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Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen

 

Perspektiven für Theorie, Praxis und Anwendungen im 21. Jahrhundert

 

Herausgegeben von Arne Burchartz, Hans Hopf und Christiane Lutz

Christiane Lutz

Mythen und Märchen in der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030157-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030158-0

epub:    ISBN 978-3-17-030159-7

mobi:    ISBN 978-3-17-030160-3

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

 

  1. Einleitung
  2. 1 Der Begriff des Mythos – Versuch einer Annäherung
  3. 1.1 Das Wesen des Mythos
  4. 1.2 Gehalt und Inhalt der Mythen
  5. 1.3 Wirksamkeit der Mythen
  6. 1.4 Funktion des Mythos
  7. 1.5 Die Verständnisebenen des Mythos – Der Umgang mit Raum und Zeit
  8. 1.6 Mythos und Sprache
  9. 2 Die Mythen der Welt
  10. 2.1 Die ägyptischen Mythen
  11. 2.1.1 Die Realität von Tod und Leben als zusammengehörige Ganzheit
  12. 2.1.2 Die Notwendigkeit, ins Dunkel zu gehen, die Wahrnehmung des Schattens
  13. 2.1.3 Auseinandersetzung mit den chthonischen Kräften der Tiefe
  14. 2.1.4 Krisis und Zweifel, die Gefahr der Vernichtung
  15. 2.1.5 Erstarrung, Angst, Rückzug und kritisches Bewusstsein
  16. 2.1.6 Nut umschließt das Zusammengehörige, die Erfahrung der eigenen Ganzheit
  17. 2.1.7 Seth, die Konfrontation mit dem Bösen als äußere und innere Wirklichkeit
  18. 2.1.8 Die Vereinigung von Tod und Leben ist Ganzheit
  19. 2.1.9 Das Totengericht – Die Bedeutung der Emotionalität und die Konfrontation mit dem Angemessenen in Gestalt der Maat
  20. 2.1.10 Die Heilung des Auges, ein neues Sehen und Erkennen
  21. 2.1.11 Thoeris, die schwangere Göttin, die Bewältigung des Vergangenen und die Hoffnung auf Neuanfang
  22. 2.1.12 Osiris, der Gott der Toten, erlaubt Auferstehung und Neuwerdung
  23. 2.2 Die griechischen Mythen
  24. 2.2.1 Macht und Ohnmacht: Die Genealogie der ersten griechischen Götter Uranus, Kronos und Zeus
  25. 2.2.2 Bindung und Loyalität gegenüber der Mutter: Apoll, Artemis, Leto und Niobe
  26. 2.2.3 Schuld und Sühne in der Mehrgenerationenperspektive am Beispiel des Ödipus
  27. 2.2.4 Elterliche Fürsorge oder Zwang in die Abhängigkeit: Daidalos und Ikarus
  28. 2.2.5 Ambivalenz in der Mutter-Sohn-Beziehung: Hera und Hephaistos
  29. 2.2.6 Mütterliches Bindungsbedürfnis: Demeter und Kore
  30. 2.2.7 Die Suche nach Ich-Identität: Achill
  31. 2.2.8 Rivalität unter Brüdern und die Rolle des Tricksters: Hermes und Apoll
  32. 2.2.9 Weibliche Rollenvorbilder: Penelope und Klytämnestra
  33. 2.2.10 Geist contra Emotion: Dionysos und Apoll
  34. 2.3 Die geheimnisvollen Mythen der Etrusker
  35. 2.3.1 Die Götter der Etrusker, ihr Wille, ihre Deutung
  36. 2.3.2 Die Disziplina und die libri ritualis
  37. 2.3.3 Spiritualität und die Frage nach dem Sinn
  38. 2.3.4 Die Stellung der Frau
  39. 2.3.5 Weisheit der Kindheit, Weisheit des Alters: Tages der Kindgreis
  40. 2.4 Die Mythen der Germanen
  41. 2.4.1 Die Götter der Germanen
  42. 2.4.2 Der Mythos der Weltesche Yggdrasil
  43. 2.4.3 Der Nibelungenmythos
  44. 2.4.4 Die Völsungensaga
  45. 2.4.5 Der Mythos um Beowulf
  46. 3 Die Bedeutung der Märchen in der psychodynamischen Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen
  47. 3.1 Märchen und Märchenforschung
  48. 3.2 Märchen und Kinder
  49. 3.3 Gehalt der Märchen
  50. 3.3.1 Märchen und Wunscherfüllung
  51. 3.3.2 Märchen und Kompensation
  52. 3.3.3 Entwicklungsmärchen
  53. 3.3.4 Reifungsmärchen
  54. 3.3.5 Erlösungsmärchen
  55. 3.3.6 Die »Übersetzung« der Märchen in die psychologisch notwendigen Entwicklungsprozesse
  56. 3.4 Beziehungen im Märchen
  57. 3.4.1 Zwei gleich starke Partner in Machtkampf oder Übereinstimmung
  58. 3.4.2 Ein starker Mann begegnet einer schwachen Frau und macht sie zu seinem Objekt
  59. 3.4.3 Ein schwacher Mann ist mit einer starken Frau verbunden
  60. 3.4.4 Eltern und Kinder
  61. 3.5 Geschwister
  62. 3.5.1 Schwester und Bruder
  63. 3.5.2 Drei Schwestern
  64. 3.5.3 Drei Brüder
  65. 3.6 Polarität im Märchen
  66. 3.6.1 Angst und Zuversicht
  67. 3.6.2 Einsamkeit und Sehnsucht nach Verbundenheit
  68. 3.6.3 Depression und Aggression
  69. 3.6.4 Gefährdung und Errettung
  70. 3.6.5 Verkanntsein im Wert, Erkanntwerden in Würde
  71. 4 Mythen und Märchen in ihrem entwicklungsfördernden Gehalt – der Bezug zur Praxis
  72. 4.1 Der Umgang mit Ohnmachtsgefühlen angesichts schicksalhafter Gegebenheiten
  73. 4.1.1 Mythos: Odysseus zwischen Skylla und Charybdis
  74. 4.1.2 Das Märchen vom tapferen Schneiderlein
  75. 4.2 Umgang mit Gefühlen der Hoffnungslosigkeit in Lebensgefahr
  76. 4.2.1 Mythos: Odysseus und Polyphem
  77. 4.2.2 Märchen »Der Däumling« (Brüder Grimm)
  78. 4.3 Eine schuldhaft belastete familiäre Vergangenheit wird als Erbe an die nächsten Generationen weitergegeben
  79. 4.3.1 Mythos: Das Haus Atreus mit Tantalos, Thyestes und Agamemnon
  80. 4.3.2 Märchen »Rapunzel« (Brüder Grimm)
  81. 4.4 Umgang mit Loyalität und Schuldgefühl
  82. 4.4.1 Mythos: Elektra und Orest
  83. 4.4.2 Märchen »Die sieben Raben« (Brüder Grimm)
  84. 5 Nachwort
  85. Literaturverzeichnis
  86. Stichwortverzeichnis

