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Über dieses Buch:

Hamburg in den 50er Jahren. Die junge Schriftstellerin Julie kann ihr Glück kaum fassen, ihr neues Drehbuch soll verfilmt werden. Doch als sie dem Regisseur Paul Frank zum ersten Mal gegenübersitzt, fällt sie aus allen Wolken: Paul ist niemand anderes als der rüpelhafte Fremde, der sie erst zu dem Drehbuch inspiriert hat! Er erinnert sich auch noch gut … und amüsiert sich köstlich, dass sie aus ihrer unglücklichen Begegnung eine Liebesgeschichte gemacht hat. Um vor Scham nicht im Boden zu versinken, erfindet Julie rasch einen Verlobten – aber sie hat nicht damit gerechnet, dass gleich ihre ganze Verwandtschaft davon erfährt. Woher soll Julie bloß auf die Schnelle einen geeigneten Heiratskandidaten nehmen? Ein Plan muss her – doch jedes Mal, wenn Pauls Augen sie schelmisch anblitzen, gerät Julie völlig aus dem Konzept …

»Barbara Noacks Wortwitz und Charme werden nur noch von ihrem Scharfsinn übertroffen. Sie beobachtet mit dem Skalpell und schreibt mit einem Lächeln.« Bestseller-Autorin Viola Alvarez

Über die Autorin:

Barbara Noack, geboren 1924, hat mit ihren fröhlichen und humorvollen Bestsellern deutsche Unterhaltungsgeschichte geschrieben. In einer Zeit, in der die Männer meist die Alleinverdiener waren, beschritt sie bereits ihren eigenen Weg als berufstätige und alleinerziehende Mutter. Diese Erfahrungen wie auch die Erlebnisse mit ihrem Sohn und dessen Freunden inspirierten sie zu vieler ihrer Geschichten.
Ihr erster Roman »Die Zürcher Verlobung«, der nun unter dem Titel »Fräulein Julies Traum vom Glück« neu bei dotbooks erscheint, wurde zweimal verfilmt und besitzt noch heute Kultstatus. Auch die TV-Serien »Der Bastian« und »Drei sind einer zu viel«, deren Drehbücher die Autorin verfasste, brachen in Deutschland alle Rekorde und verhalfen Horst Janson und Jutta Speidel zu großer Popularität.

Eine Übersicht über weitere Romane von Barbara Noack finden Sie am Ende dieses eBooks.

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eBook-Neuausgabe Juli 2020

Dieses Buch erschien unter dem Titel »Die Zürcher Verlobung« bereits 1955 im Lothar Blanvalet Verlag und 2015 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 1955 by Lothar Blanvalet Verlag, Berlin

Copyright © der Neuausgaben 2015 und 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Anna Tryhub / portumen / Claudio Divizia / Soundaholic studio / javarman / Vector

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-390-3

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Barbara Noack

Fräulein Julies Traum vom Glück

Roman

dotbooks.

FÜR IHN

(er weiß schon, wen ich meine)

Erstes Kapitel

Es begann am 7. Oktober, morgens halb acht. Himmel gab es an diesem Tag nicht, nur eine dichte, graue, feuchte Wolke, die sich selbst zu schwer war und darum auf die Erde stippte.

»Wie damals in London«, sagte Onkel Julius, der keine Gelegenheit ausließ, seine im Vorjahr unternommene Englandreise zu erwähnen.

Die Autos schlichen so vorsichtig und ruckweise über den Damm wie die Schmuggler in der Oper »Carmen«, die ich eine Woche zuvor gesehen hatte. Sie hupten in einem fort – die Autos meine ich – und enttäuschten meinen Onkel, weil er sie noch immer schemenhaft im Nebel erkennen konnte. Es war eben doch nicht ganz so wie in London.

»Da habe ich nicht einmal die Hand vor Augen sehen können!«

Tante Sophie dagegen behauptete, er habe zwar die Hand, nicht aber den Ehering daran gesehen, und Onkel Julius widersprach nicht. Er befand sich bereits in einem Alter, in dem ihm eine solche Beschuldigung nur schmeicheln konnte.

