Sandra Lüpkes

Die Wacholderteufel

Kriminalroman

«Die Wacholderbeeren in Wein gesotten/​und darvon getruncken/​ist gut den jungen Kindern/​so einen starcken schwären athem haben/​daß sie bisweilen auch Blut auswerffen/​und soll eine gewisse Kunst seyn/​dann es zertheilet den Schleim in der Brust/​und machet denselbigen desto leichter auswerffen. Den Safft aus den Blättern mit Wein getruncken/​ist gut wider die Schlangenbiß. … Zur Zeit der Pestilenz soll man die Beere in dem Mund kauen/​so widerstehen sie dem giftigen Luft. … Wo man das Holz/​die Blätter und die Beere räuchert/​da verkreucht sich alles Ungeziefer/​und vertreiben den bösen Luft/​bewahren auch für allem Gifft.»

Aus dem Kräuterbuch des Apothekers Tabernaemontanus (1520  1590)

1

«Ein Euro fünfzig», sagte der Wärter im kleinen Kabuff, das im Vergleich zu dem beeindruckend großen Felsmassiv der graugrünen Externsteine aussah wie ein Modellhäuschen.

«Am liebsten passend», er rückte beim Sprechen ein Stückchen weiter nach vorn und hielt seinen Mund näher an die ovale Öffnung der Glasscheibe, damit die junge Frau ihn besser verstehen konnte. «Ein Preis für Hin- und Rückweg!», fügte er hinzu und grinste. Es war einer seiner Lieblingsscherze.

Die junge Frau hatte das Geld schon abgezählt in der Hand gehalten. Sie legte die Münzen langsam auf die Durchreiche und hielt noch kurz die Hand darauf, damit sie nicht allzu laut klimperten.

Er riss von der Rolle eine der länglichen grün-weißen Eintrittskarten ab. «Vorsichtig, mein Fräulein, die Stufen könnten etwas glatt sein. Bei dem Nebelwetter legt sich die Feuchtigkeit wie Schmierseife auf die Steine, das kann ich Ihnen aber sagen. Halten Sie sich gut fest. Ist anstrengend genug, der Aufstieg.»

Sie nickte nur und wandte sich ab.

Sie wirkt nicht wie eine typische Touristin, die neugierig die Umgebung erforschen will, dachte der Wärter. Er überlegte, ob er seinen Kollegen, die heute hinten im Wald arbeiteten, Bescheid geben sollte. Irgendetwas kam ihm merkwürdig vor. Die Frau war so schweigsam, sie hatte nicht ein winziges bisschen gelächelt, noch nicht einmal freundlichkeitshalber über seinen abgedroschenen Spruch.

Er war noch nicht lange dabei. Seit achtzehn Monaten gehörte er dem Arbeitstrupp des Forstamtes Horn an, meistens machte er das Kassenhäuschen an den Externsteinen. Nahm den Touristen ein bisschen Kleingeld für den Eintritt ab, damit sie sich diesen riesigen Steinhaufen von allen Seiten, vor allem von oben anschauen konnten. Er händigte ihnen auch für fünfzig Cent die Infobroschüre aus, in der in Englisch, Französisch und Deutsch geschrieben stand, dass diese Felsformationen ungefähr siebzig Millionen Jahre alt waren und seit jeher die Menschen fasziniert und inspiriert hatten. Er wies die Besucher auf das Kreuzabnahmerelief neben dem Eingang zur Grotte hin und zeigte ihnen den Weg zum Grabfelsen, der etwas abseits der Steine ein Stück weiter unten am Ufer des kleinen Sees lag. Die Anlage rund um die Felsen glich einem Park, eine große Rasenfläche breitete sich auf der Seite, an der auch das Wärterhäuschen stand, aus. Im Sommer standen hier jede Menge Parkbänke zum Ausruhen, und Blumenbeete zierten das beliebteste Ausflugsziel im Teutoburger Wald. Das Rundherum der Externsteine mit Spiegelbild im daneben liegenden, künstlichen See war irgendwann einmal von einem Landschaftskünstler perfektioniert worden. So etwas gefiel den Touristen eben.

Das Horner Forstamt war dafür zuständig, dieses Fleckchen Erde in Ordnung zu halten. Da er gern mit Mensch und Natur zu tun hatte, war er froh um diesen Job.

Aber in diesen letzten achtzehn Monaten war auch noch nichts passiert, zum Glück, dachte er. Doch er erinnerte sich: Seine Kollegen hatten mal gesagt, sie könnten diese gefährdeten Typen auf den ersten Blick erkennen. Man würde das spüren.

Er blickte der Frau hinterher. Sie schaute sich nicht großartig um, sondern ging beinahe geschäftig auf den Hauptfelsen zu. Sie trug einen grauen Wollmantel und eine gestrickte Mütze. Sonst sah sie irgendwie nackt aus. Es dauerte jedoch eine Weile, bis der Wärter dahinter kam, warum. Erst als sie schon die seitliche Treppe erklommen hatte, erkannte er es: Sie trug keine Tasche bei sich. Keinen Fotoapparat, keinen Rucksack, kein Garnichts. In seinem Kopf schrillte eine Alarmglocke, und er griff zum Funkgerät. Vor Nervosität verwechselte er die Knöpfe und drückte zuerst drei- bis viermal nur die Ruftaste. Seine Finger wurden feucht und zitterten. Endlich bemerkte er sein Versehen und fand den richtigen Schalter. «Horst hier. Ich sitze an der Kasse. Ich glaube, ich hab grad ’nen Flieger.»

«Was?», fragte eine Stimme.

«Scheiße, hier ist ’ne junge Frau. Die geht bei der Eins rauf. Mit der stimmt was nicht.»

