cover-imageSpree.png

Renegald Gruwe

Spreeleichen

Ein Fall für Erik Malek

390453.png

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch

die Literaturagentur erzähl:perspektive

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild

ISBN 978-3-8392-5036-5

Kapitel 1

Kartoffelsalat im Zoologischen Garten und ein Attentatsversuch auf den Polizeivizepräsidenten

Erich Malek versuchte, den Faden durch das Nadelöhr zu fädeln. Vergeblich. Auch der akrobatische Versuch, mit dem Stiel einer Lupe im Mund unter der großen Stehlampe neben dem Sofa sitzend das notwendige Werkzeug zum Annähen eines Jackenknopfes zu präparieren, funktionierte nicht wie beabsichtigt.

»Himmel, Arsch und Zwirn«, schimpfte Malek und ließ die Nadel und den Faden zurück in das Nähkästchen wandern. »Na schön, dann kommen eben wieder einmal Frau Maleks gesammelte Nähkünste zum Tragen.«

Das Jackett wurde zurück auf den Bügel gehängt. Ein Besuch bei der Mutter morgen nach Dienstschluss war beschlossene Sache.

Nun war der Versuch fehlgeschlagen, den misslungenen Abend durch eine sinnvolle Arbeit doch noch zu retten. So blieb nur die Flasche Weinbrand als Partner, um die Beförderung zum Kriminalkommissaranwärter zu feiern. Ein Streit hatte Agnes bewogen, die Zweizimmerwohnung des Polizeibeamten an diesem Abend lautstark zu verlassen. Malek fragte sich, um was es bei der Zankerei noch mal gegangen war.

Eigentlich brauchten er und seine Freundin in letzter Zeit keinen wirklichen Grund, um sich gegenseitige Beleidigungen und Vorwürfe an den Kopf zu werfen. Ein Wort ergab das andere und schon flogen die Fetzen. Meist entzündete sich der Streit an belanglosen Kleinigkeiten.

Heute, so erinnerte sich Malek wieder, ging es um einen gemeinsamen Ausflug am kommenden Wochenende. Agnes wollte mit dem Zug in die Schorfheide fahren und dort in einem kleinen Gasthof übernachten. Es sollte romantisch zugehen. Maleks Reiselust beschränkte sich auf eine Fahrt mit der Elektrischen zu einem Besuch im Zoologischen Garten. Der von Agnes selbst gemachte Kartoffelsalat und die Bouletten von seiner Mutter würden zusammen mit einem Pils unter freiem Himmel besonders gut schmecken.

Nach einer Stunde waren die Fronten unwiderruflich verhärtet und der imaginäre Kartoffelsalat über Maleks Kopf ausgeschüttet. Malek erinnerte sich, dass Agnes eine Andeutung in Richtung »dann geh doch zu deinen Affen« gemacht hatte, bevor die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss gefallen war.

Der achtundzwanzigjährige Polizist lebte allein, aber nicht weil er allein leben wollte. Vielmehr hatte sich noch keine Frau gefunden, die das – von ihm selbst zugegeben – schwierige Wesen Maleks langfristig ertragen wollte. Natürlich spielte auch der Beruf eine wichtige Rolle in der Zweisamkeit, wenn nach Dienstschluss zwischen Agnes und Malek oft noch ein imaginärer Dritter mit auf der Couch saß. Dieser Dritte war entweder schuldig oder unschuldig. So grübelte der Polizist, wenn Agnes schon auf besagter Couch eingeschlafen war. Und vor Agnes war es Lotte, und vor Lotte war es Luise, und vor Luise war es …

»Sie müssen mehr Abstand zu Ihrer Arbeit finden.« Diesen Rat hatte sein Chef, Hauptkommissar Otto Jansen, dem jungen Kollegen mehr als einmal gegeben. Gelegentlich ergänzte der Leiter der Inspektion A, Mord und Körperverletzung, im Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz noch väterlich: »Mensch, Malek, vergiss das Menschsein nicht!«

Nun stand Malek am Fenster seines Wohnzimmers in Neukölln und blickte hinunter auf die Jonasstraße. Alles war ruhig. In der schummrigen Beleuchtung einer Gaslaterne konnte er auf der anderen Seite der Straße an einer Litfaßsäule die Schlagzeile eines rot umrandeten Fahndungsaufrufs seiner Dienststelle erkennen. Wieder hatte ihn der Beruf eingeholt.

»Bis zu zehntausend Reichsmark Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen.«

Den Rest konnte Malek aus dieser Entfernung nicht lesen, da die Schrift zu klein war. Aber natürlich kannte der Kriminalist den Inhalt des Fahndungsaufrufes. Es handelte sich um die Fahndung nach einem Frauenmörder, der schon seit zwei Jahren in Berlin und Umgebung sein Unwesen trieb.

Über dem Fahndungsaufruf klebte ein Wahlplakat der Kommunisten. Ein stilisierter Hammer, verziert mit einem Stern, der auf drei Köpfe einschlug. Nur den in der Mitte, den mit einem Hakenkreuz auf dem Helm, konnte Malek eindeutig als Nationalsozialisten ausmachen. Ein anderer Kopf trug einen Zylinder, womit wahrscheinlich die Deutschnationale Volkspartei gemeint war, und das dritte Gesicht hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Reichspräsidenten, dem verstorbenen Friedrich Ebert von der SPD.

»Gebt eure Stimme bei der Reichstagswahl am 20. Mai 1928 der Kommunistischen Partei Deutschlands. KPD!«, las der Kriminalist laut die Überschrift. Die Wahl fand in zwei Wochen statt. Bis dahin würden die Anhänger der extremen Parteien sicherlich noch einiges politisches Porzellan zerschlagen. Und mit Knüppeln und anderem Schlagwerkzeug die gegnerischen Schädel. Und so hatten Erich Malek und seine Kollegen neben den üblichen Verbrechen auch noch die politisch motivierten aufzuklären.

So wie den Anschlag auf den Polizeivizepräsidenten Dr. Bernhard Weiß vor einigen Tagen. Ob diese Tat politischer Natur war oder eine kriminell bedingte Erpressung zum Hintergrund hatte, war bislang nicht geklärt.

Vor einer Woche hatte Hauptkommissar Jansen morgens einige seiner Leute im großen Besprechungsraum des Polizeipräsidiums um sich versammelt, um ihnen mitzuteilen: »Auf den Polizeivizepräsidenten Dr. Bernhard Weiß wurde heute Morgen geschossen. Vermutlich ein Attentat, verübt aus einem Fenster gegenüber der Dienstwohnung des Herrn Dr. Weiß heraus. Es wurde ein Schuss abgegeben. Der Herr Vizepräsident ist unverletzt.«

Ein aufgeregtes Grummeln setzte unter den Beamten ein, und Otto Jansen musste für Ruhe und Aufmerksamkeit sorgen.

