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Laura Jane Arnold

Das Schmuckstück der Welt





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Impressum

Die Chroniken der Seelenseherin

 

Das Amulett der Seelentropfen (Band 1.)

Das Geschwärzte Medaillon (Band 2.)

Das Schmuckstück der Welt (Band 3.)

 

www.laura-jane-arnold.de

www.facebook.com/LauraJaneArnold.SeelenseherTrilogie

www.facebook.com/L.J.Arnold.Autorin

info@laurajanearnold.de

 

Dieses Buch ist ein Roman. Alle Charaktere und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, sowie mit Ereignissen und Begebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2015 Laura Jane Arnold

Umschlagabbildung: © Laura Jane Arnold

Umschlaggestaltung: Laura Jane Arnold

Kreis: © olga4075 /Depositphotos.com

Ornamente: © lienchen020_2 /Fotolia.com.

Tigers‘ Tomorrow: Foto Tiger: © Julian W./Fotolia.com.

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

Auch als Printbruch erhältlich.

 

Der Kauf dieses eBooks unterstützt die Spendenaktion

Tigers‘ Tomorrow der Autorin.

 

Landkarten

 

 

Widmung

 Für die Freunde, die nicht mehr bei uns sein können und uns doch nie verlassen. 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unser Schicksal tragen, heißt es besiegen.

 

- Edward George Bulwer-Lytton

Prolog Schimmer der Erinnerung

 

Wie soll man leben, wenn Hoffnung etwas ist, dass man sich nicht mehr leisten kann? Wie die Nacht überstehen, wenn der eigene Körper jederzeit zum Feind werden kann? Wie soll man leben mit dem Wissen, dass der eine Mensch, den man liebt eine Seite gesehen hat, die Liebe unmöglich macht?

Die trockene Luft meines persönlichen Gefängnisses, welches mir gleichzeitig als mein Königreich beschrieben wurde, kratzte in meinem Hals. Es war ein ständiges Kratzen. Es hörte nie auf und bohrte sich in meine Lungen, als würde ich mit der Luft feine Glassplitter einatmen, die nach und nach mein Fleisch zerrissen. Ich hatte aufgehört, die Tage zu zählen. Aufgehört, auf die Sonne zu hoffen, deren Strahlen doch nie die Tiefen dieser Hölle erreichten. Ich war die Einzige hier. Ich war der einzige Mensch, der noch seine vollständige Seele besaß und doch war ich so gefangen, wie jeder dieser traurigen Sklaven. Sklaven eines Mannes, der mit einfachen Worten nicht zu beschreiben war. Noch immer hatte ich mich nicht an den Wahnsinn in seinen Augen gewöhnt. An die Reaktion, die er bei mir auslöste. An den Abscheu, der mich überfiel und die quälende Hoffnungslosigkeit.

Ich schloss meine Augen und versuchte mir für einen Moment vorzustellen, wie Wind meine Haare zerzauste und meine Lunge mit kühler Luft füllte. Wie die Sonne den wärmenden Ausgleich eines Herbsttages bot. Hier unten gab es nur  Staub, Dreck und erstickende Hitze. Ich konnte nicht so schnell trinken, wie mein Körper auszutrocknen schien. Es war unnatürlich. Unter der Erde müsste es kühl sein. Sollte es kühl sein, aber die Gesetze der Natur galten in diesem düsteren Reich nicht. Mein unsicherer Gang war inzwischen der ungleiche Tanz eines Alkoholikers. Ich fühlte mich krank. Es war, als hätte Keira das letzte bisschen Stärke, das ich besessen hatte, mitgenommen und Craig das letzte bisschen Hoffnung. Auch wenn ich genau wusste, dass meine Seele noch mir war, fühlte es sich dennoch an, als wäre sie tot. Ein abgespaltener Teil, den ich nicht mehr zu fassen bekam. Er war mit Keira und Craig in dem geheimen Tunnel verschwunden. Ein Ausweg, dem ich nicht hatte folgen können. Ich streckte meine Hand aus und wollte die eine Stelle berühren, die Flucht bedeutete. Wie stets schienen meine Finger auf eine undurchdringliche Wand zu stoßen, die sich vor meinen Augen verbarg. Ich wusste es besser und vor allem fühlte ich es. Ich fühlte seine Gegenwart in meinem Körper. Es war keine Wand die meine Finger daran hinderte den Sandstein zu berühren. Er war es. Er kontrollierte meine Hände. Er war ein ständiger Geist, der mich begleitete, egal wohin ich mich in dieser unwirklichen Stadt bewegte. Die Stadt, die er Stolz Infernus nannte. Er hatte mein Leben gelenkt, seit ich auf diese Welt gekommen war. Er hatte alles geplant. Freier Wille war etwas, das er mir genommen hatte. Er hatte mir alles genommen. Er hatte mich zu seinem Werkzeug gemacht. Zu einem Werkzeug, das er dazu verwenden wollte, die Welt zu seinem persönlichen Paradies zu wandeln. Er wollte die Menschen neu erschaffen. Er wollte alles und vor allem wollte er mich. Er liebte mich.

 

»Sie kommen nicht zurück, solange ich es nicht will.«

Wieder schloss ich die Augen. Nicht aus Erschöpfung oder dem Versuch in eine Traumwelt zu flüchten. Es war der brennende Schmerz seiner Gegenwart, der durch meine Adern raste und in meinen Augen glühte. Es war schlimmer geworden. Viel schlimmer. Er löste es aus. Jedes Mal, wenn er mir nahe war. Meine Augen brannten und ich wusste dass sie feuerrot waren. Er rief das Monster in mir zum Vorschein. Das Monster, das ohne zögern töten konnte. Das Monster, das Craig gesehen hatte.

