Cover

Carla Buckley

In deiner Haut

Roman

Aus dem Englischen von Mechthild Sandberg-Ciletti

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Carla Buckley

Carla Buckley wurde in Washington, D.C., geboren. Sie hat in vielen verschiedenen Berufen gearbeitet, unter anderem als Pressereferentin für einen US-Senator, als Analystin für die Smithsonian Institution und als technische Redakteurin für einen Waffenlieferanten. Carla Buckley lebt mit ihrem Ehemann, einem Umweltwissenschaftler, in Columbus, Ohio. 2011 erschien bei Wunderlich ihr erster Roman «Die Luft, die du atmest».

Über dieses Buch

Wie Pech und Schwefel hielten die Schwestern Dana und Julie früher zusammen – bis ein tragisches Ereignis Dana zwang, ihr Zuhause zu verlassen. Sechzehn Jahre lang hat sie nicht mit Julie gesprochen. Als sie erfährt, dass ihre Schwester todkrank ist und nur ihre Nierenspende sie retten kann, kehrt sie in ihre Heimatstadt zurück. Doch sie kommt zu spät.

In Black Bear muss Dana nicht nur erkennen, wie sehr sich die Stadt und ihre Bewohner verändert haben, sondern auch, dass Julie offenbar keines natürlichen Todes gestorben ist. Noch immer lauert eine unsichtbare tödliche Gefahr in der Stadt. Und sie droht alles zu zerstören, was Dana liebt.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Invisible» bei Bantam Books, einem Imprint der Random House Publishing Group, Random House, Inc., New York.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Invisible» Copyright © 2012 by Carla Buckley

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Karen Nölle

Umschlaggestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

(Foto-/Illustrationsnachweis: Clarissa Leahy/Getty Images; cg-textures)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-8052-0886-4 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-21161-2

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-21161-2

Meinem Mann, Tim, in Liebe gewidmet

Prolog

Seit neun Wochen, sechs Tagen und vierzehn Stunden war ich in diesem elend heißen Bau eingesperrt, bei geschlossenen Türen und Fenstern und heruntergezogenen Jalousien. Alle, die ich kannte, waren draußen schwimmen oder Boot fahren oder hatten sonst wie ihren Spaß, nur ich nicht. Ich lief von einem Zimmer ins andere, griff mir eine Zeitschrift und warf sie gleich wieder weg, drehte den Fernseher auf und machte ihn gleich wieder aus. Wir hatten es damals, im März, für so eine gute Idee gehalten: das Haus verkaufen und irgendwo anders hinziehen, wo wir niemanden kannten und uns niemand kannte. Aber inzwischen war mir aufgegangen, dass ich nur ein altes Gefängnis gegen ein neues eingetauscht hatte.

Als sich endlich der Schlüssel im Schloss drehte, kniete ich mit erhobenem Kopf vor dem schmalen Fenster, um jedes Lüftchen einzufangen, das sich über das Fensterbrett verirrte. Die Tür ging auf, und meine Schwester trat ein. Ich stand auf.

«Endlich», sagte ich.

«Hey.» Julie sperrte die Tür hinter sich ab. «Na, was hast du den ganzen Tag getrieben?» Ihre Augen waren klar, aber das hieß nicht, dass sie nicht geweint hatte. Julie war eine Meisterin darin, mich zu schonen.

«Dein Trockner hat komische Geräusche gemacht, da hab ich lieber den Stecker gezogen. Und dein Briefträger hat die haarigsten Beine, die ich je gesehen habe.»

Dein. Nicht unser. Der Vorwurf hing in der Luft. Ich hatte ihr eine Menge Bälle hingeworfen. Welchen würde sie zurückwerfen? Aber sie überraschte mich. «Ich hab dir was mitgebracht.» Sie griff in ihren Rucksack und reichte mir ein Buch.

Ein dünnes Buch mit Spiralbindung. Ich sah mir den Titel an. Stricken für Anfänger. «Was soll ich damit?»

«Dana, wir haben doch drüber geredet.»

«Nein, du hast drüber geredet.»

Seufzend ließ sie den Rucksack zu Boden sinken. «Ich finde es einfach furchtbar, wenn du den ganzen Tag hier vor der Glotze sitzt.»

«Ich sitze nicht den ganzen Tag vor der Glotze. Manchmal starre ich auch an die Decke.» Und zähle die Stunden, bis das hier alles vorbei ist.

«Eben.» Sie schwenkte eine Plastiktüte an einem Finger. «Wolle habe ich dir auch besorgt.»

«Hör auf. Ich will nicht stricken lernen. Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe.»

Sie legte mir den Arm um die Schultern und drückte mich liebevoll. «Okay», sagte sie dann. «Hast du Hunger?»

Warum fühlte ich mich wie verlassen, als sie sich abwandte, um das Abendessen zu machen?

 

Die Plastiktüte lag die ganze Nacht und den halben nächsten Tag unberührt neben dem Buch. Ich bastelte eine Wäscheleine, indem ich eine Schnur von Türknopf zu Türknopf spannte, und das ging ganz gut, bis ich eine Jeans daran aufhängen wollte. Die Schranktür flog auf, der Messingknopf knallte an die Wand und landete dumpf klirrend auf dem Boden. Noch etwas, worum Frank sich kümmern konnte, wenn er aus Afghanistan zurückkam. Er würde sich freuen.

Am Nachmittag kam die Frau von nebenan nach Hause. Ich hörte ihren Pick-up die Einfahrt hinaufrattern. Die Wagentür knallte, dann war alles still. Sie war ins Haus gegangen. In ein paar Minuten würde sie wieder herauskommen und ein orangefarbenes Badetuch in ihrem Garten ausbreiten, um sich die Beine zu sonnen, neben sich im Gras, etwas wacklig, eine Flasche Bier. Ihr Telefon würde läuten, und ihr Gekicher würde durch den Garten schrillen. Später würde ihr Freund vorbeikommen, und sie würden zusammen im Pick-up wegfahren, vielleicht in eine der wenigen Kneipen im Ort, vielleicht zum See. Aber vielleicht würden sie auch ihren kleinen Grill anwerfen, und der würzige Duft von brutzelnder Bratwurst würde in Julies enge, stickige Küche ziehen und mir den Mund wässrig machen.

