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Gabriele Redden

Das achte Sakrament

Thriller

LangenMüller

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© für die Originalausgabe und das eBook:

2015 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: shutterstock/4 Max

Satz und eBook-Produktion:

Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

www.Buch-Werkstatt.de

ISBN 978-3-7844-8242-2

Für Sebastian

ROM

WEISSE WOLKENFETZEN fegten über den sommerlichen Himmel. Der heiße Scirocco, der Rom im Frühsommer hin und wieder heimsucht, zerrte an den schwarzen Soutanen der beiden Kirchenmänner, die an diesem Julimorgen im Vatikan die Treppe zum Governatoratspalast hinaufeilten.

»Ich habe mich nach Ihrem Anruf sofort auf den Weg gemacht«, sagte Erzbischof Motta, der Jüngere der beiden, kurzatmig und hastete Kardinal Montillac wie ein folgsamer Ministrant hinterher. »Dem Herrn sei Dank, dass ich mich gerade in Albano Laziale aufhielt. Aber ich war sehr überrascht, dass Sie so schnell einen Termin bekommen haben«, fuhr Motta keuchend fort, was zweifellos nicht nur an der Hitze dieses Tages, sondern auch an seiner Korpulenz lag.

Der Kardinal drehte sich zu ihm um, wartete und ließ ihn vorbeigehen.

»Nein, das ist nicht verwunderlich, der Camerlengo weiß schließlich, um was es geht«, sagte er.

Mit ganzer Kraft versuchte Erzbischof Motta, die schwere Holztür aufzuziehen, doch der böige Wind wehte gerade mit voller Wucht dagegen. Schließlich gelang es ihm, und er ließ Kardinal Montillac, dem Leiter der Päpstlichen Kommission für Christliche Archäologie, den Vortritt. Der Mann, den sie treffen wollten, Kardinal Fratonelli, war nach dem Papst der mächtigste Kirchendiener im Vatikan. Als Kardinalsstaatssekretär, vergleichbar mit einem Premierminister, war er gleichzeitig auch Camerlengo, der Herrscher über die Finanzen des Kirchenstaates.

Im ersten Stock des Gebäudes wurden sie von seinem Sekretär, einem hageren, farblosen Mann, der nervös mit einer Klarsichtmappe herumwedelte, begrüßt. »Hier entlang, bitte, seine Eminenz wartet schon.« Er eilte voraus.

Montillac zog eine Augenbraue hoch. Die übertriebene Geschäftigkeit des Sekretärs war völlig überflüssig, schließlich hatten sie einen fest vereinbarten Termin und waren noch vor der verabredeten Zeit eingetroffen.

Sie betraten das Büro des Camerlengos. Der große Raum war sparsam mit edlen antiken Möbeln eingerichtet und hatte vier hohe Fenster, durch die man hinaus in den Park hinter dem Governatoratspalast blicken konnte. Kardinal Fratonelli saß hinter seinem massiven Mahagonischreibtisch, der sich vor einem bis zur Decke reichenden Wandregal voller in Leder gebundener Bücher befand. Freundlich distanziert schaute er die beiden Gäste über die randlosen Brillengläser hinweg an und wartete, bis sein Sekretär den Raum verlassen hatte.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte er dann und wies zu einem rechteckigen Konferenztisch. »Bedienen Sie sich, wenn Sie möchten. Wasser und Saft stehen bereit. Ich bin gleich bei Ihnen.«

Kardinal Montillac nahm am hinteren Ende des Tisches Platz, Bischof Motta setzte sich neben ihn. Der Camerlengo machte sich noch einige Notizen auf einem weißen Briefbogen, schraubte dann seinen edlen Montblanc-Füller zu und schaute auf. Es schien, als könne er sich nicht entscheiden, ob er an seinem Schreibtisch bleiben oder sich zu den beiden Männern an den Tisch gesellen sollte. Doch schließlich stand er auf und kam zum Konferenztisch.

»Nun, meine Herren, um was geht es?«

Montillac schloss kurz die Augen. ›Er weiß doch genau, um was es geht. Was soll diese Frage?‹, dachte er.

»Wie ich Ihnen gestern während unseres Telefonats schon sagte, hat Erzbischof Motta interessante Neuigkeiten, was die Schriftfunde in Nordindien betrifft. Sie erinnern sich?« Montillac wartete einen Moment, und als keine Reaktion kam, fuhr er fort: »Es geht um die Dokumente, die Ende des 19. Jahrhunderts von dem russischen Journalisten Nicolai Notowitsch entdeckt wurden und später wieder verloren gingen. Pater Adam, ein Mitarbeiter des Erzbischofs, hat endlich, nach jahrelangen Recherchen, herausgefunden, wo sie sich befinden könnten. Wir erbitten nun Ihr Plazet für eine Aufstockung des Budgets, damit wir die künftigen Nachforschungen finanzieren können.«

Der Camerlengo schaute auf seine manikürten Fingernägel und nahm sich Zeit für seine nächste Frage. »Wie sollen denn diese weiteren Nachforschungen aussehen?«

Montillac atmete hörbar ein. »Wir haben vor, Pater Adam nach Ladakh zu schicken, damit er diese Schriften aufspüren und sie schnellstens nach Rom beziehungsweise in Sicherheit bringen kann.« Er machte eine kleine Pause, und als der Camerlengo wieder nichts sagte, fuhr er fort: »Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass, wenn wir diese Schriften finden, auch unsere Feinde sie finden können. Und das wäre fatal für die Kirche, egal, ob die Schriften nun echt sind oder nicht. Wir wissen doch, wie einfach es für die Gegner der Kirche ist, daraus einen Presserummel zu veranstalten, der uns in höchstem Maße schaden würde. Tagtäglich wird die Kirche immer wieder aufs Neue Opfer unsäglicher Verleumdungen und Anfeindungen. Wir können uns keine weitere Katastrophe leisten. Und glauben Sie mir, sollten diese Schriften in die falschen Hände geraten, wäre das eine Katastrophe für die Kirche.«

Die Lippen des Camerlengo kräuselten sich zu einem ironischen Lächeln. »Übertreiben Sie da nicht ein wenig, Kardinal?«

Erzbischof Motta, der bis jetzt geschwiegen hatte, schüttelte vehement den Kopf. »Eminenz, es soll sich um persönliche Aufzeichnungen unseres Herrn Jesus Christus handeln!«, rief er erregt aus. Trotz der angenehmen Kühle in dem großen Raum hatten sich kleine Schweißtropfen auf seiner breiten Stirn gebildet. Er nahm eine kleine Serviette aus einem Spender, der auf dem Tisch stand, und wischte sich damit über sein rotfleckiges Gesicht.

