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Michelle Zerwas

Die Wege der Liebe





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1. Kapitel

 Fej stand noch immer fassungslos auf der Terrasse. Sie schaute in den Sonnenuntergang. So hatte sie schon immer am Besten nachdenken können und das hatte sie im Moment auch bitter nötig. Es war so viel passiert. Sie wusste gar nicht mehr, wo ihr der Kopf stand.

Im Haus war ihre gesamte Verwandtschaft versammelt, obwohl so viel Verwandtschaft gar nicht mehr vorhanden war. Doch Fej konnte dieses ganze verlogene Getue nicht mehr ertragen.

Vor einigen Stunden war ihre Großmutter auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt worden. Der Tod ihrer geliebten Großmutter hatte Fej sehr getroffen. Sie war bei ihr aufgewachsen und hatte ihr nach dem Tod ihrer Eltern Geborgenheit, Liebe und das Gefühl von Familie vermittelt. Das war jetzt alles anders. Mit einem Schlag war ihre nahezu heile Welt zusammengebrochen. Der Boden war ihr unter den Füßen weggezogen worden.

Nun saß die ganze Familienbagage im Haus ihrer Großmutter, trank Kaffee, stopfte sich mit Kuchen und allerlei herzhaften Häppchen voll und durchwühlte neugierig und sensationslüstern den Besitz ihrer Großmutter.

Das alles wäre vielleicht noch zu ertragen gewesen, wenn Fej nicht vor wenigen Minuten unabsichtlich ein Gespräch zwischen ihrer Tante und ihrer Nachbarin mit angehört hätte.

Fej wollte ins Bad gehen, als sie glücklicherweise noch rechtzeitig bemerkte, dass ihre Tante Antonia und die Nachbarin ihrer Großmutter Dorothea bereits in diesem Raum waren.

Zuerst wollte Fej sich schon wieder davonschleichen, denn sie hatte wirklich keine Lust entdeckt und womöglich in ein Gespräch verwickelt zu werden.

„Warum willst du Fej und Luca nicht endlich sagen, dass ihre Eltern nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind? Findest du nicht sie haben ein Recht auf die Wahrheit?“, hörte sie Dorotheas Stimme.

„Rita wollte nicht, dass sie es erfahren. Sie hatte ihre Gründe dafür. Ich habe ihr versprochen Stillschweigen zu bewahren und daran halte ich mich, auch nach ihrem Tod.“

„Ich sehe das anders. Ich finde jeder Mensch hat ein Recht auf die Wahrheit. Es geht schließlich um die Eltern der Kinder.“

Antonia klang nun gar nicht mehr so nett als sie Dorothea antwortete.

„Dann verrate mir mal warum ich jetzt alte Wunden aufreißen soll? Fej und Luca haben nie irgendwelche Fragen gestellt. Sie haben es so hingenommen. Was glaubst du wohl wie sie reagieren werden, wenn sie erfahren, dass ich sie all die Jahre angelogen habe? Sie werden kein Wort mehr mit mir sprechen wollen.“

„Wenn du den Mund hältst, so wie alle anderen auch, dann besteht gar keine Gefahr, dass Luca und Fej die Wahrheit herausfinden. Versprich mir, dass du ihnen nichts sagst!“

„Das kann ich nicht“, antwortete Dorothea wahrheitsgemäß. „Wenn Fej oder Luca mich fragen, werde ich ihnen die Wahrheit sagen.“

Antonia schien beruhigt zu sein. Schließlich hatte Fej all die Jahre nicht weiter nachgefragt und den Worten ihrer Großmutter stets vertraut.

Fej fühlte sich betrogen nach diesen Worten, die sie unbeabsichtigt mit angehört hatte. Hatte ihre Großmutter sie etwa all die Jahre angelogen? Für einen Moment vermochte sie sich nicht zu rühren. Dann vernahm sie Schritte hinter der Tür zum Badezimmer, die näher zu kommen schienen. Schnell huschte sie ins Nebenzimmer und verbarg sich hinter der Tür.

Als die Schritte draußen verklungen waren, wagte sie sich aus ihrem Versteck. Den Schock über das Gehörte musste sie erstmal verdauen. Vor allem musste sie raus. Mit solchen Menschen konnte und wollte Fej nicht unter einem Dach sein.

Sie suchte sich einen Weg nach draußen. Obwohl das Haus voller Leute war, schaffte sie es ungesehen nach draußen. Schließlich kannte sie jeden Winkel im Haus. Immerhin war sie in diesem Haus aufgewachsen. Wenn sie nicht jeden geheimen Winkel kannte, wer denn dann?

 

Es wurde bereits dämmrig draußen und Fej fror entsetzlich. Es war ein Tag im Spätherbst. Der Winter stand vor der Tür und Fej trug keine Jacke. Doch lieber wollte sie draußen erfrieren als zurück ins Haus gehen.

„Schwesterchen, was machst du denn hier draußen?“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ihr Bruder Luca auf die Terrasse getreten war.

