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Deutsche Erstausgabe (ePub) Juli 2016

 

Für die Originalausgabe:

© 2015 by Tara Lain

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Knight of Ocean Avenue«

 

Originalverlag:

Published by Arrangement with Dreamspinner Press LLC, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2016 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN ePub: 978-3-95823-601-1

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Billy scheint nirgendwo in seinem Leben richtig reinzupassen: Seine Ex-Freundinnen fanden ihn zu nett, für einen durchschnittlichen Bauarbeiter bedient er zu wenig männliche Klischees und seiner Bauleiter-Karriere steht tiefgreifende Prüfungsangst im Weg. Als Billy den Stylisten Shaz kennenlernt, ahnt er noch nicht, dass diese Begegnung alles auf den Kopf stellen wird. Denn Shaz weckt in Billy lange verborgene Sehnsüchte und öffnet ihm gleichzeitig das Tor zu einer ganz neuen Welt. Eine, in der er sein kann, wer er ist...


 

 

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Aus dem Englischen
von Jilan Greyfould


 

Für Z.A. Maxfield, deren wundervolle Werke mich jeden Tag neu inspirieren und deren Freundschaft mir eine besondere Freude ist.


 

Kapitel 1

 

 

Oh, komm schon.

Billy warf einen Blick auf seine Armbanduhr und starrte dann aus dem Fenster des Coffeeshops. Nach Annie Ausschau zu halten, würde nicht dazu führen, dass sie schneller hier war, aber es lenkte ihn von den möglichen Gründen ab, warum sie ihn im Coffeeshop treffen wollte, statt sich von ihm zu Hause abholen zu lassen.

Er atmete tief ein und langsam wieder aus. Vielleicht lag er falsch. Vielleicht war sie in der Nähe des Coffeeshops unterwegs gewesen und wollte nur nicht noch mal nach Hause fahren. Ja, genau.

Er lehnte sich zurück und sah sich im Laguna Grind um. Fünf Besucher arbeiteten an Laptops, während sie ihre überteuerten Milchkaffees tranken. Jeder von ihnen zählte zur gehobenen Laguna-Gesellschaft, abgesehen von dem Mann in der Ecke, der eine staubige Jeans und ein Arbeitshemd trug, durch ein altes Magazin blätterte und an schwarzem Kaffee nippte. Billy wusste, was er trank, weil er gehört hatte, wie er es bei dem süßen Mädchen hinter der Theke bestellt hatte. Komisch, dass ein Arbeiter diese anspruchsvollen Preise für schwarzen Kaffee bezahlte. Das hier war kein Arbeitertreff. Billy musste es wissen. Mr. Schwarzer Kaffee war wie er, und er selbst würde auch nicht hier sein, wenn Annie es nicht als Treffpunkt ausgesucht hätte.

Er sah auf die Uhr. Komm schon. Mama hasste es, wenn er zu spät zu Familienessen kam, und da dieses spezielle Essen Rhonda und Mitch gewidmet war, würde sie es doppelt hassen. Mit doppeltem Hass seiner Mutter war nicht zu spaßen.

Der Kerl mit dem Kaffee sah zu dem Mädchen hinter dem Tresen. Mann. Der Ausdruck puren Verlangens auf seinem Gesicht ließ Billy zusammenzucken. Deshalb also der Kaffee. Er wollte das Mädchen. Sorry, Charlie, wird wahrscheinlich nicht passieren. Wie es sich wohl anfühlte, jemanden so sehr zu wollen?

Ein Luftzug strömte über ihn hinweg, als die Tür geöffnet wurde. In Südkalifornien waren die Juniabende noch immer kühl, was bedeutete, dass es spät geworden war. Er sah auf – und erstarrte. Wer zum Teufel?

Der Neuankömmling brachte jeden Kopf im Coffeeshop dazu, sich zu ihm umzudrehen. Sein flammend rotes Haar umgab seinen Kopf in wilden Locken und fiel bis auf seine Schultern herab. Er trug ein hippes, pinkfarbenes Hemd, dessen Vorderseite mit mehreren Perlenketten geschmückt war. Seine schwarze Hose lag so eng an, dass sie genauso gut hätte aufgemalt sein können. Oooh Gott.

Das hübsche Mädchen hob den Kopf und rief ihm zu: »Du holst dir deinen Kaffee höchstpersönlich? So weit ist es also schon gekommen?«

Leichthin wedelte der Rotschopf mit der Hand. »Ich habe sie alle mit Arbeit versorgt und bin geflüchtet, Schätzchen. Versorge mich bitte intravenös mit Koffein.«

Diese Stimme – hoch und vor Humor sprühend – vibrierte Billys Wirbelsäule hinauf. Komisch. Der Mann war lächerlich extravagant, aber auch schön. Er besaß Gesichtszüge, die man bei einem Mädchen erwartet hätte, jedoch definierter. Nicht so weich. Große Augen, volle Lippen und hohe Wangenknochen. Wahrscheinlich hatte er diese Gesichtszüge auch mit Make-up hervorgehoben, was eigentlich seltsam aussehen sollte, aber bei diesem Mann passte alles ins Bild. Wunderschön.

Aus dem Augenwinkel registrierte Billy eine Bewegung und sah zu dem Arbeitertypen hinüber. Der junge Mann wirkte wie ein Bulle. Wie ein wütender Bulle. Er setzte sich auf, starrte den Rothaarigen an und ballte die Fäuste. Er fand den Neuankömmling nicht schön. Scheiße, in seinem Gesichtsausdruck zeigte sich purer Hass. Billy spannte sich an. War es etwas Persönliches oder nur Vorurteile?

