Die Reihe

Franziska Steinhauer

Katzmann und das verschwundene Kind

Der erste Fall

(Es geschah in Sachsen 1918)

Uwe Schimunek

Katzmann und die Dämonen des Krieges

Der zweite Fall

(Es geschah in Sachsen 1920)

Jan Eik

Katzmann und das schweigende Dorf

Der dritte Fall

(Es geschah in Sachsen 1922)

Weitere Titel sind in Vorbereitung

Jan Eik, geboren 1940 in Berlin als Helmut Eikermann, verlebte einen Teil seiner Kindheit wie seiner Studentenzeit in Thüringen und Sachsen. Seit 1987 ist er freiberuflicher Autor und Publizist in Berlin. Er schrieb zahlreiche Kriminalromane und -erzählungen sowie Hör- und Fernsehspiele. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u. a. «Der siebente Winter» (1989), «Der Geist des Hauses» (Ein Friedrichstadtpalastkrimi, 1998) und «Trügerische Feste» (2006). Im Jaron Verlag erschienen «Schaurige Geschichten aus Berlin» (2007), «Der Berliner Jargon» (2009) und «DDR-Deutsch» (2010) sowie die Krimis «Der Ehrenmord» (2007), «Nach Verdun» (2008, mit Horst Bosetzky), «Goldmacher» (2009), «Am Tag, als Walter Ulbricht starb» (2010, mit Horst Bosetzky) und «In der Falle» (2011).

Originalausgabe

1. Auflage 2011

© 2011 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520526

cover

Jan Eik

Katzmann und das
schweigende Dorf

Der dritte Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

Widmung

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

Die Reihe

EINS

ER FÜHLTE nach dem Päckchen an seiner Brust. Alles in Ordnung. Beruhigt und ohne auf den Zustand des schlammigen Weges zu achten, schritt er dem verhängnisvollen Ort entgegen. In seiner Kindheit hatte er sich dem schütteren Wäldchen nie anders als mit Beklommenheit genähert, die oft wiederholte Erzählung des Großvaters vom grässlichen Mord im Rauber im Ohr. Dessen eigener Großvater war nämlich, wie der Alte anschaulich zu berichten wusste, als sei er dabei gewesen, eines schrecklichen Tages in jenem Raubwald erschlagen und beraubt worden, von drei miteinander verschworenen Knechten, die man bald ergriff. Der Mörder hatte sich vor dem Prozess umgebracht.

An die hundert Jahre mochte das her sein. Der Rauber hieß seit alten Zeiten so, weil es der Sage nach hier einst eine Raubritterburg gegeben hatte. Wälle und eingestürzte Gänge ließen sich in der nahen Flur und zwischen den Bäumen als schwache Bodenwellen mutmaßen.

Der Gutsbesitzer Ferdinand Geisler war nicht abergläubisch, ihn schreckten weder die Geister des gemeuchelten Urahns noch die der Mörder. Vergessen konnte er die Geschichte aber nie. Der ertragreichste Schlag seiner 120 Morgen Land grenzte an das Gehölz, Rest einer ausgedehnten Waldfläche, die sich einst bis ins Sächsische hinüber erstreckt hatte. Jedes Mal, wenn er beim Pflügen wendete und hinter der Hügelkuppe die Baumwipfel auftauchten, kam ihm unweigerlich der Mord in den Sinn.

So sprang ihn die Erinnerung auch an diesem diesigen Märzmorgen nicht unerwartet an, als sich der dunkle Waldsaum vor ihm schemenhaft gegen die aufsteigende Dämmerung abhob. Feuchte Schwaden wehten über das Land. Der lehmige Fahrweg, die einzige Verbindung zur nächsten Stadt, bestand aus eisgläsern überzogenen Pfützen, tief ausgefahrenen Fuhrwerksrinnen und nassen Schneeresten, in denen sich gelegentlich ein Stiefelabdruck abzeichnete. Hatte es einer noch eiliger gehabt als er, in die Stadt zu gelangen?

Dass er sich nach dem Ausmisten und Füttern heimlich davongemacht hatte, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, beunruhigte ihn nicht. Die Familie war seine Eigenmächtigkeiten gewöhnt. Der Gedanke an das Geld allerdings, das er gut verwahrt in der Brusttasche spürte, bewirkte ein unbehagliches Gefühl in seinem Magen, wie er es kannte, wenn er es aus gewissen Gründen seiner Anni gegenüber an Aufrichtigkeit fehlen ließ oder bei anderer Gelegenheit gezwungen war, etwas zu tun, das ihm widerstrebte. War es wirklich richtig, was er vorhatte?

Die Frage hatte er sich, der Frau, dem greisen Vater Heinrich und dem eigenen Sohn in den letzten Monaten oft genug gestellt. Alle hatten sie mit nein beantwortet. Geld war Geld und blieb es, mochte auswärts mit dem Dollar geschehen, was da wollte. Das Deutsche Reich blieb immer noch ein deutsches Reich, selbst auf den Briefmarken. Die waren teurer geworden wie alles andere auch.