Eine Zeit lang schwieg es in der Leitung. Dann meldete sich der Kollege hörbar aufgeregt: «Wie weit ist sie schon?»

Der Wärter schaute in Richtung Felsen, der am nächsten beim See lag und den sie die «Eins» nannten. Die jahrhundertealten Stufen waren schmal und wesentlich höher als die Treppenstiegen der heutigen Zeit. Die Besucher hatten stets zu kämpfen, um die Aussichtsplattformen zu erreichen. Nicht wenige machten mehrmals Rast und hielten sich am Geländer fest. Doch die Frau stieg hinauf, als wäre zwischenzeitlich eine Rolltreppe eingebaut worden. «Sie ist fast oben!», keuchte er in den Hörer. «Soll ich hinterher?»

«Nee, bloß nicht. Bleib erst mal, wo du bist. Sonst erschreckst du sie noch, das ist nicht gut!» Es rauschte kurz aus dem Funkgerät. Dann meldete sich der Kollege wieder. «Hat sie Drogen genommen?»

«Woher soll ich das wissen? Ich habe ihr eine Karte verkauft und keine Blutprobe entnommen.»

«Mensch, mach nicht so blöde Witze. Du weißt genau, was ich meine. War die Tante irgendwie schwarz gekleidet, hatte sie eine Alkoholfahne, sah sie abgefuckt aus?»

«Nein, sie sah ganz normal aus. War nur ein bisschen merkwürdig. Und sie hatte keine Tasche dabei.»

«Keine Tasche?»

«Ja, sie hatte kein Portemonnaie dabei, sondern die Kohle schon passend in der Hand gehabt. Sie hat auch keine Fotos gemacht oder sich die Gegend angeschaut. Sie ist einfach nur auf den Felsen zu und dann … O Scheiße, jetzt ist sie oben … Mann, Mann, Mann, was soll ich jetzt tun?»

«Wir sind schon unterwegs, Horst. Bleib cool. Vielleicht irrst du dich ja auch. Stell dich unten hin und zeig ihr, dass du sie beobachtest. Das hält viele davon ab zu springen.»

Toll, dachte Horst, warum muss mir das passieren. Seine Knie waren weich wie Butter, als er sich aus dem engen Häuschen schob. Das feuchte Wetter der letzten Tage hatte den Boden aufgeweicht, und sein Schuh versank ein Stück in der lehmigen Erde. Als er weiterging, schmatzten seine festen Sohlen bei jedem Schritt. Er blickte nach oben. Der Hauptfelsen war ein richtig klobiges Ding. Breit und sicher dreißig Meter hoch ragte er in den grauen Wolkenteppich, und ganz oben stand eine Frau, die sich allem Anschein nach gleich in die Tiefe stürzen wollte.

Neulich hatte einer der Kollegen bei der Frühstückspause noch so eine dämliche Bemerkung gemacht. Dass es bald mal wieder an der Zeit wäre, hatte er gesagt und dabei in seine Wurststulle gebissen. Dass sich mindestens alle zwei Jahre jemand dort umbringen würde. Oder versehentlich stürzte, weil die unerlaubte Kletterpartie in die Hose gegangen war. Manchmal glaubten auch welche, die zu viele Tabletten genommen hatten, sie könnten fliegen. Deswegen nannten sie diese Kandidaten auch «Flieger». Es gab sogar so etwas wie eine Regel hier an den Externsteinen. Die versehentlichen Todesstürze geschahen in Richtung Wärterhäuschen, die Selbstmörder hingegen sprangen an der Seeseite. Erfahrungswerte, hatte der Kollege behauptet. Aber sie hatten nicht darüber gesprochen, was denn nun zu tun sei, wenn man da so jemanden stehen hatte, egal an welcher Seite, der am Wärterhäuschen doch lieber nur ein «One-way-Ticket» gelöst hätte.

Es nieselte leicht. Als der Wärter nach oben schaute, legte er sich die Hand schützend vor die Stirn. Er konnte nur den grauen Mantel sehen, der Wollstoff wehte leicht hin und her. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und blickte Richtung See. Vielleicht genoss sie ja wirklich nur die Aussicht auf die fast glatte Wasseroberfläche, in der sich der Nebel und die Bäume des anderen Ufers spiegelten.

«Wie lang braucht ihr denn noch?», flüsterte der Wärter ins Funkgerät. Er wusste, die anderen waren ein ganzes Stück in den Wald gegangen. Sie waren dabei, Bäume auszusuchen und zu markieren, damit in der nächsten Woche die Jungs mit den Sägen antanzen konnten. Noch vor Weihnachten sollten die Stämme ins Lager gebracht und verkauft oder im nächsten Frühjahr als Begrenzungszäune zusammengebaut werden. Die Kollegen hatten also richtig viel zu tun. Wer hätte denn auch ahnen können, dass es ausgerechnet heute wichtig war, sich nicht zu weit zu entfernen?

Endlich meldete sich die Stimme. «Dauert noch zwei, drei Minuten.»

«Das ist zu lang. Ich geh jetzt hoch!»

«Kannst du was sehen?»

Er rutschte nochmal einen Schritt rückwärts durch den Matsch. Als er den Kopf in den Nacken legte, erkannte er, dass die Frau sich inzwischen am Geländer zu schaffen machte. Der Sicherheitszaun war nicht allzu hoch, bestand jedoch aus leicht spitzen Metallstreben, die ein bequemes Hinüberklettern erschwerten. «Ich glaube, die will gerade über das Gitter steigen.»

«Dann los. Aber sei bloß leise!», kam das Kommando.