Einleitung

 

 

 

 

 

 

Mythen und Märchen sind vielen Menschen vertraut als schöne, aufregende ermutigende und gelegentlich auch grausame Geschichten. Sie erinnern an Stunden einer Kindheit, die nicht immer unbeschwert waren, in denen diese Geschichten jedoch ihre tröstende und heilende Kraft entfalteten.

Im Wissen um ihre symbolisch zu verstehenden Antworten auf Lebensrätsel erlauben sie auch heute in gleicher Weise Orientierung und Hilfestellung. Das Geheimnis ihrer Botschaften, die aus dem archetypischen Urgrund kommen, unterstützt die selbstheilenden Kräfte im Menschen.

Mythen und Märchen beschreiben die Gesetzmäßigkeiten im Leben wie im Tod. Sie lassen Ängste, Hilflosigkeit und Verzweiflung zu, vermitteln aber auch immer den Glauben an ein gutes Ende.

Sie transportieren diese Wahrheiten ohne psychologische Erklärung über die lebendige therapeutische Beziehung. Darum ist es wichtig, dass sie, wenn sie in ihrer therapeutischen Form genutzt werden sollen, immer von der lebendigen und bezogenen Haltung des Therapeuten getragen werden müssen. Sie brauchen die menschliche Stimme, sie brauchen auch reflektierende Pausen. Diese Unterbrechungen zuzulassen, die auftauchenden Gefühle zu reflektieren, bedeutet ein wichtiges therapeutisches Tun, zu dem auch Eltern und Erzieher angeregt werden können. Mythen und Märchen wollen jedoch nicht nur mitgeteilt, sondern über das lebendige Mitschwingen des Therapeuten in der Vielfalt der angesprochenen Gefühle erlebt werden.

Indem man miteinander in die geheimnisvolle Welt voller Wunder und Magie eintaucht, setzen sich Therapeut und Kind gemeinsam den Wirkmächten kollektiver menschlicher Erfahrungen aus. Grausamkeit und auftauchende Ängste, Hilflosigkeit und Rettung, Verwicklung und wundersame Errettung, all diese polaren Situationen finden in einer von Vertrauen getragenen Beziehung Spannung und Lösung.

»Alles, was die Beziehungsfähigkeit von Kindern – zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Natur und zur Kultur, in der sie leben – verbessert, ist die wichtigste »Erziehungshilfe«, die wir unseren Kindern bieten können.« (Hüther 2011, S. 167)

Diese Botschaft ist der Kernpunkt jeglichen analytisch-therapeutischen Bemühens: Indem das Kind, der Jugendliche in den Mythen und Märchen sich und seine individuelle Situation »wiedererkennt«, verändert sich das Empfinden subjektiven und objektiven Mangels zugunsten von zunehmend belastbarer Ich-Integrität.

So repräsentieren diese archetypischen Erzählungen im weitesten Sinn therapeutische Wirkfaktoren, die Selbstwertgefühl und den Mut zur progressiven Lebensgestaltung unterstützen.

1          Der Begriff des Mythos – Versuch einer Annäherung

 

 

 

 

 

Wir brauchen die Mythologie, um die tiefsten Wahrheiten über uns selbst, unsere Ängste, unsere Träume, die Zukunft der Menschheit und der Welt, in der wir leben, erfassen zu können (de Rosa 1991, S. 20).

