Über das Buch:
Als Kayden McKenna bei einer waghalsigen Klettertour auf eine Leiche stößt, wird schnell klar: Es war kein Unfall, sondern heimtückischer Mord. Gemeinsam mit Jake Westin und ihren Geschwistern macht sich Kayden daran, in der Kletter-Community nach der Wahrheit zu suchen – und stößt auf harten Widerstand. Dass dabei ihre Gefühle für Jake ans Tageslicht kommen, muss sie widerstrebend zulassen.
Doch erst als der Mord aufgeklärt ist, erkennen die McKennas, dass die größte Gefahr noch nicht vorbei ist, sondern ganz in ihrer Nähe lauert und bis tief in die Vergangenheit reicht …

Über die Autorin:
Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.

Kapitel 8

Spruce Harbor war eine Stadt mit etwa zweitausend Einwohnern auf der Insel Imnek, die nordwestlich von Tariuk lag. Eine Fähre verband die beiden Inseln und Kodiak Island mit dem Festland. Es war eine Weile her, dass Kayden in Spruce Harbor gewesen war, und bei ihrem Besuch in Brodys Kletterhalle war sie erleichtert gewesen, als sie gehört hatte, dass er auf einer Klettertour war. Das letzte Mal hatte sie ihren Ex-Freund vor zwei Jahren gesehen, bei einer Kletterveranstaltung mit mehreren Hundert Menschen, sodass sie kaum Gelegenheit gehabt hatten, ungestört zu sein. Und das war ihr nur recht so. Brody und sie waren Geschichte. Es war, als wäre ihre Beziehung ein ganzes Leben lang her, und das war sie in gewisser Hinsicht auch.

Rocktrex, Brodys Trainingshalle, war eine umgebaute viergeschossige Fischfabrik, die zwischen den hübschen historischen Gebäuden, die an der Uferpromenade der Stadt standen, merkwürdig unpassend wirkte.

Der norwegische Einwanderer Ole Enget hatte Spruce Harbor Ende des neunzehnten Jahrhunderts gegründet, kurz nachdem der ebenfalls aus Skandinavien stammende Peter Buschmann den Ort Petersburg an der Inside Passage, einem Seeweg vor der Küste Alaskas, gegründet hatte. Beide Orte hatten sich schnell zu Fischereihäfen mit reichen norwegischen Traditionen entwickelt, die in Stadt und Kultur immer noch deutlich zu sehen waren.

Gemalte Blumen in traditioneller Bauernmalerei schmückten Türrahmen und Holzteller in den verschiedenen Schaufenstern an der Hauptstraße, die mitten durch die Stadt führte. Auf dem Markplatz erhob sich die zweistöckige Stadthalle der „Söhne Norwegens“, in der jedes Jahr im Mai das Norwegen-Festival stattfand. Dann trugen die Einwohner norwegische Trachten und führten Volkstänze auf. Es war ein toller Anblick, den man sich nicht entgehen lassen sollte. Kayden und ihre Geschwister nahmen jedes Jahr daran teil, wenn es möglich war.

Oles anderes bleibendes Vermächtnis war die Fischereiindustrie, die auf der Insel die Haupteinkommensquelle war. Jeden Tag strömten die Schiffe aus dem Hafen auf der Suche nach Lachs, Heilbutt und Kabeljau. Jeden Abend kehrten sie mit ihrer Ladung für die neue Fischfabrik auf der anderen Seite des Hafens zurück. In der Seeluft von Spruce Harbor hing immer ein Fischgeruch, so wie es auch in Yanceys Haupthafen der Fall war.

Kayden wies den Weg zu Rocktrex am Ende der Harbor Street. Sie fragte sich, wie Brody sie begrüßen würde, wenn er da war. Würde Jake etwas von ihrer gemeinsamen Vergangenheit mitbekommen? Natürlich würde er das. Jake bekam alles mit. Er war ziemlich lästig und – so peinlich es ihr auch war – ausgesprochen sexy.

