image

image

Cet ouvrage a bénéficié du soutien des programmes d‘aide à la publication de l‘Institut français / Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogrammes des Institut français Paris.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gesamtgestaltung: Ingrid Sauer, Cyan, Ehrle und Sauer GmbH, Heidelberg
Titelabbildung: Mario Cravo Neto
ISBN: 978-3-88423-426-6
ISBN: 978-3-88423-453-2 (ebook)

Dany Laferrière

Das Rätsel
der Rückkehr

Roman

Aus dem Französischen
von Beate Thill

image

Am hellen Morgen …

AIMÉ CÉSAIRE,
Zurück ins Land der Geburt, 1939.

Für Dany Charles, meinen Neffen,
der in Port-au-Prince lebt.

I

LANGSAME VORBEREITUNGEN
AUF DIE
ABREISE

Der Anruf

Die Kunde schneidet die Nacht entzwei.

Die fatale Nachricht am Telefon,

die jeden Mann reiferen Alters

einmal erreicht.

Mein Vater ist soeben gestorben.

Ich fuhr heute früh am Morgen los.

Ohne Ziel.

Wie ab jetzt mein Leben.

Halte unterwegs zum Frühstück an.

Eier mit Speck, Toast, brühheißer Kaffee.

Setz mich nah ans Fenster.

Stiche der Sonne wärmen mir die rechte Wange.

Werfe zerstreut einen Blick auf die Zeitung.

Das blutrünstige Bild von einem Verkehrsunfall.

In Amerika verkauft man den Tod anonym.

Ich schaue der Bedienung zu, wie sie

zwischen den Tischen herumläuft.

Höchst eifrig.

Ihr Nacken schweißnass.

Das Radio spielt diesen Westernsong,

der von einem Cowboy

mit Liebeskummer erzählt.

Die Bedienung hat eine rote Blume

auf der rechten Schulter als Tattoo.

Sie wendet sich traurig lächelnd mir zu.

Ich lege ein Trinkgeld auf die Zeitung

neben der Tasse mit kaltem Kaffee.

Ich stelle mir auf dem Weg zum Wagen

die Einsamkeit eines Mannes kurz vor dem Tod

in einem Krankenhaus vor in der Fremde.

„Der Tod verscheidet in der weißen Lache des Schweigens“,1

schreibt der junge Poet aus Martinique Aimé Césaire

im Jahr 1938.

Was weiß man von Exil und Tod,

mit kaum fünfundzwanzig?

Ich nehme wieder die Autobahn 40.

Kleine froststarre Dörfer

entlang dem gefrorenen Fluss.

Wo haben sich alle vergraben?

Das Volk bleibt unsichtbar.

Mir ist, als entdeckte ich

jungfräuliche Gebiete.

Ich wähle ohne Grund

die Route über Land,

auf der ich eine Stunde länger brauche.

Riesige Eisesweite.

Für mich ist es nicht leicht,

selbst nach den vielen Jahren,

mir auszumalen, welche Form

der nächste Sommer hat.

Das Eis brennt

sich tiefer ein

als Feuer,

aber das Gras erinnert sich

an das Streicheln der Sonne.

Es gibt unter dem Eis

mehr brennende Begierden

und lebendige Kraft

als in jeder anderen Jahreszeit.

Die hiesigen Frauen wissen das.

Die Männer arbeiten schweißnass und

der erste, der spricht, ist ein Schwächling.

Im Wald ist Schweigen die Regel,

damit der Bär dich nicht überrascht.

Nach diesem vielen Schweigen

nimmt den Mann die Leere ein

und er ist nur noch ein dürrer Baum,

der im Schnee knackt.

Der Hunger, der den Wolf aus dem Wald treibt,

drängt den Holzfäller nach Hause.

Jetzt sitzt er eingenickt

nach der Suppe am Kamin.

Die Frau erzählt, was sie im Radio bringen.

Es geht immer um Arbeitslosigkeit oder Krieg.

So vergehen in den Dörfern des Nordens Jahrhunderte.

Schön in der Wärme redet es sich gut,

nebenher versorgt man alte Wunden.

