Frank Fischer

Weltmüller

SuKuLTuR

WELTMÜLLER
ein SuKuLTuR Produkt

Lektorat: Joseph Gaigl
Satz und Umschlaggestaltung: Patrick Martin
www.superspitzeprimatoll.de
Schriften: Gentium Plus und Superspitze Grotesk

Produktionsleitung: Torsten Franz

SuKuLTuR, Wachsmuthstraße 9, 13467 Berlin
www.sukultur.de · post@sukultur.de
ISBN 978-3-941592-96-4

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Creative Commons-Lizenz
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Nein, halt! siebzehn mal dreiundzwanzig ist dreihundertsiebenundneunzig!

KNUT HAMSUN: Mysterien

THEATER

Ein »Godot«,
wie es ihn
noch nie
gegeben hat

Es sollte die Inszenierung des Jahres werden, Samuel Becketts »Warten auf Godot« am Hamburger Schauspielhaus. Die Rolle des im Stück gar nicht auftretenden Godot wurde mit der österreichischen Schauspielerlegende Johannes Weltmüller besetzt. Die Premiere am vorvergangenen Freitag endete im Tumult.

von
FRANK FISCHER

I. Der Goldmensch

Gegen 23 Uhr sucht Reni Adler in der Gegend um das Schauspielhaus nach Fahrgästen, als sie ihr Taxi abrupt anhalten muss. Eine Gestalt kommt hysterisch winkend auf sie zugerannt. Es ist ein großer, präsenter Herr in goldenem Ornat. Er trägt eine Art Prinz-Heinrich-Mütze auf dem Kopf, die ebenfalls in stark funkelndes Gold gefasst ist. Sobald die Bremsgeräusche verklungen sind, springt der Goldgewandete zur Beifahrertür und reißt sie auf.

Ab und zu kommt es vor, dass so ein Verrückter einsteigt. Reni Adler schüttelt also lediglich kurz den Kopf, weiß sonst nichts zu sagen und fährt einfach los. Zu einem der Hotels an der Alster soll es gehen. Routinemäßig biegt sie zwei-, dreimal ab, bis sie auf der Kirchenallee landet. Doch das scheint dem sonderbaren Fahrgast in einem Maße unpassend zu sein, dass er seine Chauffeurin wie wahnsinnig anbrüllt: »Nicht! Nicht am Schauspielhaus vorbei!« Aber der Weg ist schon eingeschlagen, ein Wendemanöver unmöglich und auch unsinnig. Das ist nun mal die Richtung, wenn es zur Alster gehen soll.

Schon aus einiger Entfernung ist vor dem erleuchteten Haupteingang des Theaters eine wabernde Menschenmenge zu sehen. Der Goldmann versucht sich nach schräg unten wegzuducken und greift dabei ungeschickt mit den Händen in den Lenkarm der Fahrerin. Obwohl das Auto wegen der unübersichtlichen Situation fast nur noch im Schritttempo fährt, schlägt es in die benachbarte Spur aus und schrammt sacht einen Kleinbus. Beide Fahrzeuge halten an, hinter ihnen beginnt sich sofort der Verkehr zu stauen. »Nein, nein, nein«, wimmert es aus den Tiefen des Beifahrersitzes. »Nein, nein, nein, nein, nein!«

Die vor dem Schauspielhaus versammelte Menge hat gerade einen Premierenabend hinter sich. Er hat irgendwie vorzeitig geendet, nachdem während des Schlussapplauses im überfüllten Saal ein Zuschaueraufstand losgebrochen war. Seit fünf Minuten wird das Gebäude nun geräumt, immer mehr Menschen strömen heraus und sammeln sich dies- und jenseits der Kirchenallee. Ein perfektes Publikum für den kleinen Unfall. Einige Theaterbesucher starren interessiert in das Taxi und sehen den sich seltsam krümmenden Goldmenschen, der sich den rechten Oberarm vors Gesicht presst und ängstlich darunter hervorblinzelt.