Übrigens war er schlechter Laune an diesem Morgen. Schuld daran war der unvollkommene Nebel, der immerhin ausreichte, Tante Sophie mit Herzbeschwerden und einem Roman aus der Leihbibliothek ans Bett zu fesseln – was wiederum den Mißmut meines Onkels vertiefte. Er schätzte keine leidenden Frauen – außer jenen, deren Schmerzen ihm als Zahnarzt Geld einbrachten.

Den Schuß Öl, der seinen leise schwelenden Ärger hell auflodern ließ, goß seine Assistentin telefonisch auf. Sie entschuldigte sich mit einer Grippe.

Gleich zwei leidende Frauen, das war zuviel. Sein brotkrümelspuckender Zorn fiel auf Hulda, die den Kaffeetisch abräumte, und mich, seine liebe Nichte-auf-Besuch. Er erinnerte sich jedoch rechtzeitig daran, daß wir beide sozusagen die letzten Karyatiden waren, die das Gebäude seiner häuslichen Ordnung stützten. Wenn wir auch noch ausfielen – nicht vorzustellen!

Bei Karyatide Hulda lenkte er mit einem laschen Klaps unterhalb ihres auf dem Rücken gebundenen Schürzenbandes ein. Mir näherte er sich mit der Feststellung:

»Neblig heute, was?«

»Fast so schlimm wie damals in London«, seufzte ich und legte meine Serviette zusammen.

»Wenn ich nur wüßte, woher ich so schnell eine neue Assistentin bekomme! Schneider – (das war sein Techniker) – hat mit dem Gebiß von Frau Sieblig zu tun. Sie kommt um elf zur Anprobe. Hulda ist gänzlich ungeeignet. Hm –« Er sah mich scharf an und rieb sein Kinn mit Mittel- und Zeigefinger. Und ich verstand.

»Wenn dir etwas an einer assistentiellen Attrappe gelegen ist, bin ich gern bereit.«

»Was soll das heißen?« fragte er gereizt.

»Das soll heißen, daß ich mich mit fachkundigem Gesicht neben den Behandlungsstuhl stelle und so tue als ob.«

»Wenn du unbedingt willst.« Das war genau die Antwort, die ich auf mein generöses Angebot nicht erwartet hatte.

Unser erster Patient war ein Herr Alfons, Buchhalter mit Kassenschein und schmerzendem linkem Augenzahn.

Herrn Alfons' Miene – männlich gefaßt, doch transparent: Sein aufgewühltes Seelenleben schimmerte deutlich durch – zeugte davon, daß er nicht zum erstenmal beim Zahnarzt war. Man mochte ihm so manche Erfahrung eingebohrt haben. Ich war auch nicht so ganz ohne Erfahrung, denn acht Zahnärzte hatten mein Eßzimmer mit vierzehn schönen Plomben ausgepolstert. Das heißt: Der erste war kein Zahnarzt gewesen, sondern ein Onkel Doktor, weil er mir noch nicht weh zu tun brauchte. Er besaß einen Papagei, der Dr. Coué hieß und in dem Augenblick, da ich auf dem Behandlungsstuhl in die Höhe getreten wurde, »Tut nicht weh – tut nicht weh« krächzte. Später sang er »Gloria Victoria« zwei Strophen lang. Leider wanderte Dr. Coué samt Herrchen in die Schweiz aus, und man brachte mich zu einem Zahnarzt, der zwar keinen Papagei, dafür aber einen Tatterich besaß. Dieses interessante Leiden wäre vielleicht ein ebenbürtiger Ersatz für Dr. Coués Vorträge gewesen, hätte der Bohrer nicht auch getattert. Er tatterte in meinen Gaumen, wo er gar nichts zu suchen hatte, und ich begann zu ahnen, welche Gefühle die meisten Menschen mit dem Begriff Zahnarzt verbinden. Ich ging nicht wieder hin, weder für Kokosflocken noch für Abziehbilder oder Prügel.

Als man mich ins Sprechzimmer des dritten med. dent. schleifte, fiel mir Gott sei Dank der Ratschlag ein, den mir mein Vater einmal gegeben hatte: »Hast du auch noch soviel Angst, heule nicht! Beiß lieber die Zähne fest zusammen.« Das tat ich denn auch, und es erwies sich als erfolgreich. Ich konnte ungebohrt nach Hause gehen und nahm außerdem noch die beruhigende Zusicherung mit, daß dieser Zahnarzt mich nie mehr zu sehen wünschte.