»Leander«, sagte ich bedrohlich, wobei ich mich nur langsam von dem Sockel seiner riesigen Statue abwandte. Sein übernatürlich perfektes Gesicht war nur eine Handbreit von meinem entfernt. Er lächelte. Immer lächelte er. In der Blutsicht war ich die Janlan, die er als seine Königin begehrte. Mit der er seine Welt erschaffen wollte. Sein Atem brannte heiß auf meiner Haut und sein Geruch stach in meiner Nase. Und dennoch war er verlockend. Alles an diesem Mann war verlockend. Er hatte Jahrhunderte Zeit gehabt, diese Wirkung zu erschaffen und dennoch gelang es ihm nicht, meine Seele an ihn zu binden, wie er es mit meinem Körper getan hatte. Doch für ihn war es vorerst genug. Kleine Elektroschocks zuckten durch meinen Körper, als ich mich ungewollt in seine Arme begab. Seine Lippen schlossen sich um meine und einmal mehr, fühlte ich einen Schmerz, der beinahe nicht zu übertreffen war. Es war nicht so sehr mein Körper der schmerzte, sondern meine Seele, die ein weiteres Mal Craig betrug. Es war mein persönlicher Albtraum, der sich immer und immer wieder wiederholte. Meine Füße bewegten sich ohne meinen Befehl. Meine Hand schloss sich um seine und zog ihn mit. Es war sein Art, mich für meine Rolle bei der Flucht von Keira und Craig zu bestrafen. Er machte mich zur handelnden Person. Ich versuchte mich fallen zu lassen, in den Tiefen meiner Seele zu versinken. Dort, wo das Bewusstsein nicht mehr war, als eine schwache Idee. Meistens gelang es mir für ein paar Minuten, bevor die Schmerzen mein Bewusstsein gewaltsam zurückholten. Ich tauchte aus einer dieser Tiefen auf. Die Realität schlug wie eine Granate in mein Bewusstsein ein. Für mich gab es einfach kein Entkommen. Sein Körper drückte mich in die Matratze und entzündete auf meiner Haut ein stechendes Meer aus Flammen. Meine Gedanken schmiegten sich um den einen Gegenstand. Die eine Stelle, die ich ansehen konnte, ohne ihn sehen zu müssen. Das Geschwärzte Medaillon. Es hing um seinen Hals und berührte immer wieder meine Haut, wo seine Kühle für einen kurzen Moment die Flammen erstickten. Es war dieser Gegenstand, der mich hierher gebracht hatte. Es war so nahe und doch konnte ich nichts tun. Ich war nicht Herr meines Körpers. Ich konnte meine Hände nicht dazu bringen, es Leander vom Hals zu reißen, oder ihn sogar mit der silbernen Kette zu erwürgen. Ich konnte es nur ansehen und daran denken, was es bedeutete. Meine Versklavung und die Möglichkeit des Untergangs meiner Welt. Einzig meine Abstammung verhinderte noch die Apokalypse. Ich wurde aus meinen schützenden Gedanken gerissen, als sein heißer Atem auf mein Ohr traf und seine Stimme wie Honig in meine Gedanken drang.

»Irgendwann wirst du mir das Amulett der Seelentropfen aushändigen.«

Es war drei Tage her, dass er versucht hatte, das Amulett von meinem Hals zu reißen. Es war ihm nicht gelungen. Er hatte es nicht einmal berühren können. Das Amulett hing immer noch um den Hals einer Seelenseherin. Ich hatte noch meine Seele und ich glaubte, dass, solange ich sie festhalten konnte, das Amulett für ihn unerreichbar bleiben würde. Alleine diese Tatsache schien den Schutz auszumachen, denn der Seelentropfen, den das Amulett und deren Trägerin eigentlich hüten sollte, war längst nicht mehr in seiner Mitte. Der Tropfen war nicht mehr als ein gläserner Stein. Ich wusste, wo sich der echte Seelentropfen befand, aber Leander ahnte es nicht. Er ahnte nicht, dass der Gegenstand, den er so dringend brauchte, weit weg war. Keira hatte den Seelentropfen und sie hatte ich weggeschickt. Es war ein kleiner Trost. Es bedeutete, dass sie und Craig mehr Zeit hatten, die Menschen wachzurütteln und ihre eigene Armee aufzustellen. Für mich bedeutete es mehr Zeit mit ihm. Mehr Zeit in der er mich zu allem zwingen konnte. Mehr Zeit, in der er versuchen würde, mich dazu zu bringen ihn zu lieben. Mehr Zeit, in der ich verlernen würde, wie man liebt. Denn Liebe war ein Luxus der Hoffnungsvollen. Ich war nur noch ein Schatten. Ich wusste nicht, ob Hoffnung etwas war, das ich mir leisten konnte. Wie sollte ich hoffen, dass Craig mich nach allem noch lieben würde? Wie sollte ich hoffen, wenn alles was ich noch kontrollieren konnte, meine Gedanken waren? Wie sollte ich die Welt retten, wenn ich mich selbst schon längst für verloren hielt? Ich wusste schon länger nicht mehr, wie lange diese Hölle bereits mein zu Hause war und mit jedem weiteren Tag schwand die Erinnerung an Sonne und Licht. An Liebe und Freundschaft. Wie sollte man auf Leben hoffen, wenn alles, was es bedeutete, einem entglitt. Wenn selbst die Erinnerungen zu verschwammen begannen.

»Du gehörst mir«, flüsterte Leander, als ich schließlich in seinen Armen lag. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sein Verlangen über sein Ego siegen würde, bis aus den erzwungenen Küssen mehr wurde. Bis er nicht mehr darauf warten würde, dass ich freiwillig seine Nähe suchte. Er würde sich nehmen, wonach es ihm verlangte. Und ich würde nichts dagegen tun können. Alles, was ich in diesem Moment tun konnte, war auf die Freiheit des Schlafes zu warten. Auf den schwachen Schimmer meiner Erinnerungen an ein verlorenes Leben.

 

1 Ein unnormaler Geburtstag

 

Seit vier Tagen hatte sich Keira in der Einsamkeit ihres Hotelzimmers ein­­ge­­schlossen, den Tag erwartend, den sie unmöglich ertragen konnte. Vier Tage war es her, dass sie aus dem Ende des Tunnels in einen Wald in der Nähe von Galin getreten war. Die Erinnerungen waren noch so frisch, dass sie glaubte, den Staub des Tunnels schmecken zu können. Das Stechen der trockenen Luft in ihrer Lunge. Immer noch drehte sie sich in der Dunkelheit um und erwartete, dass eines von Leanders Erdwesen seine Krallen nach ihr ausstreckte und sie zurück unter die Erde zerrte. Kälte überfiel Keira, als sie sich in den Bildern und Gefühlen ihrer Flucht verlor. Die Flucht, die nicht nur ihren Körper bis an seine Grenzen getrieben hatte.

 

Keuchend tastete sie sich wieder an der kühlen Wand des stetig steigenden Tunnels entlang. Licht war schon lange nicht mehr zu ihren Augen gedrungen. Die am Anfang vielzähligen Fackeln, waren immer weniger geworden und hatten dann plötzlich aufgehört. Die fein gearbeitete Wand am Eingang des Tunnels, war in grob behauenen Fels übergegangen, welcher immer wieder spitze Kanten besaß. Das alles hatte auf sie keinen besonderen Eindruck gemacht. Sie hatte nicht auf den scharfen Fels geachtet, der ihr durchaus ohne Probleme die Handflächen hätte aufschlitzen können. Genau das war einem der Mitglieder der Jüngsten Generation geschehen. Sie hatte seinen unterdrückten Aufschrei gehört, als der Stein sich in seine Haut bohrte, doch niemand hatte gewagt anzuhalten oder auch nur die Stimme über ein Flüstern zu erheben. Keiner hatte eine Pause einlegen wollen, obwohl sie nun schon seit Stunden schnellen Schrittes durch die Dunkelheit liefen. Keiner wollte zurück zu dem Ort, aus dem sie mit Mühe und Not geflohen waren. Dem Ort, an dem die Dunkelheit einfach überall war. Der Ort, an dem Leben keine wirkliche Bedeutung mehr hatte. Einmal dort angekommen, verließ man die Stadt nur wieder als seelenloser Sklave, dessen Äußeres nicht einmal mehr die Identität erahnen ließ, die das Herz in der Brust ausgemacht hatte. Man verlor alles. Man verlor seine Erinnerungen, seinen Charakter, sein Aussehen und seinen Freien Willen. Man folgte nur noch den wahnsinnigen Befehlen eines Menschen, der schon vor Jahrhunderten hätte sterben müssen. Der so wahnsinnig und machthungrig war, dass er die Welt neu erschaffen wollte. Menschen, Tiere, Pflanzen ... Nichts würde er dem natürlichen Lauf der Welt überlassen. Nichts dem Zufall, der vom Schicksal gelenkt wurde. Leander hatte alle Regeln gebrochen, alle Grenzen, welche die Moral den Menschen auferlegt. Er hatte sie überschritten und war nicht ein einziges Mal stehengeblieben. Er wurde von etwas angetrieben, das ihn blind machte für die Realität. Blind für all das, was richtig und gut war. Leander war eine perfekte Hülle, die etwas unglaublich Dunkles verbarg. Etwas Gefährliches und vor allem etwas Tödliches. Leander war ein Monster, das hatte er mehr als einmal bewiesen und in der Mitte von allem war Janlan.