Er nahm die ersten Stufen zu hastig. Die Erde unter den Schuhen ließ ihn nach wenigen Schritten vom Stein abgleiten, und er stieß sich das Schienbein. Doch es gelang ihm, den entsprechenden Fluch zu unterdrücken. Ein Schmerzensschrei – und sei er auch noch so kurz – hätte die Selbstmordkandidatin auf ihn aufmerksam gemacht. Bereits auf dem ersten Absatz ging sein Atem schwer. Diese verflucht hohen Stufen gingen an die Substanz. Nachdem er kurz nach Luft geschnappt hatte, griff er kräftig nach dem Geländer und zog sich hoch. Wie viele Stufen waren es noch? Er hörte das Funkgerät flüstern, doch er beachtete es nicht. Die Jungs sollten sich lieber beeilen, statt in der Gegend herumzufunken. Kurz drehte er sich um. Normalerweise müssten sie von hier oben aus schon zu erkennen sein. Sie waren im Waldstück auf der anderen Seite der großen Wiese, die Bäume standen am Rand etwas weiter auseinander. Wann tauchten sie endlich auf? Obwohl, was könnten die nun noch ausrichten? Wenn jemand wirklich springen wollte, dann tat er es auch, war es nicht so? Wenn jemand so ruhig und selbstverständlich hierhin kam, an einen hübschen, aber im Winter gottverlassenen Ort mitten im Naturschutzgebiet, dann hatte er – oder in diesem Fall sie – es sich schon gut überlegt. Dann war der Mensch vielleicht schon so gut wie tot, bevor die ersten Stufen erklommen waren.

Jetzt war er fast oben. Er hielt kurz inne, und erst jetzt fiel ihm auf, wie still es heute war. Der Nebel im Wald verschluckte jedes Geräusch, Vögel waren im Dezember kaum da, Menschen sowieso nicht. Nur er und sein inzwischen rasselnder Atem und diese Frau, bei der er gleich ankommen würde. Nie zuvor war er so schnell auf diesen Felsen gestiegen. Er hatte nicht geahnt, dass er überhaupt in der Lage zu solch einem Tempo war. Noch zehn Stufen. Es war zu schaffen. Er ließ das Geländer los und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Hand hinterließ den metallischen Geruch des Treppengeländers in seinem Gesicht. Er nahm die letzte Biegung. Er war da.

Von unten hörte er nun das Rufen der Kollegen, doch er drehte sich nicht um. Blickte nur geradeaus. Erfasste mit seinen Augen die Stelle, an der er die Gestalt im grauen Mantel erwartet und erhofft hatte. Doch er sah nur die Baumspitzen und den Himmel dahinter. Sonst nichts. Die Frau war nicht mehr da. Hier oben sah es so aus wie immer. Wie bei jedem Rundgang, wenn er kurz vor Feierabend noch einmal kontrollieren musste, ob sich noch jemand auf den Felsen herumtrieb. Da waren nur die Aussichtsplattform und der dunkelrote, angekratzte Zaun. Die Steine glänzten ein wenig vom leichten Regen, der sich darauf sammelte und in langsamen Tropfen herunterperlte.

Er bewegte sich nicht. Kurz zog er in Erwägung, über die Brüstung zu blicken. Zu schauen, wo der Körper wohl gelandet war. Doch er entschied sich dagegen. An dieser Seite fiel der Felsen zwanzig Meter senkrecht herab, nur unterbrochen von einem kantigen Vorsprung. Darunter lag, noch einiges tiefer, der hübsche See. Er konnte sich den Sturz der Frau vorstellen. Oft genug hatte er spaßeshalber einen Stein hinabgeworfen und den Fall, den Aufprall und die Landung im Wasser beobachtet. Er wusste, sie war tot.

Sie hatte sich keine Zeit gelassen, um noch gerettet zu werden. Sie hatte vor ihrem Sprung keinen Laut von sich gegeben. Keinen Schrei. Vermutlich noch nicht einmal ein zögerndes Scharren mit den Schuhen auf dem nassen Stein.

Selbst wenn er mit einem Lift nach oben gesaust wäre, hätte er nichts ändern können. Er brauchte sich keine Vorwürfe zu machen. Es war nicht seine Schuld, er hatte nicht versagt.

Trotzdem ließ er sich langsam auf der obersten Stufe nieder, schaltete das Funkgerät aus, vergrub sein Gesicht in der Armbeuge. Seine Tränen hinterließen einen feuchten Fleck auf dem kratzigen Stoff seines Flanellhemdes.

2

«Ja. Hallo. Mein Name ist Wencke Tydmers, ich komme aus dem ostfriesischen Aurich, bin fünfunddreißig und ledig. Ich bin hierher gekommen, weil …»

Ja, warum war sie eigentlich hier?

Gut zwanzig fremde Augenpaare musterten sie. Sie fühlte, wie die Blicke von ihrem offen stehenden Mund, aus dem kein weiteres Wort mehr kommen wollte, hinunterglitten und auf ihrem Bauch liegen blieben. Obwohl sie das weite, etwas ausgeleierte rote Sweatshirt trug – ihr Lieblingsstück mit der Pistole auf der Brust, tausendmal gewaschen und ohne Form –, konnte sie den kleinen runden Hügel unter der Brust nicht mehr verbergen.

«Frau Tydmers?», fragte die Kurleiterin, eine aparte Frau namens Viktoria Meyer zu Jöllenbeck. «Alles in Ordnung, Frau Tydmers?»

Wencke nickte und setzte sich wieder hin. Es gab überhaupt keinen Grund, hier irgendjemandem irgendetwas zu erzählen.

Eine kurze Weile war es still in dem warmen, holzvertäfelten Raum, lediglich das unregelmäßige Schaben eines Astes an der großen Fensterscheibe war zu hören. Der Nadelbaum wankte im Wind. Die Leute hier im Teutoburger Wald sprachen von Sturm. Darüber konnte Wencke nur schmunzeln. Sturm war etwas anderes. Sturm gab es nur zu Hause.