Der nächste – ein freundlicher alter Herr – wurde telefonisch auf mich vorbereitet. »Wenn's weh tut, sagst du einfach Au, dann höre ich sofort mit dem Bohren auf.«

»Aua«, sagte ich prompt. Trotzdem – weiß der Himmel, wie – schwatzte er mir drei Zahnplomben ab. Danach starb er. Aber das war gewiß nicht meine Schuld.

Mit seinem Nachfolger schloß ich ein Abkommen. Er mußte versprechen, nicht mehr als dreimal zehn Sekunden lang zu bohren, und ich versprach, weder vom Stuhl zu rutschen noch mit den Füßen seinen studierten Bauch zu malträtieren oder nach dem Bohrer zu fassen, wenn's weh tat.

Jedoch – er wurde vertragsbrüchig und somit ich auch. Es nahm kein gutes Ende.

Dann geriet ich an einen Dentisten. Von ihm stammten der Stiftzahn oben links, die Zahnlücke hinten rechts und zwei Plomben … schließlich war er früher in einer Irrenanstalt tätig gewesen.

Kein Zahnarzt hat mich so standhaft erlebt wie der nächste. Aber das kam auch bloß, weil ich verliebt in ihn war. Und in diesem blödsinnigen Zustand erträgt man Unmenschliches. Es wurde nichts aus uns, weil ich eine lebhafte Phantasie habe. Ich stellte mir vor, er würde meinen Mund küssen, den er schon etliche Male mit Spiegel, Bohrer und Daumen inwendig untersucht hatte. Er würde dabei genau wissen, wo eine Plombe oder Lücke – es ging wirklich nicht. Nach diesen Überlegungen war ich nicht mehr verliebt, und aus war's mit der Standhaftigkeit. Onkel Julius war der achte, dem ich mich auslieferte. Aber ich rate Ihnen, gehen Sie niemals zur Verwandtschaft! Die führt eine Zahnbehandlung so aus, als ob sie von vornherein wüßte, daß die Rechnung doch nicht bezahlt wird.

Während Onkel Julius bei Herrn Alfons bohrte, machte dieser weite Nüstern vor Angst. Seine Augenlider flatterten wie aufgeregte Fledermäuse.

»Nur ruhig Blut«, sagte ich und legte meine Hand auf seine Schulter.

Bei dieser Gelegenheit bemerkte Onkel Julius meine lackierten Nägel. Er machte ein Gesicht, als ob er ein Aspirin kaue.

»Ausspülen«, bat ich Herrn Alfons, als Onkel Julius die Bohrer wechselte.

Nachdem er gründlich gegurgelt und gespuckt hatte, sah er mich scheu an. »Fräulein, muß noch viel gebohrt werden?«

»Nein.« Er tat mir leid. »Das war das letzte Mal. Sie Armer! Ich weiß es aus eigener Erfahrung, Zahnärzte sind …«

»Mund auf!« knirschte Onkel Julius dazwischen.

»Aber das Fräulein hat gesagt …«

»Das Fräulein hat hier nichts zu sagen!«

Als Herr Alfons ging, schüttelte er meine Hand wie einen Mixbecher. »Ich danke Ihnen auch schön, Sie waren so nett!«

Bei Onkel Julius bedankte er sich nicht. Der saß am Schreibtisch und notierte mit spritzender Füllfeder etwas in seinem großen Buch.

»Kein Wunder, daß Jürgen dir untreu geworden ist«, brummte er, ohne diese Behauptung näher zu erklären.

An der Wohnungstür hatte es inzwischen dreimal geläutet, und dreimal hatte Hulda einen Patienten ins Wartezimmer geführt. Aber ehe nach Herrn Alfons der »Nächste, bitte« in die weiße, blitzende Hölle eingelassen wurde, vergingen einige Minuten, in denen ich auf Onkel Julius' Geheiß Nägel schneiden und ablackieren mußte.

Dann öffnete ich die Tür zum Wartezimmer und sah ihn.

Mein erster Gedanke war. Wenn Onkel Julius diesem Mann weh tut, werfe ich ihn aus seiner eigenen Praxis oder halte meine Zähne für »den da« zum Bohren hin. Aus dieser spontanen Opferbereitschaft kann man ersehen, daß ich vom ersten Augenblick an in ihn verliebt war.