»Meine Herren, meine Herren, ich bitte Sie, hören Sie weiter! Der Polizeivizepräsident hat mich gebeten, dieses Vorkommnis nicht der Presse und somit der Öffentlichkeit mitzuteilen. Ich möchte Sie bitten, dies zu respektieren. Also keine Gespräche mit den Damen und Herren von der schreibenden Zunft. Zumindest vorläufig nicht. Und auch im übrigen Präsidium sollte über diese Angelegenheit Stillschweigen bewahrt werden. Wir haben bald Reichstagswahlen, und Herr Weiß möchte nicht, dass dieses Ereignis in irgendeiner Weise die Wahlen beeinflusst.«

Erich Malek sah sich unter den Anwesenden um. Soweit er es beurteilen konnte, waren es alles Gesichter aus der Abteilung, die zu den politisch gemäßigten Kriminalbeamten zu zählen waren.

»Ich weiß schon, Malek, warum ich Sie zur Beförderung vorgeschlagen habe«, bemerkte der Hauptkommissar später in seinem Büro anerkennend. »Ja, ich habe nur die eingeweiht, denen ich vertrauen kann. Natürlich kann darunter auch mal Fallobst sein, aber das Risiko müssen wir eingehen.«

»Eine Geheimoperation, sozusagen«, schnalzte Kriminalassistent Klaus Winter mit der Zunge.

»Sagen wir, vorerst ermitteln wir etwas abseits der Öffentlichkeit.«

Malek war skeptisch. »Die Frage ist, wann sickert die erste Information durch? Und was erklären wir dann gegenüber der Presse?«

»So wie es im Augenblick aussieht, könnte alles Mögliche in alle möglichen Richtungen dabei herauskommen. Also auch politisch. Und da ist es immer ratsam, verdeckt zu ermitteln, um keine unliebsamen Trittbrettfahrer aufzuscheuchen, die sich solche Taten gerne auf ihre eigenen Fahnen schreiben. Genügt das Ihrer Meinung nach als Argument gegenüber der Presse?«

Malek nickte nur.

»Ein hervorragender Schütze«, wandte sich Jansen den Tatsachen zu und musste die Zielgenauigkeit anerkennen.

»Na ja, Gott sei Dank schießt er nicht so gut, dass er den Polizeivizepräsidenten getroffen hat.«

Otto Jansen sah Kriminalassistent Winter durchdringend an. Dann verwies er auf die Fotos, die am Tatort gemacht wurden.

»Sehen Sie sich mal den Standort von Dr. Weiß an und dann das Einschussloch.«

Winter tat, wie ihm gesagt wurde, und nahm die Fotografie in die Hand. Die Stelle, an der das Geschoss in den Putz eingeschlagen war, und der Aufenthaltsort des Polizeivizepräsidenten waren mit weißen Kreidekreisen markiert.

»Knapp daneben ist auch vorbei«, fiel dem Assistenten nichts Besonderes auf.

Malek hatte verstanden, worauf Jansen hinauswollte. Er nahm das Foto und las die Höhe ab, die ein Metermaß aus Holz auf dem Bild anzeigte. Bei dem Einschussloch im Mauerwerk zeigte die Skala ein Meter siebzig an.

»Wie groß ist Herr Dr. Weiß?«, fragte Malek seinen Vorgesetzten.

»Siehste, Winter, von dem kannste noch was lernen. Genau auf gleicher Höhe waren die Stirn und die Augenpartie des Polizeivizepräsidenten, als der Schuss fiel. Nur eben dreißig Zentimeter daneben.«

Erich Malek erläuterte dem Kollegen die Überlegungen ihres Chefs: »In Annahme, dass der Herr Polizeivizepräsident ungefähr ein Meter vierundsiebzig groß ist, kann man davon ausgehen, dass der Schütze absichtlich danebengeschossen hat. Er wollte zeigen, dass er den Herrn Dr. Weiß hätte töten können, aber es zu diesem Zeitpunkt nicht tun wollte. Es war eine Warnung.«

»Genau, so präzise danebenzuschießen, kann nur ein geübter Schütze. Ich denke, da kommt noch was nach.«

Otto Jansen hatte mal wieder den richtigen Riecher. Zwei Tage später kam er morgens ins Büro und rief die Mitarbeiter seiner Inspektion zusammen. Im großen Besprechungsraum nahmen die Kriminalisten nebeneinander Platz. Jansen selbst setzte sich mit einer Gesäßhälfte auf die Kante des Schreibtischs. In der Hand hielt er ein Blatt Papier.

»Unser Mann ist aus der Deckung hervorgekommen«, begann er und hielt dabei das Schreiben hoch. Dann las er daraus vor: »Sehr geehrter Herr Dr. Weiß, ich hoffe, meine kleine Aufmerksamkeit hat Sie nicht allzu sehr erschreckt. Aber mir erschien es sinnvoller, eine drastische Demonstration meiner Macht einer leeren Drohung vorzuziehen. So wissen Sie und Ihre Mitarbeiter, woran Sie sind. Nun zu meinen Forderungen.«

Otto Jansen erklärte noch die Bedingungen, unter denen der Täter davon absah, einen weiteren Mordanschlag auf den Polizeivizepräsidenten zu verüben. Dieser etwas seltsam anmutende Katalog an Forderungen umfasste unter anderem die Wiedereinführung der Monarchie, ein komplettes Verbot der demokratischen Parteien, die Zerschlagung des Weltfinanzjudentums, den Rücktritt des Juden »Isidor« Weiß als Vizepolizeipräsident und eine hohe Geldsumme.

»Ich würde sagen, dieser Herr ist nicht ganz bei Sinnen!«, stand für Kommissar Wilhelm Roder fest.

»Aber er schreibt ganz gewählt, so als ob er eine höhere Schulbildung genossen hätte«, warf Kriminalassistent Fritz Teichmann ein.

Gemurmel bestätigte die Annahme.

»Nach dem ersten Eindruck könnte der Verfasser dieses Briefes eine Frau sein. Unsere Grafologin hat diese Vermutung bestätigt. Das würde auch die gewählte Ausdrucksweise erklären, wie Kollege Teichmann richtig bemerkt hat.«

»Also haben wir es im Grunde mit zwei Tätern zu tun«, fasste Klaus Winter zusammen.

Otto Jansens Blick verfinsterte sich. »Eventuell sogar mit einer Gruppe. Dann wäre die Sache politisch.«

Malek hatte wieder einmal eine eigene Theorie. Er meldete sich wie in der Schule, sodass Jansen ihm mit einem Schmunzeln das Wort erteilte.

»Ich könnte mir vorstellen, der Mann lenkt mit seinen vordergründig wirr erscheinenden und kaum erfüllbaren Forderungen nur von seiner eigentlichen Absicht ab.«

»Und die wäre?«, wollte der Hauptkommissar wissen.