Wunden, derer man sich schämt,

heilen dagegen nicht.

Mich überfällt Panik,

wenn man keinen menschlichen Laut mehr hört.

Ich bin ein Tier der Stadt.

Beherrscht vom Stakkato der Absätze

einer Frau, die hinter mir geht.

All meine Anhaltspunkte sind weg.

Der Schnee hat alles zugedeckt.

Das Eis hat die Gerüche verbrannt.

Dies Winterland.

Nur der Einheimische findet hier seinen Weg.

Ein dicker knallgelber Laster streift mich fast.

Vor Freude auf seiner langen Fahrt,

endlich jemanden zu treffen,

hupt der Fahrer wie um Tote zu erwecken.

Er braust weiter nach Süden.

Ich fahre in diesen Norden im Licht,

der mich begeistert und blendet.

Ich weiß, am Ende dieser Straße

schreibt ein Bärtiger voll Sanftmut und Wahn

inmitten einer Meute von Hunden

am großen amerikanischen Roman.

Versteckt in dem schlafenden Dorf

Trois-Pistoles am gefrorenen Fluss,

ist er der einzige, der heute mit Phantomen

Irren und Toten zu tanzen versteht.

Dies bläuliche Licht

tief über dem Fluss

saugt mich in einem Atemzug an.

Mein Wagen gerät ins Schleudern.

Ich gewinne noch eben die Herrschaft zurück.

Zu sterben, inmitten der Schönheit der Dinge,

ist dem Kleinbürger nicht gegeben,

der ich bin.

Ich weiß, hier bin ich in einer Welt,

die der meinen entgegengesetzt ist.

Das Feuer des Südens gekreuzt

mit dem Eis des Nordens,

ergibt ein Meer, temperiert von Tränen.

Wenn die Straße so gerade ist,

Eis an beiden Seiten,

keine Wolke, um sich

am Mittagshimmel in diesem

einheitlichen Blau zu orientieren

berühre ich die Unendlichkeit.

Wir sind wirklich bei den Nordmännern,

die trinken, bis sie den Kopf verlieren

und dabei tanzen wie die Irren.

Sie werfen Zoten in den Himmel,

vor Staunen, dass sie allein sind,

auf dieser großen Weite aus Eis.

Es ist, als führe ich

durch eines dieser billigen

Bilder, die über dem

Kamin hängen.

Landschaft mit Landschaft im Innern.

Ganz am Ende des Feldwegs schwimmt,

ohne dass die Füße den Boden berühren,

das kleine schwarzhaarige Mädchen,

in einem fiebergelben Kleid,

das meine Träume beschäftigt,

seit jenem Sommer mit zehn.

Ein kurzer Blick aufs Armaturenbrett,

um zu sehen, wieviel Benzin noch bleibt.

Die kleinste Panne auf dieser Straße

würde den sicheren Tod bedeuten.

Großmütig betäubt der Frost, bevor er tötet.

Die Hunde kämpfen unter dem Tisch.

Die Katzen spielen mit ihrem Schatten.

Das Zicklein rupft den Teppichboden.

Der Herr des Hauses ist fort im Wald

den ganzen Tag, sagt die alte Köchin.

Schon in der Tür,

sehe ich noch, wie die Katzen dem dicken Manuskript,

das vom Regal fiel, den Garaus machen.

Das geduldige Lächeln der Köchin besagt,

vor der Literatur kommen die Tiere.

Zurück nach Montréal

Erschöpft.

Ich halte am Straßenrand.

Kurzes Nickerchen im Wagen.

Schon die Kindheit hinter den geschlossenen Lidern.

Ich gehe unter tropischer Sonne spazieren,

doch es ist kalt wie der Tod.

Vom Harndrang werde ich wach.

Brennender Schmerz vor dem Guss in Stößen.

Immer diese Rührung, wenn ich

die Stadt von weitem sehe.

Ich fahre durch den Tunnel unterm Fluss.

Man vergisst, Montréal liegt auf einer Insel.

Die Sonne steht tief auf den Kaminen

der Fabriken von Pointe-aux-Trembles.