Seine Kraft, seine vielfältigen Begabungen und vor allem, so ungern sie es zugab, seine geheimnisvolle Faszination fesselten sie. Jahrelang hatte sie sich zu einem Mann hingezogen gefühlt, den sie verachten wollte – und nach außen hin auch verachtet hatte. Aber jetzt, wo sie die Wahrheit kannte und wusste, dass Jake ein guter Mann war, ein guter Mann mit einer tragischen Vergangenheit, fühlte sie sich nur noch mehr von ihm angezogen. Noch nie hatte sie etwas dermaßen verunsichert.

Jake brauchte jemanden, der tröstlich, geduldig, liebevoll war – jemanden wie Piper. Jedenfalls ganz eindeutig nicht Kayden, die verzweifelt versuchte, ihre eigenen Verletzungen zu verbergen.

Die Sonne brach durch die Wolken und wärmte sie, während sie an der alten Hafenmauer entlanggingen und sich Rocktrex näherten.

Jake blieb mit der Hand auf dem Türknauf stehen. „Bist du bereit?“

„Natürlich.“ Kayden trat ein und ihre Gefühle spielten sofort verrückt. Mann, sie hasste das. Wenn sie diese Emotionen doch innerlich nur genauso beherrschen könnte, wie sie es äußerlich tat.

Sie machte zwei Schritte und …

„Kaybär!“

Jake wandte sich mit einem Grinsen zu ihr um. „Kaybär?“, fragte er. Aber sie brauchte nicht zu antworten, weil Brodys Arme sie umschlangen.

„Hi, Brody.“

Er ließ sie los und trat einen kleinen Schritt zurück, sodass er aber immer noch nah genug war, um sie sorgfältig zu mustern.

Jake richtete sich neben ihnen ein wenig auf.

„Mann.“ Brody fuhr sich mit der Hand über den Kopf. „Das ist mal ein Anblick für meine müden Augen.“

Kayden schob sich die Haare hinters Ohr, ein wenig unbehaglich, weil er sie so anstarrte. „Ich freue mich auch, dich zu sehen, Brody.“

„Wie lange ist es her? Ein Jahr oder zwei?“

„Zwei. Die Denali-Meisterschaft.“

„Stimmt. Du hast meine Mannschaft beim Bouldern alt aussehen lassen.“ Brody lächelte. Seine Haare waren jetzt dunkler und kürzer, aber seine Augen waren immer noch genauso blau. „Und wie geht es dir? Du siehst toll aus, wie immer.“

Brody war schon immer ein Charmeur gewesen, obwohl ihr Jakes ruhige Blicke lieber waren als Brodys überschwängliche Komplimente.

„Mir geht’s gut.“

„Freut mich, dass du gekommen bist. Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen. Wie geht es der Familie?“

„Gut. Cole heiratet übermorgen und Piper im August.“

„Ist nicht dein Ernst. Jemanden, den ich kenne?“

„Cole heiratet Bailey Craig.“

„Den Namen kenne ich von früher. Ich weiß noch, dass die beiden zusammen waren, kurz vor uns beiden. Aber … Bailey war doch weggezogen, oder?“

„Ja, aber jetzt ist sie wieder da.“ Kayden schluckte, weil sie
Jakes neugierige Blicke auf sich spürte. „Und Piper ist mit Landon Grainger verlobt“, fügte sie schnell hinzu, in der Hoffnung, von sich selbst abzulenken.

„Der Winzling und Landon?“ Brody lachte. „Na, das ist ja ein Paar. Aber ich kann nicht sagen, dass es mich überrascht.“

„Nein?“

„Nein. Zwischen den beiden hat es schon immer gefunkt – auch wenn es sich hauptsächlich darin gezeigt hat, dass sie sich gestritten haben. Ärger und Herumzicken sind sichere Anzeichen für verborgene Leidenschaft.“

Kayden zwang sich, nicht Jake anzusehen, während sie betete, dass er die Wahrheit über sie nicht erkannte – dass unter all ihrem angeblichen Misstrauen die Hoffnung, er könnte doch ein guter Kerl sein, mit Gefühlen gerungen hatte, die sie nicht zulassen wollte. Wäre Jake – als sein wahrer Charakter ans Tageslicht kam – der Mann gewesen, für den sie ihn gehalten hatte, hätten die Gefühle sich irgendwann verloren. Aber ihr Plan war nicht aufgegangen. Jetzt kannte sie seinen wahren Charakter und empfand nur noch mehr für ihn.