Der Rotschopf plauderte mit jemandem und schien den Kerl nicht zu bemerken. Wie konnte er ihn übersehen? Man konnte förmlich den Rauch über dem Kopf des bulligen Kerls aufsteigen sehen.

Stell dir vor, du gehst durch das Leben und Menschen ziehen einfach so über dich her. Aber wenn dieser rothaarige Mann an einer von Billys Baustellen vorbeigelaufen wäre, hätte jeder der Arbeiter seinen Wortschatz überstrapaziert, um neue Möglichkeiten zu finden, ihn Schwuchtel zu nennen. Billy hätte sich ihnen vielleicht nicht angeschlossen, doch unterbunden hätte er es wahrscheinlich auch nicht. Männer wie dieser hassten Schwule. So war es eben.

Die Bedienung kam mit einem großen, dampfenden Milchkaffee hinter der Theke hervor. Sie ging zum Tisch des Rotschopfs, stellte die Tasse ab und küsste den hübschen Mann auf die Wange.

Oh-oh.

Der Arbeitertyp stand auf. Nicht gut. Niemand schien es zu bemerken. Scheiße.

Der Mann war groß, aber nicht so groß wie Billy. Langsam erhob sich Billy und hielt den Blick auf den Arbeiter gerichtet. Sieh mich an. Die Augen des großen Mannes streiften ihn. Kaum merklich bewegte Billy seinen Kopf von einer Seite zur anderen. Tu das nicht. Eine Sekunde lang starrte ihn der Mann verständnislos an, dann schien er jemanden wie sich selbst wiederzuerkennen. Jemanden in zerknitterter Arbeitskleidung. Sein Blick traf Billys und fokussierte sich. Einmal schüttelte er den Kopf und focht eine Art inneren Kampf aus, dann spannte er sich an und trat einen Schritt vor.

Billy tat es ihm gleich.

Der Kerl wurde bis zum Haaransatz rot, gab ein leises Geräusch von sich und stürmte aus der Tür, als wäre die verdammte Schwulenparade hinter ihm her.

Billy spürte, wie seine Hände zitterten. Was hätte er getan, wenn der bullige Kerl den Rotschopf angegriffen hätte? Hätte Billy ihn geschlagen? Ihn aufgehalten? Wen versuchte er hier zu schützen? Scheiße.

Er sah sich um. Alle kümmerten sich um ihren Kram, als wäre nichts Großes passiert. Doch dann trafen Billys Augen auf den ruhigen Blick des rothaarigen Mannes, der ihn mit einem leichten Nicken und einem kleinen Lächeln bedachte. Er wusste es. Er wusste, was passiert ist. Was dachte er gerade?

»Billy?«

Er zuckte zusammen und drehte sich um. Zu Annie. »Gott, hast du mich erschreckt.« Er hatte vergessen, warum er hier war.

Sie runzelte die Stirn. »Entschuldige. Ich habe angenommen, dass du auf mich gewartet hast.«

»Das habe ich auch. Es ist nur, dass… Ich meine, das tue ich.« Erneut streifte sein Blick den Rothaarigen, der Annie ausdruckslos anstarrte. Reiß dich zusammen, Ballew. Er deutete auf den Stuhl neben sich. »Setz dich.«

Sie ließ sich auf dem Rand des Lederstuhls nieder. Er setzte sich ebenfalls. Versuch entspannt auszusehen.

Billy nickte in Richtung des zweiten Pappbechers, der vor ihnen auf dem Tisch stand. »Ich hab dir Tee mit Milch geholt.«

»Danke.« Sie nahm den Becher und trank einen Schluck. So ein attraktives Mädchen und zudem auch freundlich.

Billy trank seinen Milchkaffee aus. »Also, willst du ihn mitnehmen? Mom wird das Essen sicher schon fertig haben, du kennst sie ja.«

Sie seufzte und ihn durchlief es kalt. »Ich komme nicht mit zum Essen.«

»Nein?« Scheiße, Scheiße, Scheiße.

»Nein, Billy.« Sie sah auf und ihre großen, braunen Augen glänzten. Ganz schlechtes Zeichen. »Du weißt, dass ich sagen werde, dass es nicht funktioniert, oder?«

Er starrte in seinen leeren Becher. Leer ergab Sinn. »Ich wusste es nicht, bis du gesagt hast, dass du reden willst.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Reden ist für Männer immer eine schlechte Nachricht.«

»Ich habe seit einigen Tagen darüber nachgedacht. Vielleicht sogar seit einigen Wochen, wenn ich ehrlich bin. Ich muss weiterziehen. Sag deiner Familie, dass es mir leidtut.«

Nicht schon wieder. »Darf ich fragen, warum es für dich nicht funktioniert?«

Annie zuckte die Schultern und drehte ihren Becher auf dem niedrigen Tisch. »Das willst du nicht wissen.«

Er hätte es auf sich beruhen lassen können, wie er es immer tat. Aber wie zur Hölle sollte er dann jemals etwas aus seinen Fehlern lernen? Er hob die Schultern. Auf ins Tal des Todes. »Eigentlich schon. Würdest du es mir erklären?« Er hielt eine Hand in die Luft. »Du musst mir aber nicht gleich den Kopf abreißen oder so was.«

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Du siehst aus wie ein großes Alphamännchen, aber eigentlich bist du ein ganz Süßer.«

»Ist das nicht was Gutes?« Er versuchte zu lächeln.

»Natürlich, aber mein Hund ist auch ein ganz Süßer und ich schlafe nicht mit ihm.«

Autsch.