Autoscheinwerfer, melancholisch.

Ich bahne mir einen Weg bis Cheval-Blanc.

Die abendlichen Gäste sind fort.

Die Gäste der Nacht noch nicht gekommen.

Ich mag diesen schmalen Streifen

wenig besuchter Zeit.

Mein Nachbar liegt quer über der Theke

mit offenem Mund und halbgeschlossenen Lidern.

Man bringt mir ein Glas Rum wie gewohnt.

Ich denke an einen Toten, von dem ich

nicht mehr alle Gesichtszüge weiß.

Vom richtigen Gebrauch des Schlafs

Ich kam nach Hause, spät in der Nacht.

Ließ mir ein Bad einlaufen.

Im Wasser fühle ich mich immer wohl.

Ein Wassertier – gewiss.

Am Fußboden der gewellte Band von Césaire.

Ich trockne mir die Hände, bevor ich ihn aufschlage.

Ich bin in der rosa Wanne eingeschlafen.

Eine alte Müdigkeit,

deren Grund ich nur zum Schein vergaß,

hat mich

in unerhörte Gebiete verschlagen.

So schlief ich eine Ewigkeit.

Das war der einzige Weg,

mit dieser ungeheuren Nachricht

unerkannt in mein Land zurückzukehren.

Das Nachtpferd, das ich manchmal

mittags besteige, kennt genau den Weg

durch die öde Savanne.

Ein Galopp durch die Wüste der Zeit,

bis ich entdecke,

es gibt in diesem Leben

weder Nord noch Süd,

weder Vater noch Sohn,

und keiner weiß wirklich,

wohin es geht.

Man kann sich sein Häuschen

am Hang eines Berges bauen.

Die Fenster nostalgieblau streichen.

Und rundherum rosa Oleander pflanzen.

Sich dann in die Dämmerung setzen und schauen,

wie langsam die Sonne in der Bucht versinkt.

Wir können das in jedem unserer Träume.

Doch nie finden wir den Geschmack

der Kindheitsnachmittage wieder, selbst wenn wir damals nur

zusahen wie es regnet.

Ich erinnere mich, wie ich mich aufs Bett warf,

um den Hunger zu lindern,

der mir die Gedärme zerfraß.

Heute schlafe ich eher,

um meinen Körper zu verlassen,

und den Durst nach den Gesichtern von damals zu stillen.

Der kleine Flieger fliegt ohne Zwinkern

unter der großen Sandbüchse durch,

die das Band der Erinnerung verwischt.

Jetzt stehe ich vor einem neuen Leben.

Nicht jedem winkt eine Wiedergeburt.

Ich biege in Montréal um eine Ecke,

und ohne Übergang,

lande ich in Port-au-Prince.

Wie in gewissen jugendlichen Träumen,

wo man eine andere küsst als jene,

die man in seinen Armen hält.

Schlafen, um in dem Land zu erwachen,

das ich eines Morgens ohne Blick zurück verließ.

Ein langer Tagtraum in Einzelbildern.

Das Badewasser ist inzwischen kalt

und ich kriege Kiemen.

Diese Trägheit überfällt mich

immer zu der Zeit im Jahr,

wenn der Winter schon zu lange da

und der Frühling noch fern ist.

Mitten im Eis Ende Januar

verlässt einen die Energie weiterzumachen,

während umkehren unmöglich ist.

Ich fange wieder an zu schreiben,

wie andere rauchen.

Wage nicht, es jemandem zu erzählen.

Mir ist, als täte ich etwas,

das mir nicht gut tut,

aber gegen das ich mich

nicht länger wehren kann.

Sobald ich den Mund aufmache, stürzen Vokale und Konsonanten in großer Unordnung heraus, ich versuche sie nicht zu bändigen. Ich zwinge mich selbst noch, deutlich zu schreiben. Aber ich komme nicht weiter als zehn Sätze, bis ich erschöpft zusammenbreche. Ich suche nach einer Arbeitsweise, die nicht so viel Kraft kostet.