„Also du und dein …“ Brody sah Jake zum ersten Mal an. „… Freund wollt klettern?“

„Oh, tut mir leid. Brody, das ist Jake Westin … Cavanagh“, fügte Kayden eilig hinzu.

„Das ist ja ein hübscher Name.“ Brody streckte die Hand aus.

„Jake reicht völlig.“ Jake ergriff die Hand des Mannes.

„Freut mich, dich kennenzulernen, Jake. Bist du auch Kletterer?“

„Ich lerne noch.“

„Er ist zu bescheiden“, sagte Kayden. „Für einen Anfänger ist er ziemlich gut.“

Jake war in wenigen Monaten von kurzen von oben gesicherten Touren über einige Boulder-Übungen zu kleineren Freiklettertouren fortgeschritten. Das bedeutete, dass er ein Naturtalent war. Konzentriert. Willensstark. Mit unglaublicher Kraft im Oberkörper. Als Kayden das erste Mal gesehen hatte, wie seine starken Arme einen Haltepunkt umgriffen, hatte ihr Herz förmlich geflattert. Es war, als wäre etwas, das lange tot gewesen war, wieder zum Leben erwacht. Die Tatsache, dass Jake die Ursache dafür war, machte sie immer noch nervös.

„Cool. Dann gehen wir zur Wand“, sagte Brody.

Jetzt kam der spannende Teil. „Eigentlich sind wir nicht zum Klettern hier, Brody.“

„Du bist nur so vorbeigekommen?“

Kayden sah Jake an und er übernahm großzügig die Führung und zog seine Dienstmarke. „Wir müssen dir ein paar Fragen über Conrad Humphries stellen.“

Brody sah Kayden mit einer Mischung aus Verwirrung und Enttäuschung an.

Sie schüttelte den Gedanken ab. Dies war dienstlich. Ein Mann war tot. „Können wir irgendwo reden?“

„Gehen wir in mein Büro.“ Er sah zu einem jungen Mann hinüber, der Klettergurte sortierte. „Shane, kannst du bitte mal kurz übernehmen?“

Der junge Mann, der offensichtlich froh darüber war, seine langweilige Tätigkeit aufgeben zu können, ging zum Tresen und begrüßte ein Pärchen, das gerade die Halle betrat. „Hallo, Leute. Was kann ich für euch tun?“

Brody zeigte auf einen Gang. „Hier entlang.“

„Nach dir.“ Jake gab Kayden ein Zeichen. Dafür, dass er so ein Naturbursche war, hatte er richtig gute Manieren – bestimmt ein Überbleibsel davon, dass er in der feinen Gesellschaft von Boston aufgewachsen war, was sie immer noch nicht richtig fassen konnte. Wie konnte jemand aus einem solchen Leben in Eleganz und Reichtum kommen und jetzt fast eins sein mit der Natur? Irgendwann würde sie ihn wahrscheinlich fragen, obwohl sie fürchtete, dass ihre Gefühle für ihn immer tiefer würden, je mehr sie über diesen Mann erfuhr.

Sie gingen außen um den Kletterbereich herum – vier Stockwerke braune Wände mit Haltegriffen in allen möglichen Farben. Neongrüne Klebestreifen zeigten den Schwierigkeitsgrad der jeweiligen Route an.

Ein paar Kunden kletterten mit Sicherung von oben, einer war angeseilt, kletterte aber frei, und der große Bouldering-Bereich, wo man ohne Sicherung klettern konnte, war leer.

Kayden fragte sich, wo Conrad Humphries den Großteil seiner Zeit verbracht hatte.