Wenn wir den Begriff etymologisch fassen wollen, bedeutet er Wort, Sage und Erzählung. Das heißt, den wahren Sachverhalt erzählen. Diese so bezeichneten Erzählungen schließen in sich die Mitteilung über das Tatsächliche und Wesentliche. Darum wurde ihnen in der Antike der Aspekt des Heiligen zugeordnet.

Im Mythos offenbart sich nach antiker Vorstellung das Göttliche als transzendente Gewissheit aber in numinoser Form. Ausgangspunkt ist immer das spontan nicht Wahrnehmbare. In der häufig paradoxen Mitteilung versucht der Mythos gerade das nicht Sichtbare offenbar werden zu lassen. Er trägt in sich die Herausforderung, in die chiffrierte Aussage eine Bedeutung hinein zu legen. Ein bezeichnendes Beispiel dafür sind die Orakelsprüche von Delphi. Im Bemühen, Irrationales über die Ratio sichtbar zu machen, kam es häufig zu Irrwegen und Lösungen, die am Geheimnis des Mythos vorbeigingen und an der Rätselhaftigkeit des Numinosen scheiterten.

Im Griechischen wird der Mythos deutlich vom Logos unterschieden. Dieser bezeichnet das Wort unter dem Aspekt des Richtigen. Der Logos umfasst Gedachtes, er wird bestimmt vom Verstand, ist logisch begründbar, rational zu beweisen. Der Logos braucht immer den Bezug zum anderen, von dem er sich dann als richtig abheben kann.

Der Mythos dagegen übersetzt sich mit dem »wahren Wort«. Im wahren Wort liegt im Bild, in der Anschauung die eigentliche Bedeutung.

Der Gehalt des Mythos ist zeit- und raumlos, letztlich überpersönlich, während der Logos an Zeit und Raum gebunden ist.

1.1       Das Wesen des Mythos

Der Mythos ist eine bildhafte Erzählung, in konkreter, anschaulicher Form. Er trennt nicht das Bild vom Gedanken. Erlebnis, Erfahrung und Reflexion sind ein ungeschiedenes Ganzes. Im Mythos manifestiert sich elementare Wahrheit. Er ist nicht an bestimmte kulturelle Stadien gebunden und ist zu allen Zeiten in seiner Gültigkeit erlebbar. Die Mythen haben letztlich immer einen Bezug zur Transzendenz, zum Göttlichen, das sich in den Geschichten in irgendeiner Weise offenbart. Diese Gesetzmäßigkeiten werden in den antiken Dramen des Aischylos, Sophokles und Euripides verwirklicht. Der Chor hat dabei immer die Funktion, das bildhafte Geschehen zu reflektieren und gleichzeitig die vielschichtigen Emotionen zu spiegeln.

Mythen sind überkommenes Erzählgut in praktisch allen Völkern der Vergangenheit und Gegenwart. Sie spiegeln archaische Gesellschaftsformen, egal ob sie mehr den matriarchalen oder patriarchalen Systemen zuzuordnen sind. Beide Schwerpunkte vertreten eine überindividuelle Perspektive und schließen keine Wertung in sich.

Mythen sind narrative Geschichten. Sie erzählen vom ständigen Bemühen ums Überleben und haben gleichzeitig die Aufgabe, Herausforderungen des lebendigen Lebens in seiner oft wenig spektakulären Alltäglichkeit zu bewältigen. Sie erzählen gleichzeitig aber auch von dramatischen Heldentaten, von der Begegnung mit übermenschlichen Mächten, mit Ungeheuern, Dämonen und Göttern, von Geistern und helfenden Vermittlern.

Ihre Gültigkeit liegt in der Tatsache, dass sie Urerfahrungen der Menschheit in symbolischer Verkleidung widerspiegeln, sie in Worten und Bildern zum Ausdruck bringen. Mythen besitzen die Möglichkeit, Unbegreifliches in bildhafter Sprache auszudrücken.

Damit können Mythen das Dasein erhellen, weil sie Antwort geben auf die existenziellen Fragen des Seins. Sie vermitteln über ihre Wahrheit Geborgenheit, die Sinn in die Lebensgestaltung bringt. Sie zeigen, dass wir mit unseren Wünschen und Ängsten, Gefühlen der Einsamkeit und der Verlassenheit, aber auch der Konfrontation von Gefahren als äußere und innere Konfliktsituationen nicht allein sind. In ihrer Zeitlosigkeit geben sie in allen Lebensaltern Orientierung und eröffnen letztlich Wege zum Heil im Sinne einer inneren Ganzheit.

1.2       Gehalt und Inhalt der Mythen

Mythen behandeln Urthemen:

•  In den Theogonien werden Geburt und Schicksale der Götter behandelt. Es geht um die Polarität von natürlichen und übernatürlichen Kräften, Leben und Tod, Leib und Seele, Gut und Böse.

•  In den Kosmogonien geht es um die Entstehung der Welt, um den Werdeprozess in Gestaltung und Entwicklung, von der Polarität von Diesseits und Jenseits, Himmel und Hölle.

•  Die Soteriologien umfassen die Themen von Erlösung, von Heilbringern und Rettern, Heiligen und Sündern, Glück und Unglück, Seligkeit und Verdammnis.

•  In der Eschatologie geht es um Endzeitstimmung, Untergang und Ende der Zeit, aber auch den Beginn einer zeitlosen Ewigkeit.