Jetzt kam sie in Fahrt. »Weiß Gott, du bist umwerfend. Ich werde es vermissen, irgendwo mit dir aufzutauchen und zuzusehen, wie Frauen beim Anblick meines Partners zu sabbern anfangen – und er sie keines Blickes würdigt. Was schmeichelhaft ist, aber irgendwie auch ein bisschen seltsam, weißt du? Die meisten Männer würden es genießen, wenn sie sich vor der Aufmerksamkeit der Damenwelt kaum retten können.«

Er runzelte die Stirn. »Du bist sauer, weil ich treu bin?«

»Nein.« Sie stieß den Atem aus. Es klang halb wie ein Seufzen und halb wie Verzweiflung. »Sag mir ehrlich, wo hätte uns das hier deiner Meinung nach hingeführt?«

»Hawaii?« Er setzte das Lächeln auf, das bei Frauen immer wirkte.

»Ernsthaft.«

Mit der Hand strich er sich über das Gesicht. »Ich dachte, wir könnten uns noch ein wenig länger treffen und dann wäre es vielleicht etwas Ernstes geworden und, ich weiß nicht, vielleicht hätten wir irgendwann geheiratet.«

Ihre Augen wurden groß. »Wirklich? Du hast erwartet, dass wir heiraten?«

Hatte er das? »Warum nicht? Du bist großartig. Klug und hübsch. Meine Familie liebt dich.«

Sie ergriff seinen Arm. »Ja, deine Familie liebt mich und ich liebe sie. Aber liebst du mich, Billy?«

»Natürlich. Ich weiß, dass ich das nicht so oft sage, aber Männer wie ich sind eben nicht so emotional, weißt du?«

»Was meinst du mit Männer wie du

Er zuckte mit den Schultern. »Arbeitertypen. Weißt du?«

»Billy, du bist nicht wie die Arbeitertypen, die ich bis jetzt getroffen habe. Deshalb hast du mir gefallen und ich habe dich in dieser Nacht in der Bar ausgewählt, erinnerst du dich?«

Er nickte. Es war eine der seltenen Gelegenheiten gewesen, wo er mit seinem Team losgezogen war. Meist fühlte er sich bei den Jungs etwas komisch, aber in dieser Nacht war Annie das hübscheste Mädchen in der Bar gewesen und sie hatte ihn aus dem Rudel ausgewählt und zum Tanzen aufgefordert. »Ja, du hast mir meinen Ruf verschafft.«

Sie brachte nur ein halbes Lächeln zustande. »Ich habe dich ausgewählt, weil du nicht einer dieser Männer warst. Du warst anders als die Männer, die ich kenne, aber – vielleicht bist du ja zu anders. Bei uns hat es einfach nicht richtig Klick gemacht. Wir gehen aus und reden, aber ich habe nie das Gefühl, dass du sterben würdest, wenn du mich nicht siehst. Wir haben Sex und er ist ganz nett, aber ganz nett ist mir nicht genug. Ich will ein Feuerwerk und Sternschnuppen. Zumindest ein bisschen davon.«

Zur Hölle, wo war er denn zu anders? »Komm schon, das hier ist das echte Leben.«

»Verdammt, Billy, ich bin vierundzwanzig. Ich bin zu jung für das echte Leben.«

Vielleicht war es eine schlechte Idee, nachzufragen. Es zu wissen, tut echt weh.

Sie seufzte. »Ich glaube nicht, dass ich dein Typ bin.«

»Wer dann?« Es klang wie ein Jammern.

Annie starrte Billy an. »Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich wüsste es.«

»Also liegt es überwiegend am…« Er schluckte und senkte die Stimme. »… am Sex?« Scheiße, es hatte ihn ein ganzes Stück Überwindung gekostet, das zu fragen.

»Nein, es liegt an allem. Dieses Unternehmerding zum Beispiel. Ich weiß, dass du die Prüfung schreiben kannst und sie mit Leichtigkeit bestehen würdest, wenn du es nur versuchen würdest. Aber das tust du nicht. Ich weiß, dass du glaubst, du wärst nicht klug genug, aber verdammt, Billy…« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich glaube, irgendwo versteckst du einen Dynamo. Einen Tiger, der darauf wartet, freigelassen zu werden. Doch ich sehe ihn nie. Du willst mich nicht wirklich. Ich bin nur bequem. Und ehrlich gesagt verdiene ich etwas Besseres als das. Und du auch.« Sie erhob sich von dem bequemen Stuhl und sah aus dem Fenster. »Ich werde dich vermissen, Billy. Aber ich will in zwei Jahren nicht erkennen müssen, dass ich in derselben Lage bin oder, schlimmer noch, geheiratet habe, weil« – mit ihren Fingern deutete sie Anführungszeichen an – »alle mich mögen, und mich mit einem Kind und einem Ehemann wiederfinden, der jedermanns Erwartungen erfüllt, aber nicht wirklich glücklich ist.«

»Wow. Du hättest Die Tribute von Panem schreiben sollen.«

»Mir egal. Du hast gefragt und so sehe ich es nun mal. Sag deiner Familie, dass es mir wirklich leidtut, dass ich bei Rhondas Hochzeit nicht dabei sein kann.«

»Du könntest trotzdem kommen.« Er schluckte schwer. »Rhonda wird so enttäuscht sein.«

Sie schüttelte den Kopf und ihre Augen glänzten. »Das würde zu sehr wehtun. Du bedeutest mir wirklich etwas, Billy, und es war hart, mir keine Hoffnungen zu machen.« Sie machte einen Schritt in Richtung Tür. »Man sieht sich.«

Heilige Scheiße. Er konnte nicht atmen. Sie war weg, einfach so. Er wollte nicht wie die anderen denken. Annie war nicht einfach nur eine von vielen.