Brody führte seine Besucher einen kurzen Gang hinunter, an dessen Ende sich eine Tür befand. Er öffnete sie und ließ sie eintreten. Das Büro war ungefähr zehn Quadratmeter groß, aber voller als Pipers Zimmer – Broschüren und Unterlagen türmten sich auf dem Schreibtisch und auf jedem anderen Möbelstück lagen Ausrüstungsmuster und andere Artikel, während der Boden mit Kartons bedeckt war.

„Sorry“, sagte Brody und machte einen Stuhl für Kayden frei. „Mein Büro fungiert gleichzeitig als Lager.“ Er stellte einen Karton mit Wasserflaschen auf einen schiefen Turm aus Kletterzeitschriften neben ihr. Dann sah er sich auf der Suche nach einem zweiten Stuhl ratlos um.

Jake hob die Hand. „Ich kann stehen, wirklich. Mach dir keine Umstände.“ Er bezog hinter Kaydens Stuhl Position.

Brody nickte und sah wieder Kayden an. „Also, was gibt’s?“

Sie beugte sich vor. „Wir sind hier, um über Conrad Humphries zu sprechen.“

„Conrad“, sagte Brody seufzend. „Was für eine Schande. Er war ein netter Kerl.“

Kayden straffte die Schultern. „Ich habe ihn gefunden.“

Brody nahm ihre Hand. „Oh, Kay, das tut mir leid. Wie schrecklich.“

Es war tatsächlich nicht angenehm gewesen, aber als Mitglied der Rettungsmannschaft war sie mit dem Tod vertraut. „Wir müssen dir ein paar Fragen stellen.“

Brody spitzte die Lippen. „Zum Beispiel?“

„Wir überprüfen, was er vor der Klettertour gemacht hat.“ Kayden warf Jake über die Schulter einen Blick zu. „Jake ist Deputy des Sheriffs von Yancey. Er ermittelt im Fall von Conrads Tod.“

Brody setzte sich auf die einzige freie Kante seines Schreibtisches. „Was gibt es denn da zu ermitteln? Conrad hatte einen Kletterunfall.“

Jake sah Kayden an, um ihr die Gelegenheit zum Antworten zu geben. Sie schätzte diese Geste sehr, da sie und Brody eine gemeinsame Vergangenheit hatten – egal, wie lange das her war.

Kayden holte tief Luft, weil sie wusste, dass die Nachricht die ganze Kletter-Community treffen würde. Es tat immer weh, wenn man einen aus den eigenen Reihen verlor, aber Mord war noch viel schlimmer.

Sie räusperte sich. „Ich fürchte, es war kein Unfall.“

Brody runzelte die Stirn und sein verständnisloser Blick ging von ihr zu Jake. „Wie bitte?“

„Seine Kreide war manipuliert.“

Brody erstarrte. „Was meinst du mit manipuliert?“

„Ich meine, dass jemand Conrads Kreide unbrauchbar gemacht hat.“

„Nur, dass ich das richtig verstehe: Du willst behaupten, dass jemand absichtlich etwas mit Conrads Kreide gemacht hat, damit er bei seiner Klettertour abstürzt?“

„Ich behaupte nicht. Der Gerichtsmediziner von Yancey hat es heute Morgen bestätigt. In Conrads Kreide befand sich eine Zutat, die sie unbrauchbar gemacht hat.“ Genau genommen ging Dodecanol noch einen Schritt weiter, indem es die beabsichtigte Wirkung der Kreide geradezu ins Gegenteil verkehrte, aber diese Einzelheiten mussten sie hier nicht erwähnen. Wie Jake ihr erklärt hatte, war es besser, sich nicht zu sehr in die Karten schauen zu lassen, zumindest an diesem Punkt der Ermittlungen.

Brody sackte in sich zusammen. „Ich fasse es nicht. Wer würde so etwas tun?“

„Deshalb sind wir hier. Wir brauchen deine Hilfe.“

„Meine Hilfe? Ich war bei der Tour nicht dabei.“

„Nein“, sagte Jake und stützte die Hände auf die Rückenlehne von Kaydens Stuhl. „Aber wir haben gehört, dass Conrad regelmäßig hier geklettert ist.“

„Ja, und?“

„Und meinst du wirklich, irgendjemand hier in der Halle wusste vorher von der geplanten Klettertour am Stoneface?“, fragte Kayden.