In früheren Zeiten lebten die Menschen noch ganz im mythischen Denken. Die Präsenz der Götter war wahrhaftig. Sie waren beim Opfer anwesend, das Erleben der Transzendenz war leibhaftig. Das Ende des mythischen Zeitalters wird etwa um das 8. vorchristliche Jahrhundert datiert. Mit dem Aufschreiben der Geschichte durch Homer löste der Logos den Mythos ab, ohne ihn in seiner Bedeutung schmälern zu können. Die Nähe zum Transzendenten war durch die »Menschlichkeit« der antiken Gottheiten weiter präsent.

Der Mythos spricht weiterhin in erster Linie Gemüt und Empfindung an. Er ist irrational, polar, unkausal. Der Logos, bestimmt vom Denken, entwickelt Theorien und Systeme. Der Mythos beschreibt Phänomene. In ihm wird man des Hellen und des Dunklen ansichtig ohne eine primäre Bewertung. C. G. Jung beschreibt Mythen als den Mutterboden aller Träume und Jan Gebser sieht in den Mythen »wortgewordene Kollektivträume der Völker« (Gottschalk 1973, S. 20 und 21)

Mythen erklären die Geheimnisse des Lebens in einer symbolisch zu verstehenden Bildersprache. Es sind polare Themen und Perspektiven, die jedoch nicht kausal erklärt werden. Sie werden vielmehr wie Bilder dem Hörenden präsentiert und werden so verständlich und wirksam. Man könnte in einer Parallele die Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle durch Michelangelo heranziehen. Das Bild drückt die Wahrheit der ersehnten und vertrauensvoll erwarteten Bindung aus, mehr als es jedes Wort vermag. Ebenso verdeutlichen Mythen die Geheimnisse von Beziehungen in ihrer Ambivalenz und Sehnsucht. In gleicher Weise ist Geburt, Wachsen und Werden Thema und auf der anderen Seite Abschied, Trennung und Tod.

Bereits Plato bediente sich der mythologischen Bildersprache, um philosophische Weisheiten erlebbar zu machen (Höhlengleichnis), und auch Jesus sprach in Gleichnissen von der Komplexität der Welt und in ihr gelebten Beziehungen, die gerade darum uns, ebenso wie die Menschen vor 2000 Jahren, ansprechen. In der hinduistischen Medizin verordneten die Ärzte ihren Patienten bei seelischen Schwierigkeiten gleichnishafte Geschichten, über die sie meditieren sollten.

Unser westliches Denken versucht häufig die Wirksamkeit der bildhaften Gestaltung im Mythos kausal zu erklären, wodurch der Blick auf mögliche Problemlösungen verstellt wird.

1.3       Wirksamkeit der Mythen

Mythen können als Abbilder des Menschlichen Erlebens Widersprüchliches in der eigenen Wesenheit verständlich machen. Beziehungsdramen in der Eltern-Kind-Interaktion ebenso wie in der Paardynamik werden über eine emotionale Parallelsetzung entschärft und entlasten dadurch. Sie können damit Ängste relativieren und von Schuldgefühlen entlasten. Im Mythos zeichnen sich häufig Entsprechungen hinsichtlich der Entwicklung eines Kindes ab. Dadurch wird seitens der Eltern Verständnis möglich. Mythen bieten, wenn auch gelegentlich in verschlüsselter Form, Lösungsimpulse an, die Erziehungsschwierigkeiten relativieren. Dadurch kann sich wachsende Sicherheit einstellen, die zunehmend Geborgenheit im Menschlich-Allzumenschlichen verspricht.

Mythen zeigen in ihren farbigen Bildern, dass Eltern wie Kinder ihren vielschichtigen und oft ambivalenten Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert sein müssen. Sie signalisieren Herausforderungen, aber auch Aufgaben, die aktiv in Angriff genommen werden wollen.

Dunkel und Licht, Hilflosigkeit, Verzweiflung und Zuversicht sind die archetypischen Pole zwischen denen sich das Leben im Mythos einst und in der Realität heute vollzieht.

Mythen zeichnen polare Spannungen nach. Diese können sich gegenseitig bedingen, sich ergänzen, aber sich auch ausschließen in den irrationalen Prinzipien von Raum und Zeit.

Sie setzen sich auf der Objektebene mit den Bedingungen der Natur auseinander, unterstreichen ihre Kräfte und die partielle Unterlegenheit des Menschen hinsichtlich der Naturgewalten (z. B. Meer und Winde, Dürre und Wüste, Sonne, Mond und Sternenmächte).

Sie drücken auf der Subjektebene gleichzeitig seelische Zustände und unbewusste Triebvorgänge aus. Diese Ebenen fließen immer wieder ineinander: Götter werden zu Menschen und verbinden sich mit ihnen. Auserwählte Helden und Heldinnen steigen ins Elysium auf, verlieren ihre menschliche Begrenztheit und gehören zu den Erleuchteten. Auf der anderen Seite können auch die Personen göttlicher Abstammung abstürzen und zu ewigen Strafen aufgrund ihrer Anmaßung verurteilt werden. Götter sind zwar allwissend, werden aber trotzdem betrogen.