»Janlan...«, war es gebrochen aus Keiras trockenen, spröden Lippen gekommen, als sie gegen die Wand gesackt war und zu Boden glitt. Ihren Arm hatte sie immer noch fest an ihren Körper gedrückt. Sie war sich sicher gewesen, dass die Schnittwunde erneut angefangen hatte, leicht zu bluten. Immer wieder hatte sie geglaubt, zu hören, wie Blutstropfen auf den Boden schlugen.

»Keira, bist du in Ordnung? Kannst du weitergehen?«

Craigs Stimme hatte undeutlich in Keiras Ohren geklungen, als hätte er aus weiter Entfernung zu ihr geflüstert. Sie hatte die Augen zusammengekniffen und versucht, sein Gesicht zu erkennen. Seine Lippen, damit sie vielleicht etwas mehr Sinn aus seinen Worten machen konnte. Ein sinnloses Unterfangen. Es war zu dunkel. Viel zu dunkel, um auch nur irgendetwas genauer erkennen zu können. Zu dunkel, zu stickig und zu hoffnungslos.

Craig hatte sie an den Schultern geschüttelt. Nicht stark, sondern eher, als wollte er sie sanft wachrütteln. Doch Keira hatte gewusst, dass sie nicht schlief. Sie hatte Janlans Schrei noch viel zu deutlich in ihren Gedanken gehört.  »Rette die Welt.« Janlans letzte Worte an sie.

Wie sollte Keira die Welt retten, wenn sie wusste, wie sehr ihre beste Freundin litt? Wie verloren und wie hoffnungslos sie sich fühlen musste. Immer wieder hatte sie versucht, andere Gedanken von Janlan zu hören, aber da war nichts und mit jedem Schritt, den sie zur Erdoberfläche hin tat, hatte sie weiter von Janlan fortgetrieben und ihre Verbindung geschwächt.

»Keira?«

Sie war so müde gewesen. So unendlich müde. Ihr Arm hatte wehgetan, ihre Lunge gebrannt und um ihren Verstand hatte sich ein dicker Nebel gelegt, der es ihr fast unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu formen.

»Janlan?«, war Keiras schwache Antwort gewesen. Sie hatte gespürt, wie ein sanftes Schütteln durch den Körper gegangen war, der sie immer noch an den Schultern festhielt. Ein Kloß hatte in ihrer Kehle gestochen, als sie die Bewegung als ein stummes Nein deutete. Natürlich nicht. Sie wusste wo Janlan war. Und sie war ganz sicher nicht an ihrer Seite. Janlan saß in Infernus fest, bei dem Monster Leander, der so besessen von ihrer besten Freundin war, dass er die ganze Welt für sie neu erschaffen wollte. Dass er Jahrhunderte damit verbracht hatte, einen Plan zu entwickeln, wie er Janlan zu sich führen würde, ohne dass sie überhaupt schon auf der Welt war.

»Craig«, hatte sie nüchtern gesagt, »Wie konnte ich ihr das nur antun?« Keiras Stimme war zu leise, zu gebrochen gewesen, als dass sie glaubte, dass er es hatte hören können. Vielleicht war es auch besser gewesen. Janlan hatte Craig angelogen, um ihn zu retten. Keira wusste nicht, wie tief die Wunde ging, die Janlan ihm mit ihren Worten zugefügt hatte.

Aber er hatte sie gehört.

»Keira du-, ich-, wir... wir müssen weiter. Du... du musst aufstehen.« Er hatte einmal tief durchgeatmet, bevor er weitersprach. Sicher, um seine Gedanken einigermaßen zu ordnen. »Lehn‘ dich auf mich. Ich werde dich stützen. Die anderen sind bereits ein ganzes Stück weiter als wir. Na komm, sobald wir die Sonne auf unseren Gesichtern spüren, können wir sicher klarer denken und uns etwas überlegen wie wir J... wie wir sie retten können.«

Craig hatte sie sachte wieder auf ihre Füße gezogen und legte sich ihren Arm um die Schulter. Es war Keira nicht entgangen, das er Janlans Namen nicht aussprach. Er hatte ihn überhaupt nicht mehr laut ausgesprochen, seitdem Janlans rote Augen hinter dem Sandstein der Statue verschwunden waren. Er hatte Janlan noch nie in der Blutsicht gesehen oder erlebt. Es beunruhigte Keira, dass er sie immer noch nicht danach gefragt hatte, nachdem die ersten Schockmomente überstanden waren und sie in die Dunkelheit geflohen waren. So vernebelt Keira auch gewesen war, sie wusste, dass es nicht der Moment war, um darauf näher einzugehen. Craig hatte Recht behalten, sie mussten erst einmal selbst in Sicherheit sein, bevor sie irgendetwas unternehmen konnte. Dennoch gefiel es ihr immer noch nicht, wie er sich verhielt.

Eine dritte Stimme war in der Dunkelheit erklungen. »Können wir weiter? Die anderen werden schon unruhig.«

Keira war der flehende Unterton in Clara Halfersens Stimme nicht entgangen. Clara kam, wie Janlan und sie selbst aus Amalen und war viel länger in Infernus gewesen. Ganz zu schweigen von den anderen Mitgliedern der Jüngsten Generation. Viele von ihnen hatten die Sonne schon seit mehreren Monaten, wenn nicht sogar Jahren, nicht mehr gesehen. Sie kannte Clara schon lange. Sie war nicht auf den Kopf gefallen, ließ sich wenig bis gar nichts sagen und hatte auch noch das Aussehen um mit allem durchzukommen, aber hier, in der Dunkelheit, so nahe zu Leanders Erdwesen, war sie nicht viel mehr als ein unsicherer, verängstigter Teenager, der krampfhaft versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Clara war, zusammen mit Jason, Anführerin der Jüngsten Generation, doch beide folgten dem, was Keira sagte.