„Natürlich. Conrad hat von nichts anderem gesprochen.“ Brody nickte Kayden zu. „Du weißt doch, wie das ist. Wenn man eine Tour plant, dann will man darüber reden.“

„Wann war Conrad das letzte Mal hier?“

„Einen Tag vor der Tour.“

Vivienne hatte diesbezüglich also die Wahrheit gesagt.

Kayden schlug die Beine übereinander. „Wer hatte an dem Tag Zugang zu Conrads Ausrüstung?“

„Conrad.“

„Und?“, hakte sie nach. Als Brody den Kopf schüttelte, verdrehte sie die Augen. „Komm schon. Jeder weiß, dass die Leute ihre Sachen in eines der offenen Fächer stopfen, wenn sie duschen oder aufs Klo gehen.“

„Und …?“

„Und jeder im Gebäude, der zur gleichen Zeit hier war wie Conrad, hätte seine Kreide manipulieren können.“

Brody kniff die Augen ein wenig zusammen. „Willst du damit sagen, dass jemand in meiner Halle sich an Conrads Ausrüstung zu schaffen gemacht hat?“

Jakes Stimme blieb ruhig und leise. „Wir müssen allen Möglichkeiten nachgehen.“

Brody schüttelte den Kopf. „Ich fasse es nicht. Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet du“ – er zeigte auf Kayden – „hierherkommst und behauptest, einer unserer Kletterer würde so etwas tun. Mann, ich habe ja gehört, dass du nach dem Tod deiner Mutter eiskalt geworden bist, aber bis jetzt habe ich es nicht geglaubt.“

Kayden ignorierte die schmerzhafte Spitze von einem Typen, den sie einmal geliebt hatte, und stählte sich gegen die Kränkung, wie immer. „Das hat nichts mit mir zu tun. Ehrlich gesagt finde ich es merkwürdig, dass du sofort wütend wirst.“

Brody verschränkte die muskulösen Arme über der breiten Brust. „Was soll das denn heißen?“

„Es heißt, wenn du wirklich Conrads Freund warst, dann würdest du wollen, dass sein Mörder gefunden wird.“

„Das ist doch nicht dein Ernst. Glaubst du wirklich, ich hätte irgendwas mit der Sache zu tun?“

„Das hat sie nicht gesagt“, warf Jake ein, „aber es ist interessant, dass du es so verstanden hast.“

„Ich habe überhaupt nichts verstanden. Ich bin sauer, weil wir so nicht miteinander umgehen.“

„Wir?“, fragte Jake.

„Die Kletter-Community.“

„Willst du damit sagen, dass Kletterer sich gegenseitig decken?“

„Nein, Mann. Ich sage, dass wir zusammenhalten. Wir passen aufeinander auf. Wir verlassen uns aufeinander. Wir schaden uns nicht gegenseitig und schon gar nicht so, dass jemand dabei umkommt.“

Es stimmte, aber offenbar hatte jemand in dieser Klettergemeinschaft das aus dem Blick verloren und eine schreckliche Grenze überschritten.

„Dir fällt also niemand ein, der Conrad vielleicht schaden wollte?“, fragte Jake.

„Nein, Mann.“

„Hat jemand in letzter Zeit ungewöhnliches Interesse an ihm gezeigt?“

„Nein.“ Brody zögerte. „Obwohl … na ja … wenn du es so ausdrückst.“

„Ja?“, hakte Kayden nach.

„Sein Kumpel bei der Stoneface-Tour.“

„Stuart Anderson?“, fragte sie. Sie konnte den Mann immer weniger leiden.

„Genau.“

„Und was ist mit ihm?“, fragte Jake.

„Er hat sehr auf der Tour bestanden.“

Jake sah ihn prüfend an. „Was meinst du mit darauf bestanden?“

„Ich habe Conrad gesagt, ich sei mir nicht sicher, ob er für Stoneface schon gut genug ist. Es ist eine schwierige Tour und Conrad ist erst seit ein paar Jahren geklettert.“

„Wie hat er reagiert?“, fragte Kayden.