Was machte unser früherer Nachbar wohl jetzt? Es war noch nicht fünf Uhr, da arbeitete Martin noch. Aber seine Heimkehr später würde von lärmendem Tatendrang begleitet sein. Erst das Knallen der Autotür, dann das Rumpeln des Garagentors in seinen Schienen. Das Aufheulen des Rasenmähers, wenn er ihn anließ, um zuerst bei sich zu mähen, dann bei uns. Und zum guten Schluss das Klappern der Mülltonnen, wenn er sie vom Bordstein an ihren Platz hinter den Häusern zurückschleppte. Summend würde er den Gartenschlauch aufrollen und lächelnd innehalten, wenn ich mit Zitronenlimonade erschien. Zum Duft des gemähten Grases würden Mückenschwärme um uns aufsteigen. Er würde sich das Gesicht mit einem Taschentuch wischen, das Glas entgegennehmen und fragen, ob ich noch bei den Hausaufgaben sei oder ob ich mir nicht bald mal das Unkraut vornehmen wolle.

Ich hatte mich nicht einmal von ihm verabschiedet.

Von Mrs. Gerkey allerdings hatte ich mich verabschiedet. Sie hatte erstaunt die Augen aufgerissen und meinen letzten Lohnscheck festgehalten, als könnte sie verhindern, dass ich ging, wenn sie ihn nicht hergab. Ich hatte die Fragen in ihren blassblauen Augen schulterzuckend übergangen. Schließlich hatte ich ihr nichts versprochen, jedenfalls nicht ausdrücklich.

Julie hatte eine sonnengelbe Wolle ausgesucht, eine dicke, bauschige Wolke, die unheimlich weich war. Das Buch hatte Zeichnungen, für jeden Schritt ein Bild, der Reihe nach nummeriert. Wie schwierig konnte das sein?

Bis ich endlich den Schlüssel hörte, waren meine Hände schweißnass, und ich hatte mir die Unterlippe fast blutig gebissen. Als Julie in den Flur trat, schleuderte ich den ganzen hoffnungslos verknoteten Schlamassel von mir, dass die Nadeln klappernd zu Boden fielen, weil ich es so demütigend fand, von ihr bei meinem Kampf – und kläglichen Scheitern – mit so etwas Läppischem ertappt zu werden. Aber vielleicht auch noch aus anderen Gründen. «Warum besorgst du mir nicht ein Buch darüber, wie man Wäschetrockner repariert?», fuhr ich sie an. «Über irgendwas, das einfach ist.»

Julie fing die rollenden Nadeln ein und setzte sich neben mich auf das alte Sofa. Ihre Augen wirkten müde, aber sie lächelte und tätschelte mir das Knie. Dann nahm sie das wollene Wirrwarr in die Hand. «Weißt du noch? Mom wollte dir immer Stricken beibringen.»

Bei der Erwähnung unserer Mutter wurde ich weicher. Ich hatte in letzter Zeit viel an sie gedacht. «Ich wusste gar nicht, dass sie stricken konnte.»

Julie nickte. Sie zupfte die Knoten auseinander und wickelte sich dann die Wolle um den Zeigefinger. «Häkeln auch. Weißt du noch? Unsere ganzen Topflappen waren von ihr.»

Richtig. Die täuschend filigranen Dinger aus weißem Baumwollgarn mit roten Blumen. Mit denen konnte man eine glühend heiße Pfanne hochheben, so wie ich damals, als mir die armen Ritter angebrannt waren, und spürte nicht einmal die Hitze.

Julie hatte die Wolle zum Knäuel gewickelt und hielt jetzt die Stricknadeln lose in einer Hand. «Okay.» Sie sah mich an. «Was steht auf der ersten Seite?»

Widerwillig schlug ich das Buch auf. «Erst kommt das Anschlagen. Wie beim Angeln, aber anders.» Angeln wäre viel einfacher gewesen. Schnur ins Wasser und warten. Bei Angeln musste ich an Joe denken, aber ich schüttelte die Erinnerung ab und konzentrierte mich auf das, was Julie tat. Sie hatte lange, schlanke Finger, die praktisch alles konnten. Sie hatte die Hände unserer Mutter geerbt, ich dagegen musste die von unserem Vater haben, kurz und kräftig. Den Gedanken, was ich noch von ihm geerbt haben könnte, schob ich weg.

«Siehst du?» Sie legte den Faden über die Nadel und führte ihn wieder nach unten. Ihre Schulter war an meine gedrückt, ihre Stimme sicher und beruhigend. Sie roch nach Seife und Sonne und einem Hauch Zitrone. «So hältst du den Faden. Und wenn du ihn herumführst, bildet sich eine kleine Schlinge.»

«Das hab ich schon probiert.» Und damit nur erreicht, dass der Faden sich verknotete.

«Vielleicht hast du ihn von vorne drübergelegt anstatt von hinten.» Julie schlang den Faden zu säuberlichen Knötchen, die sich wie kleine Blütenköpfe auf der silbernen Stricknadel aneinanderreihten. Dann zuckte sie einmal mit dem Handgelenk. Die Maschen lösten sich und die Nadel war wieder leer. «Hier», sagte sie. «Versuch du’s mal.»

Sie legte meine Hand um die Nadel, bog meine Finger um sie und wickelte mir den Faden um den linken Zeigefinger. «Nicht zu fest», warnte sie, meinen zögernden Finger führend. «Ja so, genau.»

Sie hielt den Blick mit gerunzelter Stirn auf die sonnengelbe Wolle gerichtet. Ihre Wimpern waren lang und dunkel, auf ihrem Nasenrücken wölbte sich ein kleiner Buckel, genau wie bei mir. Ihr blondes Haar hob sich in einer Welle aus der Stirn, von der Schmetterlingsspange aus Messing gehalten, die ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, das Einzige, was ich mir leisten konnte. Ich senkte die Nadeln in meinen Schoß und ließ mich an ihre Schulter sinken. «Ich habe Angst», flüsterte ich.

«Ich passe auf dich auf», versprach sie.

«Ich weiß.» Das hatte sie immer getan. Seit fünf Jahren war sie mir Schwester, Mutter und Vater. Sie gab mir alles und hatte nie etwas zurückverlangt. Ich drückte meine Wange an die weiche Baumwolle ihres Ärmels. Ich musste es ihr sagen, aber ich konnte nicht. Die Worte kamen einfach nicht an dem Kloß vorbei, der mir im Hals saß.

«Nach dem Abendessen», sagte sie, «versuchen wir die Linken.»

«Klingt fies.»

Sie lachte, hell und unbeschwert, und der Kloß rutschte tiefer und bettete sich sicher in mein Herz.

Es gibt unterschiedliche Gefängnisse, manche mit Mauern und Böden und Türen, und andere, noch fester gebaut, aus Stoffen, die man nicht sehen kann – Liebe, Hoffnung, Angst.

Eine Woche später begannen die Wehen.

