig sind. Sollte die Revolution zu diesem Zeitpunkt noch so etwas wie Unschuld besessen haben, ging diese in den rechtsextremen »Bewegungen« in Europa in den 1920er und 1930er Jahren endgültig verloren.

Egon Friedell

Die Revolution

Wenn von der Französischen Revolution gesprochen wird, so kann man zumeist hören, ihre große historische Bedeutung habe darin bestanden, daß sie die Befreiung Frankreichs und die Befreiung Europas bewirkte, indem sie die Gesellschaft von der Herrschaft des Absolutismus, der Kirche und der privilegierten Stände erlöste; von der Proklamation der »Menschenrechte« datiere die Ära der geistigen Unabhängigkeit, der bürgerlichen Selbstgesetzgebung, des ungebundenen wirtschaftlichen Wettbewerbs. So richtig es nun zweifellos ist, daß gewisse Emanzipationsbewegungen von der Pariser Revolution ausgelöst wurden, so ist doch die Ansicht, daß der Konstitutionalismus, der Liberalismus, der Sozialismus und alle ähnlichen politischen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts aus dieser einen Quelle entsprungen seien, in dieser schroffen Form vorgebracht, falsch und irreführend. Die Revolution hat den entscheidenden Sieg des Bürgertums bewirkt; aber nur am Anfang: später bewirkte sie den entscheidenden Sieg des Pöbels. Die Revolution hat den Absolutismus gestürzt; aber nicht für lange: er kehrte am 2. Juni 1793 wieder als Diktatur des Konvents und der Kommune, er wurde am 1. April 1794 sogar zur Diktatur eines Einzelnen, nämlich Robespierres, nicht formell, aber de facto, und er wurde es formell und de facto am 18. Brumaire durch den Staatsstreich Napoleons. Und ebensowenig hat die Revolution die alten Formen des Geburtskönigtums, der Adelsherrschaft, des Priesterregiments endgültig zerbrochen: diese totgesagten Mächte erlebten ihre Auferstehung zum Teil schon unter dem ersten Kaiserreich und fast restlos unter der Restauration Ludwigs des Achtzehnten und Karls des Zehnten. Die Gleichheit hat die Französische Revolution nicht gebracht; sie hat nur zu einer anderen, noch viel verwerflicheren Form der Ungleichheit geführt: der kapitalistischen. Die Freiheit hat die Französische Revolution nicht gebracht; sie übte dieselbe engherzige, grausame und selbstsüchtige Geisteszensur wie das ancien régime, nur diesmal im Namen der Freiheit und mit viel drakonischeren Mitteln. Sie fragte jedermann: bist du für die Freiheit?, und wenn er nicht eine ganz unzweideutige Auskunft gab, so antwortete sie nicht mehr mit lettres de cachet, sondern mit der Guillotine. […]

Gleichwohl bleibt der Französischen Revolution das große Verdienst, die Verbindung zwischen Staatsgewalt und Untertan, Regierung und Regierten sozusagen labiler gemacht zu haben. Die Vereinigung der beiden Partner, äußerlich noch dieselbe, ist durch sie viel lockerer geworden, viel leichter geneigt zu zerfallen; es genügte seitdem oft ein geringer Anstoß, um eine allgemeine Dissoziation hervorzurufen: die europäischen Staaten sind gleichsam ungesättigte Verbindungen geworden, von der Art gewisser Kohlenwasserstoffreihen, die eine »freie Radikalhand« besitzen. Diese freie Radikalhand bildet seitdem eine latente Bedrohung des Staatsgefüges, jederzeit bereit, neue Affinitäten einzugehen und dadurch den Charakter der bestehenden Bindung zu verändern oder zu zerstören.

(Aus: Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Drittes Buch: Aufklärung und Revolution, S. 203 – 205)

EUROPA 1848/49

Ohne Revolution in Paris keine Revolution anderswo, ganz sicher nicht in Deutschland – im 19. Jahrhundert scheint dies ein historisches Gesetz zu sein. Die französische Julirevolution von 1830 etwa führte in Paris zwar nicht zur Wiedererrichtung der Republik, sondern lediglich zur Etablierung einer konstitutionellen Monarchie mit einem politisch bestimmenden liberalen Bürgertum. Aber als »europäisches Medienereignis«, so die Historikerin Julia Schmidt-Funke,10