»Wir...wir können weiter. Musste nur ganz kurz eine Pause machen«, hatte sie geantwortet, wobei niemanden entgangen sein konnte, wie erschöpft sie war.

»Hat dein Arm wieder angefangen zu bluten?«, hatte Clara aus dem Nichts gefragt. Zum ersten Mal war Keira bewusst geworden, dass Clara die Nichte von Doktor Halfersen war. 

»Ich denke ja, aber da können wir jetzt nicht viel machen. Nicht hier und erst recht nicht in dieser Dunkelheit. Ich dachte du wärst mit den anderen viel weiter vorne«, antwortete Craig, bevor Keira etwas hatten sagen können.

»Ich bin zurückgekommen. Die Anderen warten mit Jason.«

»Gut. Hilf mir Keira zu stützen, dann sollten wir wieder mit euch mithalten können.«

Craig war ständig an ihrer Seite geblieben. Sie war dankbar dafür gewesen. Er war die lebende Erinnerung an Janlan. Solange er an ihrer Seite war, konnte sie sicher sein, nicht den Verstand zu verlieren. Es war viel zu einfach zu glauben, dass Janlan für immer verloren war.

Unendlich viele Stunden schienen vorbeizuziehen und hatten immer mehr ihre Spuren hinterlassen. Keiras Kehle war bis dahin so ausgetrocknet gewesen, dass ihre Zunge sich schwerfällig und geschwollen anfühlte. Ihr Magen hatte das hungrige Knurren aufgegeben, sodass nur eine beißende Leere zurückgeblieben war. Sie hatte gewusst, dass es ihren Gefährten nicht anders erging. Sie hatte das Knurren ihrer Bäuche und das trockene Husten ihrer Lungen gehört.

»Nicht mehr lange ...«, hatte sie gemurmelt.

»Nicht mehr lange und dann was?«, hatte Craig fragend ihre Worte wiederholt. Sie konnte es noch ganz genau hören, als hätte er erst vor ein paar Sekunden gesprochen.

»Sonne«, war alles gewesen, was sie antwortete.

Ein Ruck war durch den Boden gefahren und von einem tosenden Meer an Geräuschen begleitet worden. Steine hatten aufeinander gerieben und waren übereinander und untereinander gerutscht. Dreck und Staub war in die Luft geschleudert worden und vereinte sich zu einer Wolke, die sich erbarmungslos durch den schmalen Tunnel auf die Jüngste Generation zugeschoben hatte. Sie hatten nicht davonrennen können. Nicht fliehen. Denn es hatte nur zwei Richtungen gegeben. Die eine nach vorne, dorthin, wo die Wolke ihren Ursprung hatte oder zurück, wohin die Staubwolke rollte und wo Leander wartete.

»Bedeckt eure Gesichter und legt euch sofort auf den Boden!«, hatte Craig befohlen. Er hatte Keira mit sich hinunter gerissen und schützte sie mit seinem Körper. Spitze Steine waren in der Wolke mit gerollt und hinterließen Kratzer auf den ungeschützten Stellen der vielen Körper. Die Luft war schwer gewesen und schien eine erdrückende Kraft zu besitzen. Keira hatte Augen und Lippen zusammengepresst und  nur hoffen können, dass es schnell vorbei sein würde. Schmirgelpapier war über ihren Körper gerast und hatte feine Staubkörper in ihrer Lunge platziert. Sie hatte nichts hören können, außer dem Sturm, der über sie hinweg fegte. Eine Ewigkeit war vergangen, bis sie es gewagt hatte, ihren Kopf ein wenig anzuheben. Sie war erstarrt, als sie tatsächlich etwas sehen konnte. Natürlich hatte sie genau deshalb ihren Kopf gehoben, aber bis dahin war der Tunnel so dunkel gewesen, dass es ein sinnloser menschlicher Instinkt gewesen war. Nie hätte sie vorher etwas erkennen können. Aber dort hatte sie gelegen. Neben Craig. Bedeckt mit einer Schicht von Staub, Dreck und kleinen Steinen. Sie hatte die Mitglieder der Jüngsten Generation sehen können. Clara und Jason, die nebeneinander kauerten und die Hand des anderen in einer festen Umklammerung hielten. Die Andere hatte schützend über ihren Köpfen gelegen. Licht war am Ende des Tunnels durch eine Öffnung geströmt, die vor dem Beben noch nicht da gewesen war. Hatte Leander das Beben verursacht? Keira kannte seine Fähigkeit, Erdspalten zu erschaffen, nur zu gut. Sie wusste, dass er die Macht dazu besaß, den Tunnel sogar aus Infernus heraus noch zu manipulieren. Wie sehr hatten sie es sich alle gewünscht, endlich wieder Licht zu sehen, nun war sich Keira nicht mehr sicher, ob sie wirklich wollte, dass dieser Wunsch in Erfüllung ging.

»Es ist vorbei«, hatte sie gehustet und sanft Craigs Schulter gedrückt. Auch er hatte husten müssen, bevor er die Kontrolle über seine Stimme zurückerlangte.

»Was zur Hölle war das bitte?«

»Das war ein Erdrutsch der uns mit Licht belohnt hat. Frag mich nicht, ob das Leanders Werk war, das weiß ich nicht. Noch nicht.«

Die Aussicht auf die Oberfläche hatte ihr wieder etwas mehr Kraft zurückgegeben.

»Alle okay?«

Als ein allgemein zustimmendes Murmeln erklungen war, hatte Keira sich etwas ungeschickt auf die Beine gekämpft und mit ihrem gesunden Arm den Rest der Staubwolke aus ihren Kleidern geklopft. Nur ein paar Sekunden später war das gleiche Geräusch auch von anderen Stellen erklungen. Sie hatte nicht darauf gewartet, dass Craig oder jemand anderes sie stützte. Keira hatte sich ihren Weg durch das verstreute Geröll gebahnt, wobei sie eine Hand immer am Schwertgriff hielt. Langsam und bereit auf fast alles, war sie näher an die Öffnung, die vor wenigen Minuten noch eine solide Mauer gewesen war, herangetreten. Der Stein war glatt weggebrochen. Erst weiter hinten im Tunnel waren die Steine unkontrolliert gefallen und gebrochen. Der ganze Erdrutsch, sowie die Staubwolke, waren die Resultate der dort veränderten Tunnelwand. Und diese war nicht auf natürliche Weise verändert worden.

»Leander?«, hatte Craig dann doch gefragt.