Der Camerlengo schaute Erzbischof Motta an, als sei dieser ein lästiges Insekt. Er war ihm noch nie zuvor begegnet, aber er wusste natürlich, wer Motta war – der Generalobere einer erzkonservativen Bruderschaft, die dem Vatikan schon seit Jahren Ärger machte. Der Erzbischof war dem Camerlengo unangenehm, weil er für derlei Gefühlsausbrüche nichts übrighatte. Aber das war nicht der einzige Grund. Jetzt, wo er in seiner unmittelbaren Nähe am Tisch saß, verursachten ihm die Ausdünstungen des Erzbischofs, der nach Schweiß und zu lange getragenen Kleidern roch, Übelkeit.

Er lehnte sich zurück, um etwas Abstand zu schaffen. »Wer sollte denn so etwas glauben?«, fragte Fratonelli.

»Wer nicht? Wir leben in einer sensationslüsternen Welt, die gesamte Weltpresse wird sich darauf stürzen. Monatelang wäre es das Thema Nummer eins in den Schlagzeilen. Wir hätten keine Kontrolle über die Veröffentlichungen. Und es wäre sicher sehr kostspielig, den Schaden wiedergutzumachen, wenn das überhaupt gelänge. Deshalb sollten wir unbedingt vermeiden, dass diese Sache überhaupt erst in die Welt getragen wird. Gerade jetzt!«, ereiferte sich der Erzbischof weiter, während er auf seinem Stuhl hin- und herrutschte.

Der Camerlengo schwieg, dann stand er auf und ging zu einem der Fenster – nur weg von diesem schwitzenden Mann. Wieder fegte eine heftige Windböe durch die belaubten Äste der Bäume und trug einige Blätter davon. ›Vielleicht hat er recht‹, dachte Fratonelli. Es war wichtig, auf der Hut zu sein und weitere Beschädigungen von der Kirche abzuwenden, alles, was gefährlich werden könnte, schon im Keim zu ersticken. Es vergingen einige Minuten, bevor er sich umdrehte und antwortete.

»Gut«, sagte er schließlich. »Ich gebe Ihnen meine Einwilligung, Sie bekommen die Mittel. Aber sollte irgendetwas schiefgehen, darf der Vatikan in keinster Weise damit in Verbindung gebracht werden.« Damit ging er wieder an seinen Schreibtisch.

»Selbstverständlich, Eminenz. Sie können sich auf mich verlassen«, sagte Erzbischof Motta devot.

Kurze Zeit später saß Kardinal Montillac mit seinem Gast in seinem Büro, das sich ein Stockwerk höher befand. Nun hatten sie also die Rückendeckung des Camerlengos, was schon aus politischen Gründen sehr wichtig war. Doch die beiden Männer waren weit davon entfernt, Fratonelli in ihre tatsächlichen Absichten einzuweihen.

»Mit Pater Adams Entdeckungen sind wir endlich einen entscheidenden Schritt weitergekommen. Wer hätte gedacht, dass an den Geschichten von Notowitsch wirklich etwas dran ist. Wir müssen jetzt schnell handeln, lieber Freund. Pater Adam muss sofort nach Indien reisen, aber ich empfehle Ihnen, ihm eine vertrauenswürdige Begleitung mitzugeben«, sagte Montillac. »Er kann sicher Unterstützung gebrauchen, und wenn sie zu zweit sind, ist auch ihr Auftritt überzeugender.«

»Daran habe ich auch schon gedacht. Ich habe auf meiner letzten Reise nach Südamerika einen jungen Priester aus unserem Seminar in Argentinien kennengelernt. Er wurde mir als besonders treues und strebsames Mitglied der Bruderschaft empfohlen, Pater Fernando. Er ist ein ehrgeiziger junger Mann mit Eigenschaften, die uns sehr nützlich sein können, und er befindet sich derzeit auf meine Einladung hin in unserem Kloster in Albano Laziale.«

»Sehr gut. Ich werde mich derweil hier um die Vorbereitungen kümmern. Es wird sicher noch ein paar Tage dauern, bis uns die Gelder zur Verfügung stehen und wir die beiden nach Ladakh schicken können«, sagte der Kardinal. Auch wenn er Motta nicht besonders schätzte, hatte er in diesem diensteifrigen und etwas einfältigen Mann sein perfektes Werkzeug gefunden.

»Selbstverständlich. Sobald Sie uns grünes Licht geben, können die beiden sich sofort auf den Weg machen. Pater Adam wartet nur auf meine Anweisungen«, sagte der Erzbischof beflissen.

Kardinal Montillac wartete darauf, dass sich Motta verabschiedete, doch der blieb auf seinem Stuhl sitzen und wiegte den Kopf hin und her.

»Können Sie sich erinnern, Eminenz? Wie groß waren unserer Hoffnungen nach der Papstwahl und wie vielversprechend die ersten Gespräche mit seiner Heiligkeit, als er noch geneigt war, unserer Aufforderung Folge zu leisten, die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils endlich zu revidieren. Aber nun? Schon seit Jahren nichts als Stagnation«, seufzte Erzbischof Motta. »Wir hätten so gerne eine friedliche Lösung unseres Konflikts erreicht …«

Trotz des larmoyanten Tons wusste der Kardinal, dass dieses Bedauern gespielt war und dass Motta nur begierig darauf aus war, Informationen von ihm zu bekommen. Obwohl es ihm zuwider war, ging der Kardinal darauf ein.

»Auch wenn ich nicht offiziell zu Ihrer Bruderschaft gehöre, so wissen Sie doch, dass ich hier im Vatikan Ihr engster Verbündeter bin, und so wird es auch bleiben. Machen Sie sich also keine Sorgen. Außerdem zeichnen sich hier Veränderungen ab, die unserer Sache dienlich sein könnten.« Er hielt einen Moment inne, so als er ob er nicht genau wüsste, wie viel er von seinem Wissen preisgeben sollte. Dann sagte er: »Wie ich von seinem Kammerdiener gehört habe, geht es dem Papst gesundheitlich nicht gut. Seine Aufgaben sind eine große psychische Belastung für ihn und machen ihm auch körperlich sehr zu schaffen.«

Motta machte ein erstauntes Gesicht. Der Kardinal fuhr fort.

»Außerdem macht uns – und damit meine ich die gesamte Kurie – seine Wankelmütigkeit bei allen anstehenden Aufgaben schon seit Langem zu schaffen.« Er atmete tief ein. »Ich weiß, dass er Ihnen schon oft Gespräche zugesagt und die Termine dann wieder verschoben hat«, sagte er mit vorgetäuschtem Mitgefühl und schüttelte leicht den Kopf. »Dabei haben Sie seine Wahl mitgetragen, weil er Ihnen die Versöhnung versprochen hatte.« Es folgte ein tiefes Seufzen. »Es wäre wohl das Beste für die Kirche, wenn wir bald einen neuen Papst bekommen würden. Einen, der unser aller Sache vertritt und der der Kirche endlich wieder zu der Stellung verhilft, die der Allmächtige ihr zugewiesen hat.« Wieder wartete er darauf, dass sich der Erzbischof verabschieden würde, doch der erhob sich immer noch nicht von seinem Stuhl.