»Geld. Es geht ihm nur um das Geld. Wie zufällig ist es die letzte Forderung, und augenscheinlich nicht seine Wichtigste.«

»Und die Anspielung auf die jüdische Herkunft des Vizepolizeipräsidenten?«, ging Kommissar Roder auf die antisemitischen Äußerungen des Briefes ein. »Isidor, diesen Namen benutzen die Nationalsozialisten gern als Verhöhnung für den Vizepräsidenten.«

»Sie sagen es, Roder. Es könnte ein Hinweis sein«, griff Otto Jansen die Bemerkung des Kollegen auf. »Wir dürfen die Bedrohung von den rechten Kräften nicht unterschätzen, da gebe ich Roder recht. Vorerst sollten wir in alle Richtungen ermitteln, bis sich Verdachtsmomente erhärten. An die Arbeit, Männer. Tschüskin!«

Die üblichen Ermittlungen wurden eingeleitet. Besonders der Brief wurde einer genaueren Überprüfung unterzogen. Aber auch hier waren nur Mitarbeiter des Erkennungsdienstes beteiligt, die Jansen für unbedingt vertrauenswürdig hielt. Und so wurde Kriminalassistent Klaus Winter von einer Mitarbeiterin als Schriftgutachter in einem Schnellkurs unterwiesen und musste Schriftstücke, die von Erpressungsfällen älteren und neueren Datums waren, mit dem Brief des Erpressers oder der Erpresser vergleichen. Es konnte sein, dass der Täter schon einmal mit solch einem Versuch aufgefallen war.

Folglich wuchsen auf dem Schreibtisch Winters die Stapel mit entsprechenden Dokumenten zu einem Gebirge, »den bayerischen Alpen nicht unähnlich«, wie Malek frotzelte.

Der Schutz von Dr. Weiß war nur in eingeschränktem Maß möglich. Zum einen durfte man die Öffentlichkeit nicht darauf aufmerksam machen, und zum anderen wollte der Polizeivizepräsident keine übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen zulassen.

»Es ist zum Mäusemelken«, beklagte sich der Hauptkommissar bei seinen Mitarbeitern über die eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten.

Otto Jansen hatte seine Überlegungen früh auf die Präzision des abgegebenen Schusses konzentriert. »Da liegt der Schlüssel. So einer war unter Garantie bei der Reichswehr. Vielleicht sogar schon im Weltkrieg. Dass er noch bei dem Haufen ist, halte ich für unwahrscheinlich. Er kann sich denken, dass wir zuerst in diese Richtung ermitteln.«

Malek hatte die Aufgabe bekommen, sich um entsprechende Listen von Soldaten mit der Fähigkeit eines Scharfschützen zu kümmern. Bei der Führung der Reichswehr in der Königin-Augusta-Straße war man über das Ansinnen der Polizei nicht sehr erfreut. Zumal der Kriminalist keine Gründe für seine Untersuchungen nennen durfte. Das Misstrauen der Führung der Reichswehr gegenüber anderen Dienststellen saß auch acht Jahre nach den Ereignissen in Zusammenhang mit dem sogenannten »Kapp-Putsch« vom 13. März 1920 tief. Der Polizeivizepräsident Dr. Weiß wurde von den Generälen argwöhnisch beäugt.

Malek konnte seinem Chef kein überzeugendes Ergebnis seiner Nachforschungen präsentieren – sei es durch die unwillige Bereitschaft zur Hilfe oder weil wirklich nicht viele Unterlagen vorhanden waren.

Dies war der Stand von heute Morgen. Malek drehte sich wieder vom Fenster weg und setzte sich auf seine Couch. Ein Weinbrand half über die trostlose Beförderungsfeier hinweg.

»Prost, Malek!«

Kapitel 2

Eine Dame ist ein Herr und Herr Müller übt einen »Diener«

So einsam wie in der Wohnung des Kriminalbeamten Erich Malek in der Jonasstraße in Neukölln ging es im Petrieck auf der Fischerinsel gute fünf Kilometer Luftlinie entfernt nicht zu.

»Ich nehme bitte noch einen Sekt, Herr Wirt.«

»Gerne, meine Dame! Sehr gerne!«, machte Friedrich Müller einen tiefen Diener.

Das letzte Mal, so erinnerte sich der stämmige Kneipier, hatte er solch eine Verbeugung als zehnjähriger Knabe vor einer Frau vollzogen. Es war vor der Leitung des Kinderheims, in das man den Jungen gebracht hatte. Den Diener hatte Friedrich Müller damals nicht aus freien Stücken ausgeführt. Der Polizist, der ihn in die Anstalt eingeliefert hatte, hatte ihn im Genick gepackt und den Gruß zwangsweise vollzogen. Fräulein Schneider, eine altjüngferliche Erzieherin mit einem Blick, der Friedrich noch Jahre später das Blut in seinen Adern gefrieren ließ, hatte ihre spezielle Art der Prügelstrafe erfunden. Dafür genügten kleinste Vergehen oder auch nur vage Beschuldigungen eines Mitinsassen. Um Wahrheitsfindung oder gar Gerechtigkeit war es ihr nicht gegangen. Da sie von schwächlicher Statur war und nicht selbst eine wirklich gut platzierte Ohrfeige hätte austeilen können, hatte sie sich einen der älteren Bewohner des Erziehungsheims als Gehilfen auserkoren. Dieser Bursche hatte sich, wenn Fräulein Schneider es für angebracht hielt, zu bestrafen oder auch nur eine Lektion zu erteilen, mit dem Delinquenten in eine stille Kammer zurückgezogen und diesem die Manieren beigebracht, die sich das Fräulein für ihre Zöglinge wünschte. Die entsprechenden Male dieser Pädagogik waren für alle anderen als sichtbare Warnung zu verstehen gewesen.

Friedrich Müller hatte in späteren Jahren erfahren, dass diese Praxis der Erziehung irgendwann aufgeflogen und dass Fräulein Schneider aus dem Erziehungsdienst entlassen worden war. Den prügelnden Gehilfen ereilte ein schwereres Schicksal. Ihn hatte man vor den Toren der ehemaligen Erziehungsanstalt übel zugerichtet tot aufgefunden. Offensichtlich ein Racheakt eines oder mehrerer Insassen der Anstalt.

An dem Fräulein gerächt hatte sich der heutige Budiker nicht, nachdem er aus dem Heim entlassen worden war. Allein die Fantasie hatte sich über Jahre erhalten. Geblieben und fest im Kopf des Friedrich Müller eingebrannt war die Antipathie gegen Ehrbezeugungen jeglicher Art, sei es vor Militär, Polizei oder sonstiger Obrigkeit – und gegen Höflichkeiten wie einen Diener.