Das fiel übrigens nicht schwer, denn er sah blendend aus. Er war eine Mischung aus kraftvoll-antiker Schönheit und elegant-überzeichneter Figur aus dem Herrenjournal. Und sein Anblick erinnerte mich daran, daß ich schon seit einer Woche dringend zum Friseur mußte, aber nicht dazu gekommen war. Sein Anblick erinnerte mich an meine eigene Unvollkommenheit.

»Der Nächste bitte«, sagte ich verwirrt.

Neben ihm saß ein Mann mit vorgebeugtem Rücken und in die Wangen gebeulten Fäusten. Dem tippte er freundlich auf die Schulter. »Es ist soweit, Büffel.«

Herr Büffel grunzte etwas Unfeines und erhob sich. Er blickte mich voll Abwehr an, und ich ahnte sofort: Das war kein scheuer Alfons. Bei dem konnte ich meine Gute-Engel-Tour nicht anwenden. Wir beide würden nicht einmal lauwarm miteinander werden.

»Soll ich mit reinkommen, Büffel?« fragte sein Freund.

»Ach, laß nur«, sagte der und ging mit geradezu pathetischer Kaltblütigkeit an mir vorbei auf Onkel Julius zu.

Sein Freund lächelte ihm halb mitleidig, halb amüsiert und auf jeden Fall erleichtert nach, weil er nur die schmerzlose Begleitrolle zu spielen brauchte. Ich bedauerte diese Tatsache, denn so kam ich um den Genuß, mich als schützenden Engel vor ihn zu stellen, und würde nie erfahren, ob sein prächtiges Gebiß natürlich oder teuer war.

»Juliane«, rief Onkel Julius. Ich zog die Tür hinter mir zu und band Büffel ein Papierlätzchen um.

Mein Onkel beugte sich über ihn. »Seit wann haben Sie die Schmerzen?«

»Seit einer Woche ungefähr. Aber heute nacht wurden sie unerträglich. Ich bin die Wände hochgegangen. Fragen Sie meinen Freund.«

»Gern.« Ich wollte zur Wartezimmertür eilen, aber Onkel Julius rief mich barsch zurück.

Er schob seinen kleinen Spiegel in Büffels skeptisch verzogenen Mund. Ich schaute mit hinein. Er hatte ein paar beachtliche Ruinen in der Backe und roch nach Kognak. Onkel Julius klopfte die Ruinen ab.

»Es ist der Weisheitszahn. Eine Behandlung lohnt bei ihm nicht, er ist durch und durch morsch. Wir ziehen ihn am besten gleich.«

»Gleich?« Herr Büffel biß vor Schreck auf den Spiegel.

»Mach die Spritze fertig, Juliane.«

Ich lächelte nur.

»Ach so«, brummte Onkel Julius, der vergessen hatte, daß ich eine Attrappe war.

Herr Büffel richtete sich im Stuhl auf. In diesem Augenblick, kurz vor dem Verlust seines Weisheitszahnes, wirkte er zugleich feige und gewalttätig. Das Lätzchen unter seinem Kinn war das einzig Vertrauenerweckende an ihm.

Onkel Julius hielt die Spritze gegen das Licht, dann sagte er zu dem ausgewachsenen Mann auf dem Tretstuhl: »Es tut nicht weh. Nun machen Sie den Mund hübsch weit auf– so, na also. Brav. Ich gebe Ihnen gleich noch eine Spritze. Nein, nein, diesen Einstich spüren Sie gar nicht mehr.«

Büffel lag lang und ganz still im Stuhl, die Hände um die Lehnen gekrampft. Aber es war eine scheinheilige Stille. Unsere Katze bediente sich solcher Stille, um in aller Ruhe zum Sprung auf eine Maus anzusetzen. Fünf Minuten später kam das Drama.

Die Weisheitszähne wohnen sozusagen draußen vor der Stadt. Sie sind die letzten Gebäude in der Zahnstraße und von der Zunge mühsam zu erreichen. (Versuchen Sie's mal!) Bei Herrn Büffel bestand das Gebäude der Weisheit oben rechts nur noch aus einer morschen Seitenwand. Sie bot der Zange keinen Halt.