Endlich räusperte sich Ilja Vilhelm, der als leitender Psychologe und selbst ernannter Motivationstrainer die heutige Vorstellungsrunde moderierte. Da er der einzige Mann im Raum war, gut aussehend noch dazu, zog er sofort die Aufmerksamkeit aller Frauen auf sich.

«Gut, danke, Frau Tydmers. Wenn Sie nicht mehr von sich erzählen wollen, ist das vollkommen in Ordnung.» Er zwinkerte ihr vertraulich zu. Wencke erschien es unangemessen, in dieser Runde so auf Tuchfühlung zu gehen, sie schaute weg. Ilja Vilhelm stand auf, ging ein paar Schritte in die Mitte des Stuhlkreises und ließ seinen Blick einmal über die Runde schweifen.

«Ich möchte an dieser Stelle nochmal darauf hinweisen, dass bei uns niemand gezwungen wird, etwas zu sagen. Wir sind hier eine offene Gemeinschaft, wir werden die nächsten drei bis vier Wochen miteinander verbringen, und jede soll so sein, wie sie ist. Jede ist uns willkommen, auch wenn sie lieber nicht so viel erzählen möchte.»

Der letzte Satz schickte all die neugierigen Blicke wieder in Wenckes Richtung zurück. Diese zuckte die Schultern. «Ätschbätsch!», wollte sie sagen. «Ihr werdet nichts über mich erfahren. Nicht, warum ich schwanger, aber ledig bin. Nicht, warum ich in dieses Sanatorium eingewiesen wurde. Und erst recht nicht, ob ich irgendwelche Probleme habe.» Denn sie wusste ja selbst nicht, warum, wieso, weshalb. Obwohl das traurig genug war, lächelte sie tapfer. Und schwieg.

«Hallo!» Unbemerkt war die Schwarzhaarige neben ihr aufgestanden und winkte unsicher in die Runde. Wencke registrierte erleichtert, dass die Aufmerksamkeit von ihr abgelenkt wurde und nun auf ihrer Stuhlnachbarin ruhte. «Nina Pelikan aus Bremen. Ich bin siebenundzwanzig Jahre, ich arbeite im Supermarkt, bin verheiratet, habe einen zehnjährigen Sohn, den Mattis. Er ist mitgekommen, weil mein Mann keine Zeit hat, sich um ihn zu kümmern. Ich bin im sechsten Monat schwanger.» Sie strich sich zärtlich über den Bauch, dem man im Gegensatz zu Wenckes noch nicht so deutlich ansehen konnte, dass sich ein Kind darin ausbreitete.

Wencke wurde bewusst, dass sich bislang all die anwesenden werdenden Mütter auf irgendeine Weise in Pose gebracht hatten. Entweder hatten sie demonstrativ die Hände ins Kreuz gelegt und die Hüfte nach vorn geschoben, oder sie waren schwerfällig vom Stuhl aufgestanden, mit Leidensbittermiene und angestrengtem Schnaufen, als stünde die Geburt unmittelbar bevor. Die meisten hatten aber zumindest diese feine, liebevolle Geste gemacht, wie eben diese Nina Pelikan zu ihrer linken Seite. Eine schützende Hand auf dem Bauch.

Nur Wencke hatte nichts dergleichen veranstaltet.

«Ich setze viele Wünsche und Hoffnungen in diese Kur», fuhr die Frau fort. Sie war recht hübsch, allerdings erst auf den zweiten Blick. Die dunklen glatten Haare waren gefärbt und ließen sie ein wenig graumausig erscheinen. «Wenn man voll berufstätig ist, dann noch seinen Pflichten als Mutter und Hausfrau nachkommen muss …», sie seufzte tief und erntete verständnisvolles Nicken ringsherum. «Ich denke, ihr wisst alle, wovon ich rede.» Allem Anschein nach traf dies – bis auf Wencke – zu. «Ich möchte Ruhe finden, Ruhe und Kraft. Für mich, für Mattis und natürlich für das kleine Wesen hier in meinem Bauch. Es wird ein Mädchen, sagt der Arzt. Wir wollen sie Helen nennen.»

Einen Namen muss ich mir auch immer noch ausdenken, fiel es Wencke wieder ein. Sie hatte bisher nur einen flüchtigen Gedanken darauf verwenden können. Wann denn auch? An dem Tag, als sie morgens den hellblauen Streifen auf dem Testgerät erblickte, hatte sie mit ihrer Abteilung gerade eine Weiterbildung zum Thema «Sexuelle Gewalt» absolviert, da stand ihr der Kopf ganz woanders. Danach war diese Sache mit dem toten Mädchen aus Dornumersiel passiert: ein widerlicher Fall, der die ganze Abteilung auch jetzt noch in Atem hielt. Zwischendurch war sie mal irgendwann beim Arzt gewesen, der ihr beste Gesundheit attestierte und mit Hilfe einer umständlichen Scheibe errechnete, dass sie schon im vierten Monat sei. Also hatte sie bisher keinen Anlass gesehen, irgendetwas wesentlich anders zu machen als sonst auch. Es ging ihr doch so weit gut, körperlich zumindest.

Dann kam jedoch dieser Ärger mit Ansgar, als er von dem Kind erfuhr und sofort Alarm schlug, sie solle sich an den Schreibtisch versetzen lassen und nur noch leichte Büroarbeit machen. Sie hatte nicht im Leben daran gedacht, seiner Forderung nachzukommen, und hielt es auch jetzt noch für unzumutbar, sich wie ein Invalide zu benehmen, nur weil sie schwanger war. Sie hatten sich fürchterlich gestritten. Und seit geraumer Zeit herrschte Funkstille.