»Ja, den Brüdern in Albano Laziale ist auch schon aufgefallen, dass er sich immer häufiger in Castel Gandolfo aufhält und wie ein Mann mit labiler Gesundheit wirkt. Aber dass es so ernst ist, habe ich nicht geahnt.«

»Sein Leibarzt macht sich jedenfalls die allergrößten Sorgen. Er hatte ihm abgeraten, die Reise nach Kuba überhaupt anzutreten. Der lange Flug und der Zeitunterschied, das hat ihn seine letzten Kräfte gekostet.« Montillac schaute den Erzbischof ernst an. »Ja, es ist wohl das Herz. Er hat häufig Schwächeanfälle, und sein Gedächtnis weist immer größere Lücken auf. Man befürchtet daher außerdem eine schnell fortschreitende Demenz.«

»Glauben Sie denn wirklich, dass seine Heiligkeit in absehbarere Zeit … eventuell … von uns gehen wird?«, fragte Erzbischof Motta und setzte eine erschrockene Miene auf.

»Das ist durchaus denkbar. Und so traurig es für die Gläubigen wäre, so glaube ich doch, dass es im Sinne der Kirche ist. Das – oder man wird ihn davon überzeugen müssen zurückzutreten.«

Der Kardinal stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum auf Motta zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Auf jeden Fall sollten wir für diesen Augenblick gerüstet sein. Und das heißt für Sie, es ist Eile geboten. Wir müssen diese Dokumente finden, koste es, was es wolle. Nur wenn sie in unserem Besitz sind, werden wir unser gemeinsames Ziel erreichen können. Also machen Sie sich an die Arbeit.«

Das war unmissverständlich. Motta stand sofort auf und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck, der vermitteln sollte, dass sich der Kardinal auf ihn verlassen konnte.

LADAKH, KASCHMIR

WEIT NACH MITTERNACHT löschte Lama Ishe Puntsok, Abt eines entlegenen Klosters im fernen Ladakh, die Butterfett-Lampe und legte sich auf sein Lager, um auszuruhen. Die nächtliche Stille legte sich über ihn wie ein dunkles Tuch.

Er war weit über achtzig und hatte fast sein ganzes Leben in den Mauern des Klosters am Ende des Tales verbracht.

Vor mehr als achtzig Jahren, als er knapp vier Jahre alt gewesen war, waren Mönche in sein Dorf gekommen und hatten in ihm die Seele des verstorbenen Lamas ihres Klosters erkannt. Und wie es der Tradition entsprach, hatten seine Eltern den Mönchen ihren jüngsten Sohn ohne ein Wort des Widerspruchs mitgegeben. Nur noch ein Mal hatte er seine Mutter wiedergesehen, Jahre später, am Tag seiner Inauguration. Sie hatte ganz still geweint, und auch wenn sie mehrere Meter entfernt von ihm gestanden hatte, so waren die Tränen, die über ihr Gesicht liefen, doch deutlich zu sehen gewesen. Noch immer, nach all den Jahren seines erfüllten Lebens, empfand er bei dieser Erinnerung einen kleinen Schmerz in seiner Brust.

Ein leises Schleifen, das aus den unteren Räumen zu ihm heraufdrang, ließ ihn hochfahren. Er kannte das Geräusch nur zu gut, es gab keinen Zweifel. Jemand hatte das schwere Holzportal geöffnet.

Er wagte kaum zu atmen. Da war es wieder: Das Portal schloss sich. Er stand leise auf und ging ans Fenster, beugte sich ein wenig hinaus und sah im Licht des fast vollen Mondes einen dunkel gekleideten Mann im Klosterhof stehen. Ein glühender Punkt bewegte sich in kurzen Abständen auf und ab. Der Mann rauchte eine Zigarette.

Ishe Puntsok lehnte sich an die Wand. Wer kam zu so später Stunde ins Kloster? Wer hatte ihn hereingelassen? Wieder hörte er Geräusche, ein unverständliches Murmeln und das leise Öffnen einer Tür.

Und dann erinnerte er sich plötzlich an das Gespräch mit dem jungen Sonam. Sollte es wirklich stimmen, was er ihm erzählt hatte? Aufgeregt war der junge Novize zu ihm gekommen und hatte ihm berichtet, er habe zufällig ein Gespräch belauscht, das Khenpalung, der Bibliothekar des Klosters, mit einem Fremden geführt hatte. Sonam hatte nur wenig verstanden, seine Englischkenntnisse waren gering, aber es ging um Geld und um ein Dokument. Und nach kurzem Nachdenken war dem Lama klar gewesen, um welche Schriften es sich dabei handeln musste. Doch das war bereits Monate her.

Ishe Puntsok schlich hinaus in den Vorraum, öffnete leise die Tür zu einer der hölzernen Stiegen an der Außenmauer des Klosters und sah, wie zwei Gestalten in der Bibliothek im ersten Stock verschwanden. Der Lama lächelte. Dort würden sie das, was sie suchten, nicht finden. Er ging hinüber zur holzgetäfelten Wand und strich über eine der Holzkassetten. Nein, sie würden es gewiss nicht finden.

Der junge Sonam war mit neun ins Kloster gekommen. Seine Eltern hatten fünf Kinder, die sie kaum ernähren konnten, und so hatten sie sich entschlossen, ihren jüngsten Sohn wegzugeben. Er wusste nicht, wohin es ging, als ihn sein ältester Bruder auf eine dreitägige Wanderung mitnahm und ihn schließlich im Kloster ablieferte. Zwar hatte es ihn gewundert, dass seine Mutter ihn umarmte und ihm weinend sagte, dass sie ihn lieb hatte, aber dass es ein Abschied für immer sein würde, hatte er nicht geahnt. Auch wenn er anfangs sehr traurig war, gewöhnte er sich an das Klosterleben. Er durchlief die Rituale der Reinigung, die fünf Monate dauerten, warf sich hundertmal am Tag vor Buddha nieder, sagte sein Mantra viele Tausend Mal, betete die Mala, deren hundertundacht Perlen für je ein Buch des tibetischen Buddhismus stehen, und war dennoch ganz am Anfang seines Weges.

Sonam war der Wissbegierigste der Novizen des Klosters. Das brachte ihm zwar Lob, aber nur wenig Beliebtheit bei seinen Mitschülern ein. Sie neideten ihm seine Intelligenz, und deshalb mahnten seine Lehrer ihn immer wieder zur Bescheidenheit. So war er etwas isoliert, was ihn aber nicht weiter bekümmerte. Er lernte fleißig und las begierig alles, was man ihm gab. Wenn Reisende aus fernen Ländern ins Kloster kamen, versuchte er mit ihnen ins Gespräch zu kommen, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Die anderen Novizen nannten ihn aufdringlich und schwärzten ihn bei den Lehrern an, aber außer den Mahnungen zur Zurückhaltung gab es keine Konsequenzen.