Es knirschte leise, Onkel Julius nickte kräftig– und Büffel stieß mit solcher Wucht gegen den Magen, daß mein Onkel mit Zange und einem blutigen Fragment daran gegen den Bohrapparat taumelte.

»Sind Sie wahnsinnig?« schrie er.

Ich blickte voller Sensationslust auf die beiden Männer, die drohend die Köpfe zwischen die Schultern zogen und sie gleich darauf an erstaunlich langen Hälsen gegeneinander vorschnellen ließen. Und dann brüllten sie sich fürchterlich an. Ein Glück, daß die Tür zum Wartezimmer gepolstert war. Das Geschrei hätte dem Renommee meines Onkels als Zahnarzt sehr geschadet.

»Idiot! – Schinder!« nannten sie sich und noch eine Menge harter Ausdrücke mehr.

»Vielleicht haben die Spritzen nicht gewirkt?« schrie ich dazwischen. »Hatten Sie Schmerzen?«

»Schmerzen? Nein, aber der Kerl hätte mir um ein Haar den Kiefer gebrochen!« Büffel brüllte mit schiefem Mund – wegen der tauben Backe.

Ich wählte bedacht den Umweg über den Flur zum Wartezimmer. Bei meinem Anblick hoben acht Leute die Köpfe von den zerlesenen Illustrierten und sahen mich voll unbehaglicher Spannung an. Ein kleines Mädchen verkroch sich hinter dem Rücken seiner Mutter. (Ob vielleicht doch einige unerfreuliche Worte durch die Polstertüren gedrungen waren?)

»Würden Sie, bitte, zu Ihrem Freund kommen?« fragte ich Büffels schönen Begleiter. »Nein – hier herum.«

»Lebt er noch?« flüsterte er, als wir den Flur erreichten.

»Und wie! Es ist noch nicht heraus, ob er meinen Onkel oder mein Onkel ihn umbringen wird. Ich bat Sie hier lang, damit die anderen nicht ihr Gebrüll hören.«

Seine Schlipsklammer, die in meiner Blickrichtung lag, zitterte auf und nieder; so sehr lachte er, als ich ihm in Telegrammkürze das bisher Vorgefallene erzählte.

Ehe wir die Kampfstätte betraten, legte sich seine Hand auf meinen Arm. »Beurteilen Sie den Charakter meines Freundes nicht nach seinem Benehmen auf dem Behandlungsstuhl. Ohne Zähne wäre er ein sehr netter Mann.«

Meine Blicke fuhren drei Stockwerke hoch zu seinen Augen. Es waren gutmütige, zärtliche braune Augen – und das Grübchen in seiner Wange tat das übrige.

Ich hatte genau das Herzklopfen überall im Körper, das mein Verlobter a. D. drei Jahre lang an mir vermißt zu haben behauptete.

Es herrschte Grabesstille, als wir das Sprechzimmer betraten. Doch beide lebten, Büffel mit folgsam aufgerissenem Mund im Behandlungsstuhl und Onkel Julius über ihn gebeugt.

»Ha-hi-hu-hi?« lallte ersterer, als er seinen Freund plötzlich neben sich sah.

»Was Sie hier wollen«, dolmetschte mein Onkel.

»Du sollst randaliert haben, Büffel, und da wollte ich –«

»Aber wo –«, wehrte Onkel Julius ab. »So schlimm war das gar nicht. Da hat meine Nichte sicher übertrieben.« Und Büffel nickte zu seinen Worten.

Am liebsten hätte ich jetzt den Kopf zwischen die Schultern gezogen und drohend gegen die beiden vorschnellen lassen, aber ich konnte mich nicht entschließen, gegen wen zuerst, und darüber verrauchte mein gröbster Ärger.

»Hier sind schmerzstillende Tabletten, die nehmen Sie ein, wenn die Wirkung der Narkose nachläßt«, sagte Onkel Julius, als Büffel seinen flachen Hut aufstülpte.

Sein Freund gab mir zum Abschied die Hand und lächelte auf mich nieder – und ich überlegte, ob er von Natur aus zu allen Frauen so herzlich war oder nur in speziellen Fällen. Noch nie hatte ich mir so sehr gewünscht, ein spezieller Fall zu sein. Der war ich eigentlich nur auf der Schule gewesen.

Sie gingen.