Beginn und Endzeit verknüpfen sich. Das Wissen um ein Ende wird immer schon am Anfang transparent. Beide Aspekte werden lebendig in einer oft dramatischer Gegenwart, in der die unterschiedlichsten polaren Prinzipien zu einer irrationalen Gemeinsamkeit finden.

1.4       Funktion des Mythos

•  Mythen wollen über die Welt in ihrem Ursprung und Wesen aufklären

•  Sie geben Hinweise über die Stellung, die Aufgaben und Herausforderungen, die das Leben an den Menschen stellt.

•  Hierbei wird der Mensch sowohl in seiner Individualität als auch als kollektives Wesen angesprochen.

•  Mythen beschäftigen sich mit den polaren Spannungsverhältnissen in der Welt, die sich einer rationalen Erklärung verschließen.

•  Über eine emotionale »kindliche« Annäherung erschließt sich die Sinnhaftigkeit des Mythos.

•  Mythen sind unter diesem Aspekt in der Lage, Lebens- und Todesangst zu verringern und analog Zuversicht und Vertrauen in die positiven Schicksalsmächte zu fördern.

•  Mythen sind aktive Helfer in der Lebensbewältigung, indem sie verschiedene Verhaltens- und Reaktionsmuster skizzieren. Damit erlauben sie dem Menschen in seinem Handeln Flexibilität und Variabilität.

•  Mythen verfügen über eine Psycho-Logik. Damit unterstützen sie den Prozess von Einsicht und Erkenntnis in die individuelle und kollektive Rätselhaftigkeit des Menschseins.

•  Mythen sind beglaubigte Erzählungen über Wirklichkeiten. Dadurch erschließt sich metaphysisch die Realität in Tiefe und Wahrheit.

•  Die mythische Erzählung ist unmittelbare Wirklichkeit. Sie ist vertraut, auch in ihren bedrohlichen Aspekten. Das ist ein Grund dafür, dass Kinder und Jugendliche davon fasziniert sind.

•  Mythen haben eine überzeitliche Bedeutung. Das Geschehen gründet in einer Form von Vergangenheit und hat trotzdem bleibende Gültigkeit, indem sie die Gegenwart gestaltet und gleichzeitig die Zukunft beeinflusst (Totengericht in Ägypten).

•  Diese überzeitliche Bedeutung wird in Kultus und in rituellen Festen (Weihnachten, Ostern etc.) vergegenwärtigt.

•  Die gleiche Wirksamkeit der Gegenwärtigkeit des Bild gewordenen Mythos vollzieht sich in der darstellenden Kunst ebenso wie in der Musik.

»In der bildenden Kunst wie Plastik, Malerei, Graphik finden die mythischen Gestalten und Ereignisse als Ur- und Sinnbilder ihre Abbildung. Insbesondere zeigen Literatur und Umgangssprache die aktuelle Bedeutung des Mythos. Fast alle Wissenschaftsbereiche bedienen sich mythischer Begriffe: Geisteswissenschaften, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft Theaterwissenschaft, Sportwissenschaften, Naturwissenschaften …« (Bellinger 1999, S. 8).

1.5       Die Verständnisebenen des Mythos – Der Umgang mit Raum und Zeit

Das Charakteristikum des Mythos ist die Ungebundenheit an Zeit und Raum. Der Mythos ereignet sich jederzeit und überall. Trotz einer gewissen Zeitgebundenheit ruht er im Zeitlosen. Die mythische Zeit bleibt transparent, sie nutzt die »wissenschaftliche«, messbare Zeit nicht für ihre Struktur. Im Mythos begegnen sich Geschehnisse und Dinge in einer Unbedingtheit. So ließe sich zusammenfassend im Sinne Emma Brunner-Trauts sagen: Die Vergangenheit ist der Bereich des Faktischen, die Gegenwart repräsentiert das Wirkliche und die Zukunft umfasst das Mögliche. Damit wird das monotone Zeitkontinuum aufgehoben. Statt die Wahrheit zu finden, wie es die Wissenschaft fordert, geht es um Wahrheiten, die im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind. Diese Wahrheiten können jedoch nur in Sinnbildern und Abbildern begreifbar werden (Brunner-Traut 1981, S. 6).

1.6       Mythos und Sprache

Die Geschichten und darin vorkommende Gestalten, Götter, Helden, Bösewichter und Untiere, um nur einige zu benennen, entsprechen bestimmten Vorstellungen des mythischen Denkens. In der Entsprechung lösen sie beim Zuhörer auch die gemeinten Vorstellungen aus. Es sind bestimmte grundlegende Muster, die sich symbolisch ausdrücken im Gegensatz zur rational determinierten Begrifflichkeit. Der Mythos hat eine eigene Sprache, die sich der symbolischen Aussage bedient. Diese kann nicht über die logische Erkenntnis verstanden werden, sondern nutzt die Vieldeutigkeit des Bildes.

»Denn der Mythos, eine Art von Symbolsprache teilt mit dem Zeichen die Schweigsamkeit. Das erkenntnismäßig nicht Erfassbare tendiert auf Vergegenwärtigung im Symbol, dem mythenmächtigen Zeichen und dem Mythos« (Brunner-Traut 1981, S. 37).