Eins

Dana

Mit dem Spruch kann man jeden Typen abwimmeln, der einen in der Kneipe anmacht. Und was machen Sie von Beruf?, fragen sie und erwarten so etwas wie: Ich bin Verkäuferin, oder: Ich bin Anwaltsgehilfin. Wenn ich meine hochhackigen schwarzen Stiefel trage und vielleicht Lippenstift dazu, halten sie mich für eine Anwältin oder trauen mir eine eigene kleine Boutique zu. Das, was kommt, erwarten sie nie. Ich sprenge Häuser in die Luft, sage ich und nippe an meinem Wein. Wenn sie das hören, nehmen sie gewöhnlich etwas Abstand. Und das ist gut so, ich werde nicht gern bedrängt.

Die Menschenmenge, die sich an diesem Morgen neugierig und feindselig am fast vier Meter hohen Maschendrahtzaun rund um das Gelände staute, wurde gehörig auf Abstand gehalten. Polizeibeamte bildeten eine unsichere Schranke zwischen ihr und mir und dem Gebäude, das ich bald zum Einsturz bringen würde. Über den Köpfen der Demonstranten flatterte ein handgeschriebenes Transparent. Man möchte es vielleicht nicht glauben, aber der Abriss eines Gebäudes kann heftige Kontroversen auslösen. Die Leute mögen Veränderungen nicht. Sie sorgen sich um das, was auf sie zukommt, und fürchten, dass ihnen Schlimmeres droht als das, was vorher war.

Am Horizont zog eine träge schmutzig graue Wolkenbank auf. Chicago im Mai konnte unberechenbar sein. «Wie weit weg ist das noch, was meinst du?», fragte ich meinen Sprengmeister.

Ahmed kniff die Augen zusammen. «Ich würde sagen, wir haben noch zwei Stunden, vielleicht drei.» Das Morgenlicht lag hell auf seinem breiten Gesicht.

Der Mann konnte das Wetter lesen wie kein zweiter. Wenn er sagte zwei, vielleicht drei, würden wir bei vier mit Sicherheit im strömenden Regen stehen. Zwei Stunden waren gut, drei besser. «Dann können wir’s vielleicht gerade schaffen.»

Er nickte. «Hast du von Halim gehört?»

Noch eine Sorge. «Halim wird schon kommen.» Natürlich würde er kommen, aber er hatte sich auf keinen meiner sechs Anrufe heute Morgen gemeldet. So korrekt mein Partner war, er war auch ein notorischer Frauenheld. Er hatte eine Schwäche für Blondinen, und die gab es in Chicago wie Sand am Meer. Aber bei mir hatte er die Grenze nie überschritten. Dann wäre ich auch sofort weg gewesen.

Ein lauter Ruf. Etwas segelte durch die Luft und schlug scheppernd vor meinen Füßen auf. Eine Bierdose. Ein Polizist trat auf die Menge zu, und die Gaffer drängelten.

Ahmed verzog angewidert den Mund und gab der Dose einen Tritt.

«Wenigstens war es keine Bombe», sagte ich.

«Hey, sag so was nicht», entgegnete er erschrocken.

In unserer Branche blüht der Aberglaube: wickle die Sprengschnur immer im Uhrzeigersinn; klopf vor dem Eintreten auf den Türpfosten; trag vom Anfang bis zum Ende einer Sprengung dasselbe Paar Stiefel und ersetze einen gerissenen Senkel durch einen geliehenen. Vor allem aber: Mach nie Witze über Sprengstoff, schon gar nicht, wenn Tonnen von dem Zeug keine fünf Meter entfernt liegen.

Mein Handy vibrierte. Halim? Nein, auf dem Display stand UNBEKANNT. So einen Anruf hatte ich heute Morgen gegen halb sieben schon einmal bekommen, und ich war versucht, ihn jetzt anzunehmen und irgendeinem Telemarketing-Fuzzi, der wahrscheinlich am anderen Ende darauf wartete, mir ein munteres «Guten Morgen» ins Ohr zu flöten, gründlich die Meinung zu sagen. Aber es würde sicher nur eine elektronische Ansage sein und mich zehn Sekunden kosten, sie abzuwürgen. Zehn Sekunden, die ich jetzt, wo dieses Gewitter aufzog, nicht zu verschwenden hatte. Ich setzte den Schutzhelm auf und sagte zu Ahmed: «Ich fang jetzt mit der Begehung an.»

Ein beunruhigter Blick. «Ohne Halim?»

Er traute sie mir allein nicht zu. Egal. Hier war immer noch ich die Chefin, auch wenn es manchmal den Anschein hatte, ich wäre es nur dem Namen nach. «Fangt an, das Gelände zu räumen.»

Die breiten Marmorstufen des ehrwürdigen alten Gebäudes schienen unter meinen Stiefeln nachzugeben. Das gute alte Stück war reif für den Abgang. Es hatte lange standgehalten und jeder Menge Stürme getrotzt. Jetzt war seine Zeit gekommen.

Ich schob die schwere Stoffplane zur Seite, mit der die unteren Stockwerke umhüllt waren, und trat über die Schwelle in schwarze Dunkelheit. Im Strahl meiner Maglite wurde das Innere des Gebäudes sichtbar. Schwer zu glauben, dass einmal Hunderte von Familien hier gelebt hatten, über diese Böden gegangen waren. Alles, was das Haus einst bewohnbar gemacht hatte, war herausgerissen und abtransportiert worden: Wände, Decken, Fußböden und Fensterglas. Geblieben waren nackter Beton, Dachsparren und die Skelette zweier Treppen. Die Luft war dunstig und blau, und durch das offene Dach sank geisterhaft der Staub in trägen Spiralen. Ich drehte mich auf einem Absatz und blickte durch leere Fensterhöhlen und an bröckelnden Säulen vorbei, hörte die murmelnden Stimmen lang verschwundener Bewohner, das Schreien kleiner Kinder und Gelächter. Das alte Haus hielt den Atem an. Ich komme, sagte ich zu ihm. Warte.

Schwere Schritte. Aus den Schatten tauchte Halim auf, schlank und adrett in dunkelblauer Chinohose und frischem weißem Arbeitshemd. «Entschuldige, dass ich so spät dran bin», sagte er. «Ich hatte einen Auslandsanruf von meinem Bruder.»

Ich musterte ihn erleichtert und verärgert zugleich. Also keine hübsche Frau, die er in einer Bar getroffen hatte, sondern etwas weit Schlimmeres. «Wie viel ist es diesmal?», fragte ich.