Ganz schön viel Mist hatte sich auf ihrem Leben angehäuft, da war nicht viel Zeit übrig geblieben, um sich mal um sich selbst zu kümmern. Bis sie zusammengeklappt war.

Wencke Tydmers war kein Typ, der sich leicht aus den Angeln heben ließ, doch vor zwei Wochen war sie von einer Sekunde auf die andere in die Waagerechte gegangen. Dummerweise war dies nicht irgendwo am menschenleeren Deich, in den eigenen vier Wänden oder zumindest in ihrem Büro im Polizeirevier passiert, sondern mitten in der Auricher Fußgängerzone, auf dem Marktplatz, neben einem Stand für Frischgeflügel. Sie hatte eben zehn Eier von glücklichen Hühnern gekauft, davon war ihr eines heruntergefallen, genau auf die Schuhspitze. Sie hatte den Dotter von ihrem Stiefel auf das Straßenpflaster tropfen sehen. Und als sie sich danach bücken wollte, war ihr schwarz vor Augen geworden und sie hatte sich lang gemacht. Wegen eines blöden Hühnereis.

«Frau Pelikan, was hat Sie dazu bewogen, ausgerechnet nach Bad Meinberg zu kommen?», fragte Ilja Vilhelm mit therapeutisch-verständnisvollem Lächeln.

«Die Krankenkasse hat das Heim für mich ausgesucht», antwortete Nina Pelikan brav.

«Waren Sie schon einmal hier?»

Die Antwort kam eher zögerlich. «Nein, noch nie. Ist aber eine schöne Gegend hier. Ein wenig verwunschen, der Wald und so.» Unsicher setzte sich die Frau wieder zu Wencke.

«Und morgen soll es sogar den ersten Schnee geben!», fügte Ilja Vilhelm an und erntete einen Applaus, als hätte er eine Runde Freibier angekündigt.

Er blieb stehen, ließ sich offensichtlich noch gern ein wenig beklatschen, und ging dann auf Wencke zu. Direkt vor ihrem Stuhl blieb er stehen, beugte sich leicht herunter, als rede er mit einem Kind. «Und Sie, Frau Tydmers? Wie sind Sie auf die Sazellum-Klinik gekommen?»

Wencke kam nicht umhin, sich den Klinikpsychologen genau anzusehen. Er mochte Mitte vierzig sein, seine blonden Haare waren noch schön dicht und voll, seine Haut glatt und gesund, er hatte sicherlich einen vorbildlichen Lebenswandel. Die hohe, breite Stirn machte ihn rein äußerlich zum Denkertypen. Das kräftige Kinn und die nicht gerade kleine Nase unterstrichen gleichzeitig seine Männlichkeit. Wer immer Ilja Vilhelm als Seelendoktor in dieser reinen Frauenkurklinik eingestellt hatte, hatte einen Volltreffer gelandet. Bei einem solchen Mann waren die Patientinnen sicher gern gewillt, ihr Herz auszuschütten und an sich zu arbeiten. Oder was immer einem bei einem solchen Aufenthalt abverlangt wurde.

«Frau Tydmers? Hat Ihre Versicherung unser Haus für Sie ausgewählt? Ich frage dies nur für unsere Akten. Wir führen Statistik darüber.»

«Nein. Das war ein Kollege.»

«Oh. Ein Kollege?»

«Ja, mein Stellvertreter im … im Büro. Er hat einmal bei Ihnen ein Coaching mitgemacht. Vor sechs Jahren auf Menorca. Als Sie noch freiberuflich tätig waren.»

«Ach», sagte Vilhelm langsam. «Stimmt, das kann sein. Bevor ich in der Sazellum-Klinik die psychologische Betreuung übernommen habe, habe ich Motivationskurse gegeben und war als Berater für Wirtschaftsunternehmen und Behörden zuständig. Ein harter Job, das kann ich Ihnen sagen. Und daher kennt er mich noch?» Vilhelm schien erfreut.

«Er kennt Sie nicht nur, er liebt Sie. Wenn Sie wüssten, wie oft er uns Ihre Methoden vorgepredigt hat. Sollten Sie mal einen Stellvertreter suchen, dann wenden Sie sich an ihn. Sein Name ist Axel Sanders.»

Vilhelm zog interessiert die Augenbrauen in die Höhe. «Ich kann mich leider nicht an ihn erinnern. Aber sollte ich mich jemals wieder in die freie Wirtschaft trauen, so werde ich auf Sie zurückkommen.»

Wencke stellte sich Axel Sanders kurz hier an Vilhelms Stelle vor. In einem seiner schnieken, tadellos sitzenden Sakkos. Ja, das würde ihm sicher gefallen. Die volle Aufmerksamkeit verzweifelter Frauen auf sich gerichtet zu wissen. Da wäre der attraktive Axel Sanders zur Höchstform aufgelaufen. Schon allein das Engagement, mit dem ihr Kollege – und seit nunmehr einem guten Jahr auch Mitbewohner – sich nach ihrem Zusammenbruch um sie gekümmert hatte, war beachtlich. Er hatte sie im Krankenhaus besucht, hatte bei der ersten Ultraschalluntersuchung aufgeregt ihre Hand gehalten und hatte nach Feierabend den WG-eigenen PC in Beschlag genommen, um nach dem Diplompsychologen zu suchen, der seiner Ansicht nach der Einzige sein konnte, der Wenckes Problemen würdig war. Axel Sanders war nicht ihr Geliebter, erst recht nicht der Vater ihres Kindes, eigentlich noch nicht einmal ihr liebster Kollege in der Auricher Mordkommission. Aber er hatte sich nach der Sache mit dem Ei auf dem Stiefel als wirklicher Lichtblick erwiesen. Sie hatte ihm versprechen müssen, sich einmal am Tag bei ihm zu melden. Abends um zehn, wenn hier im Kurheim absolute Nachtruhe verordnet war. Dann war auch Axels Schicht normalerweise zu Ende, und sie konnte ihn zu Hause erreichen. Bei ihrem Abschied am Morgen am Bahnhof in Leer war ihr dieses Telefon-Versprechen so lächerlich vorgekommen, als ginge sie auf Klassenfahrt und er sei ihr Vater. Doch schon jetzt, ein paar Stunden später, konnte sie dem Gedanken, mit einem halbwegs vertrauten Menschen ein halbwegs normales Gespräch zu führen, einiges abgewinnen.