Onkel Julius setzte sich an seinen Schreibtisch, zündete eine Zigarette an und trank seine Tasse Nescafé, die Hulda ihm jeden Morgen gegen zehn Uhr zu bringen pflegte. Ich stand indessen am Fenster und blickte auf die beiden Hüte, die gerade aus der Haustür kamen und auf eine schwarze Limousine zugingen.

»Julchen«, sagte Onkel Julius hinter mir. Ich wandte mich um. Er saß zurückgelehnt in seinem Armstuhl und sah wie die Generaldirektoren der Leinwand aus, die in sozialkritischen Filmen meist einen schlechten Charakter und in Gesellschaftsfilmen eine Tochter haben, die ihnen im Reitdreß auf die Schulter tippt und »Hallo, Paps« sagt.

»Julchen –« Er verrührte den Zucker in seiner Tasse. »Falls du etwas Wichtiges vorhaben solltest, so laß dich nicht davon abhalten. Ich komme ganz gut ohne dich hier aus.«

In diesem Augenblick brummte vor dem Hause ein Motor auf. Meine Ohren folgten dem Geräusch, bis es in der Ferne verstummte.

Wenn ich dem Spiegel und den gutgemeinten, vielleicht auch ehrlichen Komplimenten anderer glauben durfte, so war ich eigentlich hübsch. Doch eine Frau, die ihre Verlobung nur mit drei minus (diese Note bekam ich in der Schule, wenn ich nicht aufgepaßt hatte; bei Jürgen hatte ich auch nicht aufgepaßt) absolviert hat und ihre Zukunftshoffnung an eine andere Frau abtreten mußte, bekommt Komplexe.

Karin hieß die andere. Im Vergleich zu ihr fühlte ich mich alt. Ich war ein kleines bißchen über fünfundzwanzig – genauer gesagt: Ich sollte im nächsten Monat dreißig werden. Karin aber sonnte sich geradezu aufdringlich in einer Jugend, an der sie genauso unschuldig war wie ich an meiner Leider-Fortgeschrittenheit.

Sie hatte betörend schwarzes Haar, gegen das meine Blondheit fad und ausgeblichen wie ein Bußtagshimmel wirkte. Sie konnte Hemden bügeln, ich nur mit Kniffen. Sie besaß einen vermögenden Vater und ich bis dato einen Verlobten, der sich einmal während einer turbulenten Unterhaltung als meine »finanzielle Fehlkalkulation« bezeichnete, eine Häßlichkeit, für die er sich später mit einem Blumentopf entschuldigte. Karin hielt immer im richtigen Augenblick den Mund, ich erst erschrocken hinterher. Sie ließ sich von Horn anziehen – mir fehlte stets das Anhängsel am Mantelkragen.

Unsere gemeinsamen Freunde behaupteten, ich verfüge über einen besseren Charakter als sie. Aber ich hab's nicht gern, wenn man vor allem meinen Charakter bei der Aufzählung meiner Qualitäten erwähnt. Denn im Rennen um einen Mann – wann hat da schon der Charakter vor der Schönheit gesiegt?

O ja, Karin hatte mir so peu à peu eine Menge Komplexe eingelöffelt. Doch an diesem Vormittag traten sie den Rückzug an. Ich war versöhnt mit meinem unvollkommenen Ego, und das war das Werk von zwei zärtlichen braunen, in Turmhöhe angebrachten Augen, die Büffels Freund gehörten.

Er hatte mir gut getan, auch wenn ich ihn nicht wiedersehen sollte.

Ich war wieder jung, hübsch, mit Vergnügen blond und fähig, mich zu verlieben.

»Fräul'n Thomas«, rief Hulda vor meiner Tür. »Telefon für Sie. Ein Herr Kolbe. Herr Doktor hat ins Wohnzimmer umgestellt.«

Herr Jürgen Kolbe, das ist der nämliche Herr, mit dem ich drei Jahre lang umsonst verlobt war, und sein unerwarteter Anruf konnte mir nicht mehr als ein schwaches Wundern an diesem Tage abringen.

»Ich habe geschäftlich in Berlin zu tun«, sagte er, und ich fühlte einen menschlichen Stich in der Brust: Jahrelang hatte die Pleite zärtlich an Jürgen festgehalten, so fest, daß wir nicht heiraten konnten. Mit Karins Eintritt in unser Leben hatte auch Jürgens geschäftlicher Aufstieg als Vertreter für pharmazeutische Firmen begonnen. Er verdiente immer besser, und ich hatte nichts mehr davon.