Als ich meine alte Remington 22 kaufte, das war vor einem Vierteljahrhundert, wollte ich einen neuen Stil. Härter, dichter als vorher. Von Hand zu schreiben erschien mir zu literarisch. Ich wollte ein Rock-Autor sein. Ein Autor des Maschinenzeitalters. Die Wörter bedeuteten mir weniger als das Geräusch der Tasten. Ich strotzte vor Energie. In dem engen Zimmer in der Rue Saint-Denis tippte ich die ganze Zeit wie ein Irrer im Halbdunkel. Ich arbeitete bei geschlossenen Fenstern mit nacktem Oberkörper in der Sommerglut. Mit einer Flasche schlechtem Wein am Fuß des Tischs.

Ich kehre zur guten alten Hand zurück,

die nur selten eine Panne hat.

Immer gegen Ende einer überspannten Phase

kommen wir auf das zurück, was uns

natürlicher scheint.

Nach so vielen Jahren im Gebrauch

ist fast nichts Spontanes in mir übrig.

Jedoch bei der Nachricht am Telefon

hörte ich den kleinen Knacks

von einem Herz, das stehen bleibt.

Ein Mann spricht mich auf der Straße an.

Schreiben Sie immer noch? Zuweilen.

Sie hatten gesagt, Sie würden nicht mehr schreiben. Das

stimmt.

Und warum schreiben Sie doch?

Weiß nicht.

Er ging fort, beleidigt.

Die meisten Leser

halten sich für Figuren in einem Roman.

Sie betrachten ihr Leben als eine Geschichte

voll mit Schall und Wahn,

die ein Autor

nur aufschreiben muss.

Sich einem Wesen zu nähern, dieses Geheimnis ist

ebenso groß, wie sich von ihm zu entfernen.

Zwischen diesen beiden Momenten

liegt der Alltag, der einen erstickt,

mit seinem Gefolge kleiner Heimlichkeiten

An welchem Ende krieg ich diesen Tag zu fassen?

Am Aufgang oder Untergang der Sonne.

In letzter Zeit stehe ich erst auf,

wenn diese schlafen geht.

Ich brauche sofort ein Glas Rum

um die Malariahitze zu verscheuchen,

deren Fieber ich manchmal

mit Lebensenergie verwechsle.

Und ich schlafe nicht, bevor die Flasche

längs auf dem Fußboden liegt.

Wenn ich so im Halbdunkel grinse

ist’s, weil ich mich verloren fühle,

und dann wird mich keiner

aus der rosa Wanne holen,

in der ich mich krümme wie

in einem runden wassergefüllten Bauch.

Das Exil

Heute las ich noch einmal im ersten schwarzen Heft,

das von meiner Ankunft in Montréal erzählt.

Es war im Sommer 1976.

Ich war dreiundzwanzig

und ließ gerade mein Land zurück.

Heute lebe ich hier seit dreiunddreißig Jahren,

ohne dass meine Mutter mich sieht.

Zwischen Reise und Rückkehr

zwängt sich

eine faule Zeit,

die einen verrückt machen kann.

Einmal kommt der Moment,

wo du dich im Spiegel

nicht mehr erkennst,

weil kein Blick dich spiegelt.

Du vergleichst dich mit dem Foto

vom jungen Mann vor der Abreise.

Meine Mutter hatte es mir

in die Tasche gesteckt, als ich eben

durch die kleine grüne Pforte trat.

Ich weiß noch, wie ich damals lächelte

über so viel Sentimentalität.

Das alte Foto ist heute mein einziger Zeuge,

um zu messen, wie die Zeit vergeht.

Es ist Sonntagnachmittag in Port-au-Prince.

Ich erkenne es daran, dass selbst die Pflanzen

gelangweilt aussehen.

Wir beide, meine Mutter und ich,

sitzen auf der Galerie und warten schweigend,

dass der Abend auf die rosa Oleanderbüsche sinkt.

Auf dem Foto, heute vergilbt,

blättre ich gerade

(bestimmt mit klammen Händen und stolperndem Herzen)

in der Sommernummer eines Frauenmagazins

mit Mädchen im Bikini.