Am Anfang des Krieges waren allerlei Gerüchte umgegangen über den Verfall des Papiergeldes. Es hatte dennoch Wert behalten. Zumindest einen Teil davon. Daran erinnerte ihn der Alte, der in seinem 77-jährigen Leben manchen Preisverfall und manche Teuerung erlebt und überstanden hatte. Lass nur richtig Frieden werden, und alles renkt sich wieder ein, behauptete er hartnäckig. Die Städter brauchen allemal ihr Fressen, und das kriegen sie von uns - zu Preisen, die letztlich wir bestimmen.

Auf Dauer sah es danach ebenso wenig aus wie nach wirklichem Frieden. Allerorten rumorte es. In den Städten hatten sie eine Revolution angezettelt, der sächsische König hatte sich wütend davongemacht und musste, ebenso wie der Herzog Ernst in Altenburg, abdanken. Ruhe oder gar Frieden war nicht eingetreten. Im Gegenteil. Marodierende Banden zogen durch Sachsen, politischer Hader breitete sich aus bis aufs platte Land, Freikorps und andere vaterländische Vereine warben heimlich oder offen um Mitgliedschaft.

Ungerührt stapfte Ferdinand Geisler in seinen derben Winterstiefeln und seinem o-beinigen Bauerngang den vertrauten Weg entlang.

Platt war das Land hier nicht, Wulkersbach lag an den Hängen des letzten sachsen-altenburgischen, nunmehr thüringischen Tals vor der Landesgrenze zum ehemaligen Königreich Sachsen. Böswillige nannten es ein vergessenes Dorf. Zwei Meilen bis Amerika, entgegneten darauf die Einheimischen und ergötzten sich an den dummen Gesichtern der Unwissenden. Ein paar Kilometer hinter der nächsten sächsischen Kleinstadt Penig nämlich lag die Bahnstation Amerika. Wer gut zu Fuß war, konnte in zwei Stunden von Wulkersbach ins Gelobte Land gelangen. Jedenfalls dem Namen nach, der immer noch einen magischen Klang ausstrahlte.

In seiner Jugend hatte auch Ferdinand Geisler dem Traum von Amerika angehangen und die Reiseerzählungen des gescheiterten Lehrers aus dem nahen Hohenstein-Ernstthal verschlungen. Noch mehr als Karl May aber liebte er die deutschen Heldensagen. Sein Vater hatte ihn nicht an der Lektüre gehindert, solange die Arbeit auf dem Hof nicht darunter litt. Heinrich Geisler war selbst ein belesener Mann, weit herumgekommen für einen Bauern aus dem abgelegenen Wulkersbach. Bei den Ulanen hatte er gedient und mit den Österreichern gegen die Preußen gekämpft. 1871 war er bis nach Paris gelangt, wovon er bis heute schwärmte. Dass die deutschen Truppen es im Weltkrieg nicht bis dorthin geschafft hatten, nahm er jedem einzelnen Soldaten übel. Vielleicht lag es ja an der preußischen Führung. Das bisschen Schlacht wie seinerzeit 1870/71 hätten sie mit etwas gutem Willen allemal gewinnen müssen!

Die Jugend war nicht viel wert in Heinrichs Augen, wobei er den eigenen Sohn Ferdinand kaum ausnahm, dem er den Hof nur schweren Herzens überschrieben hatte. Ferdinand war dem Krieg mit knapper Not entgangen - anders als der jüngere Sohn Eberhard. Heinrich war stiller geworden, als auch der Enkel und Erbe Siegfried verwundet heimkehrte und sich in Wulkersbach die Todesmeldungen aus Verdun und von der Marne mehrten. Eine schwache Generation blieb es in Heinrichs Augen dennoch, die da übrig geblieben war und all das Unglück verschuldete, das in den letzten sieben Jahren über das Land gekommen war.

Die magische Zahl sieben wiederum beruhigte den durchaus nicht tiefgläubigen, wohl aber bibelfesten Heinrich Geisler. Mussten auf die sieben bedrückenden und mageren Jahre nicht unweigerlich sieben fette voller Glück folgen? Darüber waren Vater und Sohn und schließlich auch der Enkel Siegfried manchen Abend in Streit geraten. Noch nie ist es uns besser gegangen als jetzt, behauptete Ferdinand, der die fetten Jahre ab 1919/20 datierte, was Heinrich nicht gelten lassen wollte. Fette Jahre - das bedeutete für ihn die Rückkehr der guten alten Zeit, der wertbeständigen Goldmark und des hochgeschätzten Herzogs Ernst II. Nicht von ungefähr hieß das Wolfersdorfer Schloss, in das der Herzog jüngst heimgekehrt war, «Fröhliche Wiederkunft».