Er schob ein wenig die Lippen vor. Er hätte mir gern gesagt, es gehe mich nichts an, wie viel Geld er diesem Loser, seinem Bruder, lieh, aber Tatsache war, dass es mich sehr wohl etwas anging. Es war absolut auch meine Sache, seit wir vor drei Jahren unser Geld in einen Topf geworfen und unsere Firma Down to Earth gegründet hatten.

«Mach dir keine Sorgen.» Er schaute sich um. «Wir sollten loslegen, hm? Bevor das Gewitter kommt.»

«Eintausend? Zweitausend?» Auf dem Geschäftskonto hatten dreitausend und ein paar Zerquetschte gelegen, aber sein unwirsches Gesicht sagte mir, dass jetzt nichts mehr drauf war. «Halim.» Mich zwickte die Angst. «Sag’s mir.»

«Nur eine vorübergehende Klemme», sagte er. «Wenn der Job hier erledigt ist, stehen wir bestens da.»

Es war das letzte Mal. Gleich morgen früh würde ich zur Bank gehen und veranlassen, dass in Zukunft alle Schecks auf unser Firmenkonto zwei Unterschriften tragen mussten. Aber im Moment konnte ich nichts tun. «Ich nehme den Ostflügel.»

Kein Geländer an der Treppe, die unterste Setzstufe in Schutt gelegt, um Eindringlinge abzuschrecken, die tragenden Wände eingerissen. Von Stufe zu Stufe die Tragfähigkeit prüfend, stieg ich die sechsundzwanzig Stockwerke hinauf, aus der schmalen Chicagoer Straße über die sich verjüngenden Baumwipfel hinaus, bis schließlich die noch halb schlafende Stadtsilhouette vor mir lag. Vor einem Monat hätte ich gekeucht. Heute hatte ich es in einem Zug geschafft und spürte die Anstrengung nur in den Oberschenkeln.

Sonnenlicht strömte durch die Fensterlöcher. Aus den tristen Grau- und Brauntönen hoben sich neongelbe Farbkleckse, die Kennzeichnungen der Säulen, in die die Ladungen eingebracht waren, und ein dichtes Gewirr gelber, pink- und orangefarbener Sprengschnüre. Bunt und tödlich. Ich verfolgte den Lauf der Schnüre hinauf in die Schlitze, die wir in die Säulen geschlagen und dann mit Dynamit gefüllt hatten. Die Verbindungen sahen gut aus. Unberührt.

Halim kam mir von der anderen Seite entgegen, wir tauschten schweigend die Plätze, unser Augenmerk einzig auf fluoreszierende Kabelstränge, Isolierband und Metallklemmen gerichtet. Wir stiegen zwei Stockwerke tiefer zur nächsten Sprengebene.

Das Brummen eines Jets am Himmel, in der Tiefe der schrille Ton aus der Pfeife eines Polizisten. Die Demonstranten wurden aggressiver. Großartig. Als hätten wir nicht genug damit zu tun, dem Gewitter zuvorzukommen. Wütende Schreie stiegen zu uns herauf.

Wieder tauschten Halim und ich die Plätze; wieder ging jeder noch einmal den Weg des anderen ab.

Draußen startete rumpelnd ein Bobcat.

Halim wartete im Erdgeschoss. «Wir sind in Verzug.»

Und wessen Schuld war das? Ich warf einen Blick auf mein Handy und sah, dass ich einen weiteren Anruf des unbekannten Anrufers verpasst hatte. Eine Stunde der Frist, die Ahmed uns gegeben hatte, war verbraucht.

«Mach du hier fertig», sagte Halim zu mir, «und ich mach den Keller.» Er ging die bröckelnden Stufen hinunter.

Über ein Geflecht von Sprengschnüren hinwegsteigend, leuchtete ich mit dem Strahl meiner Lampe die Anschlüsse ab. Aus einer Leckstelle tropfte Wasser – eine Leitung, die erst kürzlich abgestellt worden war –, und in einer Ecke hatte sich eine seichte, staubtrübe Pfütze gesammelt.

Das Rumpeln des Bobcats brach ab. In der plötzlichen Stille hörte ich einmal kurz Wasser spritzen, das auf Metall und irgendein anderes Material traf.

Das Geräusch wiederholte sich nicht. Ratten verlassen im Allgemeinen Gebäude, die zur Sprengung vorgesehen sind, ein unbezwingbarer Urinstinkt verrät ihnen, dass der Tag X kurz bevorsteht, und treibt sie hinaus. Aber vielleicht hatte eine von ihnen erst jetzt begriffen, was Sache war. Mich langsam im Kreis drehend, ließ ich das Lampenlicht über den unebenen Boden schweifen.

Ein zerdrückter Styroporbecher, Stiefelabdrücke im Staub, ein zusammengeknüllter rostroter Baumwollfetzen voll Farbspritzer. Das Licht glänzte plötzlich auf. Glas. Ich runzelte die Stirn. Alles Glas war bereits entfernt worden.

Mein Walkie-Talkie summte.

«Fertig?», fragte Halim.

Ich drückte den Sprechknopf. «So ziemlich.» Ich hob die Taschenlampe und blinzelte in die Schatten.

Eine leere Budweiserflasche glomm im Dunkeln neben einer Mauerabstützung auf. Kein Staub, sie konnte noch nicht lange hier liegen. Wie hatten wir die Flasche gestern Abend übersehen können? Von dem zerbrochenen Backstein daneben musste das Geräusch hervorgerufen worden sein, das ich gehört hatte.

Schritte in der Leere. Halim kam auf mich zu. «Auf geht’s.»

 

Die Crew versammelte sich um Halim, der letzte Anweisungen gab. Jede seiner Gesten strahlte Sicherheit aus; seine Haltung war locker, aber bestimmt. «Countdown in fünfzehn Minuten.» Mit einem Händeklatschen beendete er die Besprechung.

Eine Plastiktüte fegte über das Pflaster. Ein Polizist in Uniform stand neben einem provisorischen kleinen Gehege aus Sandsäcken. Er nickte. «Sie können.»

Ich wählte die vereinbarte Nummer. «Halten Sie die El an», sagte ich zu der Frau in der Zentrale.

«Ich gebe Bescheid», antwortete sie.

Über uns kreiste ein Hubschrauber, der die Dächer nach versteckten Zuschauern absuchte. Fernsehteams drängten sich in sicherem Abstand. Eine Gruppe Birken, die, in Geotextil eingehüllt, an der Nordwestecke stand, schwankte im böigen Wind. Der Staub und die Trümmer konnten kilometerweit getragen, ganz Chicago konnte in Mitleidenschaft gezogen werden. «Meinst du, wir sollten es abblasen?», fragte ich Halim beunruhigt.

«Schalt einfach hinterher den Monitor ein und lade die Messwerte runter.»