Zusammenfassung

Mythen sind bildhafte Erzählungen (»das Wahre«) und unterscheiden sich vom Logos (»das Gedachte«). Sie schildern Geschichten, die jedoch nicht rational, sondern intuitiv verstanden werden wollen. Sie spiegeln Urerfahrungen der Menschheit als archetypisches Wissen und faszinieren heute in gleicher Weise, wie vor 2000 Jahren. Ihre Wirksamkeit erschließt sich aus der Tatsache, dass sie existenzielle Fragen des Seins behandeln. Ihre Antwort ist jedoch nie eindeutig, sondern mehrdeutig, vergleichbar dem Orakel von Delphi.

Literatur zur vertiefenden Lektüre

 

Comte, F. (2008).Mythen der Welt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Fink, G. (2003).Who’s who in der Antiken Mythologie (11. Auflage). München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Lutz, C. (2010).Mythen machen Kinder mutig. Stuttgart: opus magnum.

Moormannn, E. M. & Uitterhoeve, W. (2010). Lexikon der antiken Gestalten von Alexander bis Zeus. Stuttgart: Alfred Kröner.

Pohlke, R. (2002).Das wissen nur die Götter. Deutsche Redewendungen und ihr griechischer Ursprung. Frankfurt/M., Leipzig: Insel.

Zingsem, V. (2008).Göttinnen großer Kulturen. Köln: Anaconda.

Weiterführende Fragen

•  Wie erklärt sich die Faszinationsbereitschaft von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich der Mythen?

•  Warum erreicht das kausal-reduktive Denken nicht den Gehalt von Mythen?

•  Welche Grundthemen des Menschseins bilden sich in Mythen ab?

•  Gibt es einen Grund dafür, dass die Raum- und Zeitlosigkeit der Mythen die Wirksamkeit unterstreicht?

2          Die Mythen der Welt

 

 

 

 

 

Es gibt auf der ganzen Welt eine Fülle von Mythen, die sich mit menschlichen Themen in ihrer jeweiligen kulturell bedingten Ausdrucksform auseinandersetzen. Aus der Fülle der Möglichkeiten sind unserem Erleben manche Mythen näher, manche ferner. Ich habe darum diejenigen herausgegriffen, die einen prägenden Einfluss auf die Erlebnisformen und die Einstellung zum lebendigen Sein im mitteleuropäischen Raum ausgeübt haben und noch heute eine emotionale Faszination ausstrahlen.

2.1       Die ägyptischen Mythen

Die ägyptischen Mythen umkreisen als zentrales Thema Leben und Tod. Im Gegensatz zum abendländischen Denken, das dem Erbe der griechischen Antike verpflichtet ist, war der Tod für die alten Ägypter jedoch nicht das Ende, sondern der Beginn eines neuen Lebens. Ihre Überzeugung schlug sich in der gleichnishaften Äußerung nieder: »Du stirbst, damit du lebst«.

Die wunderbar ausgemalten Gräber nicht nur der Pharaonen sondern auch der Bürgerlichen und Handwerker zeugen von dieser Gewissheit. Tod wurde in der ägyptischen Vorstellung einerseits als Fortsetzung des bisherigen andererseits als Beginn eines neuen Lebens mit neuen Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten verstanden.

Die symbolische Blickrichtung, die sich in der Traumdeutung C. G. Jungs schwerpunktmäßig widerspiegelt, stellt für diese Haltung eine Parallele dar. Tod ist in der Traumsprache, ebenso wie in Märchen und Mythen, ein Synonym für Wandlung. Wandlung als Ausdruck einer notwendigen Veränderung, um auf dem Weg der Erkenntnis weiterzugehen. Tod bedeutet, sich mit dem Dunkel des Unbewussten auseinanderzusetzen. Orpheus wagte sich in dieses Dunkel der Unterwelt, Herakles holte den Höllenhund Zerberos aus eben dieser Dunkelwelt, auch Odysseus wagte sich in dieses Reich. Aber auch der christliche Mythos kennt diese Notwendigkeit, wenn Christus »niedergefahren zur Hölle« ist. Auch Goethe beschrieb diesen notwendigen Prozess von Konfrontation und Wandlung, wenn Faust das Dunkelreich der Mütter besucht. Tod und Leben gehören zusammen, gemäß dem Wort Platos: »Tod ist ein langer Schlaf, Schlaf ist ein kurzer Tod.«

In ägyptischer Vorstellung wurden aufgrund der mythische Bezogenheit Leben und Wahrnehmung ganzheitlich empfunden. Gott und Mensch, aber auch das Göttliche in Tiergestalt, männlich und weiblich, waren keine Gegensätze, sondern eine zusammengehörige Ganzheit. Erst mit dem Ende des mythischen Erlebens, beginnend mit dem bewussten Denken und der schriftlichen Niederlegung der Mythen wurden sie zu Geschichten, zu Ausdrucksformen des polaren Denkens und Erlebens.

Stellvertretend für das mythische Erleben der Ägypter möchte ich das »Amduat« (Clarus 1980) beschreiben. Es ist der Weg der Erkenntnis, der sich in zwölf Stufen vollzieht und die Gesamtheit des Lebens im Werden und Vergehen umschließt. Auf beeindruckende Weise spiegelt sich im Amduat ein ähnlicher Entwicklungsweg, der sich auch im Prozess einer analytischen Behandlung im Geiste C.G. Jungs vollzieht.