»Ich weiß‘ nicht. Es schien mir etwas zu unkontrolliert. Das ist merkwürdig. Der Erdrutsch hätte uns sehr wohl umbringen können. Zerquetscht von Steinen. Wenn er uns wieder gefangen nehmen wollte, hätte er das nicht riskiert. Und wenn er uns umbringen wollte, warum hat er dann einen glatten Ausgang geschaffen? Das passt nicht zusammen.«

Sie hatte die Augen zusammenkneifen müssen, als sie durch die Öffnung trat, viel zu lange waren sie in tiefer Dunkelheit gewesen und hatten bei der plötzlichen Konfrontation mit dem Licht gebrannt. Zuerst hatte sie nichts weiter als Schemen erkennen können. Helle Lichtflecken, die zur Decke hin immer größer wurden. Ansonsten hat sie nichts weiter ausmachen können. Keine aufrechten schwarzen Silhouetten, die von Menschen stammten, keine gekrümmten, die ein Erdwesen erzeugen würde. Da war nichts, außer dem grellen Licht gewesen.

»Wo sind wir?«, hatte Clara gefragt. Sie hatte eine Hand vor ihre Augen gehalten und versucht, einen Ausgleich zu schaffen. Immer wieder hatte sie geblinzelt. Keira hatte schon länger im Licht gestanden und konnte allmählich die Träne ausmachen, die sich aus Claras gereizten Augen drückte. Auch die anderen Mitglieder waren nacheinander durch die kleine Öffnung getreten und fanden sich neben Clara ein. Keiner von ihnen schien dem Licht gewachsen zu sein. Jeder von ihnen hatte die Augen zusammengekniffen und versucht etwas von dem Licht wieder zu verbannen.

»Ich bin mir nicht sicher.«

Der Kontrast, der sich ihr darbot, war fast schon komisch gewesen, hätte sie nicht all die Hintergrundinformationen, die sie hierher brachten, gewusst.

Der Raum, in dem sie alle standen, war aus einem hellen, fast schon weißen Sandstein gewesen, der unnatürlich glatt erschien. Er hatte das Licht reflektiert, das durch die vielen meterhohen Fenster fiel. Es war kein geschlossenes Gebäude gewesen. Keira hatte auch nicht geglaubt, dass es als Gebäude bezeichnet werden konnte. Denn als sie ihren Kopf zur Decke hob, war dort keine gewesen. Sondern nur eine breite runde Öffnung, die ihnen den Blick in den Himmel ermöglichte. Außerhalb der Fenster, wenn sie den Kopf richtig neigte, hatte sie das ungeschliffene, raue Äußere eines Berges erkennen können. Weiße Säulen hatten jede Wand gerahmt. Im  Kontrast dazu standen die Mitglieder der Jüngsten Generation. Sie waren dreckig, zerkratzt und blutig gewesen. Ihr ganzes Erscheinungsbild hatte vor dem reinen, hellen Stein nur noch armseliger gewirkt.

Sie hatten in einem Sechseck gestanden. In jeder Wand war eine Tür, in den Stein eingelassen.

 »Wir sind in der Spitze eines Berges. Soweit oben, dass wir einen 360 Grad Blick hätten, würden wir aus den Fenstern sehen können.«

»Wir sind in einem Berg? Das hier, dieser Raum soll in einem Berg sein?« Ein Junge, der vielleicht fünfzehn war, als Leander ihn entführen ließ, hatte diese ungläubigen Fragen gestellt. Keira hätte bei dem erstaunten Gesicht am liebsten angefangen zu grinsen. Die meisten Menschen kannten Magie nicht und dieser Junge kannte, wenn überhaupt, nur die dunkle Seite, die Leander verwendete. Es war ihr jedoch unmöglich erschienen, dass dieser Raum auf eine andere Art entstanden sein sollte. Er wirkte viel zu erhaben, zu beeindruckend, zu überirdisch um von bloßer Menschenhand entstanden zu sein.

»Ja, das denke ich«, war ihre sanfte Antwort gewesen. Sie war die starke Anführerin oder so wurde sie zumindest von den Meisten gesehen. Aber sie selbst sah sich nicht nur als Kriegerin. Als das wurde sie vielleicht geboren, doch es definierte sie nicht. Sie war immer noch eine junge Frau von zwanzig Jahren, die sich an dem verblüfften Ausdruck eines Jungen erfreuen konnte.

»Keira komm mal hier rüber«, hatte Craig sie ruhig aufgefordert. Er hatte an der gegenüberliegenden Wand gestanden und eine Stelle ein paar Zentimeter neben der Tür betrachtet. Von Weitem hatte sie nur ein paar dünne Vertiefungen im Stein ausmachen können. Als sie neben ihn trat erkannte sie dann die Vertiefungen, die ein Wort bildeten. Italien.

»Das ist noch nicht alles.« Er hatte auf etwas über dem Wort gedeutet. Keira hatte es nicht bemerkt, so gebannt war sie von dem Geschriebenen gewesen. Über dem Wort war eine weitere Vertiefung im Stein. Sie hatte die Form des Medaillons gehabt. Keira war sich sicher gewesen, dass, wenn sie es besäße, es perfekt in diese Vertiefung passen würde. Fast so, wie ihr und Janlans Wappenringe. War das ein Zufall gewesen?

»Das ist doch unmöglich«, war es ihr leise entfahren.

»Was hältst du dann von dem hier?«, hatte er gefragt und deutete auf eine weitere Vertiefung unter dem Wort. Sie war nicht so fein gearbeitet wie die anderen beiden. Sie hatte keine glatten weichen Kanten gehabt. Sie war grob in die Wand gehauen worden und ähnelte einer offenen Hand.

»Das war Leander«, hatte sie gesagt, ohne darüber nachzudenken. Sie ließ Craig keine Zeit, auf ihren Kommentar zu antworten, sondern war zur Tür rechts von dieser gegangen. Dort hatte sie ein weiteres Wort gefunden, eine Vertiefung des Medaillons und den Abdruck der Hand. Diese Tür hatte das Wort Frankreich an ihrer Seite getragen. Immer schneller war Keira die Wände entlang gelaufen. Jedes Mal hatten ihre Augen das gleiche gesehen: Den Namen eines Landes, das Medaillon und die Hand. Vor einer Tür hatte sie kurz verharrt, war dann aber weiter zur nächsten gegangen.

»Italien, Frankreich, Schweiz, Deutschland, und Österreich. Das sind die Länder, zu denen die Türen mit einer Vertiefung des Medaillons und der einer Hand führen.«

Sie hatte zu niemand bestimmtem gesprochen, auch wenn alle ihr ganz genau zuhörten. Jason war einen Schritt vorgetreten. Sein braunes Haar hatte in dem Licht etwas rötlicher ausgesehen und seine Haut etwas durchscheinender gewirkt, als für ihn normal war.