Die Vorstellungsrunde lief weiter. Jede stand kurz auf, erzählte ein wenig über sich und gab das eine oder andere Problem der Allgemeinheit preis. Es waren alle weiblichen Charaktertypen vertreten: Es gab die verbissene Zicke, die gemütliche Glucke, die naseweise Oberlehrerin, die kumpelhafte Schwester, die frustrierte Schachtel, die aufgestylte Tussi, die maskuline Matrone. Natürlich nur auf den ersten Blick. Natürlich sollte man jeder Einzelnen eine Chance geben, natürlich war es unschön von Wencke, vorab Urteile über diese Frauen zu fällen. Immerhin war sie eine von ihnen. Welche Rolle ihr in den Augen der anderen wohl zugeschoben wurde? Denn dass wohl jeder zumindest Anflüge hatte, andere zu kategorisieren, stand für Wencke fest. Davon konnte sich keiner freimachen.

Wencke schaute kurz an sich herunter und strich sich durch das kurze, rot gefärbte Haar. Wahrscheinlich war sie die sportive Powerfrau. Oder die coole Karrieretante. Durch ihre Körpergröße, das wusste Wencke, wurde sie jedoch oft auch als niedliche Kindfrau angesehen. Die großen, runden Augen, das breite Grinsen und die Stupsnase taten ihr Übriges. Auch wenn sie mit ihrem Outfit, meist Jeans und Lederjacke, noch so sehr dagegen ansteuerte. Sie wurde nicht selten um fünf bis zehn Jahre jünger geschätzt. Manche Menschen duzten sie noch. Meistens ungefragt, was insbesondere bei Verhören ziemlich nervig war und oft die reinste Provokation darstellte.

Plötzlich war die Veranstaltung zu Ende. Wencke hatte – ganz in Gedanken versunken – komplett den Faden verloren, und es kam ihr vor, als wäre sie von der aufwallenden Geräuschkulisse aus dem Tiefschlaf gerissen worden. Die Ladys erhoben sich, einige steuerten relativ zielstrebig aufeinander zu und fingen ein Gespräch an. An Wencke wandte sich keine. Sie blieb noch einen Moment auf ihrem Stuhl sitzen und dachte an Zigaretten. Seit sie die Schwangerschaft festgestellt hatte, hatte sie nicht mehr geraucht. Es war ihr zwar leichter gefallen, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. In diesem Moment hätte sie jedoch zu gern in die kleine Pappschachtel gegriffen und die vertrauten, weich-warmen Tabakstängel zwischen ihren Fingern gespürt.

«Ich glaube, man hat uns an denselben Tisch gesetzt», sagte eine leise Stimme neben ihr. «Ich war heute Mittag schon da, und da sagte man mir, ich würde mit einer Frau aus Ostfriesland zusammensitzen. Das bist dann ja wahrscheinlich du.»

Wencke drehte sich nach links. Nina Pelikan lächelte sie an. Hatte sie nicht eben erzählt, dass sie siebenundzwanzig Jahre alt sei? Sie sah älter aus. Vielleicht lag es daran, dass sie so blass und etwas zu mager war. Nina Pelikan hatte mit Sicherheit nie Probleme damit, von irgendjemandem ungefragt geduzt zu werden.

«Der Mattis, mein Sohn, sitzt auch bei uns. Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Er benimmt sich in der Regel anständig.»

«Kein Problem», sagte Wencke.

«Er ist ja schon zehn», erklärte die Frau.

«Ich freue mich, ihn kennen zu lernen», schwindelte Wencke.

«Unglaublich, zehn Jahre ist er schon. Und ich bin acht Jahre jünger als du. Aber das ist dann wohl nicht dein erstes Kind, oder?»

«Doch», sagte Wencke, und es gelang ihr, diese mütterliche Handbewegung über dem Bauch zu machen.

«Späte Mutter!», stellte Nina Pelikan fest.

Wencke spürte, dass das nicht böse gemeint war. Nina Pelikans Bemerkung war eher eine indirekte Aufforderung, dass Wencke sie auf die eigene sehr frühe Mutterschaft ansprechen sollte. Natürlich hatte Wencke automatisch mitgerechnet und festgestellt, dass Nina noch ein halbes Kind war, als ihr Sohn geboren wurde. Wencke witterte etwas Unangenehmes. Wenn sie dieser fast fremden Frau nun den Gefallen tat und auf das Thema einging, dann könnte das in eines dieser «Werdende-Mütter-Gespräche» ausarten. Und dazu war Wencke beim besten Willen noch nicht bereit. Also war es entschieden besser, die «späte Mutter» unkommentiert zwischen ihnen stehen zu lassen. Sie stand auf. «Ich muss nochmal kurz aufs Zimmer, wir sehen uns dann ja gleich!»

3

Fast alles war doof hier.