II. Die Sensation

Der Mann in Gold ist Johannes Weltmüller. Der Großschauspieler. Er ist, wie sich das für deutschsprachige Großschauspieler gehört, Österreicher. Er ist Träger des Iffland-Rings, er war der Star des Wiener Burgtheaters und sorgte in den Achtzigerjahren quasi allein für dessen Ruf. Neben seiner Theaterarbeit, die er seit ein paar Jahren fast gänzlich ruhen lässt, hat er schon früh in Filmen gespielt, in letzter Zeit auch und vor allem in Amerika. Er ist inzwischen der populärste Schauspieler von Format, auch Menschen bekannt, die noch nie ein Theater von innen gesehen haben. Und dieser Johannes Weltmüller krümmt sich nun an seinem eigenen Premierenabend, nur wenige Minuten nach dem Ende der Inszenierung, in vollem Aufzug in einem kaum nennenswert verunfallten Taxi.

Sein Engagement am Hamburger Schauspielhaus war als großes Theatercomeback gefeiert worden. Er selbst hat seine Liebe zum Theater, »zum Handwerk« auch immer wieder betont. Sein häufiger Einsatz in Kinoproduktionen war ihm von den Kritikern vorgeworfen worden, seit er nicht mehr ausschließlich mit Wim Wenders gedreht hat. Das geht seit über zwanzig Jahren so und muss jemanden wie Weltmüller längst nicht mehr kümmern. Er hat ja den Iffland-Ring, er ist der beste Schauspieler deutscher Zunge.

Dass er jetzt in Hamburg mit dabei sein sollte, war ein wichtiger Coup auch für das Deutsche Schauspielhaus. Denn die mit ihren knapp 1.200 Plätzen größte deutsche Bühne galt in den letzten Jahren als leichte Beute für verrisswillige Kritiker. Gründgens und Zadek haben hier am Haus Theatergeschichte geschrieben, doch an diese großen Zeiten erinnert momentan nichts mehr. Clemens Borgstahl, der derzeitige Intendant, war vor knapp fünf Jahren als 59-jähriges »Theaterwunderkind« aus München gekommen, inzwischen ist er ein fahriger älterer Herr, dem nichts mehr gelingen will, dem niemand mehr etwas zutraut.

Zwar gibt es immer mal wieder auch eine geglückte und gelobte Inszenierung, angerechnet wird sie aber normalerweise allein dem Regisseur, der sich vor Ort sozusagen gegen alle Widrigkeiten durchgesetzt habe. Borgstahls Politik am Haus wirkt in der Tat recht beliebig, er hat hier keine eigene Handschrift entwickelt, keine Originalität. Sein Ruf als innovativer Theatermogul ist dahin. Inzwischen hat die innerstädtische Konkurrenz am Thalia Theater ihm und dem Schauspielhaus in der öffentlichen Wahrnehmung mühelos den Rang abgelaufen.

Im letzten Herbst, mit Beginn der aktuellen Spielzeit, also eigentlich etwas spät, schien Borgstahl dann aber etwas gefunden zu haben, das er der anhaltend schlechten Presse entgegensetzen konnte. Endlich sollte seine berüchtigte Arroganz auch mal wieder ein klein wenig gerechtfertigt sein. Und so präsentierte er höchstpersönlich einen Besetzungstriumph, mit dem niemand auch nur im Entferntesten gerechnet hatte und der Borgstahls Intendanz wieder flächendeckend ins Gespräch brachte: Weltmüller! Weltmüller in Hamburg! Bei ihm, am Deutschen Schauspielhaus!

Es wurde auch gleich bekannt gegeben, dass Weltmüller in einer Neuinszenierung von Samuel Becketts »Warten auf Godot« spielen werde, eine zunächst etwas redundant erscheinende Idee. Es ist ja erst ein paar Jahre her, dass es am Schauspielhaus einen »Godot« gegeben hat. 2004 war das. Jan Bosse hat damals zwar eine recht uninspirierte Inszenierung abgeliefert, doch warum sollte es gerade jetzt am selben Ort einen weiteren »Godot« geben? Die eigentliche Sensation folgte aber noch. Die vier tragenden Rollen im Stück – Wladimir und Estragon, Pozzo und Lucky – sollten mit Ensemblemitgliedern besetzt werden. Dazu kam noch eine Minirolle für Godots Botenjungen. Was aber war nun mit Weltmüller?