In der fahlen Morgendämmerung grinste Ferdinand wölfisch vor sich hin. Das war alles blanker Unsinn, der Alte wurde langsam wunderlich. Dickköpfig waren die Geislers alle. Für einen Augenblick überkam Ferdinand der Zorn auf die aufsässige Tochter Lydia, mit der er ein ernstes Wort reden musste. Dass auch der Sohn Siegfried, auf den er alle seine Hoffnungen setzte, an eine golden verklärte Zukunft glaubte, statt das gesunde bäuerliche Misstrauen der Geislers zu empfinden, schmerzte ebenso. Wie es mal mit dem Hof enden sollte, war Ferdinand unklar. Der Junge, so kräftig er zupacken konnte, war eigentlich kein Bauer. Ein Grübler und Stubenhocker eher, der Stunden über Büchern verbrachte und gerne zeichnete. Kein Wunder, dass er keine passende Frau gefunden hatte. Ihm fehlte einfach der Sinn für die harte Realität des Lebens. Der Krieg und das Lazarett hatten nichts daran geändert.

Viel lieber hätte es Ferdinand gesehen, an diesem Morgen von Siegfried begleitet zu werden. Er war nun fast am Rauber angelangt, der sich rechts von ihm als ein dunkler Riegel gegen das Himmelsgrau abhob. Hinter den Büschen und Bäumen, die bis an den Fahrweg heranreichten, bog der helle Sandstreifen nach Osten ab und führte auf die Chaussee zu. Hier verlief die Landesgrenze, und hier war der Ururahn erschlagen worden.

Die Feuchtigkeit war in einen leichten Nieselregen übergegangen. Ferdinand schlug den Kragen seiner derben Joppe hoch und zog die Mütze tiefer ins Gesicht. Wahrscheinlich bemerkte er deshalb die Gestalt nicht, die im Buschwerk kauerte und mit drei Sätzen hinter ihm war. Er spürte nur den grellen Schmerz tief unter dem linken Schulterblatt und dann ein beinahe beruhigendes Gefühl, als ströme alle Körperflüssigkeit zu einem einzigen Punkt. Blendend hell wurde es vor seinen Augen. Der Schnee, dachte er. Und dann nichts mehr.

ZWEI

MISSBILLIGEND, ja fast anklagend blickte Harry bei jeder tiefen Pfütze und bei jeder Unebenheit aus dem schwankenden Beiwagen zu Konrad auf. Der konnte sich nicht auf die gekränkten Empfindungen seines Passagiers konzentrieren, erforderte der zerkarrte Fahrweg doch seine ganze Aufmerksamkeit. Zwei Tage lang hatte es fast ununterbrochen geregnet, und so sah die Straße von Meffersdorf nach Berkersbach auch aus.

Konrad Benno Katzmann hielt auf die weithin sichtbare Pappel zu, die seit jeher die Zufahrt nach Wulkersbach markierte. Denn die unbefestigte Straße, die sich in zwei weiten Schleifen durch den Ort wand, führte zu ebendieser Pappel zurück und nirgendwo sonst hin. Es gab noch ein blindes Ende zum Gerstnerschen Gehöft auf der jenseitigen Anhöhe und ein weiteres geradeaus zum Waldhang, an dessen Grund der Wulkersbach romantisch dahinrauschte, solange er kein Hochwasser führte, wie jetzt vermutlich.

Der Zustand des Fahrwegs und die beleidigte Reaktion seines Begleiters hielten Konrad nicht davon ab, sich auf Wulkersbach zu freuen. Er war mindestens zwei Jahre nicht in dem beschaulichen Örtchen gewesen, mit dem ihn viele Erinnerungen verbanden. Angenehme zumeist. Deshalb hatte er den kleinen Umweg eingeplant. Er kam aus Zwickau, wohin ihn die Berichterstattung über den Prozess gegen einen Spritschieber für drei Tage verschlagen hatte. Gleich nach der Urteilsverkündung war es ihm gelungen, seinen Abschlussbericht telephonisch nach Leipzig zu übermitteln, und Eugen Leistner hatte ihn gebeten, bei Gelegenheit in Leipzig vorbeizuschauen, es gäbe da einiges zu bereden, was sich schlecht zwischen den knatternden Unterbrechungen über die Fernsprechleitungen mitteilen ließ.

Eugen Leistner war der für ihn zuständige Redakteur der Leipziger Volkszeitung, Konrad Katzmann deren Dresdner Korrespondent und Harry sein treuer und an das Motorradfahren gewöhnter Terrier, den er im November 1918 aus der Elbe gerettet hatte und der ihn seitdem begleitete. Auch nach Zwickau und jetzt nach Wulkersbach, das von der einsamen Pappel an der Wegkreuzung aus gut zu überblicken war.

Konrad drosselte die ohnehin geringe Geschwindigkeit seiner 1000er NSU und hielt auf der dürftigen Grasnarbe zwischen dem steinernen Wegweiser und der Pappel. Harry belohnte ihn mit einem dankbaren Blick. «Wir sind gleich da», beruhigte ihn Konrad. Nur ein paar Hundert Meter weiter lag sein Ziel in einer kleinen Senke, der Geislersche Hof. Das vierte Gehöft von siebzehn, aus denen Wulkersbach bestand - sah man von der Schmiede, dem Dorfkrug und dem schmalen Haus des Küsters ab. Und von der anscheinend frisch geweißten Kirche mit dem schiefergedeckten Zwiebelturm, die aus dem Talgrund heraufleuchtete.