Schon seit Wochen war er nachts beim kleinsten Geräusch angstvoll aufgeschreckt, denn er spürte, dass der Fremde, den er vor einiger Zeit mit Khenpalung belauscht hatte, eine Bedrohung war und fürchtete, dass er wiederkommen würde. In dieser Nacht hatte er Schritte und gedämpfte Stimmen im Hof des Klosters gehört.

Lautlos schlüpfte er aus dem Schlafsaal der Novizen im Nachbargebäude, schlich hinunter in den Hof und blieb im Schatten der Eingangsmauer stehen. Er sah, wie der Bibliothekar aufgeregt mit zwei fremden Männern flüsterte und wie er schließlich mit einem der beiden durch das Holzportal verschwand.

Sonam wartete einen Moment und bewegte sich dann an der Gebäudemauer entlang zu einer der Seitentüren, ohne von dem Mann mit der Zigarette bemerkt zu werden. Durch die Tür der Bibliothek drang aufgeregtes Flüstern aus dem Inneren des Hauptgebäudes. Behände lief er die steilen Stiegen hinauf – er musste den Abt wecken.

Oben angelangt, blieb er ehrfürchtig in der Türöffnung vor dem großen Gebetsraum stehen und sah, wie der alte Mann, ihm mit dem Rücken zugewandt, an der Stirnseite des Raumes fast zärtlich über die Holzkassetten strich und etwas vor sich hin murmelte. Offenbar hatte er die Männer auch gehört und ahnte, warum sie gekommen waren. Der Lama wandte sich um, ging in den benachbarten Raum zu seinem Bett und legte sich hin.

Sonam wandte sich ab und wollte gerade wieder hinunterschleichen, als die Tür zur Außentreppe im Stockwerk unter ihm geöffnet wurde und sich Khenpalung und der Fremde auf den Weg hinauf in das Refugium des Lamas machten. Er schaute sich um und drängte sich schnell in eine dunkle Nische des Raumes, gerade noch rechtzeitig, um von den beiden Männern nicht bemerkt zu werden.

Sie traten an das Bett des alten Mannes, wo Khenpalung dessen Schulter ergriff und ihn schüttelte.

»Wo ist es? Ihr habt es aus der Bibliothek entfernt. Es war immer in der Bibliothek!«, zischte er.

Die Aussage bedurfte keiner weiteren Erklärung. Doch der Lama antwortete nicht, er schien die beiden gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Der Bibliothekar riss ihn hoch, schüttelte ihn wieder.

»Wo ist es? Wo ist es? Wo habt Ihr es versteckt?«

Der Alte sagte kein Wort.

Khenpalung stieß ihn zurück auf sein Lager, wandte sich an seinen Begleiter und flüsterte geradezu verzweifelt: »Er wird nichts sagen, auch wenn wir drohen, ihn zu töten. Er wird nicht preisgeben, wo das Dokument ist.«

Der Fremde war unbeeindruckt.

»Wir haben diese monatelange Suche nicht unternommen, um unverrichteter Dinge wieder zu gehen. Sie wissen, was für Sie auf dem Spiel steht, und deshalb werden Sie sich an Ihre Zusage halten. Wir geben Ihnen bis morgen Zeit.«

Er wandte sich um und verließ den Raum.

Khenpalung packte den alten Lama erneut, zerrte ihn von seinem Lager und schleuderte ihn zu Boden.

»Wo ist es? Wo ist es?«, stieß er immer wieder hervor.

Dann begann er auf den Lama einzuschlagen und ihn zu treten. Kalte Wut beherrschte ihn jetzt. Wochenlang hatte er die Übergabe verhandelt, alles vorbereitet. Und jetzt sollte alles umsonst gewesen sein? Es ging um Geld, viel Geld, das ihm helfen würde, dieses verhasste Kloster endlich zu verlassen und in die westliche Welt zu gehen, über die er bisher nur gelesen hatte, die ihm aber wie das Paradies vorkam.

Sein Ziel war greifbar nah, und dieser störrische Greis würde ihm nicht im Weg stehen. Immer wieder schlug er auf den alten, wimmernden Mann ein, bis dieser sich nicht mehr rührte.

Noch beim hastigen Verlassen des Raumes hatte der Fremde die heiseren Laute des Alten gehört und seine Schritte beschleunigt, doch er konnte in der Dunkelheit die einzelnen Stufen kaum erkennen und musste vorsichtig sein, um auf der steilen Treppe nicht zu stürzen. Als er endlich am Fuß der Treppe angekommen war, hörte er einen dumpfen Aufprall.

»Oh Gott«, flüsterte er und bekreuzigte sich. »Er hat ihn aus dem Fenster geworfen.«

Hoffentlich wachte keiner der Mönche auf. Hier entdeckt zu werden war das Letzte, was er riskieren konnte. Er huschte über den Hof auf den wartenden Mann mit der Zigarette zu, und beide verschwanden durch das große Holztor.

Starr vor Angst hatte Sonam die Szene beobachtet, und seine Ohnmacht, dem alten Mann beizustehen, ließ ihn schier verzweifeln. Hilflos hatte er gesehen, wie der Mörder in blinder Raserei das Mobiliar umstieß, Bilder und die farbenprächtigen seidenen Gebetsfahnen von der Decke des Gebetsraumes riss und Bänke und Statuen umwarf.

Aber die Dokumente hatte Khenpalung nicht gefunden. Schließlich hatte er den leblosen Körper des Lamas zum Fenster gezerrt und ihn hinausgestoßen. Dann rannte er fort.

Sonams Erstarrung löste sich, er versuchte, lautlos aus dem Vorraum zu verschwinden. So schnell er konnte lief er die Treppen hinunter. Alles war still. Er schlich zur großen Treppe vor dem Eingangstor des Tempels. Auf deren steinernen Stufen fand er die Leiche von Ishe Puntsok, seine Arme und Beine grotesk verrenkt wie die einer Gliederpuppe, mit dem Gesicht nach unten. Fassungslos blieb er einen Moment lang stehen. Er müsste jetzt sofort Alarm schlagen, die Mönche wecken, aber die Angst davor, erklären zu müssen, wieso ausgerechnet er den Lama gefunden und was er mitten in der Nacht im Tempel zu suchen gehabt hatte, hielt ihn zurück. Die fremden Männer waren verschwunden, und auch Khenpalung hatte sich aus dem Staub gemacht. Es sah nicht gut aus für Sonam. Er lauschte wieder in die Dunkelheit. Nichts rührte sich. Und so schlich er an der Mauer entlang zurück zum Nebengebäude, schlüpfte unbemerkt in den Schlafsaal und legte sich auf sein Bett. Dort blieb er liegen und wartete, bis im Morgengrauen einer der Mönche kam und die Novizen aufgeregt weckte. Im Innenhof des Klosters war die Leiche des Abts gefunden worden, und kurz darauf hatte man festgestellt, dass der Bibliothekar verschwunden war.