Meine Mutter neben mir tut, als ob sie schliefe.

Auch wenn ich noch nicht wusste,

dass ich fortgehen würde,

ohne zurückzukehren,

meine an jenem Tag

so bedrückte Mutter

spürte es wohl

in ihrem tiefsten

geheimsten Inneren.

Plötzlich ist man in einen schlechten Roman

unter die Herrschaft eines tropischen Diktators geraten,

der unablässig befiehlt,

seinen Untertanen die Köpfe abzuschlagen.

Man hat eben noch Zeit,

sich zwischen die Linien zu retten

zu dem Rand, der die Karibik umgibt.

Hier bin ich, viele Jahre später,

laufe durch eine verschneite Stadt

und denke an nichts.

Lasse mich nur

von der Bewegung der Eisluft leiten

und diesem zarten Nacken, der vor mir geht.

Ziemlich gebannt von der Kraft

der jungen Frau, die sich entschieden

gegen die starken Windstöße stemmt,

so kalt, dass mir die Tränen

in die Augen steigen

und ich manchmal wie ein Derwisch um mich kreisele.

Ein mitten auf der Treppe sitzendes Kind

wartet auf seinen Vater, dass er es mit in die Arena nimmt.

Sein trauriger Blick verrät,

dass das Hockeyspiel schon im Gange ist.

Ich hätte alles dafür gegeben,

ein Spiel mit meinem Vater zu verpassen,

und ihm den ganzen Nachmittag zuzuschauen,

wie er in der Eckkneipe die Zeitung liest.

Das Haus mit der Katze im Fenster kenne ich.

Um reinzukommen muss man den Schlüssel

ganz tief hineinschieben,

bevor man ihn mit einer Drehung

vorsichtig ein wenig im Schloss zurückzieht.

Die Treppe knarrt

ab der achten Stufe.

Ein großes Haus aus Holz.

Ein langer kahler Tisch

mit einem Obstkorb am Ende.

An der Wand eine Ausstellung

von Fotos in Schwarzweiß

mit der Geschichte

von einem Mann und einer Frau

in der Glanzzeit ihrer Liebe.

Ein Eichhörnchen rennt ganz schnell den Baum hinauf,

es wendet sich zu mir,

als sollte ich ihm folgen.

Es ist drei Uhr früh, im fahlen Licht

gehen Teenager noch auf den Strich

mit Absätzen, die ihnen das Kreuz brechen

bevor sie dreißig sind.

Das Mädchen mit dem grünen Minirock und den aufgesprungenen Lippen lässt sich am frühen Morgen kurz bevor die Polizisten kommen in Kokain bezahlen das mit Bicarbonat versetzt ist und nimmt es auf der Stelle ein um den harten Blick der Bürgersfrauen auszuhalten die mit lila Lockenwicklern durch das Fensterglas hindurch ihre Brut überwachen.

Es kommt selten vor, dass ich es eiliger habe als ein Eichhörnchen. Aber heute ist das so. Da steht es ganz erstaunt, weil ein Passant ihm nichts zu Fressen gibt oder mit ihm spielt. Man hat ihm nicht beigebracht, dass es nur ein armes Eichhörnchen im winzigen Park eines Arbeiterviertels ist. Bei den Tieren gibt es wohl keine Gesellschaftsklassen. Ein Ego schon.

Ich warte auf das Öffnen der Kneipe.

Die Bedienung kommt mit dem Rad

trotz des Frostes.

Sie sammelt die zwei Zeitungsstapel auf,

die vorhin der junge Zeitungsbote

vor der Tür abgelegt hat.

Ich sehe, wie sie hinter dem Ladenfenster hantiert.

Ihre Gesten sind sparsam und geübt.

Endlich kommt sie und öffnet die Tür.

Ich trete ein, trinke den ersten Kaffee und

lese die morgendlichen Leitartikel,

die mich jedes Mal ärgern.

Sie legt sehr laut Heavy Metal-Musik auf,

die sie für Joan Baez tauschen wird,

sobald die ersten Gäste eintreffen.