Von hier oben machte das Dorf einen überaus friedlichen und gepflegten Eindruck, was Konrad nur im ersten Augenblick verwunderte. Vor einigen Jahren hatte es anders ausgesehen, als die Männer an der Front lagen und die städtische Wohlhabenheit noch nicht den Weg aufs Land gefunden hatte. Vielleicht gab das Thema einen Artikel her.

Im gleichen Moment fiel Konrad ein, dass er sich in Thüringen befand, wenn auch im äußersten Zipfel. Die Bauern, die sich selber gerne als Gutsbesitzer titulierten, lasen vermutlich den Osterländischen Heimatboten oder das Altenburger Wochenblatt - keinesfalls die Leipziger Volkszeitung. Und das Gesinde, so es denn überhaupt Zeit und Muße zu einer nutzlosen Beschäftigung wie Lesen fand, würde es nicht wagen, ein rotes Blatt in die Finger zu nehmen.

Konrad putzte seine Brille und hakte sie wieder hinter den Ohren fest. Je länger er aus seinen eisvogelblauen Augen auf das Dorf schaute, desto befremdlicher schien ihm die Stille, die über der hügeligen Landschaft lag. Heute war ein normaler Wochentag im März. Unterwegs waren überall die Gespanne mit Pflug und Egge über die Äcker gezogen, hatte reges und lautes Leben in den Dörfern geherrscht. Hier jedoch lag die Flur menschenleer und stumm. Aus dem Tal drang nur das Rauschen des Wassers.

Harry sah ihn erwartungsvoll an. «Na, da wollen wir doch mal sehen, was hier los ist!», sagte Konrad munter und ließ den Motor kraftvoll bullern. Mit einem Ruck setzte sich das schwere Gespann in Bewegung. Doch statt sein Ziel geradewegs anzusteuern, wandte sich Konrad nach rechts, wo die leicht abschüssige Dorfstraße an mehreren Gehöften vorbei zum Dorfteich führte. Es handelte sich eigentlich um den Marquardtschen Teich, der zum größten Gehöft des Dorfes gehörte, das sich abseits auf einer flachen Anhöhe ausbreitete. Der alte Marquardt, der weitaus reichste Grundbesitzer im Umkreis, wurde nie müde, sein Besitzrecht an dem Teich zu betonen, der in normalen Zeiten den Wulkersbach anstaute. Jetzt war er randvoll und drohte, sich über Straße und Brücke hinunter ins Unterdorf zu ergießen, wie es Konrad einmal erlebt hatte. Etliche Jahre lag das zurück. Der Schnee hatte damals hoch gelegen, und die Kinder vergnügten sich auf dem Eis, darunter auch Marquardts Sohn. Dann war die Schneeschmelze gekommen. Das Wasser überflutete die Dorfstraße und riss den hölzernen Steg hinter der Schmiede mit sich. Ein zweites Mal war das mitten im Sommer passiert, nach einem schweren Gewitter über den südwestlichen Anhöhen vor dem Dorf.

Während Konrad in gemächlichem Tempo an den Gehöften vorbeirollte, deren hölzerne Tore sämtlich verschlossen waren und von denen eine geradezu gespenstische Stille ausging, dachte er darüber nach, was in diesem schweigenden Dorf wohl geschehen sein mochte. Selbst der Marquardtsche Hof drohte lautlos von der Anhöhe herab, bis endlich das Kläffen eines Hundes die Stille zerriss. Sofort meldeten sich auch die anderen Dorfköter. Gespannt zitternd richtete sich Harry im Beiwagen auf. Konrad fuhr ihm beruhigend mit der behandschuhten Rechten über den Kopf. Dass es mit dem Terrier im Dorf Schwierigkeiten geben könnte, hatte er nicht bedacht.

Die Dorfstraße, in leidlich besserem Zustand als die Fahrwege ringsum, bog nach links ab auf Friedhof und Kirche zu. In der Kirche war Konrad seit langem nicht gewesen. Doch hatte er es bei keinem seiner Besuche im Dorf versäumt, ein bestimmtes Grab auf dem Kirchhof zu besuchen und Blumen zu hinterlassen. Über die Jahrzehnte vergaß er nicht, dass ihm hier in Wulkersbach zum ersten Mal in seinem Leben der Tod begegnet war. Das Bild des weißen Sarges, auf den die Erdschollen polterten und in dem sein Freund Rainer lag, von einem unachtsam gefällten Baum erschlagen, gehörte zu Konrads prägenden Kindheitserinnerungen. Rainer war der einzige Sohn des Gastwirts vom Wulkersbacher Krug gewesen.

Er fuhr am Friedhof vorbei. Für den Besuch an Rainers Grab blieb ihm immer noch Zeit. Aus der gegenüberliegenden Schmiede drang seltsamerweise kein Laut. Auch hier war das breite Tor geschlossen, durch das er dem Schmied hundertmal bei der Arbeit zugesehen hatte. Vom Geislerschen Hof oben am Hang führte ein Fußpfad über die Weide hinunter und über den Bach, der jetzt gefährlich gurgelnd neben der Straße her schoss. Waren die Bauern der Hochwassergefahr wegen unterwegs? Dann hätte er ihnen auf der Straße nach Meffersdorf begegnen müssen, von dorther kam der Wulkersbach.