Nachdem die Mönche die Stufen vor dem Kloster gereinigt und ihren toten Abt aufgebahrt hatten, versammelten sie sich im großen Meditationsraum. Bis ein neuer Abt gefunden war, würde Lama Galsan Songtsen das Oberhaupt sein, schließlich war er einer der Vertrauten Ishe Puntsoks gewesen und nun der ranghöchste Mönch des Klosters.

Sonam mochte Lama Galsan Songtsen nicht. Er wusste nicht genau warum, es war einfach ein Gefühl. Dennoch war ihm klar, dass er Songtsen von seinen Beobachtungen vor einigen Wochen, von Khenpalung und den Fremden, berichten musste. Doch davon, was er in der vergangenen Nacht gesehen hatte und dass etwas im oberen Meditationsraum hinter der Wandtäfelung verborgen war, erzählte er ihm nichts.

Songtsen reagierte gelassen auf Sonams Bericht und bat den Jungen, niemandem etwas über seine Beobachtungen zu sagen.

»Jetzt haben wir beide ein Geheimnis, und das verbindet uns«, schmeichelte er dem Jungen, was Sonam sofort erkannte. Er würde niemandem etwas sagen, aber er würde wachsam bleiben. Und schon einige Stunden später beobachtete Sonam, während er gerade den Unterrichtsraum fegte, etwas Seltsames. Aus dem Fenster sah er im Schatten der Klostermauern Songtsen und Khenpalung miteinander reden. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber ihre Körpersprache vermittelte ein klares Bild. Während Songtsen, einen Kopf größer als sein Gegenüber, eine aufrechte, fast drohende Haltung einnahm, stand Khenpalung mit hochgezogenen Schultern und gebeugtem Kopf vor ihm. Ganz offenbar hatte er Angst. Schließlich drehte er sich um und lief schnell davon. Sonam wunderte sich, dass Songtsen ihn nicht festhielt, sondern ihm nur kurz nachschaute und dann zurück zum Haupteingang ging. Er fegte weiter und beschloss, auch darüber mit niemandem zu sprechen.

PRINCETON

ETWA 11 000 KILOMETER weiter westlich, in Princeton, New Jersey, goss sich Michael Torres, Professor für Alte Sprachen und Papyrologie, eine Tasse dampfenden Kaffee ein, ging ans Fenster und schaute hinaus auf den großen, neugotischen Gebäudekomplex, der das Wahrzeichen der berühmten Universität bildete. Die Blätter des riesigen Ahorns, der im Sommer so angenehmen Schatten spendete, begannen schon, sich leicht zu verfärben, dabei war es erst Ende August. Der Sommer war heiß und viel zu trocken gewesen.

Michael nahm einen Schluck Kaffee. Die heiße Flüssigkeit rann seine Kehle hinunter und er spürte, wie sie seinen Körper belebte. Er atmete tief ein und straffte seinen Oberkörper.

Heute Abend würde er sich auf den Weg nach Israel machen, wo sein ehemaliger Studienkollege John McKenzie arbeitete. Er leitete ein amerikanisches Grabungsteam auf einem Areal in Talpiot, einem Ortsteil im Südosten Jerusalems.

Der Anruf seines alten Freundes hatte ihn völlig überrascht. Lange hatte er nichts von ihm gehört, aber seine Bitte hatte so dringend geklungen, dass er nach kurzer Überlegung versprach zu kommen, obwohl McKenzie ihm am Telefon keine Einzelheiten mitteilen wollte. Offenbar waren er und sein Team auf einen Fund gestoßen, der so außergewöhnlich war, dass er Michaels Begutachtung und Einschätzung dringend brauchte.

»Wenn ich recht habe, dann ist dieser Fund etwas, das die christliche Welt erschüttern wird«, hatte McKenzie gesagt. Hätte Michael ihn nicht so gut gekannt, hätte ihn diese Dramatik amüsiert. Aber McKenzie war kein Fantast, er war ein ganz und gar bescheidener und bodenständiger Mann. So lange Michael ihn kannte, war es ihm immer nur um Fakten und um Verifizierung gegangen.

Daher hatte Michael nicht lange gezögert und war bereit gewesen, nach Israel zu kommen. Und wenn er ehrlich war, kam ihm ein Grund, seine anderen Pläne aufzuschieben, sehr gelegen. Der Zeitpunkt war auch deshalb sehr günstig, weil sein Sabbatjahr begann. Eigentlich hatte er beabsichtigt, in dieser Zeit ein Buch zu schreiben, doch ein paar Wochen in Jerusalem würden ihm Abstand zu seiner Lehrtätigkeit verschaffen und ihm vielleicht sogar zu ganz neuen Aspekten seines Themas verhelfen.

Es hatte ihm geschmeichelt, als ein angesehener Wissenschafts-Verlag an ihn herangetreten war und ihn gebeten hatte, seine Vorlesungsreihe über die Welt des Neuen Testaments in einem Buch zusammenzufassen. Aber je mehr er sich mit dieser Aufgabe befasste, umso größer war sein Respekt vor den Kollegen geworden, die ihre Erkenntnisse bereits in Büchern kundgetan hatten. Gut, er hatte schon viele Aufsätze und Kommentare veröffentlicht, aber ein Buch? Das war doch ein ganz anderes Kaliber.

Die vergangenen Wochen waren sehr hektisch gewesen. Die Benotung der Arbeiten seiner Studenten, die Sprechstunden, die gegen Semesterende immer besonders lange dauerten, und die Examenskonferenzen hatten ihm wenig Zeit gelassen, sein Sabbatjahr vorzubereiten. Erst seit Mitte August hatte er Ruhe gefunden, sich mit seinem Buchprojekt zu beschäftigen, aber er kam nicht voran, was ihn ziemlich frustrierte. Johns Anruf empfand er daher fast wie eine Befreiung aus seiner Stagnation.

In der vergangenen Nacht hatte Michael kaum geschlafen, zu viel war ihm durch den Kopf gegangen, und er konnte sich diese Unruhe, die Besitz von ihm ergriffen hatte, nicht erklären. Es gab nichts, worüber er sich hätte Sorgen machen müssen, alles war geregelt – es war wohl nur dieses Gefühl, sich aus den schützenden Mauern der Universität auf ein Terrain zu begeben, das er vor langer Zeit verlassen hatte.