Luca umarmte seine Schwester von hinten. „Du bist ja total durchgefroren. Komm lass uns reingehen, sonst erkältest du dich noch.“

„Ich möchte lieber noch etwas draußen bleiben. Hier ist alles so friedlich.“

Luca streichelte Fejs Arm. „Drinnen ist es auch wieder friedlich. Alle sind nach Hause gegangen.“

Lucas Argument überzeugte Fej schließlich. Gemeinsam mit ihrem Bruder ging sie ins Haus. Nun in der Wärme des Hauses, bemerkte Fej erstmal wie kalt es draußen wirklich gewesen war. Fej schlang ihre Arme um ihren Oberkörper, um sich zu wärmen. Luca legte den Arm um ihre Schwester, geleitete sie zum Sofa und wickelte sie in eine Wolldecke.

Er setzte sich neben Fej. „Was ist los? Irgendetwas bedrückt dich doch?!“

„Glaubst du dass Rita uns immer die Wahrheit gesagt hat?“

Überrascht sah Luca seine Schwester an.

„Hm, was meinst du damit? Also, ich denke die eine oder andere Notlüge wird sie sicherlich mal benutzt haben. Wer tut das schließlich nicht?“

„Das meine ich nicht. Ich meine ob sie uns so richtig angelogen hat. Kannst du dir das vorstellen?“

„Eigentlich nicht, aber worauf willst du hinaus?“

Fej druckste ein wenig herum. „Ich habe heute Nachmittag zufällig ein Gespräch zwischen Antonia und Dorothea mitgehört. Sie haben uns alle angelogen. Alle, die wir kennen. Unsere Eltern sind nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“

„Bist du sicher? Vielleicht hast du nur etwas falsch verstanden!?“

„Ich weiß doch, was ich gehört habe“, brauste Fej auf.

„Was hast du denn gehört? Was ist sonst mit unseren Eltern passiert?“

„Was genau passiert ist, weiß ich nicht. Darüber haben Antonia und Dorothea nicht gesprochen. Warum auch, sie wissen es schließlich. Ich habe nur gehört, dass Dorothea gefragt hat, ob Antonia uns nun endlich die Wahrheit sagen will. Sie meinte, dass sie das nicht tun möchte und hat auch Dorothea verboten uns irgendetwas zu sagen.“

„Dann sollten wir das respektieren. Sie wird ihre Gründe dafür haben.“

„Interessiert es dich denn gar nicht was damals wirklich passiert ist?“ Fej konnte nicht glauben, dass ihr Bruder überhaupt kein Interesse daran zu haben schien.

„Wenn ich ehrlich bin, nein. Unsere Eltern sind tot und ob sie nun bei einem Unfall ums Leben gekommen sind oder ob irgendeine andere Ursache dahinter steckt, ist doch völlig egal.“

„Und was ist wenn es Mord war und der Mörder noch immer frei herumläuft? Willst du nicht, dass er im Falle eines Falles dafür verurteilt wird?“

„Ich glaube du steigerst dich da in was rein. Wenn es wirklich Mord war, wie du glaubst, dann wird man sicherlich in der Vergangenheit alles unternommen haben, um den Fall aufzuklären. Vielleicht waren unsere Eltern krank und sind an dieser Krankheit gestorben.“

Doch so schnell war Fej nicht von ihrer Meinung abzubringen. „Das glaube ich nicht. Wenn sie krank gewesen wären, dann hätte man uns nichts von einem Unfall erzählen müssen. Nein, da steckt etwas Anderes dahinter.“

„Ach, ist doch egal! Warum willst du unbedingt in der Vergangenheit nach irgendwelchen Spuren suchen? Da hast du doch nichts von. Wahrscheinlich machst du dich sogar nur unglücklich.“

Fej antwortete nicht, doch Luca entging nicht das abenteuerlustige Glitzern in ihren Augen.

„Du willst der Sache also wirklich auf den Grund gehen?“

„Klar! Auch wenn du es nicht wissen willst, aber ich möchte schon herausfinden, was damals mit unseren Eltern passiert ist. Ich werde morgen damit anfangen und im Haus auf Spurensuche gehen. Vielleicht finde ich etwas. Wenn nicht kann ich immer noch Dorothea fragen.“

„Tu was du nicht lassen kannst, aber halte mich da raus. Ich möchte damit nichts zu tun haben, aber wenn du natürlich Hilfe brauchst dann kannst du auf mich zählen. Du weißt, ich bin immer für dich da. Und nun denk nicht mehr daran. Heute ist schon so viel passiert, den Rest des Tages sollten wir etwas Ruhiger gestalten.“

Luca machte eine Kleinigkeit zu essen. Nach dem Essen verabschiedete er sich. Er war noch mit seiner Freundin verabredet.

Fej wollte im Haus ihrer Großmutter schlafen auch wenn sie es so allein im Haus etwas unheimlich fand. Doch dann konnte sie am nächsten Tag sofort mit der Suche beginnen.