Aber hier war alles anders. An einen solch aparten Besuch in seinem Lokal wie den dieser Dame konnte der Kneipenwirt sich nicht erinnern. Schon als sie sein Lokal in Begleitung dieses Kerls betrat, fiel Friedrich die schlanke Frau auf. Sie war genauso groß wie ihr Begleiter, gut einen Meter achtzig, schätzte der Wirt. Sie war sehr modern gekleidet und ihr Gang verriet, dass dieser Gast etwas Besseres war. Bei der ersten Bestellung bemerkte Müller sofort die feingliedrigen, gepflegten Hände der Frau. Weshalb die Dame mit diesem eher schmierigen Burschen am Tisch saß, konnte er nicht verstehen. Während er hinter dem Tresen ein Bier zapfte, zeigte er mit dem Kinn zur Nische mit der Holzbank und fragte Lisa, seine Bierglas spülende Bedienung: »Wat findet sone Frau nun an sone Type?«

»Wo die Liebe hinfällt«, gab das junge Mädchen zur Antwort, ohne auch nur für einen Moment den Blick von dem Spülbecken zu nehmen.

Sie tauchte die Gläser mechanisch in das Laugenwasser, spülte im klaren Wasser nach und stellte sie nebeneinander auf das spiegelnde Thekenblech. Dann nahm sie das Handtuch und wischte trocken, was nicht sofort vom Wirt wieder mit Bier gefüllt wurde. Und im Petrieck blieb der Hahn nie lange geschlossen. Der Gerstensaft lief an diesem Abend besonders gut. Samstagabend. Ein Teil der Gäste hatte seine Lohntüte erhalten, ein anderer die magere Stütze im Rahmen der neu eingeführten Reichsfürsorgepflichtverordnung vom Amt geholt und ein dritter Teil hatte abkassiert. Das hieß, Damen um ihren Tagesverdienst erleichtert, den letzten Bruch zu Geld gemacht oder sich mit schlanken Fingern in fremden Taschen bedient. Jedoch nicht im Petrieck. Hier war man vor Langfingern sicher, auch wenn einer direkt neben einem am Tresen stand.

Das Petrieck lag, wie leicht zu vermuten, an der Ecke Petri­straße und Friedrichsgracht – am Spreekanal. Die Gegend um das Lokal wurde Fischerinsel genannt und war einer der ältesten Stadtquartiere Berlins. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich der Fischerkiez infolge von Überbauung und wachsender Industrialisierung Berlins zu einem Arme-Leute-Viertel gewandelt. Entsprechend setzte sich das Publikum im Petrieck aus diesem Viertel zusammen. Dass der junge Mann mit der hübschen Dame in der Nische ein Zuhälter war, darauf wäre Friedrich Müller jede Wette eingegangen.

»Ick kenn doch meine Schweine am Jang!«

Sein Revier hatte der Bursche allerdings nicht auf der Fischerinsel. Die Gegend um das Petrieck kannte der Wirt wie seine Westentasche. Hier waren ihm die Herren bekannt. Und viele von den Damen. Einige nutzten sogar ab und zu stundenweise eines seiner drei Hinterzimmer. Natürlich ohne Wissen des Kneipiers. Offiziell vermietete Herr Müller nämlich Zimmer mit Frühstück.

Doch diese Dame passte nicht in das Bild. Sie hatte eher etwas von einer aus der feinen Gesellschaft, einer aus dem Westen stammenden Fabrikantengattin oder einer Schauspielerin.

Der Wirt hätte die Wette gewonnen. Valentin Strobel war ein Zuhälter, wie er im Buche stand. Dass Müller ihn nicht kannte, lag, wie er ebenfalls richtig getippt hatte, daran, dass das Revier von Strobel in München lag. In Berlin hatte Strobel nur ein Nebengeschäft zu erledigen. Aus diesem Grund hatte er sich mit der Dame im Petrieck getroffen.

»Ganz verstehen kann ich nicht, warum diese Maskerade sein muss«, schüttelte Strobel den Kopf.

»Wenn die Leute mich erkennen und es rauskommt, dass ich mit dir verkehre, ist es aus mit dem Erfolg. So schwer kann das doch nicht sein. Der große Hofer mit einem …«, hielt Bruno inne.

Valentin lächelte und machte es seinem Gegenüber leichter: »Ein Zuhälter und der große Filmstar Bruno Hofer. Das verstehe ich. Aber warum als Frau? Obwohl …«, machte Valentin eine Pause und betrachtete die Gestalt seines Freundes aus alten Tagen eingehend. Dann bemerkte er anerkennend: »Ich muss zugeben, wenn du wirklich eine Frau wärst, könntest du eine Menge Geld machen. Aber auch so dürfte einiges für dich drin sein.«

Bruno Hofer lächelte ob des Kompliments. Auch wenn dieses etwas sonderbar anmutete. Der Schauspieler hatte bereits früher Erfahrungen mit dieser Art der Verkleidung gemacht, wie er Valentin Strobel erzählte. Das Theater am Schiffbauerdamm hatte 1920 eine männliche Hauptrolle für die Inszenierung des Theaterstücks »Charleys Tante« von Brandon Thomas gesucht. Bruno Hofer war damals ein junger Schauspielanfänger gewesen.

»Der nächste Herr, bitte!«

Regisseur Walter Vogel bat den nächsten Schauspieler auf die Bühne. Dann sah er in seine Unterlagen, wen er vor sich an der Rampe zu erwarten hatte.

»Ach nein«, winkte Vogel ärgerlich ab, als die Person in einem leichten Sommerkleid und Kurzhaarfrisur an den Bühnenrand in das Scheinwerferlicht trat. »Ich hatte doch ausdrücklich darum gebeten, dass sich keine Damen vorstellen. Ich möchte nur Herren. Ja, kann man denn in diesem Haus nicht einmal das tun, was ich wünsche? Junges Fräulein«, wandte sich Walter Vogel von seinem Regieassistenten zur Rechten direkt an die Schauspielerin auf der Bühne. »Fräulein Hofer, wir suchen für diese Rolle einen Herrn, einen Mann, einen Kerl, der eine Frau spielt, eine Dame. Eine Tante. Das Stück heißt ›Charleys Tante‹! Wir suchen einen Mann, der eine Frau spielt. Haben Sie das verstanden? Aber wie ich unschwer erkennen kann, sind Sie …«

»Entschuldigen Sie, Herr Vogel, dass ich Sie unterbreche«, trat der Inspizient des Theaters seitlich auf die Bühne und stellte sich neben das vermeintliche Fräulein. »Diese Dame ist ein Herr.«

Walter Vogel hielt in seinem Redeschwall inne und sah verdutzt zur Bühne. Der Regieassistent suchte in den Bewerbungsunterlagen und bestätigte die Aussage des Inspizienten.

»Hier steht: Bruno Hofer. Herr Bruno Hofer.«

Der Regisseur nahm einen Schluck aus dem Wasserglas vom Pult vor sich und befeuchtete seine Kehle. So etwas hatte er in seiner langjährigen Arbeit als Spielleiter noch nicht erlebt.

»Ja, mein Name ist Bruno Hofer und ich möchte für die Rolle des Lord Fancourt Babberly vorsprechen!«, erklärte Bruno mit möglichst tief angelegter Stimme.

Dass Hofer trotz seiner perfekten Maske die Rolle nicht bekommen hatte, lag an der perfekten Maske selbst.