Der Monitor war meine Idee gewesen, als eine Art Präventivschlag gegen möglichen Rechtsstreit gedacht. Die Messwerte der entnommenen Luftproben abzulesen würde den Staub nicht aufhalten, aber ich erhob keinen Widerspruch. Ich hatte es genauso eilig wie Halim, den Job zu vollenden.

Er hob die Zündmaschine auf, einen Stahlkasten mit zwei Schaltern, und hielt sie mir hin. Sollte ich sie für ihn halten? Er grinste, als er meine Verwirrung sah. «Dein Schuss», sagte er. «Du hast ihn dir verdient.»

Ich hatte noch nie die Zündung ausgelöst. Nie. Halim war der Fachmann; ich war der Lehrling. Aber nun bot er ihn mir an, den kleinen Kasten, das Symbol dafür, dass ich endlich die Schallmauer durchbrochen hatte. Automatisch legte ich meine Finger um das Gerät und drückte es an mich. Halim hätte es mir jetzt nicht mehr entreißen können, selbst wenn er gewollt hätte.

Er hielt sein Walkie-Talkie hoch. «Alles klar.»

«Alles klar», kam es von den Leitern der einzelnen Mannschaften zurück.

«Zehn, neun, acht, sieben.»

Der Polizeihubschrauber legte sich in die Kurve und drehte ab.

«Vier, drei.»

Ein Schwarm Schwalben flatterte auf.

«Zwei, eins. Schuss! Schuss!» Ich hielt den Atem an und drückte auf den kleinen roten Knopf.

Stille.

Eine donnernde Explosion erschütterte den Boden. Ich klammerte mich an die Mauer aus Sandsäcken. Halim zog mich an sich. Eine zweite Explosion, ein zweites Erdbeben, drei Eruptionen schnell hintereinander, flackernde Flammen wie von einem Feuerwerkskörper am Fundament. Das Gebäude hielt ein, zwei quälende Sekunden lang stand, dann verdrehte es sich in Richtung Süden und ging in die Knie.

Staubtsunamis erhoben sich und verdunkelten den Himmel. Eine gigantische Welle raste auf mich zu, eine gewaltige Ripströmung, eine außer Kontrolle geratene Achterbahn. Ich duckte mich weg. Ein Hagelsturm aus Staub prasselte auf meinen Kopf und meine Schultern.

Den Unterarm auf Mund und Nase gedrückt, öffnete ich die Augen.

Zwei Stockwerke hoch Schutt und Asche. Okay. Nachbargebäude unversehrt. Okay. Bäume heil, Laub dran. Okay. Straßenreiniger starten ihre Fahrzeuge, Kehrbesen und Wasserschläuche beginnen bereits, die Bürgersteige und Mauern zu reinigen. Okay. Die stoßende, schiebende Menge wider Willen zu Jubel und Applaus hingerissen. Okay.

Die Achterbahn rollte aus.

«Nicht übel, hm?», meinte Halim.

Wir sahen einander an, den Stahlkasten zwischen uns eingeklemmt, und lachten. Es hatte fabelhaft geklappt.

 

Lastwagen rumpelten über das staubige Gelände. In der Ferne blitzte es. Rufende Männer, knirschende Schaufeln. Halim hatte bereits zwei Live-Interviews gegeben. In den Abendnachrichten würden alle Sender von der kontrollierten Gebäudesprengung der Firma Down to Earth berichten; unser Telefon würde am nächsten Vormittag heiß laufen. Wir würden vielleicht sogar Aufträge ablehnen müssen. Was schon, wenn Halim unser Bankkonto geplündert hatte? Spätestens morgen würde es sich bestens erholt haben.

Halim und Ahmed standen mitten auf dem Trümmerfeld und diskutierten über etwas, was sie beide zu erregten Gesten veranlasste. Ahmed schüttelte den Kopf.

Einer der Kipperfahrer schritt über das Gelände auf mich zu. Ich unterschrieb das Formular auf dem Clipboard, das er mir hinhielt. «Sie wissen, wohin Sie es bringen müssen?», fragte ich.

«Ja, Ma’am.»

Lautes Geschrei, der Baggerfahrer beugte sich weit aus dem Fenster und winkte. Ahmed begann quer über das Gelände zu laufen. Ich hoffte, er würde daran denken, dass dort einmal der Aufzugschacht gewesen war.

Ich reichte das Clipboard zurück. Der Mann nickte in Ahmeds Richtung. «Da scheint was los zu sein.»

Die Kipper hatten die Motoren ausgeschaltet. Die Fahrer sprangen aus den Kabinen und rannten zu der Stelle, wo Ahmed stehen geblieben war. Halim war mitten unter ihnen, Hals über Kopf setzte er über Gesteinsbrocken und Backsteinhaufen.

Asbest konnte es nicht sein. Ich hatte die Entfernung selbst beaufsichtigt. Was um alles in der Welt konnte der Fahrer entdeckt haben, dass jetzt alle wie aufgescheucht zu ihm hinliefen? Irgendeine lang vergrabene Rohrleitung vielleicht. Etwas, was in den Mauern verborgen gewesen und jetzt, bei ihrem Zerfall, zum Vorschein gekommen war.

Ich spürte die Vibrationen meines Handys an meiner Hüfte. Ohne nachzudenken, meldete ich mich, schon auf dem Weg zu Halim. «Ja?»

«Spreche ich mit Dana Carlson?» Die Stimme eines jungen Mädchens.

«Ja.»

«Sie kennen mich nicht, aber ich bin Ihre Nichte. Mein Name ist Peyton. Peyton Kelleher.»

Der Boden unter mir schien zu kippen. Ich blieb stehen.

«Entschuldigen Sie, dass ich Sie so überfalle. Es geht um meine Mutter.»

«Julie?» Der Name rutschte mir reflexartig heraus. Es war lange her, dass ich ihn das letzte Mal ausgesprochen hatte.

«Meine Mutter ist krank.» Die junge Stimme war unerbittlich. Ahmed winkte Halim. «Es ist die Niere. Mein Vater ist als Spender nicht geeignet. Sie ist auf der Warteliste, aber ich wollte fragen …» Die Stimme des jungen Mädchens begann zu zittern und schwieg.

Was ging mich das an? Ich konnte mit alledem nichts anfangen. Zerstreut fragte ich: «Rufst du von Black Bear aus an?»

«Ja.»

Mit schreckverzerrtem Gesicht packte Halim Ahmed beim Arm, als drohte er sonst zu stürzen. Mir zog sich der Magen zusammen. Was hatte er da gesehen? «Ich ruf dich zurück.»