»Und was ist mit der sechsten Tür?«

»Die sechste Tür … führt uns nach Hause-«

Keira war von kleinen Jubellauten übertönt worden, sodass niemand es hörte, als sie sagte: »Und es ist die Einzige, die weder das Medaillon, noch die Hand zum Öffnen braucht.«

Es war ein Detail, das  Keira mehr gesagt hatte, als alles andere, was man in diesem Raum hätte platzieren können. Es sagte ihr, dass dieser Raum wahrscheinlich von dem Orden geschaffen wurde. Dass es ein zentraler Knotenpunkt zu den ganzen Ländern rund um Alanien gewesen war. Und es sagte ihr auch, dass Leander ihn genauso missbrauchte, wie das Medaillon und seine Magie. Er hatte alle anderen Türen für den Rest von Alanien verschlossen. Keiner würde sie öffnen können, dessen war sie sich sicher gewesen. Sie hatte nicht einmal den Drang verspürt, ihre Vermutung zu bestätigen. Sie hatte einfach gewusst, dass sie Recht hatte. Und wenn Leander dort für die Abkapselung Alaniens verantwortlich gewesen war, so war er es sicher auch für die komplette Abtrennung vom Rest der Welt. Warum hatte er ihnen diesen Raum gezeigt? Warum gab er ihnen einen Ausweg? Was hatte er bezweckt?

»Dann können wir jetzt Heim gehen?«, fragte der Junge, der schon einmal so mutig gewesen war und ihre Anführerin, Keira Kanterra, die Schützerin von Janlan Alverra, eine Frage gestellt hatte. Dieses Mal hatte sie wirklich grinsen müssen, auch wenn sie die Traurigkeit darin nur zu deutlich spürte und sie wusste, dass sie zumindest Craig nicht entgangen war.

»Ja, jetzt können wir nach Hause gehen.«

»Wenn es doch nur so einfach wäre«, war Keiras bitterer Gedanke gewesen. Ihr stand ein Krieg bevor und ihre beste Freundin hatte sich einem Monster ausgeliefert, um Keira die Chance zu geben, die Menschen vor diesem Krieg zu warnen. Keira hatte Craigs Hand auf ihrer Schulter gespürt und sich zu der Tür, neben der Alanien in die Wand gehauen stand, umgewandt.

Die schwer aussehende Tür hatte sich mühelos öffnen lassen und den Weg in einen weiteren Tunnel freigegeben. Doch dieser hatte einen festen Boden und glatte Wände, die ganz ähnlich bearbeitet waren, wie die des Raums. Ein erleichterter, leiser Seufzer war Keiras Kehle entwichen, als sie die regelmäßigen Fackeln gesehen hatte, die mit einem Mal entflammt waren und ihr warmes Licht durch den Tunnel flackern ließen.

»Ich finde einen Weg zurück«, hatte sie zu sich selbst gemurmelt, bevor sie den Tunnel betrat und merklich Leanders Reich verließ.

Eine Ewigkeit waren sie durch den Tunnel gelaufen, der sie zum Fuß eines Berges brachte und sie der Welt zurückgab. Clara hatte die Weitsicht gehabt, ihr Handy nie wieder einzuschalten, nachdem sie sich eingestehen musste, dass sie in Infernus keinen Empfang hatte. So war es Keira möglich gewesen, Ryan sofort anzurufen, als sie aus dem Tunnel traten. Ryans Überraschung und Freude waren unüberhörbar gewesen, als er an sein Handy ging und Keiras Stimme aus den Lautsprechern erklang. »Ich habe gehofft dass du noch am Leben bist. Wo bist du? Ist Janlan auch bei dir? Wir haben von niemandem etwas über euch gehört.« Keira hatte es schwer gehabt, seinen Schwall an Fragen zu unterbrechen, um auch nur eine Antwort unterbringen zu können. Schnell hatte Ryan festgestellt, dass sie sich nur wenige Kilometer außerhalb von Galin befanden. Es war das Beste, worauf sie hatten hoffen können. Galin war immer noch der Stützpunkt des ehemaligen Widerstands. Ryan hatte ihnen versprochen, sofort mit mehreren Helikoptern loszufliegen und sie alle in die Stadt zu bringen. Sie war so erleichtert gewesen, dass sie am liebsten angefangen hätte zu weinen. Sie war so erschöpft gewesen und so hungrig, dass sie sich nicht einmal mehr sicher war, wie sie sich überhaupt noch auf ihren Beinen halten konnte. Dass sie alle überhaupt noch standen, atmeten und tatsächlich in der Lage waren, auf die Helikopter zu warten, war ein Wunder gewesen. Sie hatten schon ihr ganzes Wasser aufgebraucht, als sie den sechseckigen Raum erreicht hatten. Nie hätten sie es zum anderen Ende des Tunnels, nach Alanien, geschafft, ohne zu verdursten, wenn da nicht die kleinen Brunnen gewesen wären, die immer wieder in der Wand eingelassen waren und klares, kaltes Wasser bereithielten. Keira war regelrecht in Ryans Arme gefallen, als dieser aus einem der Helikopter sprang und zu ihr eilte. Es war alles andere, als eine Szene aus einem Hollywoodfilm. Da war kein leidenschaftlicher Kuss gewesen, keine Umarmung, die die Welt anzuhalten schien. Kein wunderschönes Paar, das alle anderen in den Schatten stellte. Keira hatte Ryan gerade noch begrüßen können, bevor auch der letzte Rest ihrer Kraft aus ihrem Körper gesickert war und die ganze körperliche und geistige Anstrengung die Kontrolle, die sie so lange umklammert hatte, übernahm. Ryan hatte sie nur noch auffangen können, als ihre Knie nachgaben. Keira erinnerte sich kaum noch daran, wie sie auf dem Dach eines Hotels aus dem Helikopter stieg und den Weg in eine der großen Suiten fand.