Weltmüller war als Schauspieler Nummer sechs vorgesehen, und die Figur, die er verkörpern sollte, war niemand anderes als – der titelgebende Godot.

Und Stille.

Und noch mal von vorn: »Warten auf Godot«, Becketts bekanntestes Werk, eines der meistgespielten Stücke aller Zeiten, ein existenzialistischer Gassenhauer, der seit seiner Uraufführung 1953 weltweit zum Repertoire jedes besseren Theaters gehört. Es ist der klassische Text des absurden Theaters, und die kapitalste Absurdität besteht eben darin, dass über die Figur Godot zwar ständig gesprochen wird, dass sie im Stück aber gar nicht auftritt. Seit knapp sechzig Jahren warten sie alle umsonst auf ihn, die Figuren, die Schauspieler, die Zuschauer, die Kritiker, die Literaturwissenschaftler. Seit über einem halben Jahrhundert wird über ihn gerätselt, diesen Herrn Godot, der eine Idee verkörpert, der bisher in Molekülen gar nicht denkbar war.

Wie ein unterirdisch schlechter Scherz mutete demnach diese Verkündung an. Weltmüller als Godot, was für eine himmelschreiende Eselei! Es gelang der Kritik diesmal aber nicht, sich gleich wieder auf Borgstahl einzuschießen. Denn die schlimmsten Befürchtungen mischten sich mit Neugier, mit Spannung, mit Jubel, angesichts einer Aura von Größenwahn, wie man sie lange nicht, vielleicht noch nie an einem Theater erlebt hat. Sehen wollten diesen »Godot« alle. Und im Prinzip war die Besetzungsidee schon der größte Erfolg. Man hätte das Stück gar nicht mehr aufführen müssen.

Das sagt auch diejenige, die all das zusammengedacht hat: den größten Schauspieler, die größte Bühne des Landes, den größten Klassiker des 20. Jahrhunderts, den größten Unbekannten der Weltliteratur. Dieser Superclash der Bedeutsamkeiten, die Aussicht auf einen radikalen Eingriff in den Originaltext und die gesamte Deutungsgeschichte ließen eine Ladung Regietheater vermuten. Aber vielleicht ja auch gerade nicht, denn inszeniert werden sollte das Ganze von der Regisseurin der Stunde, die für egomanischen Unsinn eigentlich nicht bekannt ist.

III. Schrödingers Katze

Erst 30 Jahre alt ist Henrike Zöllner, und es gibt im Moment niemanden, der wie sie fähig ist, jede einzelne Vorstellung bis zum letzten Platz mit Publikum zu füllen, egal wo, egal mit wem und egal welches Stück sie inszeniert. Es ist nach wie vor ein Geheimnis, wie sie es schafft, auf der Skala zwischen Regietheater und Theaterregie, zwischen anarchistischer und konservativer Theaterästhetik, so virtuos hin und her zu springen. Die meisten Regisseure haben irgendwie ihren Platz gefunden, gehören entweder zur einen oder zur anderen Schule. Zöllner aber ist die Regisseurin einer erbarmungslosen Unerwartbarkeit. Sie gehe an jede Arbeit völlig frei heran, sagt sie von sich, und verpasse jedem Text die Inszenierung, die er verdiene. Manchmal bedeute das eben Texttreue, manchmal Trash, manchmal etwas ganz anderes. Analog zu Angela Merkels im Wahlkampf 2005 ausgegebener Parole vom »Durchregieren« hat Zöllner den Begriff vom »Durchinszenieren« geprägt, der seitdem mit ihrer Aufführungspraxis verknüpft ist.

Die Proben für ihren Hamburger »Godot« begannen Ende März, die Premiere war für den 7. Mai angesetzt. Henrike Zöllner gab sich gänzlich unaufgeregt und schien wie immer einfach ihre Arbeit machen zu wollen. Und das hieß zu diesem Zeitpunkt, allein mit den vier regulären Schauspielern deren Szenen durchzuexerzieren. Während der gesamten Probenphase bekam dem Vernehmen nach keiner der Schauspieler den »Godot«-Darsteller Weltmüller zu Gesicht. Für die Arbeit mit ihrem Star hatte Zöllner zweimal wöchentlich exklusiv die Zeit zwischen 10:30 Uhr und 15 Uhr reserviert, aber wo sich die beiden dann trafen und was genau sie dann eigentlich taten, darüber war keinerlei Auskunft zu erlangen.