Er lehnte sich zurück und sah dann auf. Der rothaarige, schöne Mann unterhielt sich mit einer der Baristas und lachte. Billy war nicht nach Lachen zumute.

An diesem Morgen hatte er gedacht, er würde sein Leben überblicken können. Nette Familientreffen. Ein bisschen Tanz auf der Hochzeit. Aber hatte er sich etwas vorgemacht?

Was, wenn ich mir immer etwas vormache?

Wie fühlst du dich? Wie zu einem kurzen Nickerchen schloss er die Augen. Die Schmetterlinge in seinem Bauch führten einen Krieg gegen die Stahlspitze in seiner Brust. Verletzt. Er fühlte sich verletzt. Und verwirrt. Und… Erleichterung. Er war erleichtert.

Das konnte nicht richtig sein, oder? Natürlich war er erleichtert gewesen, als er mit Nancy Schluss gemacht hatte, aber sie war ein Miststück, und Trisha hatte es nicht wirklich ernst gemeint. Aber Annie. Er liebte sie. Oder etwa nicht?

Er riss die Augen auf und sah auf seine Uhr. 17.30 Uhr. Oh Scheiße, er musste sich auf den Weg zum Haus seiner Eltern machen. Er musste seiner Familie ohne Annie gegenübertreten und dann die ganze, verdammte Hochzeit ohne eine Frau an seiner Seite durchstehen. Seine Mutter würde ausrasten. Er ließ seinen Kopf in eine Hand sinken und fuhr mit seinen Fingern durch die Strähnen. Selbst seine Haare würden ihn in Schwierigkeiten bringen. Zu lang. Seine Mutter bevorzugte es, wenn er ordentlich aussah. Allerdings hätte sie ihm alles durchgehen lassen, wenn sie gedacht hätte, dass er sich auf direktem Weg zum beschissenen Altar befand. Jetzt würde sie über seine Kleidung und alles andere meckern. Jetzt war Schluss mit lustig. In ihren Augen würde er ein dreifacher Verlierer sein. Ein Mann, der keine Frau halten konnte. Ein Mann, der ihr keine Enkelkinder schenken konnte.

Er stand auf und eilte in Richtung Tür. In Richtung Erschießungskommando.

Dann hielt er inne und sein Kopf schien sich von selbst zu drehen. Auf der anderen Seite des Ladens starrte ihn der hübsche Mann direkt an. Seine Mundwinkel kräuselten sich und er zeigte die Zähne.

Billy sah sich um. Wen? Sein Blick kehrte zurück. Der Mann sah ihn an. Das Schaudern begann in seinem Steißbein und entwickelte sich zu einer ausgewachsenen Gänsehaut. Seltsam. Echt seltsam.

Er schob die Tür auf und zwang seine Füße, den Coffeeshop zu verlassen. Warum hatte er das Gefühl, der Mann würde ihn auslachen?

Weil du es verdienst, du Versager.

Verdammt, wie Scarlett O'Hara gesagt hatte, darüber würde er sich morgen Gedanken machen. Schnurstracks eilte er zu seinem Pick-up.

Zwanzig Minuten später lenkte er den Wagen in Santa Ana auf einen Parkplatz, fünf Türen von seinem Elternhaus entfernt. Autos säumten die Straße und er kannte den Besitzer von jedem einzelnen. Der Clan hatte sich wegen Rhonda zusammengefunden. Sie hatte sie alle mobilisiert. Nach dem heutigen Familientreffen würde Billy zum Junggesellenabschied, zum Probeessen, zur Hochzeit, zum Empfang danach und zum Hochzeitsfrühstück gehen müssen. Allein. Gott! Er mochte zwar 1,95 m groß sein und gute 100 Kilogramm auf die Waage bringen, doch seine Mutter war trotzdem in der Lage, ihn zu lynchen.

Bring es hinter dich.

Er lief den Bürgersteig und die lange Auffahrt zum einstöckigen Haus seiner Eltern hinunter, das im Stil der Ranchhäuser der Fünfzigerjahre erbaut worden war. Er hatte das alte Haus immer gemocht und hart dafür gearbeitet, es für sie in Schuss zu halten. Alle Instandhaltungsmaßnahmen und Reparaturen übernahm er. Sogar einen Großteil der Gartenarbeit, damit sie, außer ab und zu fürs Mähen und Sprengen, keine Ausgaben hatten. Seit seinem Herzinfarkt konnte sein Vater nicht mehr schwer heben. Witzig. Die Leute sagten immer sein Herzinfarkt, als würde er das verdammte Ding besitzen.

Anklopfen war nicht notwendig, er drehte einfach den Türknauf und trat durch den schmalen Eingang. Abseits des Trubels standen sein Vater und sein Schwager Austin auf entgegengesetzten Seiten des Raums. Sein Vater stützte sich auf seinen Gehstock. Billy trat zu ihnen. Aus der Küche und dem Esszimmer drangen Stimmen und Gelächter herüber. Wie üblich hielt sich kaum jemand im Wohnzimmer auf.

Austin streckte ihm seine Hand hin. »Hey, Kumpel, schön, dich zu sehen.«

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«

Leicht klopfte ihm sein Vater auf die Schulter. Kein Mann vieler Worte. »Wo ist Annie?« Warum musste er ausgerechnet diese verdammten Worte wählen? Scheiße. Sein Vater liebte Annie. Der Spaß beginnt.

»Wir haben Schluss gemacht. Deshalb bin ich zu spät.« Billy fixierte seine alten, löcherigen Turnschuhe.

Stille.