2.1.1     Die Realität von Tod und Leben als zusammengehörige Ganzheit

Der Ausgangspunkt ist eine Wahrnehmung der Realität des Lebens, die den Tod als Konsequenz in sich schließt. Die Ägypter vertrauten auf den ewigen Kreislauf von Leben und Tod im Sinne einer zusammengehörenden Ganzheit. So wird nachvollziehbar, dass der Tod als scheinbar dramatisches und grausames Ende des Lebens kein Erschrecken bedeutete, sondern ganz selbstverständlich die Tür zu einer neuen Form des Seins öffnete.

Ein eindrucksvolles Beispiel für dieses Wissen, das Leben und Tod zusammengehören, stellte sich mir im Kontakt mit einem dreijährigen kleinen Jungen dar. Er hatte den Tod seiner 95-jährigen Urgroßmutter sehr bewusst miterlebt und verarbeitete ihn auf folgende Weise:

Mit lauter Stimme verkündete er: »Du bist jetzt gestorben!« Dabei musste ich mich auf den Boden setzen, die Augen schließen, den Kopf auf die angewinkelten Beine legen und diese mit den Armen umschließen. Dann ergriff er einen großen Blumentopf mit einer üppig blühenden rosa Azalee und rief: »Jetzt bist du wieder aufgewacht«! Dieses Spiel wiederholte er während der ganzen Stunde. Ich durfte dabei kein Wort sagen und musste mich genau an seine Handlungsanweisungen halten. Dabei kam ich mir vor wie im Mythos von Orpheus und Eurydike. Ein Tun entgegen seinen Anweisungen hätte das Geheimnis der Wiedergeburt als Neubeginn zerstört. Er beendete die Stunde mit den Worten: »Und jetzt bist du wieder ganz lebendig, aber du lebst im Himmel und schaust auf mich ’runter und dann bist du froh.«

In der Übertragung war ich seine Urgroßmutter. An mir machte er seine Überzeugung fest, dass Tod und Leben eine Einheit bilden und letztlich das Leben, wenn auch in einer verwandelten Form, Ende und Neubeginn ist.

In diesem Beispiel zeigt sich ein Wissen, das dem des mythischen Denkens der Ägypter entspricht und die Weisheit des Seins umschließt.

In Bewusstsein der alte Ägypter war der Glaube an die Fortdauer des Lebens eng mit Bild der Sonne verbunden. Das Motiv der Sonne symbolisiert das Tagesbewusstsein. Mit ihr wird gleichzeitig auf den ständigen Wandel des Lebens hingewiesen: Am Morgen (des Lebens) steigt Chepre im Symbol des Skarabäus am Himmel auf. Er ist die Morgenröte des Bewusstseins, Ausdruck des jungen Lebens. Am Mittag steht Re am Himmel, Symbol für das aktive, vitale handelnde Tun in der Mitte des Lebens. Am Abend neigt sich die Sonne in Gestalt des Atum gegen den Horizont. Es ist die Stufe der ruhigen Erkenntnis, der Weisheit aufgrund einer langen Tages- und Lebenserfahrung. Sodann beschreibt die Sonne den unteren Halbkreis. Es geht um die von den Ägyptern so bezeichnete »Nachtmeerfahrt«.

2.1.2     Die Notwendigkeit, ins Dunkel zu gehen, die Wahrnehmung des Schattens

Hier ist das Schattenreich des Osiris, der als Fruchtbarkeitsgott vor der Ermordung durch seinen neidischen Bruder Seth Wachstum und Leben garantierte. Im Totenreich liegen aber auch die Bedrohungen durch die gewaltige Schlange Apophis, die die Sonne zu verschlingen droht. Eine Entsprechung findet sich im Wechsel von Tag und Nacht, von Wach- und Schlafbewusstsein. Nachts kann Schreckliches passieren, das dem kontrollierenden Bewusstsein nicht zugänglich ist.

Im Amduat wird sehr eindrücklich diese Konfrontation mit dem bedrohlichen Dunkel in Schrift und Bild dargestellt. In der analytischen Behandlung sprechen wir von der Auseinandersetzung mit dem Schatten. Dieser uns weitgehend unbewusste Persönlichkeitsanteil enthält alle ungeliebten, gesellschaftlich nicht akzeptierten Eigenschaften wie Aggression in seiner destruktiven Form, Neid, Eifersucht und Rivalität (vgl. den Band Psychodynamische Therapien von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in dieser Reihe). Diesen Schatten in die Lebensführung zu integrieren, zwingt zur Neueinstellung zu sich selbst. Dann kann sich auch der positive Aspekt von dynamischer Kraft und Aktivität, von Vitalität und Kreativität entfalten. Personahaftes Denken, wie »man« zu sein hat, wird abgelöst von einem Selbstbewusstsein, das um den eigenen Wert, um die eigenen Licht- aber auch Schattenseiten weiß. So fordert man weder von sich noch von anderen Menschen ausschließlich »Lichtträger« zu sein, Voraussetzung für Akzeptanz und Toleranz.