Walter Vogel hatte es Bruno, wenn auch etwas verschwurbelt, erklärt: »Unsere Tante muss wie ein Kerl aussehen, der wie eine Frau aussieht, die wie ein Kerl aussieht, der wie eine Frau aussieht! Sonst denkt das Publikum noch, es ist eine echte Tante. Sie aber sehen aus wie eine junge hübsche Frau, die wie eine junge hübsche Frau aussieht.«

Valentin Strobel konnte die Aussage des Theaterregisseurs nur bestätigen. Auch wenn zwischen der erwähnten Probe und dem heutigen Abend einige Jahre lagen. Sogar die Perücke auf dem Kopf von Bruno Hofer war dem modischen Geschmack der Zeit angepasst. Ein flotter Bubikopf und ein auffallend rot leuchtender Lippenstift ließen den Schauspieler als selbstbewusste junge Frau erscheinen. Die auberginefarbenen Nägel an den schlanken, sorgfältig gepflegten Fingern sorgten für eine weitere Perfektionierung der Maske.

»Wo hast du denn das Kleid her und die Schuhe?«

»Ein kurzer Abstecher in die Filmstudios nach Babelsberg und dort in den Kostümfundus. Ich kenne mich da aus. Das Kleid und die Perücke im Film ›Eheferien‹ von 1927 hatte eine junge, fesche Sekretärin getragen, die leider am Ende den Hauptdarsteller doch nicht bekommen hat. Lilian Harvey war stattdessen die Glückliche. Jetzt rate mal, wer den glücklichen Ehemann gespielt hat?«

»Geh aber nicht für Männer«, hielt Strobel Bruno grinsend am Handgelenk fest, als dieser sich erhoben hatte.

Bruno wählte keineswegs das falsche Örtchen, umso mehr war er überrascht, als er einen Gegenstand fand, den er eher im Herren-WC vermutet hätte.

Wie man mit einem Springmesser umging, wusste der Schauspieler aus einem seiner Filme. Wie scharf und spitz diese Klingen waren, war ihm bisher nicht bekannt. Die Schneide schnellte aus dem Heft und bohrte sich in die Tür der Toilettenkabine. Bruno musste einige Kraft aufwenden, um das Messer wieder aus dem Holz zu bekommen.

Das Requisit aus dem Film »Tod im Nordexpress« war stumpf und die Spitze abgerundet gewesen. Sonst hätte Bruno in der Rolle des erpressten Geschäftsmannes seinen Gegenspieler verletzt, als er auf dem verdunkelten Gang des Schnellzuges von Berlin nach Kopenhagen auf ihn eingestochen hatte.

Wie im Film »Tod im Nordexpress« ging es auch jetzt um eine Erpressung, dachte Hofer und wog das Messer in seiner Hand. War es nun Zufall oder Schicksal, dass er es in seiner Hand hielt?

Alle Probleme, die Strobel ihm machen könnte, waren mit einem Mal weit, weit entfernt. Valentin musste ihm nur seine Kehrseite zuwenden und schon würde Bruno mit dem Messer zustechen. Es musste draußen auf der Straße geschehen. In einer dunklen Gasse oder im Schatten eines Baumes, der das Mondlicht verdunkelte. Der Kerl war doch selbst schuld. Was musste er ihn erpressen wegen einer Angelegenheit, die schon so lange zurücklag. Und dass der Kerl einfach so mir nichts, dir nichts, vor Brunos Haustür gestanden hatte, war sein Todesurteil. Das musste einfach seinen Tod bedeuten.

Natürlich hatte Bruno bereits am Morgen, als Valentin Strobel völlig unerwartet vor seiner Wohnung gestanden hatte, daran gedacht, ihn aus dem Weg zu räumen. In der Sekunde des Anblicks war es dem Schauspieler klar gewesen, dass nur der Tod von Valentin Strobel einen Schlussstrich unter dieses Kapitel seines Lebens ziehen würde.

»Ich habe jetzt keine Zeit«, improvisierte der Schauspieler, »ich habe Besuch in meinem Bett. Eine junge Dame, deren Ehemann, wenn er von diesem Stelldichein erfahren würde, nicht sehr erfreut wäre«, hatte Bruno gelacht. »Luise, ich komme gleich, hier ist nur jemand an der Tür«, rief Bruno in Richtung seines Schlafzimmers.

Hätte Valentin geahnt, dass der Landsmann ihn anlog, er wäre dem Schauspieler gegenüber vorsichtiger gewesen.

Bruno drückte dem Mann vor seiner Haustür einen größeren Geldschein in die Hand und nannte ihm die Adresse des Petrieck. Dort wollte man sich am Abend treffen und über alles reden.

Die Klinge des Springmessers klappte zurück in das Heft. Verrückt. Nun saß Bruno Hofer in Frauenkleidern mit einer Perücke auf dem Kopf und in Maske auf dem heruntergeklappten Deckel des Damenklos mit einem Messer in der Hand und überlegte, wie er seinen Widersacher am besten abstechen konnte. Einem Schauspielerkollegen das Messer in die Brust zu rammen, war etwas anderes, als einen Valentin Strobel zu töten.

»He, was machste denn da so lange drin?!«, rief es und klopfte zugleich an die Tür. »Wohl zu tief ins Glas jekiekt, wat? Wenn de jekotzt hast, musste die Schweinerei aber wieder wegmachen!«

Bruno antwortete mit hoher, aber fester Stimme, dass es ihm gut ginge, nur die Gurken und der Sekt hätten sich nicht vertragen.

Am Ausgang der Damentoilette, am engen Durchgang mit dem Waschbecken, trafen sie aufeinander. Lisa Paul trug ihre langen, dunklen Haare zu einem Zopf geknotet. Als sie die Dame erkannte, die von der Toilette kam, wurde sie rot und machte einen Knicks.

»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein, ick hatte jedacht«, stammelte die junge Frau unsicher, »et wäre die Paula, wissen Se, die säuft nämlich immer so fille, bis das Zeug Unterkante Oberlippe steht. Ick wusste ja nicht, dass dis gnädige Fräulein auf der …«

Das »gnädige Fräulein« und den Knicks hatte Lisa aus einem Groschenroman, in dem sie einmal über die feine Gesellschaft gelesen hatte. Die Dame lächelte milde und sprach jetzt, für Lisa unerwartet, mit ungewöhnlich tiefer Stimme: »Sie machen auch nur Ihre Arbeit. Ich kann das verstehen, wenn ich mir vorstelle, was für ein Publikum hier verkehrt, haben Sie sicher einiges zu erzählen. Hier«, suchte die Dame das Portemonnaie aus ihrer Handtasche und drückte der Bedienung einen Fünfzigmarkschein in die Hand. Dann tätschelte sie Lisas Wange und verließ die Toilette. Zurück blieb ein sprachloses Mädchen.

Als Lisa wieder hinterm Tresen stand, konnte sie ihren Blick nicht von der vornehmen Dame nehmen. Diese saß wieder am Tisch in der Nische und sprach mit dem Mann ihr gegenüber.