Allmählich war Konrad richtig gespannt, wie sich das Rätsel um das schweigende Dorf lösen würde. Im Dorfkrug jedenfalls, von jedermann nach der ehemaligen Wirtin nur «Die Rose» genannt, steckten die Bauern nicht. Auch dort war die stets einladend offene Tür geschlossen, ja, die ganze Rose wirkte so abweisend, als befände sich hier gar kein Wirtshaus.

Nun ja, der Krieg und die Revolution hatten vieles verändert, selbst in einem gottverlassenen Nest wie Wulkersbach. Er war in den letzten Jahren selten hier gewesen, und dann nur in Eile und Hast. Hatte es nicht geheißen, der Rose-Wirt sei an der Somme vermisst?

Vergebens versuchte Konrad sich zu erinnern. Außerdem war das im Augenblick unwichtig. Der lehmige, vom Regen ausgewaschene Weg hinauf zur oberen Dorfstraße erforderte sein fahrerisches Können und alle 8 PS der NSU. Und ausgerechnet da kam ihm auf halber Höhe jemand entgegen. Ein mageres Weiblein vor einem kleinen Leiterwagen, auf dem sonst Milchkannen oder das Ziegenfutter transportiert wurden und den sie nicht ziehen musste. Vielmehr schob das mit Knüppelholz beladene Gefährt, das die Frau angestrengt zu bremsen versuchte, sie den abschüssigen Weg hinunter direkt auf Konrad zu. Erst in letzter Sekunde gelang es ihm, den Seitenwagen mit einem kühnen Schlenker über den wulstigen Wegrain hinweg, haarscharf am Weidezaun entlang und wieder auf den glitschigen Weg zurück zu lenken. Harry bellte erschrocken, und noch erschrockener verlor das Weiblein die Geistesgegenwart und ließ die Wagendeichsel fahren. Die bohrte sich in die Böschung, und das labile Wägelchen stürzte um.

Konrad hatte die Frau nicht erkannt. Er hätte ihr gerne geholfen, bezweifelte jedoch, auf dem seifigen Untergrund der steil ansteigenden Piste jemals wieder Halt zu finden. Deshalb setzte er die Fahrt fort. Oben angekommen, blickte er zurück. Die Frau war dabei, das Holz zu verstauen, und drohte ihm mit der erhobenen Faust. Konrad hob die Hände zu einer entschuldigenden Geste, worauf das Geräusch des Motors erstarb. Alle Versuche, ihn wieder in Gang zu setzen, scheiterten. Wahrscheinlich war irgendwo Wasser eingedrungen.

Das war ein netter Anfang! Bis zum Geislerschen Gehöft lagen nur ein paar Hundert Meter vor ihm, die er schiebend bewältigte, vom fröhlich bellenden Harry umsprungen. Dessen Gekläff wurde aggressiver, als auf Konrads Klopfen hinter dem geschlossenen Hoftor die rauen Töne eines größeren Artgenossen hörbar wurden.

Konrad setzte Harry in den Seitenwagen zurück und ermahnte ihn zur Ruhe. Harry knurrte nur, worauf der Hofhund mit dumpfen Unmutslauten und dem Rasseln seiner Kette reagierte.

Kopfschüttelnd hob Konrad den Türriegel des kleineren Tors neben dem großen. Dieser Zugang wurde abends als letzter versperrt, wenn sicher war, dass sich alles Vieh und alle Bewohner in Haus und Hof befanden. Jetzt war auch dieses Tor verriegelt, und es nutzte nichts, dass Konrad mit der Faust dagegen schlug und rief: «Hallo! Ist denn niemand zu Hause?»

Jemand von der Familie und dem Gesinde musste doch daheim sein: die kräftige Magd Elsa, der schwachsinnige Knecht Gottlieb oder die Großmutter Ernestine, die Konrad nie außerhalb von Küche, Hof und Garten angetroffen hatte. Aber natürlich: das Gartentor! Zwischen Haus und Stallgebäude gelegen und der talwärts liegenden Weide zugewandt, wurde es nie verriegelt.

Sicherheitshalber klopfte er noch einmal energisch an die Pforte und vernahm neben dem Hundegrollen plötzlich doch so etwas wie menschliche Laute. «Niemand da …», schien es zu heißen. Das konnte nur Gottlieb sein, den man als Stallwache zurückgelassen hatte.

«Gottlieb!», rief Konrad laut. «Ich bin’s, der Konrad aus Dresden. Du kennst mich doch!»

Undeutliches Gebrabbel. Immerhin näherten sich schlurfende Schritte. «Konrad? Von Dresden?», erkundigte sich Gottlieb zweifelnd in seiner schwerfälligen Aussprache. «Es is … äh … niemand im Hause …»

Den Satz hatte man ihm vermutlich eingetrichtert. Er stand jetzt hinter dem Tor und spähte durch die schmale Ritze zwischen der Tür und dem massiven Sandsteinpfeiler. Konrad tat es ihm gleich.