Sein Flug von Newark nach Tel Aviv ging erst gegen Abend, daher hatte er seinen alten Jaguar XK 150 nochmals auf den Campus gelenkt und war ein letztes Mal in sein Büro gegangen. Auf dem abgeräumten Schreibtisch lagen nur die Unterlagen für seine Vertretung. Er nahm ein leeres Blatt Papier aus dem Drucker und schrieb ein paar persönliche Zeilen an die Kollegin, die für die Zeit seiner Abwesenheit seinen Job übernehmen würde. Dann setzte er sich in den lederbezogenen Sessel, nahm die Tageszeitung auf, die vor der Bürotür gelegen hatte, und las »Feuergefechte in Damaskus«, »Attentat auf den libanesischen Geheimdienstchef – 8 Tote«, »Explosionen erschüttern Aleppo«. Als es klopfte, blickte er auf und sah im nächsten Moment Claire zur Tür hereinkommen. In ihrem dunklen Kostüm, das ihre etwas füllige, aber wohlproportionierte Figur betonte, sah sie wie immer sehr geschäftsmäßig aus. Die Sonne schien durchs Fenster auf ihr kräftiges, kurz geschnittenes Haar und ließ ihre Locken honigfarben aufleuchten.

»Ich habe schon damit gerechnet, dich hier zu finden, obwohl ich nicht weiß, was du noch hier willst. Du solltest lieber deine Koffer packen«, sagte sie und setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Was liest du da?«

Michael dreht die Zeitung herum, sodass sie die Überschriften lesen konnte.

»Sind das die ermutigenden Informationen, die du für deine Reise in den Nahen Osten brauchst? Na, du weißt ja, was ich davon halte. Flieg nach Hawaii oder in die Karibik, erhol dich eine bisschen, wenn du unbedingt einen Tapetenwechsel brauchst, und dann fang endlich mit deinem Buch an. So würde ich das zumindest machen.«

Sie ging zur Kaffeemaschine und füllte sich eine Tasse.

»Der schmeckt ja wie Teer, wie lange steht der schon hier?« Sie verzog das Gesicht. Michael musste lachen.

»Ich habe ihn gerade erst frisch gemacht, aber eben ein bisschen stärker als die labbrige Brühe, die ihr Amis gewohnt seid.«

Sie goss die Hälfte weg, füllte die Tasse mit Milch wieder auf und setzte sich hin.

Claire kam fast täglich auf einen Becher Kaffee vorbei, den sie sich aber meistens selbst mitbrachte. Hin und wieder gingen sie miteinander essen, denn sie schätzten sich sehr. »Wir sind eben zwei verwandte Seelen«, hatte sie vor Jahren schon einmal gesagt, und das frei von jeder Koketterie. Er mochte ihre klare, direkte Art, denn sie stellte einen so erfrischenden Unterschied dar zu den meist verklausulierten Gesprächen mit anderen Kollegen.

Seit zwölf Jahren leitete Claire die Firestone-Bibliothek von Princeton, die unter anderem eine der wichtigsten Sammlungen alter islamischer Texte beherbergte sowie eine Anzahl Papyri in verschiedenen alten Sprachen. Und weil Michael diese oft zu seinen Studien beziehungsweise für seine Vorlesungsvorbereitungen heranzog, sahen die beiden sich häufig.

Er musste an ihre erste Begegnung denken, damals auf dem Empfang, den Dean Shelton für ihn und die anderen neuen Lehrkräfte gegeben hatte. Unter den erlauchten Kollegen, die sich gegenseitig ständig zu beobachten schienen, hatte er sich nicht besonders wohl gefühlt. Dabei hatte er keinen Grund, sich zu verstecken, denn auf dem Gebiet der Papyrologie hatte sich Michael längst international als einer der führenden Experten etabliert. Doch er empfand die Atmosphäre als steif und alles andere als behaglich, obwohl Shelton die Party als eher informell angekündigt hatte: »Kein Dresscode, nur ein gemütliches Beisammensein.« Michael war ohnehin nicht der Typ für Small Talk.

Da war Claire plötzlich aufgetaucht. In ihrem eleganten, smaragdgrünen Kleid und den hohen schwarzen Pumps sah sie umwerfend aus, aber doch so, als hätte sie sich auf die falsche Party verirrt. Für ein paar Sekunden war es still, und alle schauten sie an, was sie aber nicht weiter irritierte.

»Habe ich etwas verpasst?«, hatte sie gefragt und sich neben ihm in einen riesigen, braun bezogenen Plüschsessel fallen lassen. »Ich weiß nicht, warum ich jedes Mal wieder an diesen Veranstaltungen teilnehme, dabei finde ich die ewige Selbstbeweihräucherung dieser Heuchler unerträglich«, hatte sie unbekümmert weitergeredet, ohne sich darum zu scheren, ob jemand mithörte.

Michael musste lächeln und dachte, dass sie aber ganz offenbar Spaß an einem gekonnten Auftritt hatte.

Claire deutete mit dem Kopf zu einer Gruppe, die rechts von ihr stand. »Sehen Sie die drei da drüben, Pembroke, Masterson und Edleman? Wirken sie nicht wie die besten Freunde? Dabei können sie sich nicht ausstehen, und keiner lässt ein gutes Haar am anderen, wenn Sie sie alleine treffen.« Sie schaute sich um. »Und die beiden dahinten, die sich so angeregt unterhalten? Insgeheim planen sie vermutlich gerade, wie sie den Stuhl des anderen ansägen können.« Sie blies sich eine Locke, die ihr in die Stirn gefallen war, aus dem Gesicht. »Gibt es hier nichts zu trinken?«

Ein junges Mädchen im schwarzen Kleid mit weißer Schürze reichte ein Tablett mit gefüllten Weingläsern herum. Michael nahm sich ein Glas und fragte Claire, ob sie auch eines wolle.

»Rot, bitte.«

Er reichte es ihr und prostete ihr zu. »Zum Wohl …«

»… der Wissenschaft«, ergänzte sie, »denn hier geht es ja um nichts anderes.«

Er schaute sie zweifelnd an.

»Das sollte ein Witz sein«, sagte sie. »Das werden Sie bald genug herausfinden.«

Sie stellte ihr Glas Wein neben sich auf den Boden und schaute sich um.

»Und was sind Ihre Hobbys?«, hatte sie ihn gefragt, als sie ihren Blick schließlich auf Michael ruhen ließ. »Über ihre akademischen Erfolge brauchen wir uns ja wohl nicht zu unterhalten, denn wenn Sie keine gehabt hätten, wären Sie nicht hier.«

Ihre unverblümte Art gefiel ihm, doch als er ihr sein Spezialgebiet nannte, schien sie für einen Moment aus der Fassung zu geraten und schaute ihn überrascht an.

»Das freut mich, das freut mich sogar sehr. Sie sind also der Papyrologe, auf den ich schon so lange warte. Es wurde höchste Zeit, dass wir einen Experten bekommen.«

Schon damals trug sie ihr Haar so kurz wie heute, ihre blonden Locken umrahmten ihr hübsches Gesicht mit den ausdrucksvollen braunen Augen. Außer einem warmen Rot auf den Lippen war ihr Gesicht ungeschminkt.

Sie war ihm vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen. Im Lauf ihrer langjährigen Freundschaft hatte er herausgefunden, dass er sich immer auf sie verlassen konnte, und er schätzte ihre Ehrlichkeit, denn sie sagte grundsätzlich, was sie dachte, oder sie sagte einfach gar nichts.

