Sylvia Heinlein

Mama ist Geheimagentin

Mit Illustrationen von Heidrun Boddin

1. Kapitel

«James Bond, ist doch klar!», sagte Jason lässig.

Sie standen auf dem Schulhof zusammen. Lu, Jason und ein paar andere Jungs unterhielten sich darüber, was sie am Wochenende im Fernsehen gesehen hatten. Das machten sie jeden Montag, die Jungs und Tomma. Tomma war Lus Freundin. Nicht so eine Freundin zum Verliebtsein, sondern einfach eine beste Freundin. Tomma war das einzige Mädchen aus der Klasse, das bei den Jungs dabei sein durfte. Irgendwann, ewig lang her, hatte Jason mal zu ihr gesagt, dass sie abhauen sollte.

«Das sind Jungsgespräche hier», hatte er gesagt. «Geh zu den Mädchen und spiel Gummitwist mit denen.»

Da war Tomma sauer geworden. «Geh selber zu den Mädchen», hatte sie gezischt. Jason hatte Tomma einen Vogel gezeigt. Da war sie erst recht böse geworden und hatte Jason ans Schienbein getreten. Jason hatte zurückgetreten, und zwar ordentlich, und dann hatten die beiden sich geprügelt. Sie hatten erst aufgehört, als ein Lehrer gekommen war und sie auseinandergezerrt hatte. Tommas Nase hatte geblutet, und Jason hatte am nächsten Tag ein blaues Auge gehabt. Jason war ungefähr eine Woche lang mit dem blauen Auge rumgelaufen, und jeder wusste, woher er es hatte. Das war Jason ziemlich peinlich gewesen. Jedenfalls hatte er Tomma danach nie wieder gesagt, dass sie zu den Mädchen gehen sollte.

 

«James Bond, ist doch klar», sagte Jason jetzt also, und alle anderen nickten. Sie kannten James Bond. Das war ein Spion. Ein Geheimagent. Lu nickte auch. Das konnte heißen: «Jawohl, James Bond. Habe ich auch gesehen.» Oder es konnte heißen: «Ja, alles wie immer, ihr habt James Bond gesehen und ich nicht.»

Genau das hieß es auch. NATÜRLICH durfte Lu keine Spionagefilme gucken.

«Dafür bist du noch zu jung», sagte seine Mutter andauernd. «Wenn du groß bist, kannst du meinetwegen Tag und Nacht James Bond gucken. Aber jetzt nicht. Zu viel Gewalt und Schießerei und überhaupt. Das regt dich nur auf. Du weißt doch selbst, wie sensibel du bist.»

SENSIBEL! Wenn Lu das schon hörte! Sensibel hieß zart und empfindlich. Und das war Lu nicht. Höchstens ein bisschen. Auf der Klassenreise zum Beispiel, da hatte er ein wenig geweint, weil er Heimweh hatte. Und wenn Lu neue Leute traf, war er erst mal etwas schüchtern. Das war völlig normal, fand Lu. Das hatte doch nichts mit wilden Filmen zu tun! Solche Filme konnte man absolut gut sehen, auch wenn man etwas sensibel war.

 

«Megacool», sagte Jason nun, «wie James Bond mit dem Auto durch das Hotel gebrettert ist!» Da nickten die anderen wieder und erzählten, was sie besonders cool gefunden hatten. Wie James Bond total geheim Nachrichten übermittelt hatte. Und wie er sich listig bei den Gangstern eingeschlichen und ihnen ihre Bombe geklaut hatte.

Lu sagte: «Ja, das fand ich auch super», und dachte an Pippi. Pippi-Langstrumpf-Filme, die durfte er nämlich sehen. Und das hatte er am Wochenende auch getan. Da waren aber keine echten Gangster vorgekommen, sondern nur ein paar total trottelige, harmlose Einbrecher. Das konnte er den anderen natürlich nicht erzählen. Die würden sich ja totlachen. Genauso gut könnte er sagen: «Also, ich habe am Wochenende bei meiner Mama auf dem Schoß gesessen und am Daumen genuckelt.»

Es musste sich etwas ändern, beschloss Lu. Bevor das nächste Wochenende kam und er wieder nur Babyfilme gucken durfte. Er musste mit seiner Mutter sprechen, und zwar sehr schnell.

Lu wohnte alleine mit seiner Mama. Er hatte keinen Vater. Das war aber kein Problem, weil Lu und seine Mutter ein Superteam waren. Das einzig Dumme war, dass Mama sich ständig so um ihn sorgte.

«Wir müssen was besprechen», teilte Lu ihr beim Abendbrot mit. «Ich bin der Allereinzige, der noch nie James Bond geguckt hat. Ich bin überhaupt der Einzige, der noch nie einen Actionfilm geguckt hat.»

«Sei froh», sagte Mama, während sie ihre Kartoffelsuppe löffelte. «Sei froh, dass ich dich solche Filme nicht sehen lasse. Die sind nichts für dich. Die machen dir nur Angst. Wenn du groß bist, kannst du meinetwegen Tag und Nacht Actionfilme gucken.»

«Aber ich will sie JETZT sehen», sagte Lu. «ALLE Eltern erlauben das ihren Kindern!»

«Jaaaa», meinte Mama. «Und wenn alle Eltern ihren Kindern erlauben, von einem Hochhaus zu springen … soll ich dir das dann auch erlauben?»

Das war nun wirklich ein blödes Beispiel, fand Lu.

«Ich möchte einfach nicht, dass du dich gruselst», sagte seine Mutter.

«Mama!», antwortete Lu verzweifelt, «das ist doch der SINN von solchen Filmen, dass man sich etwas gruselt. Das ist doch das Gute daran!»

«Das ist kein bisschen gut», erwiderte Mama. «Du wirst Albträume bekommen. Und überhaupt: Diese wilden Filme, die sind erst ab 12 Jahren. Du bist noch keine 12. Es ist gar nicht erlaubt, dass du die siehst.»