Gottlieb, den er seit über zwanzig Jahren kannte, sah unrasiert aus wie eh und je und schien keinen Tag gealtert.

«Was ist denn los bei euch?», fragte Konrad ungeduldig.

«Niemand da …», wiederholte Gottlieb unsicher. «Alle fort.»

«Wo sind sie denn hin?»

«Du warst schon mal hier.» Gottlieb hatte ihn erkannt. «Konrad! Von Dresden. Große Stadt. Wohnt der König.»

«Ja, sicher. Wo ist denn die ganze Familie?»

In Gottliebs Gesicht arbeitete es. Seine Augen blinzelten.

«Friedhof!», stieß er schließlich hervor und lachte erleichtert.

Konrad war befremdet. «Auf dem Friedhof?», vergewisserte er sich. «Ist jemand gestorben?»

Er hatte dem Friedhof keine besondere Beachtung geschenkt. Eine größere Personengruppe wäre ihm aufgefallen.

Gottlieb antwortete nicht. Konrad wusste, dass man energisch mit ihm reden musste, wenn der arme Kerl einen verstehen sollte.

«Nun mach bitte das Tor auf, und erzähl mir, wer hier gestorben ist!», forderte er freundlich, aber bestimmt.

Der Knecht wand sich. «Soll Gottlieb nicht. Gar keinen Fall …»

«Na schön. Wer ist gestorben?»

Gottlieb blinzelte, als blende ihn die Sonne. «Mit dem Messer!», sagte er dumpf. Er hob die kräftigen Arme, als drohe er jemandem.

«Im Rauber …» Er schlug die Hände vors Gesicht.

Konrad verstand nicht. Da gab es irgendeine uralte Geschichte um einen Mord am Rauber, das wusste er. Wie kam Gottlieb ausgerechnet jetzt darauf?

«Wer ist denn tot?», fragte er eindringlich.

Hilflos hob Gottlieb die Schultern. «Alle auf dem Friedhof …», war alles, was er stammelte.

DREI

WACHTMEISTER ARTHUR FIALLA war eine schwergewichtige Persönlichkeit, deren Statur in keinem Verhältnis zur Bedeutung seines amtlichen Charakters stand. Er war klein und dick, ja rund, und er war der zuständige Kreispolizeiposten in Rohnsdorf. Lange herzogliche Jahre hindurch hatte er die Position ohne Beanstandung bekleidet, die sogenannte Revolution ebenso verständniswie klag- und folgenlos über sich ergehen lassen, sah man von der allgemeinen Geldentwertung ab, und er hatte sich plötzlich als Kreispolizeiposten im kurzlebigen Freistaat Sachsen-Altenburg wiedergefunden, der mit seiner Gebietsregierung nach knapp anderthalb Jahren im Land Thüringen aufging. Bis zum April ’22 sollte der neue Verwaltungsaufbau endgültig abgeschlossen sein, aber es sah nicht danach aus.

Radelte Fialla auf seinem Fahrrad durch die Dörfer des Amtsbezirks, ging ihm der Ruf voraus: «Itze gimmt Guchelblitz», was der Wahrheit nahekam. Auch Kugelblitze bewegten sich eher gemächlich, bevor sie explodierten.

Neben seinem dicken, in abgegriffenes Schweinsleder gebundenen Notizbuch verfügte Kugelblitz Fialla über ein allmählich nachlassendes Gehör, ein immer noch scharfes Auge und ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Jenen verregneten Donnerstag, dessen war Fialla sicher, würde er für alle Zeiten in allen Einzelheiten in seinem Erinnerungsfundus speichern.

Natürlich kam die Schreckensnachricht, der er anfangs kaum Glauben schenken wollte, aus Wulkersbach. Meienberg, Guckenheim und Wulkersbach, die östlichen Grenzdörfer seines Amtsbereichs erfreuten sich seines besonderen Verdrusses, gelangte er doch angesichts der Wegverhältnisse und der kaum je nachlassenden Schmerzen in seinem geschwollenen Knie nur selten in diese Ortschaften, deren Bewohner er gerade deswegen anhaltender Gesetzesbrüche verdächtigte: Betrug bei den vorgeschriebenen Abgaben, heimliches Schlachten und Buttern, Schleichhandel aller Art und was die trüben Nachkriegszeiten sonst mit sich brachten.

Als ihn daher an jenem Donnerstagmittag die Telephonglocke aus tiefstem Nachdenken über den beklagenswerten Zustand des Gemein- und Polizeiwesens im Landkreis Altenburg riss und eine aufgeregte Stimme ihm mitzuteilen versuchte, der Gutsbesitzer Ferdinand Geisler aus Wulkersbach, seit nunmehr zwei Tagen aus seiner Wirtschaft abgängig, sei ermordet im Grenzwald vor Berkersbach aufgefunden worden, brauchte er einige Zeit, die volle Tragweite des Geschehens zu erfassen.