Noch bei unserem letzten Treffen fünf Tage vor der Premiere ließ sie aber keinen Zweifel daran, dass Weltmüller als Godot natürlich nicht so ohne weiteres erscheinen werde. Einfach so auf die Bühne? Was solle der dort denn dann bitte machen? Ihr Humor, ihre Ironie ist nicht immer leicht zu durchschauen, aber sie bestand auch bei wiederholtem Nachfragen darauf: Godot stehe nicht im Stück, also komme er natürlich auch nicht auf die Bühne, sie sei doch nicht der Autor und doktere einfach grundlos am Text herum. Weltmüller werde aber natürlich im Schauspielhaus anwesend sein, gar keine Frage, das sei zudem explizit vertraglich festgelegt. Für ihn sei außerdem ein verschwenderisches »Godot«-Kostüm angefertigt worden, von dem sie in schalkhaftem Tonfall behauptete, dass darauf eventuell der Name des zukünftigen Trägers des Iffland-Rings eingestickt sei, den Weltmüller ja schon testamentarisch festgelegt habe.

Sie lachte viel während ihrer Erklärungen und sprach sonst immer wieder von »Schrödingers Katze« als möglichem Bezugspunkt ihres Weltmüller’schen Godots. So wie die Katze im quantenmechanischen Gedankenexperiment gleichzeitig tot und lebendig sei, so sei Weltmüllers Godot in ihrer Inszenierung eben gleichzeitig präsent und nicht präsent.

Zöllner liebt derlei naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch. Sie hat an der Universität Leipzig studiert, neben Theaterwissenschaften auch Mathematik, das später ihr Hauptfach wurde. Bevor sie ihr Studium mit einer Magisterarbeit über ein Problem der Zahlentheorie abschloss, hat sie im Hin und Her ihrer Doppelbegabung einige Praktika am Schauspiel in ihrer Heimatstadt Köln absolviert. Direkt nach dem Ende ihrer Studienzeit wurde sie dort Regieassistentin. Nach einem halben Jahr überredete die damalige Intendantin sie zu ihrer ersten eigenen Regiearbeit, einige weitere folgten. Schnell erwarb sie sich den Ruf einer genauen Textarbeiterin, inszenierte Sarah Kanes »Gier«, Kleists »Zerbrochnen Krug« und, als ersten Höhepunkt, Shakespeares »Julius Cäsar« in der eigenwilligen Neuübersetzung von Helmut Krausser.

IV. Ein normaler Wochentag im ICE

Doch schon während ihrer zweiten Spielzeit als Regisseurin schlug sie einen ungewöhnlichen Haken. Auf eigene Faust, offenbar auch selbst finanziert, organisierte sie ihr »ICE-Projekt«, Theater ohne Ankündigung, eine Guerilla-Inszenierung im öffentlichen Raum. Ihr vielleicht einziger Helfer dabei war der Schauspieler Florian Beyer, den sie seit ihrer Leipziger Zeit kennt und den sie schon mit nach Köln geholt hatte. Viel ist über das Projekt nicht bekannt, in Zöllners offizieller Vita taucht es nicht auf. Was wir über den Ablauf wissen, kann nur über gesammeltes Hörensagen halbwegs erschlossen werden:

Ein normaler Wochentag im ICE zwischen Berlin und München, 2. Klasse, gut besetzter Großraumwagen. Bei einem jungen Mann klingelt das Handy, britische Gitarrenband als Klingelton. Er befindet sich in der Ruhezone, nimmt den Anruf aber dennoch entgegen. Zwei, drei Leute stöhnen merkbar auf über so viel Unverfrorenheit. Aber sie sind, ohne es zu wissen, bereits Teil einer Inszenierung.

Der junge Mann sieht seriös aus, trägt einen offenbar maßgeschneiderten Anzug, eine Krawatte von Ermenegildo Zegna. Er redet eine Weile, scheint dann