Die Erzieherin hatte Mundgeruch. Beim Memory gab es beinah keine Kartenpärchen mehr, und die wenigen, vielleicht noch gut zwölf, waren durch angeknabberte Pappecken sowieso unbrauchbar. Die anderen Kinder hatten alle noch Pampers, außer dieser Joy-Michelle, aber die war ein Mädchen und heulte dauernd. Zum Glück begann ab morgen die Schulgruppe, dann war er wenigstens die Babys und Kleinkinder los.

Das schlimmste: Der PC-Raum war nur Dienstag und Donnerstag von zwei bis vier geöffnet. Und in der Kindergruppe durfte man nicht mit dem Gameboy spielen.

Trotzdem nahm Mattis sich fest vor, sich nichts anmerken zu lassen. Seine Mutter sollte glauben, dass es kein Problem für ihn war, hier zu sein.

Es gab ja auch wirklich ein paar Sachen, die echt besser waren als zu Hause in Bremen. Zum Beispiel, dass er mit Mama in einem Bett schlafen konnte. Er rechts und sie links. Als wenn er jetzt den Mann ersetzte. Er durfte genauso lange aufbleiben wie Mama. Sie hatte ihm versprochen, dass sie hier immer gemeinsam ins Bett gehen würden, beide gleichzeitig. Und das war Klasse.

Zu Hause war es ganz anders. Dort musste er sofort nach dem Abendbrot in sein Zimmer. Er hatte zwar einen eigenen Fernseher im Zimmer und konnte so lange glotzen, wie er wollte, oder am PC sitzen, bis der Bildschirm vor seinen Augen flimmerte, aber er durfte nach halb acht nicht mehr rauskommen. Konnte er auch gar nicht, weil seine Mama immer die Tür abschloss. Wenn er mal pinkeln musste, sollte er ins Töpfchen machen. Dabei war er mit zehn Jahren echt schon viel zu alt für einen Pisspott. Er musste immer tierisch aufpassen, um nichts daneben zu machen, der bescheuerte harte Kunststoffrand kniff auch noch schrecklich am Po. Wenn Freunde zu Besuch kamen, schob er immer als Erstes die blaue Plastikwanne unter das Bett. Mittlerweile hatte er aufgehört, nach fünf Uhr abends noch was zu trinken, damit dieses Problem mit dem peinlichen «Aufs-Töpfchen-Gehen» gar nicht erst auftrat.

Hier in Bad Meinberg gab es keinen Nachttopf und keine verschlossenen Türen. Er freute sich schon auf den Abend. Dann konnte er sich bestimmt bei seiner Mutter in den Arm rollen und endlich mal richtig schlafen. Das war wirklich gut.

Beim Mittagessen hatten sie noch allein am Tisch gesessen. Es hatte Lasagne gegeben, und Mattis hatte sich zweimal Nachschlag vom Buffet genommen. Weil sonst kaum jemand im Speisesaal gewesen war, hatte Mama nichts gesagt. Sonst hätte sie sicher wieder gemault: «Lass für die anderen noch was übrig. Sei nicht so gierig. Schlag dir den Bauch nicht so voll, du wirst Magenschmerzen bekommen.» Seine Mutter war ja eigentlich okay. Er sah sie nicht besonders oft, weil sie zu Hause immer arbeiten ging. Aber wenn sie mal da war und nicht zu k. o., den Mund aufzumachen, sagte sie ständig solche Sachen. Immer wenn es für ihn gut lief, nörgelte sie an ihm herum. Manchmal kam es ihm vor, als wolle sie nicht, dass er sich irgendwo wohl fühlte. Das war komisch. Er wusste doch, dass sie ihn lieb hatte. Aber immer verbot sie ihm die schönsten Sachen.

Heute Mittag war es ihr aber anscheinend egal gewesen, dass er gegessen hatte wie ein Scheunendrescher. Vielleicht auch, weil sie sich selbst nur einen Klecks Tomatensalat auf den Teller geladen hatte. So konnte er auch ihre Portion Nudeln verputzen. Und hinterher noch zwei Schälchen Schokopudding. Aber wahrscheinlich war sie wieder so müde. Mama war immer zu müde zum Essen. Und meistens auch zum Reden. Sie hatte am Tisch keinen Pieps gesagt.

Nun waren sie dem Gong gefolgt, der alle Leute in der Klinik zum Abendessen rief, und da hatte er die andere Frau schon dort sitzen sehen. Es war ein guter Platz. Ein runder Holztisch in der Ecke, direkt am Fenster, aber auch nicht zu weit vom Buffet entfernt. Optimal eigentlich. Zum Glück sah die Frau an ihrem Tisch nett aus. Sie war, so schätzte Mattis, etwa so alt wie Mama, hatte dunkelrote Haare und einen hellroten Pulli. Ihr Bauch war schon dicker als der seiner Mutter.

«Benimm dich gut, Mattis», sagte seine Mutter in ihrem leisen und hastigen Ton. Wenn seine Mutter zischelte, war sie nervös. Und wenn sie nervös war, machte man lieber genau das, was sie von einem verlangte. Sie war eigentlich ständig nervös.

Sie schob ihn vor sich hin, als sei er zu blöd zum Laufen. Vor ihrem Platz blieb sie stehen und zerwühlte mit ihren Fingern sein Haar. Noch so eine nervige Sache, die seine Mutter machte. Ihm ohne Grund die Frisur zerstören. Danach sah er immer aus wie ein Kleinkind. Mit einem Ruck zog er den Kopf zur Seite, und die Hand seiner Mutter landete auf der Schulter.

«Also, das ist der Mattis», sagte sie.

Die Frau erhob sich ein Stück von ihrem Sitz und reichte ihm die Hand: «Hallo, Mattis. Ich bin Wencke. Wenn ich schmatze, musst du es mir sagen. Ich esse zu Hause meistens allein, und da kann es schon mal sein, dass ich mich bei Tisch danebenbenehme.»