Es ist auch die Rolle, die überwiegend kleinen Mädchen zugewiesen wird, nämlich, süß, angepasst und freundlich zu sein

Ein kleines Mädchen wurde mir seitens der Eltern wegen Schlafstörungen vorgestellt. Gleichzeitig betonten sie eifrig: »Im Übrigen haben wir überhaupt keine Probleme mit ihr. Sie war immer pflegeleicht. Auch das Trotzalter hat sie uns erspart.«

Die kleine fünfjährige Prinzessin sagte mir im Erstkontakt mit einem bezaubernden Lächeln:

»Ich weiß schon, warum ich bei Dir spielen soll, weil ich nämlich nicht einschlafen kann«. In der Tat war die Fünfjährige oft bis Mitternacht wach. Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie eifrig fort: »Ich denke immer, dass eine ganz große, dicke Schlange unter meinem Bett liegt und mich auffressen will!« Als ich das Schreckliche dieser Gefahr bestätigte, ergänzte sie: »und dann leuchten Mama und Papa immer mit einer Taschenlampe unter das Bett und sagen, da ist doch gar nichts. Aber die Schlange ist so schlau, die kann sich nämlich unsichtbar machen, wenn Licht kommt und dann ist sie plötzlich wieder da!« Und unvermittelt fügte sie sehr ernst hinzu: »Ich glaube, du kannst Schlangen beschwören.«

Die Schlange zu beschwören verstand ich als ihre intuitive Erkenntnis, sich über das Medium Spiel im unbewussten Raum niederzulassen, sich dem Chaos und der Gefahr verdrängter Inhalte auszuliefern.

Nach einigen Behandlungsstunden verkündete sie: »Ich muss hier ganz viel kämpfen« und schwang dabei das Holzschwert gegen mich. »Du wärest jetzt ein Drache und ich muss dich töten.« Drachen und Schlangen gehören als tierische Repräsentanten zum negativen Aspekt der Großen Mutter (vgl. den Band Psychodynamische Therapien von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in dieser Reihe). Die kleine Patientin begann, sich mit dem Dunkel ihrer unbewussten heftigen Emotionen in einer »Als-ob-Situation« in der Projektion auf die Therapeutin auseinanderzusetzen. Es ist eine vom Prozess her verstandene positive Übertragung. Das Mädchen hat in der Therapiesituation so viel Vertrauen gefasst, dass es die verdrängten Aggressionen wagt auszuagieren.

2.1.3     Auseinandersetzung mit den chthonischen Kräften der Tiefe

Im Amduat geht es auf der nächsten Stufe darum, sich dem Dunklen anzuvertrauen. Osiris in seiner Dominanz als Totengott zu erleben, bedeutet, sich mit den Mächten der chthonischen Tiefe auseinanderzusetzen. Dieser Schritt heißt aber auch, sich in seiner Vereinzelung zu begreifen, Einsamkeit zu erleiden, sich im wahrsten Sinn gottverlassen zu fühlen. Im Dunkel der Nacht nicht schlafen zu können, sich irrealen Ängsten ausgeliefert zu wissen, die Gefährdung des Lebens zu erahnen, sich mit Schmerzen herumzuschlagen, all das meint das Amduat in dieser dritten Phase auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Jugendliche in der Pubertät kennen dieses Gefühl der Vereinzelung. Die Eltern sind nicht mehr die Halt gebenden Götter. Sie schützen nicht mehr, sondern sind in gleicher Weise bedroht. Alte Sicherheiten schwinden, das Paradies der Kindheit liegt hinter einem. Entwicklung fordert den Schritt ins Neuland. Sich dieser Unausweichlichkeit zu stellen, löst nicht selten eine Krise aus, die zu einer tiefen Regression, nicht selten durch Drogen unterstützt führt. Die Angst vor dem Fremden, Unbekannten auszuhalten, das Wagnis der Neuwerdung auf sich zu nehmen und Zuversicht zu entwickeln, fällt in dieser Zeit schwer. In der Therapie von Jugendlichen im Werdeprozess der Pubertät begegne ich darum Gedanken über Suizid sehr häufig.

So begrüßte mich eine Jugendliche nach meiner Rückkehr von einem Kongress über suizidale Krisen mit den Worten: »so, so, Sie haben sich mit einem Vortrag über Selbstmord profiliert und ich hätte mich beinahe umgebracht. Sie waren ja mit sich und ihrer Großartigkeit beschäftigt, an mich haben sie mit Sicherheit nicht gedacht!« Die gemischte Gruppe bestätigte diese Äußerung mit beifälligem Gemurmel. Schließlich sagte einer: »Na ja, über Selbstmord denken wir wohl alle nach in dieser Welt voll selbstgefälliger Erwachsener (er gebrauchte ein populäres Schimpfwort).« »Aber«, setzte er fort: »Sie wären ja dann ruiniert, wenn wir es täten. Wer geht schon zu einer Therapeutin, bei der sich Jugendliche reihenweise umbringen.«

Ich war sehr erleichtert, dass sich die autodestruktive Gefährdung in offene Aggression mir gegenüber verkehrte. So war es möglich, das Thema Angst vor Abhängigkeit und gleichzeitig vor dem Alleinsein zu bearbeiten. Ein Mädchen schloss diese Klärung ab mit den Worten: »Sie sind aber genauso abhängig von uns. Was wäre, wenn wir nicht kämen und niemand was von ihnen will? Dann wäre es vielleicht an der Zeit, dass sie sich auch einmal mit ihren Ängsten befassen, statt sie immer bei uns zu suchen. Typisch Erwachsene! …«