Michael schob die Erinnerungen beiseite und nahm einen Schluck Kaffee.

»Entschuldige, was hast du gesagt? Ach so … Tapetenwechsel. Ja, genau das suche ich, und deshalb ist diese Reise das Richtige für mein Buchprojekt. Ich gebe ja zu, Israel ist nicht gerade die sicherste Weltgegend, aber man kann sich die Orte archäologischer Grabungen ja nicht aussuchen. Und für mein Thema liegen sie nun mal in einem Krisengebiet.« Er grinste sie an. »Aber die Freude darauf, mal wieder mit meinen Händen zu arbeiten und nicht nur mit meinem Kopf, ist stärker als das mulmige Gefühl.«

»Na ja, mir ist schon klar, dass ich dir diese Reise nicht mehr ausreden kann«, sagte sie, »aber versprich mir, dass du dich regelmäßig meldest. Ich mach mir nämlich Sorgen.« Sie nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. Er schien ihr noch immer nicht zu schmecken. »Und komm bald wieder.« Sie stellte die Tasse auf den Tisch und stand auf. »Also wie vereinbart, so gegen sechs, hole ich dich ab und fahre dich zum Flughafen. Bis später.«

Der Gedanke, die nächsten Wochen in Jerusalem zu verbringen, flößte ihm zwar keine Angst ein, aber etwas beunruhigt war er schon. Er erinnerte sich noch gut an das Selbstmordattentat, dessen Zeuge er geworden war, als er vor einigen Jahren das letzte Mal in Israel gewesen war. Er hatte in einem Taxi in dritter Reihe hinter einem Bus gesessen, der vor seinen Augen explodierte. Ihm war zwar nichts geschehen, aber die Bilder mit jedem grauenhaften Detail dieser Detonation konnte er nicht aus seinem Gedächtnis löschen.

Hier in Princeton lebte er ein Leben fernab von terroristischen Gefahren, friedlich und überschaubar, so wie er es sich immer vorgestellt hatte. Er fühlte sich vollkommen ausgefüllt, als Wissenschaftler arbeiten zu können, auch wenn sein Privatleben dabei auf der Strecke geblieben war, doch das gestand er sich nur selten ein. ›Man kann eben nicht alles haben‹, sagte er sich dann.

Noch immer konnte er sich dafür begeistern, täglich Neues zu lernen. Schon während seines Studiums hatte er Vorlesungen in angrenzenden Fächern wie Philosophie und Anthropologie besucht und war immer begierig gewesen, allem auf den Grund zu gehen. Damit hatte er manchmal seine Kommilitonen, ja sogar seine Professoren genervt.

Es fiel ihm schwer, die Generation junger Studenten zu begreifen, die nur auf ihr Examen fokussiert waren, sich nicht mit zu vielen Informationen belasteten und das Studium so schnell wie möglich beenden wollten. Sie waren so ganz anders als er und seine Kommilitonen damals.

Plötzlich tauchte Jennifers sommersprossiges Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Die Erinnerung kam so unvermittelt, dass sie seinem Herzen einen Stich versetzte. Wie lange war es her? Zwanzig Jahre? Damals hatte er die junge Amerikanerin während einer Exkursion zu diversen römischen Grabungsstätten im Rhein-Mosel-Gebiet kennengelernt. Und John McKenzie, drei Jahre älter als sie beide, hatte diese Exkursion geleitet. Er war zu der Zeit Assistent am Archäologischen Institut der Universität in München gewesen. Neben Michael und Jennifer waren Robert Fresson, ein Freund Jennifers, der wie sie Archäologie studierte, und Michelle, eine quirlige Französin, die an der Sorbonne studierte und nur zwei Gastsemester in München verbrachte, mit von der Partie gewesen. Er war ein paarmal mit Michelle ausgegangen, aber nach diesem Ausflug hatten sich Michael und Jennifer ineinander verliebt und waren danach unzertrennlich gewesen.

Robert Fresson, Sohn eines französischen Diplomaten, war in Frankreich geboren und hatte als Teenager in den USA gelebt. Er hatte Michael, der ihm schon einige Male in Seminaren begegnet war, mit seiner unerschütterlichen Disziplin und seiner geradezu druckreifen Sprache beeindruckt. Aber das Eigenartigste an ihm waren seine schwarzen, dünnen Lederhandschuhe gewesen, die er niemals auszog. Wie sich später herausstellte, war Archäologie nicht einmal sein Hauptfach gewesen, sondern er studierte am Herzoglichen Georgianum, einem der ältesten Priesterseminare der Katholischen Kirche, dessen Gebäude sich noch immer gegenüber der Universität an der Ludwigstraße in München befinden.

Sein Verhältnis zu Robert war von Anfang an frostig gewesen. Zunächst hatte er nicht gewusst, warum, und gehofft, dass sich seine ablehnende Haltung noch ändern würde, wenn er nur weiterhin freundlich zu ihm war, schon um Jennifers willen. Doch es änderte sich nichts, und schließlich gab es keine andere Erklärung als die, dass Robert eifersüchtig auf ihn war.

Michael erinnerte sich, wie sehr ihn das irritiert hatte, schließlich war Robert auf dem Weg, Priester zu werden. Er hatte mit ihm darüber reden wollen, war aber an seiner Unnahbarkeit gescheitert, die es allen außer Jennifer schwer machte, mit ihm warm zu werden. Und genau das war es, was ihn zum Außenseiter an der Uni gemacht hatte.

Trotzdem hatten sie später gemeinsam für Klausuren und mündliche Prüfungen gebüffelt, waren oft mit John McKenzie durch Schwabing gezogen, hatten im Max Emanuel, einer der beliebtesten Studentenkneipen, nächtelang diskutiert und versucht, die Probleme der Welt zu lösen. Michael wurde etwas wehmütig, als er an ihre Ideale von damals dachte und wie viele davon sich im Lauf der Zeit verflüchtigt hatten.

Aufgrund seines Einser-Examens und seiner prämierten Doktorarbeit hatte Michael das Forschungsstipendium an der Yale University in New Haven bekommen, um das er sich beworben hatte. Jennifer war indessen nach Providence, Rhode Island, an die Brown University gegangen, die ebenfalls über ein renommiertes Archäologisches Institut verfügte.

»Von New Haven nach Providence sind es doch nur hundert Meilen«, hatte Jennifer gesagt, »das macht uns doch nichts aus.«

»Bestimmt nicht«, hatte er geantwortet.

Ein Jahr hatte ihre Liebe den veränderten Lebensbedingungen noch standgehalten, dann hatten sie sich getrennt. Jennifer war an eine andere Universität im Süden der USA gerufen worden, und er war geblieben. Sie schrieben sich noch einige E-Mails, telefonierten wenige Male miteinander, verstummten schließlich aber ganz. Und merkwürdig, ihre Wege hatten sich nie wieder gekreuzt.