Er sah auf und begegnete dem Blick seines Vaters. Dieser starrte ihn an, als hätte er gerade bekannt gegeben, dass er unter die Hobby-Serienmörder gegangen war. »Was? Es war nicht meine Idee. Sie hat mit mir Schluss gemacht.«

Der Blick seines Vaters wurde finster. Seine 1,82 m kamen nicht an Billys 1,95 m heran, doch er wirkte trotzdem verdammt respekteinflößend. »Was hast du getan, um sie zu verärgern?«

»Nichts!« Er seufzte. »Alles, glaube ich. Sie hat gesagt, sie glaubt nicht, dass ich sie liebe.«

»Hast du sie betrogen?«

»Zur Hölle, nein. Sie meinte, ich sollte anderen Frauen öfter hinterherschauen.«

Perplex starrte sein Vater ihn an.

Austin knuffte seinen Arm. »Hey, tut mir leid, Kumpel. Sie ist ein nettes Mädchen.«

»Ja. Danke.«

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Sie wird drüber hinwegkommen. Manchmal bekommen Frauen diese romantischen Anwandlungen. Schick ihr ein paar Blumen und schreib ihr ein Gedicht oder so was.«

Billys Magen zog sich zusammen. »Das glaube ich nicht. Sie klang ziemlich überzeugend.«

»Verdammt. Tja, dann musst du es wohl deiner Mutter erzählen.«

Er zog die Nase kraus. »Ich weiß. Es dir zu erzählen, war ein Testlauf.«

Austin lachte.

Sein Vater nickte. »Viel Glück.«

Billy legte seinen Anorak auf den Haufen aus Handtaschen und Pullovern auf dem Stuhl im Flur. Tief durchatmen, Mann. Er betrat das Esszimmer. Rhonda und ihr Verlobter Mitch standen auf der anderen Seite des ausgezogenen Esstisches und unterhielten sich mit seinem Onkel Fred und irgendeiner Bombenbraut, die Billy noch nie zuvor gesehen hatte. Blond, schlank und mit einem Vorbau in der Größe Utahs. Und, so wie es aussah, wirklich hübschen Klamotten.

Wunderbare Düfte drangen aus der Küche. Ja, dort würde er seine Schwester Teresa, seine Tante und, Gott möge ihm beistehen, seine Mutter finden. Er sollte hierbleiben. Er umrundete den Tisch und gesellte sich zu Rhonda. »Hey, ihr Turteltauben. Wie läuft's?«

Sie sah auf und lächelte. Das fremde Mädchen im Esszimmer mochte umwerfend aussehen, doch seine jüngste Schwester stellte alle in den Schatten. Rhonda war eine Schönheit mit Köpfchen. Groß und dunkelhaarig wie Billy, mit einem Körper, der Männern den Boden unter den Füßen wegzog. Mit der Hilfe von Stipendien und großer finanzieller Unterstützung von Billy hatte sie ihren Magister an der UCI absolviert und unterrichtete jetzt Geschichte an einem privaten College. »Hi, kleiner Bruder.«

Fred begrüßte ihn mit einem Schlag auf den Rücken und Mitch streckte ihm seine perfekt manikürte Hand hin. »Wie geht es dir?« Mitch war hübsch. Fast so hübsch wie der Mann in dem Coffeeshop.

Billy schüttelte seine Hand. »Ganz okay.«

Rhonda runzelte die Stirn. »Was ist los?«

Verdammt. Konnte er dieser ganzen Sache entgehen, wenn er einfach flüchtete? Billys Blick wanderte von Rhonda zu dem blonden Mädchen. »Hi, ich bin Billy Ballew, Rhondas Bruder.«

»Ja, hi. Sie hat mir viel von dir erzählt. Du bist wirklich groß.« Sie kicherte. »Und süß.«

Was sagt man dazu? »Danke. Ich habe deinen Namen nicht mitbekommen.«

»Oh, entschuldige. Ich bin Sissy. Sissy Auchincloss.«

Mitch nickte. »Meine Cousine.«

Was die teuer aussehenden Klamotten erklärte. Wahrscheinlich besaß sie genauso viel Geld wie Mitch. »Schön, dich kennenzulernen.«

Seine Schwester starrte ihn an. »Wo ist Annie?«

Er schüttelte den Kopf.

»Was ist passiert?«

»Wir haben Schluss gemacht.«

Fred machte ein Oooh-Geräusch.

Rhondas Augenbrauen trafen sich über ihrer schmalen Nase. »Wann?«

»Erst vor Kurzem.«

»Oh, verdammt, erzähl's nicht Mom.«

Mitch lachte. »Ja, ich glaube, sie wollte eine Doppelhochzeit.«

Finster sah Rhonda ihn an und das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. »Entschuldige. Sie ist ein nettes Mädchen.«

Sissy legte eine warme Hand auf Billys Arm. »Es tut mir so leid. Trennungen sind schrecklich. Einfach schrecklich.«

Ein kurzer Schauer jagte über seine Haut und er nickte und zog seinen Arm weg.

»Billy Ballew.« Der Ruf des Verderbens. Die Stimme seiner Mutter ertönte aus der Küche.

Er zuckte zusammen und Mitch lachte. Billy erwiderte laut: »Hi, Mom.«

Sie streckte ihren ergrauenden Schopf aus der Küchentür. »Kommst du gar nicht her, um deiner Mutter einen Kuss zu geben?«

»Schon unterwegs.«

»Viel Glück«, flüsterte Fred.