Die Suite, die sie seit dem Tag an dem sie feststellen musste, dass es der zehnte August war, nicht mehr verlassen hatte. Der fünfzehnte war der Tag, vor dem sie sich so fürchtete. Von dem sie nicht wusste, wie sie ihn überstehen sollte. Der fünfzehnte war Janlans zwanzigster Geburtstag. Sie hatten schon so viele Pläne gehabt, so viele Ideen, wie sie ihn am besten feiern könnten. An Keiras eigenem zwanzigstem Geburtstag waren sie alle in ein wunderschönes Hotel in Weralt gefahren, das weit über den Baumkronen lag und einen unglaublichen Ausblick bot. Es war ein perfekter Geburtstag. Sie und Janlan waren glücklich gewesen. Glücklich in dem Glauben, dass die Welt sicher war. Glücklich mit ihren Partnern. Sie hatte Janlan einen ebenso schönen Tag machen wollen. Sie davon ablenken, dass sie keine Familie hatte, die sie umrankte und ihr gratulierte. Sie hatte ihr zeigen wollen, dass sie alle ihre Familie waren. Dass die Welt perfekt sein konnte, für eine kurze Zeit zumindest und nun... Wo war Janlan jetzt? Einen Tag vor ihrem Geburtstag? Sie hatte alles aufgegeben. Alle von sich gestoßen, die sie liebte und die ihr so viel bedeuteten. Sie hatte ihren eigenen freien Willen geopfert, ihr Leben unter der Sonne. Und wofür? Damit Keira die Menschheit vor einem Krieg warnen konnte, an den niemand glauben wollte. Damit sie die Chance hatte, etwas Unmögliches zu erreichen. »Rette die Welt.« Wie sollte sie die Welt retten, wenn diese nicht einmal wusste, dass ihr Ende bevorstand? Keira sackte auf dem elfenbeinweißen Sofa zusammen, das die Mitte des kreisrunden Raumes einnahm, der an einer Seite gänzlich verglast war. Sie hatte keine Augen für den Ausblick, den dieses Fenster gewährte. Sie hatte keine Augen für irgendetwas anderes, als die Zukunft, die ihr so unglaublich düster erschien. Sie merkte schon nicht mehr, wie sie anfing zu weinen. Sie hatte es in den letzten Tagen so oft getan, dass ihr Gesicht eine ständige Röte hatte. Sie trug einen Pyjama, den Ryan ihr in der Hotelboutique gekauft hatte und darüber einen dieser unglaublich weichen Bademäntel. Sie vergrub gerade ihr Gesicht in ihren Händen, als es leise an der Tür klopfte. Sie wollte keinen Besuch. Niemanden sehen und mit niemanden reden. Sie fühlte sich völlig verloren, gar nicht wie die Keira, die Janlan und, ja sogar sie selbst kannte. Sie war eigentlich nicht so. So war nicht schwach, nicht unsicher, nicht weinerlich und doch saß sie hier und hatte jede Hoffnung eigentlich schon aufgegeben. Sie erkannte sich selbst nicht. War sie nicht immer die besonders starke von ihnen beiden. Diejenige, die Pläne entwickelte, wenn es aussichtslos schien. Diejenige, die sich lieber einem Kampf stellte, als davonzurennen. Diejenige, die einen Ausweg aus der Gefangenschaft des Zirkels gefunden hatte? Oder war das überhaupt nicht sie gewesen? Waren sie dort nie wirklich gefangen? War das auch schon ein Teil von Leanders Plan gewesen? Hatte er gewusst, dass sie Janlan befreien würde, egal um welchen Preis? Wie sollte sie wissen, was noch Wahrheit war und was die eingefädelten Ereignisse von Leander? Wie sollte sie noch an irgendetwas glauben können? Und wenn es ihr so erging, wie musste sich dann erst Janlan fühlen? Janlan, die so gutherzig war, so mitfühlend, so liebevoll und so verschlossen. Wie fühlte sie sich, wissend, dass alles, was sie im letzten Jahr durchlebt, alles was sie überstanden, alles was sie erreicht hatte, nur ein winziger Schachzug in Leanders Spiel war. Neue Tränen strömten aus ihren Augen und verwischten ihre Sicht. Sie brannten auf ihrer geschunden und gereizten Haut. Die Brust schnürte sich ihr zu und sie bekam Angst, zu hyperventilieren. Was war bloß los mit ihr? Erneut klopfte es an der Tür. Sie hatte schon wieder ganz vergessen, dass dort jemand stand, der darauf wartete, dass sie ihn hereinbat.

»Ja—«, war alles, was sie herausbrachte, bevor ihre Stimme abbrach und nur noch ein leises Kratzen herauskam.

»Keira? Ich bin‘s Ryan.«

Fast hätte sie angefangen albern zu kichern. Etwas, was so absurd war in ihrem jetzigen Gemütszustand, dass es nur dafür sprach, wie weit sie wirklich neben sich stand. Ryan war immer so höflich. Als ob sie ihn nicht schon an seiner Stimme erkennen würde. Und überhaupt, dass er so lange darauf wartete, dass sie ihn hereinbat.

»Jetzt komm schon rein, Ryan«, sagte Keira, als sie ihr Kichern unter Kontrolle hatte. Ryan kam direkt zu ihr und setzte sich neben sie auf das gemütliche Sofa. Er nahm sie in den Arm, ohne etwas zu sagen. Keira hatte nicht gewusst, wie sehr sie sich nach einer Umarmung gesehnt hatte, bis sie sich völlig in Ryans verlor. Es tat gut, seine Nähe zu spüren, doch es war nur ein kleiner Trost, der sie nicht lange würde beruhigen können.

»Geht es dir etwas besser?«, flüsterte er ihr leise fragend ins Ohr. Keira vergrub ihr Gesicht nur noch mehr in seiner Schulter und fuhr mit ihren Fingern durch sein blondes Haar, bevor sie kaum merklich den Kopf schüttelte.

»Ich kann an nichts anderes denken, als Janlans Geburtstag morgen. Sie ist in jedem meiner Gedanken und ich fühle mich so unglaublich machtlos. Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Wie ich sie retten soll.«

Ryan bewegte sich unruhig und löste sich dann vorsichtig von Keira. Als sie in sein Gesicht sah, wurde ihr noch etwas übler.

»Keira... heute ist der fünfzehnte.«

Er sagte es so sachte, dass es deutlich war, wie besorgt er um sie war. Wie behutsam er sie berührte. Wie vorsichtig er mit ihr umging, das alles zeigte ihr nur noch mehr, dass sie sich nicht wie sie selbst verhielt.

»Wie ... Nein, heute ist der vierzehnte.«

Ryan schüttelte traurig den Kopf.

»Nein Keira. Es ist der fünfzehnte, deshalb bin ich gekommen. Ich wollte sehen, wie es dir damit geht. Vielleicht bist du leicht durcheinander gekommen, weil du so viel geschlafen hast.«

Er küsste sie vorsichtig auf die Stirn, bevor er wieder ihre braun-grünen Augen fixierte.

»Kann ich irgendetwas für dich tun?«

Keira fühlte sich, als hätte ihr gerade jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.

»Es ist wirklich der fünfzehnte?«, fragte sie noch einmal ungläubig nach. Ryan nickte nur. Wie hatte sie einen ganzen Tag verlieren können?

»Wo... wo ist Craig?«

Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und die Gefühle zu ersticken, die sich gewaltsam an die Oberfläche drücken wollten. Wie meist, wenn Keira sich mit einer Situation konfrontiert sah, die sie als bedrohlich oder unangenehm empfand, suchten ihre Hände die Griffe ihrer Schwerter. Sie langten jedoch ins Leere. Ihre Schwerter lagen unachtsam in einer Ecke ihres Schlafzimmers. Sie waren noch völlig verdreckt und blutig. Sie hatte es bisher nicht über sich gebracht, sie zu putzen. Das würde sie viel zu sehr an den Kampf an der Statue und ihre anschließende Flucht erinnern. Sie trug immer noch einen Verband an ihrem Arm, wo ein Dolch eines Erdwesens eine tiefe Schnittwunde hinterlassen hatte. Ein erneuter Kuss auf ihre Stirn holte sie wieder zurück, aus ihren immer dunkler werdenden Gedanken. Es war wie ein Sog, dem sie kaum entkommen konnte, wenn sie sich einmal an seinen Ausläufen befand.

»Bist du noch bei mir?«, erkundigte sich Ryan sanft. Keira schluckte und versuchte, den stechenden Kloß in ihrem Hals wieder hinunter zu drücken. Sie wollte nicht erneut anfangen zu weinen. Nicht jetzt, wo ihre Tränen endlich für einen Moment versiegt waren.