Ich gehe immer auf einen Sprung nebenan in den Buchladen. Die Buchhändlerin hinter der Theke. Mit müden Zügen. So bleich. Der Winter bekommt ihr nicht. Sie macht sich bereit, nach Key West zu fahren, zu ihrem Schriftstellerfreund, der seit mehreren Jahren dort lebt. Die Literatur hat, wie das organisierte Verbrechen, ein eigenes Netz.

Der Nacken eines hinten im Laden lesenden Kunden.

Profil von links.

Zähne aufeinandergepresst.

Höchste Konzentration.

Er macht sich bereit, das Jahrhundert zu wechseln.

Genau hier, vor meinen Augen.

Ohne einen Laut.

Ich dachte immer,

es wäre das Buch, das die

Jahrhunderte überspringt, um uns zu erreichen.

Bis ich verstand,

durch diesen Mann,

dass es der Leser ist, der sich bewegt.

Verlassen wir uns nicht zu sehr auf den Gegenstand

mit den vielen Zeichen in unserer Hand,

er besagt nur,

wir waren wirklich auf der Reise.

Ich gehe wieder in das Lokal nebenan. Die Bedienung gibt mir sofort ein Zeichen, dass jemand schon länger auf mich wartet. Nach Joan Baez ist Buffy Sainte-Marie an der Reihe, eine indianische Sängerin. Ich hatte die Verabredung völlig vergessen. Ich leiste wortreich Abbitte. Die junge Reporterin fragt mich schroff, ob sie unser Gespräch aufnehmen kann. Ich nicke, obwohl ich weiß, dass ein Gespräch im Prinzip keine Spur hinterlässt. Sie arbeitet für eine dieser Gratiszeitungen, die auf den Kneipentheken der Gegend herumliegen. T-Shirt, Jeans, Tattoos, rosa geschminkte Lider, sprühende Augen. Ich bestelle einen Tomatensalat. Sie einen grünen. Wir sind um die Achtziger herum von der Kultur des Steaks zur Kultur des Salats gewechselt, in der Hoffnung, dass wir davon friedlicher werden.

Das Aufnahmegerät läuft. Im Grunde schreiben Sie nur über Identität? Ich schreibe nur über mich. Das haben Sie schon mal gesagt. Offenbar hat es keiner gehört. Haben Sie den Eindruck, dass man nicht auf Sie hört? Die Leute lesen, um sich selbst zu suchen, nicht um jemand anderen zu finden. Haben Sie Paranoia? Davon hat man nie genug. Denken Sie, dass Sie einmal um Ihrer selbst willen gelesen werden? Das war meine letzte Illusion, bevor ich Sie traf. Sie kommen mir in der Realität anders vor. Sind wir uns schon mal in einem Buch begegnet? Sie sammelt ihre Sachen mit der gelangweilten Miene auf, die dir einen sonnigen Tag verderben kann.

Der einzige Ort, wo ich mich vollkommen zu Hause fühle, ist in diesem brühheißen Wasser, das mir endlich die Knochen erweicht. Mit der Rumflasche in Armeslänge und dem Gedichtband von Césaire nicht weit. Ich wechsle ab, ein Schluck Rum, eine Seite aus dem Buch, bis es auf den Boden gleitet. Alles passiert in Zeitlupe. Im Traum überlagert Césaire meinen Vater. Das gleiche erloschene Lächeln, und wie sie die Beine übereinanderschlagen, erinnert an die Dandys der Nachkriegszeit.

Ich habe das Foto meines Vaters lange studiert.

Der Hemdkragen perfekt gestärkt

die Manschettenknöpfe aus Perlmutt.

Die Socken aus Seide und die Schuhe gut geputzt.

Die Krawatte eher locker gebunden.

Ein Revolutionär ist zunächst ein Verführer.

Der Wetterbericht verkündet heute morgen minus 28 Grad.

Heißer Tee.

Ich lese am vereisten Fenster.

mich befällt eine Starre.

Ich lege das Buch auf den Bauch

falte die Hände, lehne den Kopf zurück.

Heute wird sich sonst nichts ereignen.

Ein Sonnenstrahl

wärmt meine linke Wange.