Mit wenigen Schritten war ich zur Stelle. Ahmed streckte die Hand aus, um mich aufzuhalten, doch ich wich ihm aus und blickte zu Boden.

Zwischen den zerschmetterten Steinen lag eine weiche, schmuddelige Hand, deren Finger, mit dunklem Schmutz unter den Nägeln, sich hoffnungsvoll zum Himmel krümmten. Nicht nur eine Hand, ein Arm, in dicke rote Baumwolle gekleidet. Ein Stück entfernt ragte ein abgetragener Leinenturnschuh aus dem Schutt, ein weißer Fußknöchel, nackt und schutzlos.

Zitternd ging ich in die Knie. Ich tastete mit den Fingerspitzen zwischen Knochen und Sehnen nach einem Puls, doch ich fand nur kaltes, starres Fleisch. Mein Herz schlug laut für uns beide, diesen Fremden, der da unter den Trümmern des Hauses lag, und mich, die das Haus in Trümmer gelegt hatte.

Regentropfen klatschten in den Staub. Halim stand mit zusammengekniffenen Augen da. Schon jetzt überlegte er, wie er mir die Schuld zuschieben konnte.

Zwei

Peyton

Eine einzige Wassermasse umflutet die Erde. Sie ist in fünf große Meere aufgeteilt, die Strömungen und dem Einfluss des Mondes unterworfen sind. Alles befindet sich in ständigem Fluss. Der Pazifische Ozean schrumpft, während der junge Atlantik wächst. In hundert Millionen Jahren wird alles ganz anders aussehen.

Der Ozean nimmt einundsiebzig Prozent der Erdoberfläche ein und macht siebenundneunzig Prozent ihres Lebensraums aus. Weniger als fünf Prozent davon hat der Mensch erforscht. Nach Einschätzung der Wissenschaftler konnte bisher nur ein Prozent der in den Meeren heimischen Lebewesen bestimmt werden. Millionen von Arten sind noch zu entdecken. Die kleinsten Geschöpfe der Erde leben im Meer und ebenso die größten. Angehörige derselben Spezies unterscheiden sich in Aussehen und Verhalten, je nachdem, welches Meeresgebiet sie bewohnen.

Niemand weiß genau, wie oder warum das Leben im Ozean entstanden ist. Man weiß nur, dass es so war.

 

Früher Morgen, die Bürgersteige kühl und feucht, blasses Sonnenlicht in den Bäumen. Peyton wusste, dass sie nicht einfach fremde Leute anrufen sollte. Ihre Mutter würde ausflippen. Aber ihre Mutter war im Krankenhaus, bitte schön, nur deshalb hatte sie die Anrufe überhaupt gemacht. Jetzt, wo Peyton sich einmal getraut hatte, die Nummer ihrer Tante zu wählen, konnte sie damit gar nicht wieder aufhören. Bis halb acht hatte sie es viermal versucht und war mit jedem Mal mutiger geworden. Sie hatte das Telefon läuten lassen, die Ansage bis zum Ende angehört, sogar auf den Signalton ganz am Schluss gewartet, bevor sie auflegte, ohne ein Wort zu sagen. Als sie das erste Mal die Stimme ihrer Tante die Nachricht aufsagen hörte, gab es ihr einen Stich. Die Stimme ihrer Mutter. Ihre Tante hörte sich an wie ihre Mutter.

Das Licht an der Kreuzung war rot. Ein Auto brauste vorbei. Peyton blieb stehen, stellte ihre Büchertasche ab und griff nach ihrem Telefon. Sie würde es noch einmal versuchen, bevor die Schule begann. Wenn sie wieder kein Glück hatte, würde sie es in den Pausen versuchen. Sie würde einfach so lange anrufen, bis ihre Tante sich meldete. Vielleicht würde sie sich Erics Handy leihen und die Nummer sichtbar machen. Vielleicht ließ sich ihre Tante von einem mysteriösen Anruf aus Minnesota verlocken, sich zu melden. Aber wenn das so war, hätte sie sich dann nicht schon längst mal gemeldet oder vorbeigeschaut? War sie nicht neugierig auf ihre einzigen Verwandten?

«Hey, Peyton!»

Schuldbewusst drehte sie sich um. LT Stahlberg radelte keuchend hinter ihr her. Sein schwammiger Körper sackte mit dem Auf und Ab seiner dicken Knie von einer Seite zur anderen. «Hi, Peyton!» Er ließ den Lenker los, um ihr zu winken, was blöd war. Er sah doch, dass sie ihn bemerkt hatte.

Der hatte ihr gerade noch gefehlt, dachte sie verdrossen. Ihre Mutter hatte ihr tausendmal gesagt, dass LT nicht gefährlich sei, sondern nur verwirrt. Aber ihre Mutter sah in LT immer noch den kleinen Nachbarjungen, mit dem Peyton früher gespielt hatte. Doch der war er jetzt nicht mehr, wenn er mit ihr zusammen war. Wenn er mit ihr zusammen war, ließ er den Irren raus. Geh nicht auf dem Bürgersteig, wenn die Straßenlaternen an sind. Lass die Finger von der Mikrowelle. Die verstrahlt dir den Kopf. LT war ein kleiner Junge im Körper eines Riesenkerls, ein kleiner Junge, der gemeint hatte, es wäre cool, den Eisenwarenladen mitsamt Mr. Stems Pudel abzufackeln. Peytons Vater hatte hineinlaufen und den Hund retten müssen, während die anderen wie die Idioten auf der Straße herumstanden. Peytons Mutter war echt sauer gewesen. Du hättest dir sonst was tun können, hatte sie wütend gesagt und ihn am Arm gepackt und nicht wieder losgelassen. Doch Peyton hatte gesehen, wie sie ihr Gesicht an seine Schulter gedrückt, wie ihr Vater schützend die Hand um den Kopf ihrer Mutter gelegt hatte.

LT ließ das Rad auslaufen und grinste. «Ich bin froh, dass ich dich gefunden hab.»

Spielten sie Verstecken? «Was ist los?», fragte sie ungeduldig. «Für Spiele hab ich heute keine Zeit. Ich muss in die Schule.»

Seine Augen waren so hell, als wäre alles Blau herausgewaschen worden und nur eine Erinnerung an die Farbe zurückgeblieben. Sie schauderte, als er sich die roten Lippen leckte. «Ich wollte nur wissen, wie’s deiner Mom geht.»

Was glaubst du wohl, wie es ihr geht, du Vollidiot? Peyton biss die Zähne zusammen und schluckte die Erwiderung hinunter. Ihre Mutter wäre enttäuscht, wenn sie gemein zu LT war. Ihre Mutter würde wünschen, dass sie nett und freundlich war. «Sie ist noch im Krankenhaus. Der Arzt meint, dass sie bald rauskommt.»