Umständlich schnallte er das Koppel mit der Dienstwaffe 08 um den gewichtigen Leib, schlüpfte mit Hilfe seiner Frau Ottilie, die nicht einmal die Hälfte seines Gewichts auf die Waage brachte, unter die Regenpelerine, befestigte den Säbel an dem von den Jahren wie von den Wegverhältnissen gezeichneten Fahrrad, auf das er sich mit einiger Mühe schwang, und schlug den von tiefen Spurrinnen durchzogenen Weg gen Wulkersbach ein.

Es regnete ohne Unterlass. Triefend verschnaufte Fialla an der Dorfpappel. Sollte er sich gleich ins Dorf hinunter begeben, aus dessen Gasthof ihn die Meldung erreicht hatte, um eventuelle Zeugen zu hören, oder erst den Tatort und den Toten in Augenschein nehmen?

Er war lange genug Polizist und kannte seine Pflichten. Seufzend setzte er seinen feuchten Weg in Richtung Rauber fort, den er in mäßigem Schritttempo nach zwanzig Minuten erreichte. Von einem Tatort oder einem Toten war weit und breit nichts zu entdecken, sah man von den frisch eingegrabenen Pferde-, Wagen- und Rangierspuren eines Fuhrwerks ab, mit dem man möglicherweise den Toten abtransportiert hatte - wenn es wirklich einen gab.

Der Weg beschrieb eine Kurve um das Wäldchen herum und war an dieser Stelle etwas breiter. Fialla lehnte das Rad gegen einen Baum nahe dem Grenzstein und drang in das Gehölz ein. Tatsächlich erspähte sein geübter Blick bald in einiger Entfernung eine verdächtige Vertiefung und daneben einen Reisighaufen, den jemand erst kürzlich auseinandergerissen hatte. Hatte der Tote hier gelegen? Verschiedene Stiefeleindrücke und Schleifspuren deuteten darauf hin, dass etwas Schweres bewegt worden war.

Die Grube oder Rinne zu seinen Füßen, kaum dreißig, vierzig Zentimeter tief, war halb mit fauligem Laub und Grasresten gefüllt. Fialla verspürte wenig Lust, in dem nassen Unrat herumzuwühlen. Immerhin griff er aus dem herumliegenden Gestrüpp einen stärkeren Haselzweig und fuhr damit erfolglos in der Vertiefung herum, bis er schließlich doch gegen einen festen Gegenstand stieß, den er mit einiger Mühe aus dem feuchten Unrat klaubte. Sieh an, eine Patronenhülse, dachte er im ersten Augenblick, bevor er das angelötete Rädchen und den Docht an dem fingerlangen Ding entdeckte. Ein Feuerzeug, wie es sich Soldaten im Krieg angefertigt hatten. Ferdinand Geisler, das wusste Fialla, hatte nicht im Feld gestanden.

Umständlich kramte Fialla sein Notizbuch unter der Pelerine hervor. Hoffnungslos! Der stetig fallende Regen weichte jeden mit dem Kopierstift geschriebenen Buchstaben sofort zu einem violetten Fleck auf. Also verstaute er das Buch und sah sich noch einmal gründlich um. Jedes Detail galt es sich einzuprägen, wenn schon dieses unwissende Bauernvolk hier alles zertreten und den Toten einfach davongeschleppt hatte. Denen würde er gehörig den Marsch blasen, sollte es sich wirklich um einen Mord handeln!

Er richtete sich auf und blickte zu seinem Fahrrad zurück. Bis dahin, zur Wegbiegung und zum Grenzstein, mochten es etwa sechzig Meter sein, bevor sich der Fahrweg auf zwanzig Meter an seinen Standort heranschlängelte und sich am Ende des Raubers gen Norden und damit endgültig ins Sächsische wandte.

Fialla merkte auf und versuchte, genaue Peilung zu seinem Rad aufzunehmen. Seine ausgestreckten kurzen Arme bildeten einen angenommenen rechten Winkel. Freilich guckten unter der triefenden Pelerine nur die Fingerspitzen hervor. Was er dennoch nahezu zweifelsfrei feststellte, erleichterte ihn einerseits, ließ ihn allerdings auch kommendes amtliches Ungemach befürchten: Die Grube, in der wahrscheinlich oder möglicherweise der Tote aufgefunden worden war, lag auf sächsischem Territorium.

In der Wulkersbacher Rose hing seit Vorkriegszeiten der einzige und öffentliche Telephonanschluss des Ortes an der Wand neben der Theke: ein Brett mit einer Glocke und einer gebogenen schwarzen Sprechmuschel, die sich je nach Größe des Gesprächsteilnehmers um fünf bis zehn Zentimeter in der Höhe bewegen ließ. Dazu eine Kurbel und der an einer meterlangen geflochtenen Kordel befestigte Hörer mit Griff und Aufhängung. Von hier aus hatte man Fialla verständigt.

Inzwischen wartete in der Rose ein Großteil der männlichen Dorfbevölkerung ungeduldig auf das Erscheinen der fernmündlich verständigten Amtsperson. Das eine oder andere Fläschchen Bier und ein paar Schnäpse waren angesichts des Unglücks und der Wartezeit bereits getrunken. Alle Augen richteten sich auf Fialla, als der endlich mit steinerner Miene eintrat und sofort in scharfem Ton fragte: «Wer von euch hat Ferdinand Geislers Leiche gefunden?»