Der Mittagsschlaf eines Kindes

in der Nähe seiner Mutter.

Im Schatten des rosa Oleanders.

Wie eine alte Eidechse,

die sich vor der Sonne verbirgt.

Ich höre plötzlich das dumpfe Geräusch

des Buchs, das auf den Boden fällt.

Es ist das gleiche Geräusch, das die schweren

saftigen Mangos in meiner Kindheit machten,

wenn sie neben das Wasserbecken fielen.

Alles trägt mich in die Kindheit zurück.

In das Land ohne Vater.

Eines ist sicher

ich hätte nicht so geschrieben, wäre ich dort geblieben.

Hätte vielleicht überhaupt nicht geschrieben.

Schreibt man fern seines Landes, um sich zu trösten?

Ich bezweifle, dass das Exil einen zum Autor beruft.

Das Foto

Der Mann sitzt vor einer strohgedeckten Hütte

auf dem Kopf einen Bauernhut.

Hinter ihm steht eine kleine Rauchsäule.

„Das ist dein Vater im Maquis“, sagte die Mutter.

Die Schergen des Präsidenten-Generals verfolgten ihn.

Obwohl es so weit zurück in meiner Kindheit liegt,

beruhigt mich das Bild noch heute.

Ist es mir am Mittag zu heiß

in diesen „traurigen Tropen“,

denke ich an den Gang über den gefrorenen See

mit dem Holzhaus, in das Louise Warren,

meine Freundin,

zum Schreiben flieht.

Katzen spielen auf der Terrasse

ohne Sorgen um die Zeit, die vergeht.

Ihre Zeit ist nicht die unsere.

Eines der Kätzchen gleitet

in das Halbdunkel meiner Erinnerung.

Weiße Pfötchen auf einem gewachsten

Boden aus einfachen Dielen.

Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht.

Die Erinnerungen schieben sich ineinander.

Mein Leben ist nichts als ein feuchtes kleines Paket

von verwaschenen Farben und alten Gerüchen.

Es kommt mir vor, als wäre der Anruf

eine Ewigkeit her.

Die Zeit schneidet sich nicht mehr

in die feinen Scheiben der Tage.

Sie ist eine kompakte Masse von einer Dichte,

die schwerer ist als die gesamte Erde.

Es bleibt mir nichts, außer dem zwingenden Bedürfnis zu schlafen. Schlaf ist das einzige Mittel, dem Tag und den mit ihm verbundenen Pflichten auszuweichen. Ich muss zugeben, die Dinge liefen bei mir schon seit einer Weile schief. Der Tod meines Vaters beendet offenbar eine Phase. Alles geschah ohne mein Wissen. Ich konnte die Zeichen nicht erkennen, die den Wirbel ankündigten, als er mich schon mit sich riss.

Bilder aus den Tiefen der Kindheit

stürzen in Wellen auf mich.

Sie sind so frisch,

dass ich tatsächlich meine,

die Szene spielt jetzt vor meinen Augen.

Ich erinnere mich an ein weiteres Detail

beim Betrachten dieses Fotos meines Vaters.

Es ist so winzig, dass meine Erinnerung

es nicht genau erfasst.

Was ich behalte ist ein Moment

reinen Vergnügens.

Eben fiel mir ein, was mich so zum Lachen brachte, als mir die Mutter das Foto des Partisanen mit dem Strohhut zeigte. Ich war sechs Jahre alt. Unten links im Bild sieht man ein pickendes Huhn. Meine Mutter fragte sich lange, was ich an einem Huhn so lustig fand. Ich konnte ihr nicht erklären, was es war. Heute weiß ich´s: ein Huhn ist so lebhaft, dass es sich sogar auf einem Foto bewegt. Neben ihm erscheint alles tot. Für mich wird das Gesicht meines Vaters nur durch die Stimme meiner Mutter lebendig.

Der richtige Moment

Er kommt in jedem Fall,

der Moment des Aufbruchs.

Man mag noch ein wenig trödeln

mit unnötigen Abschieden und Dingen,

die man unterwegs wegwerfen wird.