»Ich gebe dir das Geld wie versprochen. Ich brauche nur einige Tage, um es unauffällig von meinen Konten abzuheben.«

»Du hast mehrere Konten?«

Du Schweinehund, elendiger, dachte Bruno und ärgerte sich selbst über seine Unachtsamkeit. Jetzt würde der Preis steigen. Vor einem Verbrecher wie Strobel musste man ständig auf der Hut sein. Unwillkürlich legte Bruno die Hand auf seine Handtasche und fühlte die Beschaffenheit des Messers.

In der Jugendzeit hatte der kleine, damals schon von keinem Skrupel behaftete Gauner die Nachbarschaftskinder terrorisiert und ihnen alles abgenommen, was ihm von Wert schien, um es später zu verhökern. Auch wenn die meisten aus dem Dorf und der näheren Umgebung nicht viel besaßen. Das Wenige stahl ihnen Valentin Strobel. Bis auf Schuhe und warme Kleidung im Winter. Nur wenn man sein Freund war, war man einigermaßen vor Repressalien sicher. Bruno hatte es geschafft, Strobels Freund zu werden. Schläge und Misshandlungen musste er trotzdem ertragen und dem Gleichaltrigen bei Diebstählen zur Hand gehen. So wurde der zarte Junge selbst in Schurkereien verwickelt. Und dann kam, was kommen musste.

Es war Ende Oktober im Jahr 1912, Bruno Hofer hieß noch Sebastian Riedler und wohnte mit seiner Mutter, seinen fünf Geschwistern und dem strengen, gewalttätigen Vater in einem kleinen Bauernhaus am Rande des Dorfes. Sebastian und Valentin hatten in aller Früh einen Streifzug durch die Dörfer im Nachbartal unternommen, aber nur wenig Beute gemacht. Ein paar Schulbuben hatten sie die Pausenbrote abgenommen und einem Jungen die Handschuhe. Diese wärmten nun die Hände von Strobel. Sebastian musste seine Hände tief in den zerschlissenen Hosen versteckt warm halten.

Auf dem Rückweg trafen sie den Senner Andreas Seeberger auf dessen Hof. Ein alter, mürrischer Mann mit wettergegerbter Haut. Der Alte war allein und von Besuchern nicht angetan. Das Gastrecht war in den Bergen heilig. Allerdings schienen ihm die beiden Burschen alles andere als vertrauenswürdig. Als dann Strobel sich am Schnaps des Bauern gütlich tun wollte, platzte dem der Kragen und er warf die Jungen hinaus. Valentin Strobel war nun kein Mensch, der sich so einfach vor die Tür setzen ließ. Er begann mit dem Einsiedler einen Händel. Im Gerangel kamen der Alte und der junge Bursche bedrohlich nahe an einen steilen Abhang, der nicht durch einen Zaun gesichert war. Sebastian wollte in guter Absicht dem alten Bauern zu Hilfe kommen, da Strobel dem Mann kräftemäßig überlegen war, und er dachte, Valentin würde ihm etwas antun. In diesem Augenblick ließ Strobel den Alten los und Sebastian versetzte dem Senner einen Stoß. Seeberger stürzte und fiel, sich mehrere Male überschlagend, den Abhang hinunter und blieb Hunderte Meter tiefer regungslos liegen.

Die Polizei ging von einer Unachtsamkeit des Bauern aus, dass ein Fehltritt ihn zu Tode stürzen ließ.

Natürlich hatte Valentin Sebastian seitdem fester im Griff, als es vorher der Fall war.

Das Schicksal hielt allerdings für Sebastian eine Wendung bereit, die ihm die Möglichkeit gab, sein Leben von Grund auf zu ändern.

Bei einem Einbruch erwischt wurde Valentin Strobel für drei Jahre in eine Erziehungsanstalt gesteckt. Zeit genug für Sebastian Riedler, die Heimat zu verlassen und sich in Bruno Hofer zu verwandeln.

Wie schwer hatte Bruno dafür gearbeitet, aus der Enge dieses Tales und der Denkweise seiner Bewohner herauszukommen. Wie ein Besessener hatte er daran gefeilt, seinen bayerischen Dialekt loszuwerden. Und wie hart und entbehrungsreich waren die Jahre des langsamen Aufstiegs zu Deutschlands bestem Filmschauspieler! Und jetzt saß ihm der Strobel gegenüber, der Verbrecher, der Lude, und wollte seinen Anteil an allem. Leicht verdientes Geld und eine Quelle, die nie versiegen würde.

Warum der Hund jetzt erst in das Leben des Schauspielers trat, hatte Bruno noch nicht erfahren. Prominent genug war Hofer. Zeitungen und Wochenschauen berichteten immer wieder über ihn und seine Filme.

Aber im Grunde war es auch egal. Hofer fasste noch einmal in seine Handtasche und fühlte den Schaft des Messers.

»Ick bringe den bestellten Sekt und dis Bier«, lächelte Lisa Paul unsicher die feine Dame an und stellte das Tablett so auf dem Tisch ab, dass etwas Sekt verschüttet wurde und einige Spritzer auf das Kleid von Bruno tropften. Fast wäre die junge Frau durch das von ihr verursachte Malheur in Tränen ausgebrochen. Sie entschuldigte sich überschwänglich.

»Aber das ist doch kein Problem, es ist ja nichts passiert.« Bruno nahm sein Taschentuch und trocknete die betroffenen Stellen.

Der Wirt hatte die Szene beobachtet und eilte zum Tisch der vornehmen Dame. »Dieses unnütze Ding«, schimpfte er Lisa an und knuffte sie in die Hüfte. »Zu nichts ist sie zu gebrauchen. Da erlaubt man ihr einmal, die feinen Herrschaften zu bedienen, und schon geht alles schief. Ich bringe Ihnen selbstverständlich ein neues Glas, meine Dame!«

Ein zweites Mal an diesem Tag und in seinem Leben verbeugte sich Friedrich Müller so tief er konnte, bemüht, nicht mit der Nase an die Tischkante zu stoßen.

»Die liegen dir ja richtig zu Füßen. Der Kneipier und das ungeschickte Aschenputtel. Kannste bestimmt noch Profit draus schlagen«, sagte Valentin Strobel.

Eine Stunde später standen der Zuhälter und die feine Dame vor dem Petrieck. Es war kurz vor zwölf Uhr.

Sie waren einige Schritte gegangen. Strobel trug seinen Mantel locker über dem Arm, in der Hand hielt er seinen Hut. Mit der anderen Hand zog er ein Zigarettenetui aus seiner Hosentasche, ließ es aufschnappen und angelte sich kunstfertig mit dem Mund eine Zigarette. Dieselbe einarmige Nummer vollführte er mit einem Feuerzeug.

»Na, was stellen wir noch an?«, fragte Strobel.