 

Kapitel 2

 

 

Seine Mutter war wieder in der Küche verschwunden. Für sie stand das nicht zur Diskussion: Die Küche war ein Raum, in dem Frauen arbeiteten. Marie Ballew hatte ihre Vorstellungen und ließ andere gerne daran teilhaben. Sich selbst sah sie als traditionelle Frau: tiefreligiös, eine liebende Ehefrau und unerschütterliche Beschützerin ihrer Kinder. Ja, eine traditionelle Frau, die es auf die Weltherrschaft abgesehen hatte. Billy liebte sie, aber sie jagte ihm auch eine Heidenangst ein.

Er schob die Schwingtür auf. Whoa. Der Geruch nach Schinken, Hühnchen, Kartoffeln und wer weiß was noch bestürmte ihn. Sein Magen knurrte. »Hey, Ladys.« Natürlich eilten Teresa und Tante Clarice geschäftig um seine Mutter herum, die gerade Spargel in eine Servierschüssel füllte. Er versuchte zu lächeln. »Kann ich helfen?«

Als der Dampf aufstieg, wischte sich seine Mutter die Stirn an ihrer Schulter ab. Sie war sehr groß und fast sechzig. In ihrer Jugend war sie eine hinreißende Schönheit gewesen, mit schwarzem Haar, das jetzt an den Schläfen ergraute, und ausdrucksstarken blauen Augen. »Nein, Schatz. Du kannst später beim Aufräumen helfen.« Sie musterte ihn eingehend. »Billy, das ist eine Veranstaltung für deine Schwester. Hättest du dir nicht etwas mehr Mühe geben können?«

Er zuckte mit den Schultern. »Für die Hochzeit werde ich mich in Schale werfen.«

»Und ob du das tun wirst. Ich werde nicht zulassen, dass du diese Familie vor Rhondas neuen angeheirateten Verwandten blamierst. Ich hätte gedacht, Annie würde dich besser erziehen.«

Stille. Er starrte auf seine verblichene, ausgeleierte Jeans.

»Wo ist Annie?«

»Zu Hause, denke ich mal.«

»Was meinst du damit, zu Hause?«

»Wir haben Schluss gemacht. Sie hat mit mir Schluss gemacht.«

Wieder Stille. Selbst Teresa und Clarice bewegten sich nicht. Oh Gott.

Doch seine Mutter schrie ihn nicht an. Sie seufzte nur, was zehnmal schlimmer war. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich einer Schüssel mit gestampften Kartoffeln zu. »Ich wünschte, ich wüsste, was du aus deinem Leben machen willst, Billy. Ich wünschte nur, ich wüsste es.«

Scheiße, wenn er das herausfand, würde sie es sofort erfahren.

Sie reichte ihm die Kartoffeln und mied seinen Blick. Sie wogen etwa 200 Kilo und waren mit Schuld gebuttert. Er hätte sie auf dem Rücken tragen sollen. Mit seiner Schulter stieß er die Tür auf und schleppte die Schüssel und sein Kreuz ins Esszimmer. Rhonda sah auf und warf ihm ein halbes Lächeln zu. Ja, sie wusste es.

Die Schwingtür wurde geöffnet und Teresa kam mit zwei dampfenden Schüsseln Gemüse in den Händen heraus. Vorsichtig stellte sie sie ab, stopfte die Topflappen in die Tasche ihrer Schürze und kam zu Billy herüber. Sie griff ihn bei den Schultern und küsste ihn auf die Wange, auch wenn sie dafür seinen Kopf zu sich hinunterziehen musste. Teresa kam eher nach ihrem Vater. Sie hatte nicht wie er und Rhonda die Größe ihrer Mutter geerbt.

»Hey, Kleiner, es tut mir so leid. Ich weiß, dass du sie wirklich gemocht hast.«

»Ja.« Er hatte Annie gemocht.

»Lass dich von Mom nicht fertigmachen. Annie war eben nicht die Richtige.«

»Danke, Schwesterherz.« Er liebte Teresa so sehr. Zu ihr hatte er schon immer den besten Draht gehabt, trotz ihres größeren Altersunterschieds. Rhonda war mit 27 nicht ganz zwei Jahre älter als er, doch Teresa war fast 35 und war in seiner Kindheit wie eine zweite Mutter für ihn gewesen. Er schüttelte den Kopf. »Aber wie Mom gesagt hat, ich wünschte, ich wüsste, wer die Richtige ist.«

Sie legte ihm eine Hand auf die Wange und sah zu ihm auf. Er und Rhonda hatten blaue Augen, doch Teresas waren braun wie die seines Vaters. Sie sah gut aus, kam jedoch nicht mal annähernd an die Schönheit von Rhonda heran.

»Ich denke, du solltest dich bei der Suche mehr anstrengen, kleiner Bruder. Öffne deine Augen weiter. Hör auf, dich nach den Meinungen anderer zu richten.« Sie grinste. »Auch nicht nach meiner.«

Er schnaubte. »Ich bin so ratlos, dass ich nicht mal weiß, was du damit meinst.«

»Mach dir keine Sorgen. Denk nur mal darüber nach, wenn du eine Minute Zeit hast. Was willst du wirklich

»Ich will, dass die Leute aufhören, mir diese Frage zu stellen.« Er lächelte, damit es nicht so schien, als würde er sie dazu drängen wollen.