Der Moment schaut dich an,

und du weißt, er wird nicht weichen.

Der Zeitpunkt des Aufbruchs erwartet dich an der Tür,

wie etwas, dessen Dasein du fühlst,

das du aber nicht beeinflussen kannst.

In der Realität nimmt er die Gestalt eines Koffers an.

Die Zeit, die man woanders

als in seinem Geburtsdorf verbringt,

sie lässt sich nicht bemessen.

Eine Zeit außerhalb der Zeit,

die wir in den Genen tragen.

Einzig eine Mutter kann sie berechnen.

Die meine hat zweiunddreißig Jahre lang

auf einem Esso-Kalender

jeden Tag angekreuzt,

an dem sie mich nicht sah.

Wenn ich auf dem Gehweg meinen Nachbarn treffe,

lädt er mich jedesmal, ein,

den dünnen Wein zu kosten, den er im Keller produziert.

Wir sprechen den ganzen Nachmittag von Juventus.

Von der Zeit, als Juventus noch Juventus war.

Er kennt alle Spieler persönlich,

von denen die meisten längst gestorben sind.

Ich frage Garibaldi (ich nenne ihn nach seinem Idol), warum er nicht in sein Land zurückkehrt. Meines, sage ich, ist so zerstört, dass schon der Gedanke, es wiederzusehen, weh tut. Aber Sie könnten wenigstens mal wieder ins Stadion von Juventus gehen. Er lässt sich mit der Antwort Zeit, schaltet den Fernseher aus, kommt zurück und setzt sich neben mich. Dann schaut er mir in die Augen, um mir anzuvertrauen, dass er jede Nacht in Italien ist.

Garibaldi bestellt mich eines Abends zu sich. Wir gehen in den Keller. Das gewohnte Ritual. Ich muss den Hauswein trinken. Ich spüre, dass er mir etwas Ernstes zu sagen hat. Ich warte. Er steht auf, staubt seine Bücher ab, zeigt mir bei der Gelegenheit ein Porträt von D´Annunzio, das der Autor für seinen Vater signiert hat. Ich fürchte, er will mir etwas Skandalöses erzählen. Doch ihm geht es nur darum, mir mitzuteilen, dass er Juventus schon immer hasst und dass seine Mannschaft der FC Turin ist. Da diese Mannschaft hier keiner kennt, alle nur Juventus kennen, hat er von Juventus geredet und an Torino gedacht. Es ist die Tragik seines Lebens. Es vergeht kein Tag, ohne dass ihn sein Verrat wurmt. Falls er einmal nach Italien zurückkehrt, ist er nicht sicher, ob er seinen alten Freunden noch in die Augen schauen kann.

Ich bringe in die Heimat

ohne Abschiedszeremonie

die Götter zurück, die mich

begleiteten auf dieser langen Reise,

und mich daran hinderten, den Verstand zu verlieren.

Auch wenn du den Voodoo nicht kennst,

der Voodoo kennt dich.

Die einst geliebten Gesichter verschwinden

mit der Zeit aus unserem versengten Gedächtnis.

Die Tragik ist, dass du auch die nicht mehr kennst,

die dir am nächsten standen.

Das Gras wächst wieder nach der Feuersbrunst,

um jede Spur der Katastrophe zu tilgen.

Der Gegensatz besteht in Wahrheit nicht

zwischen den Ländern, so verschieden sie sein mögen,

sondern zwischen Menschen, die gewohnt sind,

in anderen Breiten zu leben

(oft schließt dies sozialen Abstieg ein)

und denen, die sich nie mit einer anderen Kultur

als ihrer eigenen auseinandersetzten.

Nur die Reise ohne Ticket zurück

kann uns retten vor der Familie,

vor den Blutsbanden und der Engstirnigkeit.

Wer noch nie sein Dorf verließ,

richtet sich ein in einer starren Zeit,

die sich auf lange Sicht

wohl schädlich für den Charakter erweist.

Für Dreiviertel der Menschen auf diesem Planeten

ist nur eine Reise möglich:

Sie kommen ohne Papiere in ein Land,