Aber vor einigen Monaten war ihm eine ihrer Veröffentlichungen in die Hände gefallen. Sie lehrte inzwischen an der University of Southern California in Los Angeles und hatte sich einen Namen als Expertin für antike orientalische Schriften gemacht. Er freute sich darüber. Vielleicht würde er sie einfach mal anrufen.

Er setzte sich auf den gepolsterten Drehsessel, lehnte sich zurück und schaute sich in dem kleinen Raum um. Die Bücher in den Regalen waren geordnet, und auch alles andere stand an seinem Platz.

Sein Blick fiel auf den kleinen silbernen Reisewecker, den Jennifer ihm mal zum Geburtstag geschenkt hatte. Er überlegte kurz, ob er ihn mitnehmen sollte, tat es dann aber als Sentimentalität ab.

Es wurde Zeit. Er ging hinüber in die kleine Küche, spülte die Tasse ab und schaltete den Kaffeeautomaten aus. Dabei fiel sein Blick auf sein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Seine dichten schwarzen Haare waren hier und da von feinen Silberfäden durchzogen, und seine helle Hautfarbe zeugte davon, dass er sich in diesem Sommer nur wenig in der Sonne aufgehalten hatte. Die braunen Augen unter den markanten Brauen sahen müde aus, und die Falten auf seiner Stirn schienen noch deutlicher sichtbar. ›Alt bist du geworden‹, dachte er. ›Es wird Zeit, dass du mal wieder etwas erlebst.‹

Er überflog noch einmal die Liste der Dinge, die er vor seinem Abflug erledigen wollte, nahm sein MacBook und seinen Aktenkoffer mit den Unterlagen, die er für seine Arbeit brauchen würde, und ging hinaus.

LEH, KASCHMIR

AM SPÄTEN VORMITTAG, zehn Stunden nach dem Vorfall im Kloster, betraten zwei schwarz gekleidete Männer die blank gewienerten roten Fliesen der Hotelhalle des Grand Dragon Hotels in Leh.

In der Lobby saßen einige Gäste in pastellfarbenen Sesseln und lasen in Reiseführern oder warteten auf ihren Bus, der sie zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt und zu den umliegenden Klöstern fahren würde. Das halbrunde, im Kolonialstil errichtete Gebäude lag inmitten einer gartenähnlichen Anlage. Hier in Leh schien die Welt so abgeschieden und friedlich, und trotzdem spürte man, auch hier konnte jederzeit der Horror einbrechen, der im nicht weit entfernten Kabul täglich stattfand.

Es waren weniger die zerknitterten und verstaubten schwarzen Anzüge der beiden Männer, als vielmehr der gereizte Flüsterton, in dem sie sich unterhielten, der die Gäste aufmerksam werden ließ. Vor allem der ältere der beiden konnte seinen Unmut kaum unterdrücken. An der Rezeption aus dunklem Holz verlangten die beiden nach ihren Zimmerschlüsseln und verschwanden im Aufzug.

Während der langen, mühsamen Fahrt vom Kloster über die verkehrsreiche Schotterpiste bis nach Leh hatten sie nur wenig gesprochen. Sie waren Zeuge eines Mordes geworden, der wegen des Auftrages, den man ihnen erteilt hatte, begangen worden war. Während der jüngere der beiden von den Ereignissen offenbar unbeeindruckt war, schien der ältere ziemlich mitgenommen zu sein.

Noch während sie sich auf dem Gelände des Klosters befanden, hatte der Bibliothekar den alten Lama aus dem Fenster geworfen, und beide Männer hatten den dumpfen Aufprall auf den Stufen zum Haupteingang gehört. Sie waren zu ihrem Wagen gerannt, und als sie die schmale Bergstraße hinunterrasten, hatte der Fahrer, der jüngere der beiden, im Rückspiegel gesehen, wie der Bibliothekar hinter ihnen hergelaufen war.

»Esperamos un momento! Ich halte lieber an. Es ist besser ihn mitzunehmen.«

»Auf keinen Fall! Wir können uns nicht mit ihm belasten. Das bringt nur unsere Mission in Gefahr«, hatte der Ältere entgegnet.

Der Jüngere hatte trotzdem den Wagen abgebremst.

»Aber wenn man ihn erwischt, könnte er uns verraten.«

»Was kann er denn schon erzählen? Er weiß nichts von uns, schon gar nicht in wessen Auftrag wir handeln.«

»So werden wir die Schriften nie bekommen, das ist dir doch klar. Endlich sind wir kurz vor dem Ziel …«, sagte der Jüngere aufgebracht.

»Doch, wir werden sie bekommen. Wir brauchen nur eine neue Strategie.«

Ihr Disput führte zu nichts, also schwiegen sie für den Rest der Fahrt.

Je näher sie der Stadt kamen, desto stärker kehrte die Furcht zurück. Als sie die Hotelhalle betraten, begannen sie erneut zu diskutieren. Was sollten sie dem Erzbischof melden? Wie würde er reagieren? Während der Jüngere dafür plädierte, mit dem Anruf noch zu warten, war der Ältere fest entschlossen, den Bericht sofort durchzugeben. Sie brauchten neue Anweisungen.

Das Telefonat, das der Ältere mit dem Namen Adam schließlich in seinem Zimmer führte, war kaum ermutigend. Vielmehr wurde ihm unmissverständlich klargemacht, es gäbe keine neuen Anweisungen, nur die, dass beide ihre Mission zu erfüllen hätten. Es sei ihnen doch klar, um was es ging. Egal was es koste, egal welche Maßnahmen ergriffen werden mussten, ohne die Schriften sollten sie nicht zurückkehren. Der Mann am anderen Ende der Leitung machte nochmals deutlich, dass alles geheim bleiben müsse, er ihn nicht mehr anrufen solle, bevor er etwas Positives zu vermelden hatte, und sie unter keinen Umständen jemandem von ihren Absichten erzählen dürften. Sollte irgendetwas davon an die Öffentlichkeit dringen, würde man jegliche Verbindung leugnen. Geld würde auf dem üblichen Weg angewiesen. »Der Herr sei mit Ihnen.«

Das Gespräch war beendet.

Adam war müde und hungrig, aber anstatt seine Bedürfnisse zu befriedigen, begann er mit seinen Exerzitien. Er stellte das mitgebrachte Kreuz auf die Kommode. Seine Finger streichelten fast zärtlich über das glatte Ebenholz. Dann trat er ein paar Schritte zurück, legte sich inmitten des Zimmers flach mit dem Gesicht auf den Boden, streckte die Arme seitlich aus und betete drei Ave Maria. Danach stand er auf und bekreuzigte sich. Er zog sich aus, nahm die Bußgeißel aus seinem Koffer und begann, sich damit – für die Dauer eines laut gebeteten Vaterunsers – auf seinen nackten Rücken zu schlagen.