Dass Bruno angestrengt nachdachte, interpretierte der Münchner wahrscheinlich als Überlegung für den weiteren Besuch in einer Lokalität. Aber Hofer dachte nicht an das leibliche Wohl seines Peinigers, sondern schmiedete fieberhaft an einem Plan, wie und wo er ihm das Messer in den Leib stechen konnte. Nie war die Gelegenheit günstiger. Eine zweite Chance würde er nicht bekommen. Natürlich durften keine Spuren zu ihm zurückzuverfolgen sein.

Schon am Tisch im Petrieck, während Valentin von den guten alten Zeiten sprach und von seinem jetzigen Betätigungsfeld, war Bruno alle möglichen Verbindungen, die man ihm zu diesem Mann nachweisen konnte, im Kopf durchgegangen. Am Ende war er sich sicher, dass ihn niemand in den Frauenkleidern erkannt hatte und auch sonst keine Anhaltspunkte zu ihm führen würden.

Falls die Polizei das Leben von Valentin Strobel zurückverfolgen würde, stieße sie unweigerlich auf die verbrecherische Laufbahn und würde sicher ein mögliches Tatmotiv im Milieu vermuten. Unwahrscheinlich, dass die Ermittlungen bis in Valentins Jugend vordringen, und erst recht nicht bis in dessen Kindheit. Selbst wenn jedem Polizisten klar sein musste, dass auch Strobels Kindheit ereignisreich gewesen war.

Aktenkundig waren die Taten, die Bruno damals gemeinsam mit Strobel begangen hatte, nicht. Es gab keinen noch so dünnen Faden, der ihrer beiden Schicksale miteinander verwob.

Dass Strobel am Vormittag vor der Wohnung des Schauspielers gewesen war, wie sollte man das rekonstruieren? Zeugen würde es nicht geben. Die Bewohner des Hauses neunzehn am Kaiser-Wilhelm-Platz in Berlin-Schöneberg interessierten sich nicht für Besuche von Vertretern, die Haushaltsgeräte anboten, oder von Zuhältern, die die Absicht hatten, einen unbescholtenen Bürger zu erpressen.

Und wenn der zurückverfolgte Weg des Toten in das Petrieck führte, kam nur heraus, dass er mit einer attraktiven Frau Bier und Sekt getrunken hatte. Wahrscheinlich einer Dame, die in besseren Kreisen verkehrte und aus Daffke ab und zu einen Sekt in Lokalen wie dem Petrieck trank. Die Atmosphäre war so schön morbide und verrucht und so ganz anders als die Teegesellschaften und die Wohltätigkeitsbälle, auf denen die Dame wahrscheinlich sonst verkehrte.

»Du kennst doch bestimmt eine vornehme Adresse, wo einen ein paar echte Ladys mal so richtig verwöhnen?! Weißt du, Sebastian, unsereiner hat ja nur einfache Ware anzubieten, außer die Rosa«, wurde Strobel nachdenklich, »aber die lässt mich nicht ran. Ganz schön abgebrüht, die Dame. Aber sie bringt auch einiges ein.« Strobel fielen fast die Augen zu und er schwankte leicht vornüber. Er hatte wohl doch ein wenig zu tief ins Glas geguckt. Dann richtete er sich wieder auf. »Aber so ein vornehmer Herr, wie du einer geworden bist, kann sich doch bestimmt etwas Besseres leisten. Wir sind schließlich in Berlin.«

Valentin Strobel lachte, rieb sich die Hände in Erwartung eines ganz besonderen Abenteuers und überquerte die Straße. Er steuerte auf den auf der anderen Seite des Pflasters still dahinfließenden Spreekanal zu. Dort, auf Höhe der Grünstraßenbrücke, lehnte er sich vorsichtig über die hüfthohe Brüstung und spuckte, so weit er konnte, in das Wasser.

Das Geräusch einer aus dem Heft schnellenden Klinge kannte der Zuhälter aus seiner beruflichen Tätigkeit. Den Schmerz, der brennend von der Hüfte hinauf über das Rückgrat bis in den Schädel drang, den kannte er nicht. Zwei weitere Male bohrte sich die Klinge in das Fleisch des Mannes.

Valentin Strobel verlor durch die Attacke das Gleichgewicht, ließ Mantel und Hut fallen und langte panisch nach der Hand seines Jugendfreundes. Doch dieser stieß ihn von sich und fügte hinzu: »Für heute wird es wohl nichts mehr mit einem Besuch bei den Ladys, Valentin. Jedenfalls nicht für dich.«

Bruno lehnte sich über die flache Uferbefestigung und sah einem leblosen, grauen Körper in der Mitte des schwarzen Wassers des Spreekanals schwimmend hinterher. Der Schauspieler wischte das Messer mit einem Taschentuch aus seiner Handtasche ab und klappte die Klinge zurück in das Heft. Das Tuch wollte er später im Ofen seines Wohnzimmers verbrennen. Strobels Mantel war schnell nach der Brieftasche und den Papieren des Toten durchsucht. Bruno steckte das Leder in seine Handtasche. In den Hosen hatte Valentin nur das Feuerzeug und das Zigarettenetui. Mantel und Hut landeten im Wasser.

Hofer sah sich um. Keine Zeugen. In den Fenstern der umliegenden Häuser an der Friedrichsgracht und auf dem gegenüberliegenden Märkischen Ufer brannte kein Licht. Niemand war auf der Straße. Nur aus dem Petrieck, gute dreißig Meter entfernt, drang noch dumpfes Stimmengewirr.

Von Bruno unbemerkt trat eine Person aus dem verdunkelten Eingang im Haus neben dem Petrieck in das Licht einer Laterne. Es war Lisa Paul. Sie hatte alles beobachtet. Nun sah sie der langsamen Schrittes am Kanal entlang spazierenden feinen Dame nach, bis diese in der Roßstraße verschwunden war. Dann ging die Bedienung zurück in das Lokal. Während die Tür geöffnet wurde, schwappte ein lauter Wortschwall aus einem unterschiedlichen Stimmengemisch über die Straße und wurde vom Wasser des Kanals verschluckt, sobald die Tür wieder geschlossen war.

Dann war es wieder still. Totenstill.

Kapitel 3

Agnes hat einen Bruder und Malek fehlt ein Knopf am Jackett

Erich Malek prostete dem Gesicht im Spiegel im Badezimmer zu und schluckte den Korn mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck hinunter. Dann schüttelte er sich.

»Prost, Malek, auf Ihr Wohl, und Glückwunsch zum Kriminalkommissaranwärter!«

Der frisch gebackene Kommissaranwärter schenkte sich aus der Flasche nach, die auf dem Holzbord unter dem Spiegel an der Wand auf einen besonderen Anlass gewartet hatte. Er trank in einem Zug leer und füllte erneut das Glas.

»Prost!«.

Malek nahm die Bürste aus dem Zahnputzbecher. Die Kollegen im Büro mussten ja nicht gleich merken, dass er seine Beförderung noch einmal gefeiert hatte. Nicht am frühen Morgen. Ein leichter Kopfschmerz erinnerte ihn daran, dass er schon am gestrigen Abend einige Gläschen auf sein Wohl getrunken hatte. Ein Alka-Seltzer zum morgendlichen Kaffee verschaffte Linderung.