Sein feistes Gesicht erschlaffte vor Erleichterung. «Oh, das ist gut. Das ist GUT

So gut auch wieder nicht. «Aber es wird eine Weile dauern, bis sie wieder arbeiten kann. Such dir also lieber ein anderes Kindermädchen.» Sie hatte ihre Eltern reden hören. Sie hatten gesagt, wie bestimmt der Richter in diesem Punkt gewesen war. Es wäre überhaupt nicht lustig, wenn LT seine Medikamente nicht regelmäßig nähme, nur weil ihre Mutter nicht da war, um dafür zu sorgen, dass er es tat.

Er zog eine Schulter hoch. «Amy ist fies.» Schmollend schob er die Unterlippe vor. «Amy ist überhaupt nicht wie deine Mom.»

Als hätte er die geringste Ahnung davon, wie ihre Mutter war. Das wussten nur sie und ihr Vater. Ihre Mutter gehörte ihnen, nicht diesem durchgeknallten Riesenbaby. Die Ampel wurde grün, und Peyton nahm ihre Büchertasche. Sie hatte genug davon, sich um ihn zu sorgen. «Wir sehen uns», sagte sie.

«Tschüs, Peyton.»

Als sie auf der anderen Straßenseite war, konnte sie nicht anders. Sie musste sich noch einmal umsehen.

Und natürlich stand LT immer noch da, hielt sich an seinem Fahrrad fest und schaute die Straße hinauf und hinunter, als wüsste er nicht, in welche Richtung er fahren sollte. Gegen ihren Willen verspürte sie Mitleid. Das Gefühl kannte sie genau.

 

Im Korridor drängten sich die anderen Schüler an Peyton vorbei, Bücherstapel in den Armen, schwatzend, SMS tippend, in Eile, um vor dem Läuten im Klassenzimmer zu sein. Peyton lehnte sich an die Wand, drückte das Handy fester ans Ohr und hielt die Augen offen, um nicht beim Telefonieren erwischt zu werden. Nachsitzen konnte sie sich nicht leisten.

Der Gang leerte sich, in der Garderobe wurde krachend der letzte Spind zugeschlagen, die letzte Tür schloss sich quietschend. Drei Klingelzeichen, vier. Gleich würde sich die Mailbox melden. Peyton wollte keine Nachricht hinterlassen; sie konnte nicht riskieren, dass sie nicht beantwortet wurde.

Sie fuhr zusammen, als die Schulglocke zu schrillen begann. Gerade wollte sie das Handy zuschieben, als sie ein fernes, blechernes «Ja?» vernahm.

Sie hielt das Handy dicht vor ihren Mund. «Spreche ich mit Dana Carlson?» Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie fand den Klang ihrer Stimme fürchterlich, wehleidig, beinahe flehend.

«Ja.»

Peyton räusperte sich. «Sie kennen mich nicht, aber ich bin Ihre Nichte.» Das war lahm. Warum hatte sie nicht vorher geübt? «Ich bin Peyton», plagte sie sich weiter. «Peyton Kelleher.»

«Peyton?»

Ja. Ganz recht. Die Nichte, um die du dich nie gekümmert hast. «Entschuldigen Sie, dass ich Sie so überfalle.» Wieder dieser flehende Ton. Was war los mit ihr? «Es geht um meine Mutter …»

«Julie?»

Ein Hauch von Interesse lag in Danas Stimme. Erleichterung überschwemmte Peyton. «Meine Mutter ist krank. Es ist die Niere. Mein Vater ist als Spender nicht geeignet, aber ich wollte fragen …» Sie hielt inne, um Dana Zeit für Fragen und beruhigende Worten zu geben, die es ihr ersparen würden, es laut auszusprechen, aber ihr kam nur drückendes Schweigen entgegen. «Sie braucht Sie», sagte sie nur.

Sie alle brauchten Dana. Und wenn sie das nicht begriff – nun, dann konnte man alle Hoffnung vergessen.

«Rufst du aus Black Bear an?»

Wo sollte sie sonst sein? Panik drückte ihr fast die Luft ab. Wenn ihre Tante nicht einmal wusste, wo sie wohnten, war dann nicht alles hoffnungslos? «Ja.»

«Ich ruf dich zurück.»

Kalt und scharf. Dann beendete Dana das Gespräch.

 

Alle schauten herüber, als Peyton die Tür zum Klassenzimmer aufstieß. Auch Mr. Connolly, aber er sagte nichts, ließ es ihr wieder einmal durchgehen. So unangenehm es ihr war, dass er das tat, so dankbar war sie ihm dafür. Einen Moment verweilte sein Blick forschend bei ihr. Als sie nicht in Tränen ausbrach und auch nicht gegen die nächste Wand rannte, drehte er sich wieder zur Tafel.

«RNA-Polymerasen helfen dabei, freischwebende Nukleotide an das DNA-Template zu binden, um die komplementären mRNA-Stränge zu bilden.»

Als Peyton an ihren Platz rutschte, kniff Brenna die Augen zusammen. Brenna trug ihre abgeschnittenen Jeans weit kürzer als erlaubt, aber niemand sagte etwas. Sie trug ein enges schwarzes Shirt mit dem Aufdruck Du weißt doch, dass du willst. Auch darüber sagte niemand etwas. Über ihr Heft gebeugt, tat sie so, als schriebe sie mit, während sie flüsterte: «Hast du den Laborbericht über die DNA-Extraktion fertig?»

Peyton grub in ihrer Büchertasche nach dem Heft. «Mehr oder weniger.» Was hieß, dass sie nicht einen Buntstift zur Hand genommen, nicht eine einzige Antwort niedergeschrieben hatte.

«Wir müssen Freitag abgeben.» Brenna schüttelte sich die Haare aus den Augen und schielte zu Mr. Connolly hinüber, um zu sehen, ob ihm aufgefallen war, wie allerliebst diese Bewegung von ihr wirkte. «Wir sollten uns nach der Schule zusammensetzen. Ich hab bis halb sechs Training. Danach können wir uns treffen.»

«Tut mir leid. Ich kann nicht.» Peyton hatte etwas anderes vor. Sie wollte sofort nach der Schule ins Krankenhaus. Außerdem würde Brenna sowieso keine Hilfe sein. Sie würde nur dasitzen und SMS verschicken, während Peyton rechnete und Organellen zeichnete und den Bericht über die Extraktion von DNA aus einer Erdbeere verfasste.

«Anschließend tritt die mRNA durch die Poren aus dem Kern aus und schwimmt im Zytoplasma, bis ein Ribosom sich anhaftet.»