Sie lachte und gab der Wange, an der ihre Hand gelegen hatte, einen Klaps. »Klugscheißer.«

»Jetzt muss ich es den gesamten Abend lang ertragen, dass Mom mich mit vernichtenden Blicken bedenkt.«

Sie grinste. »Nicht mit vernichtenden Blicken. Mit leidgeprüften Seufzern.«

»Schlimmer. Viel schlimmer.«

»Es ist eine Kunst, die ich noch zu perfektionieren suche, obwohl ich an den Kindern übe.«

Er senkte die Stimme. »Ja, tja, Rhonda scheint gut darin zu sein. Sie probiert es ziemlich oft an Mitch aus.«

Teresa spähte zu ihrer Schwester, dann sah sie Billy wieder an. »Ihn scheint es nicht zu stören. Ich glaube, Mitch braucht irgendwie eine starke Hand.«

Billy lachte leise. »Ungezogenes Mädchen.«

Die Tür zur Küche wurde aufgestoßen und seine Mutter trat mit einer Servierplatte heraus, auf der ein bereits fertig geschnittener Schinken thronte. Clarice folgte ihr mit drei Brathähnchen, die von gebackenen Tomaten und anderem Gemüse umgeben waren.

Teresa tätschelte seinen Arm. »Mom speist mal wieder die Massen – mit einer Brotrinde.« Sie ging zu Clarice, nahm ihr die Platte aus der Hand und stellte sie neben dem Schinken auf dem Tisch ab.

Sein Vater und Austin folgten ihren Nasen ins Esszimmer, während seine Mutter begann, jedem seinen Platz zuzuweisen. Sie endete mit »Billy, du und Sissy sitzt dort drüben.«

Er und Sissy? Wann zur Hölle war es Billy und Sissy geworden? Er kannte die Antwort darauf. Als er ohne Annie aufgetaucht war.

Er zog für die schöne Blonde den Stuhl hervor, was ihm ein zustimmendes Grinsen von seiner Mutter und ein breites Lächeln des Mädchens einbrachte. Sein Magen verkrampfte sich. Er war gerade erst aus dem verdammten Regen gekommen und jeder wollte ihn in die Traufe schieben. Konnte er einfach aufstehen und gehen? Sein Blick ruhte auf dem Gesicht seiner Mutter.

Okay, denk darüber nach. Sie hatte ihn gerade neben ein hübsches Mädchen gesetzt, das ihn anscheinend mochte, und er meckerte herum. Er fröstelte, griff nach dem Kartoffelpüree und bot es Sissy an.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Zu viele Kohlenhydrate.«

Kurz musterte er ihren Körper, der viel zu dünn für die Größe ihrer Brüste war. »Sieht nicht so aus, als hättest du in deinem Leben je Kohlenhydrate gegessen.«

Sie kicherte. »Danke.«

War das ein Kompliment? »Also, bist du an der Hochzeit beteiligt?« Er reichte ihr den Schinken und sie nahm sich ein Scheibchen. Er lud zwei große Stücke auf seinen Teller.

»Oh ja. Ich bin eine Brautjungfer. Ich glaube, Rhonda und Mitch haben getauscht. Er hat dich und sie hat mich.« Sie kicherte. »Also denke ich, dass wir zusammen den Gang zum Altar hinunterlaufen werden.«

»Oh, verstehe.« Er sah auf und wartete, während seine Mutter sich setzte.

Sie sah sich am Tisch um. »Lasst uns die Häupter zum Gebet neigen.«

Überrascht blickte Sissy auf, senkte dann jedoch bedächtig den Kopf.

Die Stimme seiner Mutter erfüllte den Raum. »Hab Dank, Herr, für diese Gabe, die du uns zuteilwerden lässt, und für das Geschenk der Familie. Mögen alle Anwesenden gesegnet sein für ihren Beitrag zu deiner schönen Welt – und für die Kinder, die sie in die nächste Generation bringen.«

Lieber Gott, töte mich auf der Stelle.

Teresa erhob die Stimme. »Und möge jeder von uns seinen eigenen Weg gemäß deines göttlichen Plans finden.«

Man konnte spüren, wie alle den Atem anhielten. Teresa hatte schon immer am meisten Mut gehabt. Interessanterweise wurde sie auch am meisten von ihrer Mutter respektiert.

Billy starrte auf die Tischdecke. Schließlich sagte seine Mutter: »Danke, Teresa. Reichst du das Hühnchen weiter?«

Das kollektive Aufatmen war hörbar.

Billy gab einige andere Schüsseln weiter und aß zwischendurch ein paar Bissen. Er war hungrig, doch das üblicherweise großartige Essen seiner Mutter schmeckte wie Sand.

Seine Mutter bedachte Sissy mit einem Blick, als würde sie ihren Marktwert abschätzen. »Also, Sissy, was machst du beruflich?«

Sie lächelte und tupfte sich die Lippen ab. »Ich bin in der Modebranche tätig.«

»Oh, wirklich? Wie interessant. Was genau machst du denn in der Modebranche?«

»Ich arbeite für einen Stylisten in L.A. Alexander Longstory. Er ist sehr berühmt. Wir kreieren die neuesten Trends für Filmstars und Sänger und solche Leute. Wir helfen dabei, ihre Frisuren auszusuchen und, Sie wissen schon, ihren gesamten Look. Wenn man sie auf dem roten Teppich sieht?« Sie wedelte mit ihrer Gabel. »Das war ich. Oder zumindest hatte ich etwas damit zu tun.«

Rhonda schaltete sich ein. »Sissy hat mir von meinem Hochzeitsstylisten erzählt und mir geholfen, ihn auszusuchen.«

Seine Mutter hob eine Augenbraue. »Hochzeitsstylist?«

Sissy strahlte. »Oh ja, sie hat sich Shaz ausgesucht – Chase Phillips! Es gibt niemand Besseren. Und er war die perfekte Wahl, weil er eine totale Diva ist und Laguna Beach niemals verlassen würde. Er lässt all seine Klienten zu sich kommen, was sie bereitwillig tun, glaubt mir! Aber wie auch immer, es ist einfacher für Rhonda, als nach L.A. zu gehen, und ich war begeistert, als er zugestimmt hat, mit ihr zu arbeiten.«

»Und was tut dieser Mann für dich, Rhonda?« Die Lippen seiner Mutter bildeten eine schmale Linie. Obwohl Mitch und seine Familie den Großteil der Hochzeit bezahlten, befürwortete seine Mutter nichts, was sie als Verschwendung empfand.