„Er hat es mit Stuart besprochen und …“

„Stuart hat Conrad davon überzeugt, dass es kein Problem sein würde?“

Brody tippte sich an die Nase. „Du sagst es. Er hat Conrad richtig angestachelt. Anschließend konnte ich es ihm nicht mehr ausreden.“

Kayden drehte sich um und sah Jake an. Jetzt kam der unangenehme Teil.

Zum Glück übernahm Jake die Führung. „Wir haben gehört, dass Conrad seine Ausrüstung hier gekauft hat.“

„Manchmal …“ Brody verstummte, während er Kayden ungläubig anstarrte. „Ich fasse es nicht. Dich kann ich nicht fassen.“ Sein Blick bohrte sich unverwandt in Kayden. Und plötzlich war sie wieder sechzehn – und Brody und sie saßen auf der Terrasse und er drückte seine weichen Lippen zum ersten Mal auf ihre.

„Wir müssen fragen“, sagte sie.

Du nicht.“

„Was soll das heißen?“ Kayden wusste genau, was das heißen sollte. Sie hätte jemand anderen schicken können. Sie hätte sich weigern können, ihren ersten Schwarm, ihren ersten Freund zu fragen, ob er irgendetwas mit Conrads Tod zu tun hatte.

„Die alte Kayden wüsste genau, was ich meine.“ Brody schüttelte seufzend den Kopf. „Ich kann nicht fassen, dass die Gerüchte stimmen.“

Frag nicht. „Und was sind das für Gerüchte?“

„Dass du eine herzlose Schl...“

„Es reicht!“, ging Jake scharf dazwischen und schob sich schützend vor Kayden. „Beantworte die Frage. Hat Conrad Humphries hier seine Kreide gekauft?“

„In den letzten drei Monaten nicht.“

„Wo hat er sie dann gekauft?“

„Bei Natalie Adams.“

Imnek Island Adventures?“, fragte Kayden.

„Ja. Natalie bietet seit Kurzem eine neue Marke für Kletterausrüstung an und unterbietet mich seitdem.“

„Tut mir leid“, sagte Kayden. Als Miteigentümerin von Last Frontier Adventures kannte sie das Problem, von einem Mitbewerber unterboten zu werden.

„Egal.“ Brody zuckte mit seinen breiten Schultern. „Die Einnahmen aus unserem Shop machen nur einen Bruchteil unseres Umsatzes aus und ich habe viele treue Kunden. Nur wenige sind zu Nat gewechselt.“

„Hast du eine Ahnung, wann Conrad das letzte Mal seinen Kreidevorrat aufgestockt hat?“, wollte Jake wissen.

„Nein. Da müsst ihr Natalie fragen.“

Kayden sah Jake an. „Ich denke, wir wissen, wo wir jetzt hingehen sollten.“

* * *

Jake hätte Kayden nach Brodys verletzenden Worten so gerne getröstet, aber er wusste nicht, was er tun sollte. Wie konnte er sie trösten, ohne dass es ihr noch peinlicher wurde?

Sie warf einen Blick zurück zur Kletterhalle. „Brodys Reaktion war nicht normal. Er war viel zu aggressiv.“

„Ihr kennt euch schon lange?“

Sie schob die Hände in die Taschen ihrer ausgeblichenen Jeans. „Wir waren Freunde …“

„Und dann …?“

„Waren wir in der Highschool zusammen.“

„Aber …?“ Vielleicht überspannte er den Bogen. Sie hatte ihm gerade mehr von sich erzählt, als sie es jemals bewusst getan hatte.

„Seine Eltern zogen in meinem letzten Schuljahr nach Imbek.“

Das Jahr, in dem ihre Mutter gestorben war. „Das muss hart gewesen sein.“ Jake schluckte, denn er wusste, dass sie das, was er als Nächstes sagte, entweder als Wahrheit akzeptieren oder beiseitewischen würde, als hätten Brodys Worte sie nicht verletzt. Er räusperte sich. „Was Brody gesagt hat, ist nicht wahr.“

Kayden runzelte die Stirn. „Welcher Teil?“ Sie war offensichtlich auf den Fall konzentriert und nicht auf seine Bemerkungen über sie.