Niemand antwortete. Sie hatten inzwischen genügend Zeit gehabt, ohne abschließendes Ergebnis darüber zu streiten, ob es richtig gewesen war, Ferdinand Geislers Leiche so mir nichts, dir nichts ins Geislersche Gehöft zu schaffen, wie es die fassungslose Witwe Anni von ihnen verlangt hatte. «Soll er noch länger dort draußen im Regen liegen und verrotten?», hatte sie geschrien. «Der Fialla macht ihn mir nicht wieder lebendig!»

Nein, das lag außerhalb Fiallas Befehlsgewalt. Die reichte jedoch, den Bauern in einem dröhnenden Sermon das Ungesetzliche und darüber hinaus grenzenlos Unüberlegte ihres voreiligen Handelns vor Augen zu führen. «Also, wer hat die Leiche nun gefunden?», donnerte er am Schluss seiner Ausführungen.

Wieder Schweigen. «Der kleine Gunther war’s», quäkte schließlich der Postbote, der nie den Mund halten konnte. «Der hat ihn von Anfang an im Rauber gesucht.»

«Und weshalb habt ihr ihn nicht an Ort und Stelle liegen lassen, bis der zuständige Beamte …» Er machte eine lange Pause, dehnte sie geradezu ungebührlich aus. «… aus Penig ihn in Augenschein genommen hat?»

«Aus Penig?», fragte sofort der alte Marquardt über das Gemurmel hinweg. «Der Ferdinand ist hier im Dorfe daheim.»

Fialla, der die Pelerine abgelegt und sein Notizbuch hervorgebuddelt hatte, sah sich streng um. «Seine Leiche lag in Sachsen. Punktum. Also sind die dort drüben zuständig.»

«Das könnte dir so passen, Kugelblitz!», sagte eine verächtliche Stimme aus dem Hintergrund. Der Mann gab sich nicht einmal Mühe, leise zu sprechen oder sich zu verstecken.

Fialla kannte das schon. Frecher Widerspruch begegnete ihm nicht zum ersten Mal. Bis vor ein paar Jahren wäre eine solche Unverschämtheit einem herzoglichen Beamten gegenüber weder möglich gewesen noch ungesühnt geblieben. Heute zog er es vor, darüber hinwegzuhören, ja gewissermaßen sogar klein beizugeben, indem er beinahe höflich hinzufügte: «Das ist sozusagen der amtliche Standpunkt, versteht ihr?»

«Greif du lieber den Mörder!», forderte die gleiche Stimme. Sie gehörte dem Hainich-Diethmar, keinem der ganz Kleinen im Dorf und Kirchenvorsteher noch dazu. Ein Mann, der gerne widersprach und überdies mit den Gesetzen mindestens so gut vertraut war wie Fialla selber. Vermutlich sogar besser.

Dem blieb nichts anderes übrig, als zurückzuschlagen. «Das wäre mir ein Leichtes gewesen, hättet ihr nicht alle Spuren zertrampelt wie’s liebe Vieh!»

«Da waren keine Spuren. Es strippt seit zwei Tagen, dazu das Tauwetter …» Der Rest ging in der allgemeinen Unruhe unter.

Fialla wusste, dass die Bauern wahrscheinlich recht hatten. Dennoch hob er belehrend den dicken Zeigefinger. «Das hat einzig und allein das Untersuchungsorgan zu entscheiden. Nicht ihr!»

«Aber keiner aus Penig oder Rochlitz!» Das war wieder der vorlaute Hainich.

Unaufgefordert war die Rose-Wirtin mit einem gutgefüllten Gläschen in der Hand vor Fialla aufgetaucht, nach dem er reflexartig griff, bevor er seinen Fehler erkannte. Kein Alkohol im Dienst, läutete es unter seinem Tschako. Und keinerlei Blöße vor etwaigen Zeugen! Dabei hatte der vertraute Wohlgeruch der wasserklaren Flüssigkeit bereits seine geweiteten Nasenlöcher erreicht, so dass ihm gar keine Wahl mehr blieb und er das Zeug mit einer ruckartigen Bewegung in sich hineingoss, Pflichtgefühl hin oder her.

Die Bauern registrierten es mit zustimmendem Gemurmel. Gleich war man sich ein wenig näher, und Fialla vermerkte insgeheim als eventuelle Ausrede, dass ohne ein solches Exempel altdeutsch-völkischer Gemeinschaft keinerlei Zeugenaussage von der widerspenstigen Dorfbevölkerung zu erwarten gewesen wäre.

Das Ergebnis seiner Befragung blieb dennoch dünn. Niemand aus dem Kreis der Gutsbesitzer und Abspannbauern, der offenen Freunde und heimlichen Feinde, Neider und Konkurrenten, Schwäger, Cousins und weitläufigeren Verwandten, die sie ja alle waren, wollte sich vor den Augen und Ohren von so viel Zeugen, und noch dazu vor dem schwatzhaften Postboten und der Rose-Wirtin, zu eventuellen Hintergründen der schrecklichen Tat oder auch nur zur Person oder Familie des Toten äußern.