«Kein Problem», sagte Mattis. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schenkte sich Mineralwasser ins Glas. Cola gab es nicht. Zu blöd.

«Du lebst allein?», hakte Mattis’ Mutter nach.

«Nein, nicht ganz. Ich teile meine Wohnung mit einem Kollegen. Da wir aber in unterschiedlichen Schichten arbeiten, bekommen wir uns nur selten zu Gesicht.»

«Aha», sagte Mutter. Mattis konnte ihr ansehen, dass sie sich fragte, warum denn eine Frau mit einem Kollegen zusammenwohnte statt mit einem richtigen Mann. Seine Mutter machte sich oft Gedanken um so einen Kram. Mattis fand das manchmal schade. Besser wäre es, sie würde sich einmal den Kopf darüber zerbrechen, warum bei ihnen zu Hause alles so seltsam war.

Denn es war seltsam. Anders als bei anderen. Die Sache mit dem Pisspott zum Beispiel. So etwas war nicht normal. Und dass Hartmut immer so schlechte Laune hatte, war auch komisch, also nicht im Sinne von witzig sein, nein, witzig war es überhaupt nicht. Genau das Gegenteil. Auch, dass Mama immer an allen möglichen Dingen herumrätselte. Warum er Probleme in der Schule hatte. Warum der Nachbar seinen Knöterich im Garten nicht anständig zurückschnitt. Warum die Bundeskanzlerin immer wieder neue Gesetze erfand, um einem das Geld aus der Tasche zu ziehen. Das waren Mamas Sorgen.

«Sag mal, ich komme ja aus Bremen, und dort in der Nähe gibt es ein Künstlerdorf …»

«Worpswede?», unterbrach die nette Tischnachbarin.

«Genau. Du sagtest doch eben, du heißt mit Nachnamen Tydmers. Das ist ja ein nicht so häufiger Nachname. Und in Worpswede wohnt eine berühmte Malerin …»

«Meinst du Isa Tydmers?», warf die Frau wieder dazwischen. Wahrscheinlich hatte sie keine große Lust auf Mamas umständliche Ausführungen. «Sie ist meine Mutter.»

«Wow!», staunte Mama. «Dann machst du ja vielleicht ebenfalls was Künstlerisches. Bis du auch Malerin?»

«Nein. Im Gegenteil: Ich bin im Amt tätig», antwortete die Rothaarige nach einer kurzen Pause. Dann stellte sie schnell eine Gegenfrage, und Mattis hätte schwören können, dass sie es machte, um nicht weiter nach ihrem Job oder ihrer Künstlermutter gefragt zu werden. «Und du arbeitest im Einzelhandel?»

«Jaja. Reklamationen. Im Marktkauf.»

«Ich hol mir jetzt was zu essen!», murmelte Mattis, aber keine der beiden schien ihn zu hören. Er stand auf, schlenderte zum Buffet und wusste, dass seine Mutter nun bestimmt lang und ausgiebig über ihre Arbeit sprach. Wahrscheinlich erzählte sie auch diese uralte Geschichte von dem Mann, der sich beschwert hatte, weil sein neuer Rasenmäher das Meerschweinchen totgeschoren hatte. Und wie sie ihm dann verweigert hatte, das Geld dafür zurückzuzahlen. Dies war die einzige interessante Story aus dem Leben seiner Mutter, und die gab sie meistens schon ganz zu Beginn einer neuen Bekanntschaft zum Besten. Danach gab es dann nichts mehr zu erzählen, deswegen hatte seine Mutter auch keine richtigen Freunde.

Zum Glück gab es Mortadella. Und Ketchup. Aber leider nur Vollkornbrot. Er nahm eine kleine Tomate auf den Teller, weil er wusste, dass seine Mutter ihn sonst garantiert anmachen würde, er solle doch wenigstens eine klitzekleine Portion Vitamine zu sich nehmen. Die rote Kugel rollte auf dem Teller hin und her und blieb schließlich am in Wellenform geschnittenen Stück Butter kleben. Keine Nutella zum Abendbrot – daran musste er sich in den nächsten Wochen also gewöhnen. Mit zwei hart gekochten Eiern in der einen und dem vollen Teller in der anderen Hand ging er wieder zum Tisch.

«Mama, der Junge ist aber dick», hörte er ein kleines Windelkackermädchen sagen. Er schlich sich wütend an ihrem Tisch vorbei.

«… hab ihm das Geld nicht gegeben. Was kann denn Marktkauf dafür, wenn er seine Haustiere über den Haufen mäht?», schloss Mama gerade. Die Frau namens Wencke lachte über die Geschichte. Dann schielte sie zu Mattis’ Teller hinüber.

«Ketchupbrot? Ich liebe Ketchupbrot! Das ist eine gute Idee.» Sie stand auf und verschwand mit dem Teller in der Hand.

«Vitamine?», fragte Mama.

Mattis zeigte auf die Kirschtomate. «Nutella gibt’s abends keine.»

Wieder strich sie ihm über die Haare. «Wir können dir im Supermarkt ein Glas kaufen, das schmuggle ich dir dann in der Handtasche hier rein. Okay?»

Er nickte und schob sich zwei Wurstscheiben ohne Brot in den Mund. Seine Mutter war Klasse. Trotz allem. Sie wusste, welche Dinge wichtig für ihn waren. Und irgendwie schaffte sie es immer, sie ihm zu besorgen. Heute Abend würde er ihr den Nacken massieren. Denn das mochte sie so gern, sie war ja immer so verspannt. Und zu Hause durfte er das nicht. Zu Hause war Hartmut.