Der Kriminalist stand vor dem Spiegel seines Schlafzimmerschranks nur mit einer Unterhose bekleidet. Während er weiter die Zähne bürstete, betrachtete er wohlwollend seinen Körper. Mit seinen ein Meter fünfundsiebzig war er kein Riese, aber er war durchtrainiert und bis auf den kleinen Bauchansatz fühlte er sich recht gesund und in Form. Er konnte es an Gewandtheit und Schnelligkeit mit jedem Spitzbuben aufnehmen.

Nur der doch erhebliche Konsum von Alkohol bereitete seinem Arzt Bauchschmerzen.

Beim Ankleiden fiel ihm der fehlende Knopf an seinem Jackett wieder ein.

Den Mantel über dem Arm und den Hut locker sitzend auf dem Kopf, sprang der junge Polizist die Stufen der zwei Treppen von seiner Wohnung in der Jonasstraße hinunter und tauchte im nächsten Augenblick in das geschäftige Treiben der Hermannstraße ein, um noch tiefer zur U-Bahn-Station Boddinstraße hinabzusteigen. Eine Station später tauchte er am Hermannplatz geradewegs vor der Haltestelle zur Elektrischen wieder auf.

Montagmorgen. Die Berliner waren wieder aus dem Wochenende zurück und eilten in die Geschäfte, Büros oder Fabriken. Eigentlich, so wusste Malek, standen die Fabrikarbeiter und Arbeiterinnen schon längst an ihren Drehbänken oder ölten ihre Maschinen. So standen um ihn herum in der Achtundsechzig fast ausnahmslos Angestellte und Beamte, wie er selbst. Sie hielten sich an den Lederschlaufen fest, um nicht bei den Bremsversuchen des Straßenbahnfahrers durch den Wagen geschleudert zu werden.

»Wozu fährt das Ding auf Schienen?«, regte sich ein ziemlich korpulenter Herr über den Fahrstil des Fahrers auf. »Wenn dieser Mensch da vorne anscheinend nicht den Unterschied zwischen einem Schienenfahrzeug und einem Omnibus kennt, soll er Erbsen zählen in Bonnies Ranch!«

Dass der Vergleich mit dem Unterschied zwischen einem Schienenfahrzeug, dem Autobus und einer Erbsenzählerei für einen Nichtberliner keinen wirklichen Sinn ergab, erklärte sich mit den jeweiligen Endhaltestellen der Achtundsechzig – der »Narren-Linie«. Dort befanden sich die Nervenheilanstalten Wittenau und Herzberge. In Wittenau lag die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, Wittenauer Heilstätten.

Bei einer erneuten recht unwirschen Bremsung setzte sich der Herr unfreiwillig auf den Schoß eines jungen Fräuleins.

»Passen S’ doch auf, sie zerknautschen mir ja die Figur.«

Alle im Wagen lachten. Weniger wegen des Malheurs des dicken Mannes, als mehr über den zweideutigen Vergleich des Fräuleins. Sie meinte natürlich nicht ihre eigene, wie Malek quer durch die Straßenbahn fachmännisch abschätzte, recht ansehnlichen Maße. Sie hatte auf ihrem Schoß einen aus Schokolade und Marzipan kunstvoll gestalteten Osterhasen, den sie noch rechtzeitig hochhalten konnte, bevor der dicke Mann Platz genommen hatte.

Der Herr rappelte sich mühevoll auf, murmelte eine Entschuldigung und verließ seinen Hut ziehend die Straßenbahn. Vermutlich zog er es vor, den Rest seines Weges fortzusetzen, ohne weitere blaue Flecken zu bekommen und von jungen Fräuleins angeblafft zu werden.

Da Erich Malek die sportliche Fahrweise von Berliner Straßenbahnfahrern kannte, hatte er sich ganz am Ende des Wagens positioniert. Hier, zwei Griffe gleichzeitig umklammert, überstand man die stürmische Fortbewegung ohne Schaden.

An der nächsten Haltestelle stieg er aus.

Dass sich Erich Malek in der Triftstraße wiederfand, in entgegengesetzter Richtung seines Arbeitsplatzes, lag an dem frühen Besuch, den der junge Mann noch vor Dienstantritt machen musste – vielmehr machen wollte. Malek musste, wollte, sich entschuldigen. Auch wenn ihm dieser Schritt nicht ganz leicht fiel. So zögerte er eine gute Weile vor dem Hauseingang mit der Nummer achtunddreißig, bevor er eintrat. Was, wenn ihn Agnes nicht mehr sehen wollte? Was, wenn sie ihm gar nicht öffnete? Was konnte er dann tun?

Etwas außer Atem stand er schließlich vor der Tür im vierten Stock. Auf dem Schild stand »Familie Quast«. Agnes lebte in der Wohnung gemeinsam mit ihrer Mutter. Wieder kamen Erich Bedenken. Womöglich war die Mutter schon wach und zuerst an der Tür. Was sollte Malek dann sagen?

»Entschuldigen Sie die frühe Störung, Frau Quast, ich bin gekommen, um ihre Tochter um Verzeihung zu bitten. Ich habe sie gestern Abend gekränkt und verletzt. Es tut mir sehr leid!«

Noch während er sich eine weitere passende Erklärung für Frau Quast senior ausdachte, drückte sein Daumen schon den Klingelknopf. Überraschend schnell näherten sich Schritte. Es war allerdings nicht der langsame schlurfenden Gang von Agnes’ Mutter. Auch nicht die leichtfüßigen Schritte, die er von seiner Freundin kannte.

»Sie wünschen?«

Malek sah verwundert von dem großen Mann vor sich auf das Namensschild neben dem Klingelschild und dann wieder zu dem Mann und wieder zurück. Hatte er sich in der Etage geirrt? Hatte ihn die Kurzatmigkeit die Treppen herauf einen Streich gespielt?

»Was ist los, wissen Sie, wie spät es ist?«

Der junge, kräftig gebaute Mann vor Malek schien sehr ungeduldig zu sein. Er trug ein weißes kurzärmliges Unterhemd und sein Hosenstall stand offen. Die Hosenträger baumelten nutzlos rechts und links an den Beinen herunter.

Malek war in diesem Moment froh, dass das Blumengeschäft unten an der Ecke um diese Uhrzeit noch geschlossen hatte. So hatte er seinen spontanen Einfall, Agnes Blumen mitzubringen, nicht umsetzen können. Das Bild, das er mit einem Strauß Rosen oder Tulpen in seinen Händen abgegeben hätte, wäre noch dämlicher gewesen.

»Erich, was machst du denn hier?!«, tauchte hinter dem Unterhemd der blonde Kopf von Agnes auf.

»Ich wollte deinen Bruder gerade darauf aufmerksam machen, dass sein Hosenschlitz offen steht.«