»Was macht Karin? Ist sie auch hier?«

»Nein«, sagte er, »aber sie läßt dich grüßen.«

»Sehr aufmerksam. Wann steigt denn eure Hochzeit?«

»Och, das hat noch Zeit«, sagte Jürgen lahm.

Nanu, dachte ich, nanu, nanu! Es war. mir doch deutlich im Gedächtnis, daß sie so schnell wie möglich heiraten wollten.

»Und wie geht's dir, Julie?«

»Danke, ich habe mich verliebt.«

Jürgen verschluckte sich erschrocken an seinem Atem. Er hustete. »Wer ist es denn?«

»Keine Ahnung«, sagte ich wahrheitsgemäß, »aber er hat ein reizendes Grübchen.«

»Dann natürlich! Und seit wann schwärmst du für Grübchen?«

»Seit heute vormittag.«

»Julie«, sagte Jürgen dringend, »ich möchte dich unbedingt sehen. Hast du nachmittags für mich Zeit?«

Wir trafen uns um fünf Uhr im »Bristol«.

Anfangs bediente sich Jürgen im Umgang mit mir verstockter Zärtlichkeit. Er nahm es sich anscheinend übel, daß ich ihm wieder begehrenswert erschien.

»Du bist fraulicher geworden«, stellte er mißgestimmt fest, »und hübscher. Das Kostüm steht dir gut. Neu?«

»Fast. Aber du wirst es kaum kennen. Ich hab's in deinem Beisein höchstens zehnmal angehabt.«

Später fragte ich ihn nach Hamburg, das ich vor anderthalb Wochen verlassen hatte, nach unseren gemeinsamen Bekannten und endlich auch nach Karin.

»Du wohnst jetzt bei ihr, nicht wahr?« Er hatte kurz nach unserer Entlobung seine schlecht möblierte Bleibe aufgegeben, um als künftiger Schwiegersohn in die Villa ihrer Eltern zu ziehen, jedoch …

»Ich wohne im Hotel.« Seine Augen richteten sich mit soviel tragischem Schmelz auf mich, daß mir ganz unheimlich wurde. »Ich bin heimatlos.«

»Du armer, armer Jürgen.« Es ist ein seltsam Ding, den Mann zu bedauern, der einen verlassen hat. »Warum bist du nicht zu Karins Eltern gezogen?«

»Nein«, unterbrach er mich energisch, »das würde mich zu sehr verpflichten.«

»Wozu verpflichten?« forschte ich interessiert.

»Na ja –« Er schob den Aschenbecher ziellos über das Tischtuch. Und ich war verwirrt. Man darf nicht denken, daß ich begriffsstutzig bin. O nein, ich begreife eine ganze Menge. Wenn man zum Beispiel zu mir sagt: Ich möchte von dir fort, um meine ganz große Liebe zu heiraten, begreife ich das – wenn's auch schwerfällt. Wenn man mir aber nach dieser Trennung sagt: Du siehst hübsch aus, und ich möchte nichts unternehmen, was mich verpflichten könnte, meine ganz große Liebe zu heiraten, so begreife ich nichts mehr.

»Ach, Julie –« Jürgens Hand sank gleich einer schweren Last auf meine Schulter. Er seufzte aus Gemütstiefen, die ich nicht bei ihm vermutet hätte. »Ich war ein Rindvieh.«

»Aber – aber –«

»Doch, ich war ein riesengroßes Rindvieh.«

Selbstkritik ist gesund– sofern sie nicht ausartet. Es ist schwer, den Anfang zu finden; wenn sie aber erst den hemmenden Damm von Stolz und Eitelkeit überwunden hat, strömt sie unaufhaltsam fort, überschwemmt alles – auch den gesunden Menschenverstand und die Grenzen des guten Geschmacks. Denn – Selbstkritik ist nicht ohne Wollust, so richtige dunkellila Wollust. Das spürte ich an Jürgens düster süchtigem Blick und dem Ton, in dem er mehrere Male wiederholte, daß er ein Rindvieh gewesen sei, als er sich von mir getrennt habe.