Rhondas Augen funkelten. »Er ist unglaublich. Er hat die Kleider der Brautjungfern ausgesucht und es geschafft, etwas zu finden, das nicht wie jedes andere gewöhnliche Kleid aussieht. Du weißt es, du hast sie gesehen. Er hat die Smokings der Trauzeugen ausgewählt und hat ein Auge auf all die Farbabstimmungen. Außerdem wird er sich bei der Hochzeit um die Frisuren und das Make-up kümmern. Nicht er persönlich, weißt du, sondern sein Team. Ihr werdet ihn sehr bald kennenlernen. Er wird ein großes Beratungsgespräch für die gesamte Hochzeitsgesellschaft ausrichten. Er ist ein absoluter Schatz. Ihr werdet ihn verehren.«

Billy runzelte die Stirn. »Nicht die Männer.«

Seine Mutter warf ihm einen kurzen Blick zu. »Was?«

»Ich habe zu Rhonda gesagt, dass ihre Diva nicht die Männer stylen wird, oder?«

Rhonda lächelte. »Oh doch. Er wird sich um jeden kümmern.«

»Das erscheint mir irgendwie komisch.«

Sissy ergriff ihn am Arm. »Oh nein, du wirst es lieben. Als würde man total verhätschelt werden, weißt du? Du wirst dich kaum wiedererkennen, wenn er mit dir fertig ist.«

Das war es, was er befürchtete. Er sah auf und entdeckte, dass seine Mutter und Rhonda eine stille Unterhaltung mit vielsagenden Blicken führten. Scheiße. Ganz schlecht.

Er versuchte, sich mit Sissy zu unterhalten und etwas zu essen, aber ihm war zu warm und der Raum schien sich um ihn herum zusammenzuziehen. Wenigstens war die Aufmerksamkeit wieder auf Rhonda und Mitch gerichtet. Alle unterhielten sich. Er tat so, als würde er zuhören, und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, bis seine Mutter ihm einen tadelnden Blick zuwarf.

Sobald es so aussah, als hätten die meisten das Essen beendet, sprang er auf und begann abzuräumen. Als er einen Armvoll Geschirr in der Spüle abgestellt hatte, folgten ihm sein Vater und Austin mit weiteren Tellern, sodass Billy sie abspülte und die Spülmaschine füllte, bevor er begann, die Töpfe und Pfannen abzuwaschen. Während er am Spülbecken stand, konnte er endlich einmal durchatmen.

Was zum Teufel stimmte nicht mit ihm?

Er wollte einfach nur nach Hause. Dieser Tag war beschissen und er hatte die Nase gestrichen voll davon.

Als der letzte Teller in der Spülmaschine verschwand, war er mit den Töpfen fertig. Er starrte ins Spülbecken und das Licht auf dem Edelstahl zwinkerte zurück. Warum zur Hölle konnte er nicht nach Hause gehen, wenn er das wollte?

Sorgsam trocknete er sich die Hände ab, dann stiefelte er aus der Küche. Die meisten der Gesellschaft waren ins Wohnzimmer gegangen, doch seine Mom und Rhonda standen in dem Durchgang zwischen den beiden Räumen zusammen und planten offensichtlich eine Verschwörung, wahrscheinlich gegen ihn.

Sei tapfer. Mit einem aufgesetzten Lächeln marschierte er zu den beiden Frauen hinüber. »Hey Leute, es tut mir leid, dass ich nur aufräume und dann gehe. Ähm, ich muss später noch wohin, also sage ich jetzt Gute Nacht.«

Seine Mutter runzelte die Stirn. »Wo musst du denn nachher hin? Du hast dich gerade von deiner Freundin getrennt.«

Zähl bis zehn. »Ich muss nach Hause. Ich habe seit 6 Uhr morgens gearbeitet und bin danach direkt hierhergekommen. Na ja, nachdem ich einen Kaffee hatte und ein Danke, aber Nein danke von Annie bekommen habe. Ich gehe.«

»Wenn du zu Hause wohnen würdest, statt für diese teure Wohnung zu bezahlen, könntest du es dir leisten, dich besser zu kleiden.«

Er riss die Augen auf. Was zur Hölle? Sie wollte wirklich dieses Thema anschneiden, obwohl er die Hälfte von dem, was er verdiente, seinen Eltern gab? Tja, verdammt. Das konnte er nicht sagen. Er konnte es nicht. Er starrte sie nur an und sah die Erkenntnis in ihren Augen.

Sie sah weg. »Außerdem wollen deine Schwester und ich mit dir reden. Wir haben uns ein paar Gedanken gemacht.«

Rhonda lächelte und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ja, Kleiner. Wir wollen nur eine Minute mit dir reden, dann kannst du nach Hause gehen.«

Sein Blick traf den seiner Schwester. Seit er 16 war, hatte er gearbeitet, um dabei zu helfen, sie durchs College zu bringen. Nein. Er schüttelte den Kopf. »Entschuldigt, ich muss jetzt gehen. Ruft mich morgen an.« Er wandte sich ab und ging zur Tür.

Rhonda rief: »Aber Billy, warte…«

Nein, verdammt. Als er die Eingangstür öffnete, hörte er seine Mutter sagen: »Er muss wegen Annie doch mehr aus der Fassung sein, als wir dachten.«