Jake wich ihrem Blick nicht aus und die Tiefe der Emotionen, die sie in ihren umwerfenden mandelförmigen Augen nie verbergen konnte, raubte ihm den Atem. „Der Teil über dich.“ Er betete, dass sie nicht den Blick abwenden würde, und wider Erwarten tat sie es tatsächlich nicht sofort. Sie nickte nur kurz – und beließ es dabei.

Jake atmete ein und betrachtete Kayden. Was bewegte sie? Was trieb sie an? Er war sehr gut darin, Menschen zu durchschauen, und im Laufe der Jahre hatte er einiges über Kayden gelernt. Was ihn aber am meisten faszinierte, war der Teil, den er nicht durchschauen konnte. Er konnte vorhersehen, wie sie in beinahe jeder Situation handeln oder reagieren würde, aber er konnte einfach nicht herausfinden, warum sie so war, wie sie war, und warum sie so reagierte, wie sie es tat. Es hatte etwas mit dem Verlust ihrer Mutter zu tun, da war er sicher. Aber da war noch etwas, etwas Tieferes, und es hatte mit einem Ereignis zu tun, das die Ursache war. Wahrscheinlich würde er es nie erfahren. Das würde nur der Mann tun, dem sie irgendwann ihr Herz offenbarte, und so sehr er sich auch wünschte, dieser Mann zu sein, hatte Jake Angst, dass es nie dazu kommen würde.

Angst. Dieses Gefühl hatte er nie wirklich gekannt, bis er Becca und das Baby verloren hatte. Wenn er etwas mehr Angst gehabt hätte, wären die beiden vielleicht noch am Leben. Deshalb war er so darauf bedacht gewesen, sein Herz zu schützen. Aber jeder Narr konnte sehen, dass dieser Selbstschutz nicht funktionierte, was Kayden und die anderen McKennas betraf. Und die verzweifelte Angst, er könnte die Familie verlieren, die er lieben gelernt hatte, und die Frau, die er liebte, hielt sein Herz im Würgegriff. Es erstickte förmlich daran.

Kapitel 9

Jake ging neben Kayden her und seine helle Haut reflektierte die Sonnenstrahlen. Es gab so vieles, was sie wissen wollte.

„Ist schon okay“, sagte er mit einem schiefen Lächeln.

„Was ist?“ Sie hoffte, dass er nicht wieder von Brody anfangen würde. Brodys Worte hatten wehgetan, aber sie hatte sie abgeschüttelt, so wie sie alles andere abschüttelte. Jakes Sorge war sehr aufmerksam und sie hatte sich große Mühe gegeben, sich nicht in ihrer Festung zu verkriechen – indem sie seine Fragen ehrlich beantwortet hatte –, aber für den Augenblick war ein Schritt beängstigend genug.

Er pflückte eine Wildblume, die am Bürgersteig wuchs, und drehte den Stiel zwischen den Fingern. „Ich weiß, dass du neugierig bist.“

Sie runzelte die Stirn. Worauf will er hinaus? „In Bezug auf …?“

„Mich.“ Jake lächelte verhalten, so wie er noch nie gelächelt hatte, und mit einem Mal war ihre Kehle ganz trocken. Er war so männlich, so attraktiv … so … so vieles, woran sie nicht denken sollte.

Er neigte den Kopf ein wenig. „Du kannst ruhig fragen. Wenn es etwas ist, was ich nicht beantworten will, dann tu ich’s einfach nicht.“

Kayden lachte und die Anspannung in ihrem Magen löste sich.

Er zog eine Augenbraue hoch und seine Lippen zuckten. „Was ist?“

Sie schüttelte den Kopf. „Das klingt so, als hätte ich es sagen können.“

„Vielleicht sind wir uns ähnlicher, als du glaubst.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Vielleicht.“

* * *

Es klopfte an seiner Tür. Reef lächelte. Er hatte sich schon gefragt, wie lange es dauern würde. „Komm rein.“

Piper trat ein. „Hast du dich eingerichtet?“

„Ja.“ Er legte die letzten Sachen in die Schublade der Kommode und wartete.