»Ja, natürlich ... Hast du mir gesagt wo Craig ist?«

Ryan seufzte kaum hörbar. Keira bekam es nur durch das plötzlich stärkere Heben seines Brustkorbs mit.

»Ich habe ihn kurz im Flur gesehen, als ich auf dem Weg zu dir war. Ich wollte mit ihm reden, ihn fragen, wie er mit dem Tag heute klarkommt und ihm meine Gesellschaft anbieten. Aber er verhält sich fast genauso merkwürdig wie du-«

Ryan stockte, als im klar wurde, was er eben gesagt hatte. So viel hatte er nicht sagen wollen, das war Keira klar.

»Ich-, Keira-, Entschuldige«, murmelte er, plötzlich überfordert, vor sich hin. Er wollte gerade wieder anfangen, etwas zu sagen, als sie ihm zuvor kam.

»Du hast Recht. Ich verhalte mich merkwürdig. Das weiß ich selbst. Ich weiß nur nicht, wo es herkommt. Ich fühle mich in meiner eigenen Haut unwohl. Ich fühle mich nicht, wie ich. Ich weiß auch nicht-«, sie unterbrach sich. Sie wusste nicht was sie sagen, oder wie sie es genauer erklären sollte. »Wo wollte Craig hin?«

Sie versuchte, wieder zu Craig zurückzugehen, um ihre Gedanken nicht erneut in einem unerträglichen Netz zu verlieren.

»Ich glaube, er wollte hoch auf das Dach. Aber ich weiß es nicht genau.«

Sie nickte und schaffte es, sich zum Aufstehen zu bringen. Nur langsam löste sie sich ganz aus Ryans Armen und lief zu der Tür, hinter der sich das teuer möblierte Schlafzimmer befand. Bevor sie das Zimmer betrat, sagte sie über ihre Schulter zu Ryan, der sich nicht bewegt hatte: »Warte kurz, dann ziehe ich mich um und wir gehen ihn suchen.«

Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern zog die Tür hinter sich zu. Sie hatte etwas zu tun und das war gut. Es fühlte sich an, als würde sie einen Teil ihrer Kontrolle zurückerlangen und etwas mehr Keira sein, als diese schwarze Hülle, die sie die letzten Tage beherrscht hatte. Sie holte eine Jeans aus dem Schrank, die mehrere gewollte Risse und Löcher hatte. Sie zog das erstbeste Oberteil an, das ihr in die Hände fiel. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel, der über einer Art Schminktisch aufgehängt war und sah sofort wieder weg. Ihr Gesicht sah furchtbar aus, rot und aufgequollen. Normalerweise würde sie so nie ihr Zimmer verlassen und zumindest ein wenig Make-up auftragen, um nicht wie ein Zombie auszusehen, doch danach war ihr nicht. Es war ihr sogar egal, ob sie jemand so sah. Was sollte es sie kümmern? Sie hatte weitaus größere Sorgen, als die Meinung von Wildfremden auf dem Hotelflur.

Wenige Minuten später betrat sie, Ryans Finger mit ihren verschränkt, die Dachterrasse. Ein strahlendes Blau erstreckte sich über alle Himmelsrichtungen und empfing sie wie ein hoffnungsvoller Silberstreifen. Die Dachterrasse war ein unerwartet grüner Punkt, mitten in einer grauen Stadt. Weiße Steinwege führten zu den verschiedensten Plätzen. Manche mehr hinter Pflanzen versteckt als andere. In der Mitte der Terrasse konnte sie einen achteckigen Pavillon sehen, der aus verschnörkelten Metallmustern bestand und von zwei verschiedenen Arten von Kletterpflanzen umrankt war. Kleine Farbflecke leuchteten ihr entgegen und zeugten von unzähligen Blüten. Saftiges, grünes Moos bedeckte naturbelassene große Steine, die immer wieder einen netten Bruch in die Reihen aus Blumen brachten. Lavendel säumte den Weg auf dem sie gerade lief. Keira war sich sicher, dass Craig sie kommen hörte, immerhin knirschten die kleinen weißen Steine unter ihren Füßen. Dennoch zeigte er keine Reaktion auf ihre Ankunft. Er stand völlig regungslos da und sah weiter unbeeindruckt in die Ferne.

»Craig?«, fragte sie vorsichtig. Er dreht sich kurz zu ihr, zog eine Augenbraue kaum merklich hoch und wandte sich dann wieder von ihr ab. Jetzt wusste Keira ganz genau, was Ryan mit merkwürdig gemeint hatte.

»Du siehst nicht gerade wie du selbst aus«, sagte er ohne auch nur wieder in ihre Richtung zu sehen. Dieser Satz brachte Keira völlig unerwartet aus der Fassung. Sie hatte Craig nicht mehr gesehen, seit sie aus den Helikoptern gestiegen waren. Wie konnte er das wissen? Sie sah vielleicht nicht aus wie sonst, aber das war es nicht, was er meinte. Man hätte es so verstehen können, aber so hatte er es definitiv nicht gemeint. Er meinte genau das, was sie fühlte. Unbewusst hatte sie ihren Griff um Ryans Hand verstärkt, sodass dieser einmal kurz zischend Luft holte. Keira bekam es nur am Rande mit.

»Woher weißt du das? Wie meinst du das?«, brachte sie heraus, als sie sich ein wenig gefangen hatte. Er zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Ich weiß es einfach.«

Er sah sie immer noch nicht an. Was langsam, aber sicher ihr Temperament zurück an die Oberfläche holte. Sie amtete kontrolliert ein und aus, um es zumindest noch für einen Augenblick zu zügeln.

»Craig«, sagte sie betont ruhig, »es wäre nett wenn du mich ansehen würdest.«

»Ich würde dich ja doch nicht sehen«, gab er ungerührt zurück.«

Merkwürdig, war mehr als untertrieben, wie Keira nun beschloss. Was ging hier bloß vor sich? Was war mit Craig los? Und was war mit ihr?

»Und das soll heißen?« Ein hitziger Unterton hatte sich ungewollt in ihre Stimme geschlichen. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Ryan den Mund öffnete um etwas zu sagen, Keira schüttelte nur warnend den Kopf, woraufhin er völlig stumm blieb.

»Keira, ich möchte nicht reden. Ich möchte dich nicht sehen und ich möchte auch nicht sie in dir gespiegelt sehen.«

Wut und völliges Unverständnis krochen in Keiras Brust empor und schnürten jede andere Emotion ab. Sie verstand nicht, was er meinte, aber ihr Stolz und der Gedanke an sie — wie Craig Janlan benannt hatte — ließen es nicht zu, dass sie erneut nachfragte. Einmal war mehr als genug. »Du bist nicht der einzige, der Janlan verloren hat!«, fauchte sie.

Dass er sich auch bei diesen Worten nicht zu ihr drehte, raubte ihr fast den letzten Funken der Selbstbeherrschung. Sie hörte gerade noch seine Antwort, als sie sich auf der Stelle umdrehte und mit Ryan an ihrer Seite davon stürmte.

»Doch, das bin ich.«