Brenna runzelte die Stirn. «Wann dann?»

«Ich schau’s mir heute Abend an.» Vielleicht konnte sie im Krankenhaus bei ihrer Mutter einen Teil der Hausaufgaben erledigen. Sie wusste nicht einmal, warum sie hier in diesem Klassenzimmer herumsaß, während ihre Mutter ganz allein in dem grässlichen Zimmer voll medizinischer Geräte und künstlicher Munterkeit lag.

Es wird nichts passieren, hatte ihr Vater am Morgen beim Frühstück gesagt, als er ihr die Pop-Tarts reichte. Mom wird sich nur sorgen, wenn du nicht zur Schule gehst.

Sie konnten ihrer Mutter nicht noch zusätzliche Sorgen aufbürden. Sie musste sich darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden. Peyton gab sich alle Mühe, ihr Normalität und sorglosen Alltag vorzugaukeln. Deshalb ging sie weiterhin jeden Tag zur Schule, deshalb hatte sie nichts von ihrem D in Sozialkunde gesagt. Nichts von Eric. Kein Wort davon, dass sie Dana gegoogelt und entdeckt hatte, dass ihre Tante nicht Ärztin war, wie von ihrer Mutter immer behauptet, sondern bei einem Abrissunternehmen arbeitete. Alles musste normal sein. Peyton konnte es schaffen. Es war nur eine Frage der Entschlossenheit.

«Welches Stopcodon befiehlt dem Ribosom das Protein freizusetzen? Weiß jemand, warum es das tut?»

Noch sechs Stunden bis Schulschluss. In sechs Stunden würde bestimmt nichts passieren. Peyton zog vorsichtig ihr Handy aus der Hosentasche und hielt es unter die Bank, um einen Blick auf das Display zu werfen. Keine entgangenen Anrufe.

«Bei welchem Prozess besteht am ehesten das Risiko unerwünschter Mutation?» Mr. Connolly sah sie an und gleich wieder weg. «Adrian?»

Dana würde zurückrufen. Sie musste.

 

Eric saß im Hof, wo alle in der Mittagspause aßen. Als er sie bemerkte, leuchtete sein Gesicht auf wie verklärt, und das nur, weil sie da war. Seit wann besaß sie diese Macht? Was sollte sie damit anfangen?

«Hey», rief er. «Ich hab die letzte Gatorade für dich ergattert.»

Peyton ließ ihre Büchertasche auf die Bank fallen und nahm die Plastikflasche, die er ihr hinhielt. «Danke.»

Sein Haar war hinten im Nacken noch feucht von der Dusche und er roch nach Axe. Er kam gerade vom Sport. Sie wusste nicht, warum ihr diese Dinge auffielen. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, wie er roch, nie bemerkt, wie kräftig sich die Muskeln seines Unterarms unter den aufgekrempelten Ärmeln spannten.

«Und?», fragte er. «Hast du mit deiner Tante geredet?»

«Könnte man sagen.»

«Das ist doch toll. Was hat sie gesagt?»

«Wir haben ungefähr zwei Sekunden miteinander geredet. Dann hat sie Schluss gemacht.»

«Aber du hast sie gefragt, oder?»

«Ich hab sie praktisch angefleht.» Sie schraubte die Flasche auf und nahm einen großen Schluck. «Sie hat gesagt, sie ruft mich zurück, aber bis jetzt hat sie das nicht getan.»

«Tut sie bestimmt noch.»

Peyton sagte nichts. In letzter Zeit machten alle leere Versprechungen. Sie hatte genug davon.

«Vielleicht kommt sie sowieso nicht in Frage. Eine fünfundzwanzigprozentige Chance ist nicht viel. Eins zu vier.»

«Ich weiß.» Er wusste gar nichts. Sein Leben war perfekt. Keine Unsicherheiten. Mutter, Vater, Schwester und Bruder, alle gesund. Fünfundzwanzig Prozent mochten Eric nicht viel erscheinen. Für Peyton waren sie alles. Es war weit mehr als das tausendstel Prozent einer Chance, dass ein Fremder als Spender geeignet war.

«Wissen deine Eltern, dass du sie angerufen hast?»

«Nein.» Peyton nahm ihr Brot aus der Tasche und biss hinein. Ihr Lieblingsbelag, Erdnussbutter, Essiggurken und Mayonnaise, aber heute schmeckte er wie Asche. «Ich erzähl’s meiner Mom, wenn ich heute Nachmittag bei ihr bin.» Vielleicht. Wenn Dana bis dahin zurückgerufen hatte. Je nachdem, ob ihre Mutter einen guten oder einen schlechten Tag hatte.

«Ganz okay, denk ich mal.» Es war nur wieder eine Infektion. Kein Anlass zur Panik, aber wer ging ins Krankenhaus, wenn es nicht nötig war? Peyton riss an der Brotrinde. Sie hasste dieses Gefühl der Hilflosigkeit. Und matschige Essiggurken hasste sie genauso.

«Ich dachte, die haben Schluss gemacht.» Ihr war heiß, und sie starrte auf ihre Hände, auf die kurzen, in unterschiedlichen Farben lackierten Fingernägel, den silbernen Ring, den ihre Mutter ihr letztes Jahr zu Ostern geschenkt hatte, das ausgefranste Pflaster auf einem Fingerknöchel.

Er nahm sein Tablett und stand auf. «Wir sehen uns später. Lass dich nicht unterkriegen, okay?»

Peyton stopfte den Rest ihres Brots wieder in die Tüte. Tränen brannten ihr in den Augen. Seit wann war sie so ein Baby?

Quer über den lärmenden Hof rannte Mrs. Stahlberg auf sie zu, mit fliegenden Armen und hochrot im hässlichen Gesicht. Sie war nur die Sekretärin des Schulleiters, aber sie tat immer so, als hielte sie den ganzen Betrieb am Laufen. Viele machten sich über sie lustig, aber Peyton durfte das nicht. Ihre Mutter ermahnte sie immer, verständnisvoll zu sein, weil Mrs. Stahlberg als LTs Mutter eine schwere Last zu tragen habe. Nicht dass es irgendwie half, wenn man nett zu ihr war. Sie fand immer einen Grund, Peyton herunterzuputzen. Als wäre Peyton die Gestörte und nicht ihr blöder Sohn.

Peyton knüllte ihre Tüte mit dem Brot zusammen und stand auf, um die Strafe über sich ergehen zu lassen. Bitten oder schöntun war sinnlos. Mrs. Stahlberg war eine ausgemachte Hexe. «Es tut mir leid –», begann sie.