Piper ließ sich auf dem Bett nieder. „Sie ist sehr nett.“

Wie ich’s mir gedacht habe. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Dreißig Sekunden, bis sie auf Anna zu sprechen kam. Das war ein neuer Rekord. „Ja, das ist sie.“

„Und wie lange gehst du …“

„… schon in die Kirche?“

„Ich wollte eigentlich mit Anna aus sagen, aber es klingt so, als wäre das ungefähr dasselbe, also ja.“

„Drei Monate.“

„Sie ist …“

„… ganz anders als die Mädchen, mit denen ich sonst ausgegangen bin.“

Piper warf ein Kissen nach ihm. „Das macht überhaupt keinen Spaß.“

Er fing das Kissen, bevor es sein Gesicht traf. Sie zielte besser als früher. „Tut mir leid. Ich kenne dich einfach zu gut.“

„Und ich kenne dich.“

„Und …?“

„Und ich freue mich wirklich für dich.“

„Aber …?“

„Aber … “ Piper zog die Beine in den Schneidersitz. „Ich bin einfach neugierig.“

Reef lachte. „Wann bist du das nicht?“

„Stimmt auch wieder.“

Er setzte sich neben sie aufs Bett. „Also, was willst du wissen?“

„Wieso hast du angefangen, in die Kirche zu gehen?“

„Wegen der Zeit hier mit euch. Ich habe gesehen, welche Auswirkungen die Gemeinde auf euer Leben hat. Und ich habe gesehen, in welche Richtung mein Leben lief, und wusste, dass ich etwas ändern muss.“

„Das ist toll, aber es ist nicht die Gemeinde, die etwas bewirkt – sondern Christus.“

Haarspalterei – es lohnte nicht, darüber zu streiten.

„Und Anna?“, wollte sie wissen.

„Ist vollkommen.“

„Wirklich?“

Er runzelte die Stirn. „Warum sagst du das so?“

„Sie macht einen tollen Eindruck, aber ich …“

„Du findest, sie passt nicht zu jemandem wie mir?“

„Eigentlich wollte ich es andersherum sagen. Du bist so lebhaft und abenteuerlustig.“

„Das gebe ich ja auch nicht auf. Ich mäßige es nur etwas.“ Reef erhob sich und trat ans Fenster. „Weißt du, ich bin überrascht. Ich dachte, du würdest begeistert sein.“

„Das bin ich ja. Wenn du glücklich bist, bin ich auch glücklich. Ich will mich nur vergewissern, dass du wirklich glücklich bist.“

„Ich bin glücklich, Piper.“ Nur anders glücklich.

Piper stand auf. „Gut. Dann freue ich mich für dich. Anna ist ein reizendes Mädchen.“

„Das wir schon lange genug warten lassen.“ Reef folgte Piper den Gang hinunter zu dem Zimmer, in dem Anna schlafen würde – seinem alten Zimmer. Er war verwirrt. Er hatte gedacht, Piper würde ganz aus dem Häuschen sein anstatt skeptisch. Er hatte ein nettes Mädchen mit nach Hause gebracht. Und er änderte sein Verhalten zum Besseren. Warum zögerte sie dann? Warum stellte sie ihm diese Fragen? Na gut, Anna war keine Abenteuersportlerin – oder überhaupt keine Sportlerin. Im großen Ganzen spielte das keine Rolle. Die Tatsache, dass sie Gott liebte, war viel wichtiger. Verstand Piper das nicht? Oder war er es wieder, dem das entscheidende Detail entging?

* * *

Jake betrat hinter Kayden den Laden von Imnek Island Adventures. Sie boten ähnliche Dienstleistungen an wie Last Frontier Adventures, indem sie Abenteuerreisen in Alaska veranstalteten und die nötige Ausrüstung dafür anboten. Im Gegensatz zu LFA, das von den McKenna-Geschwistern gemeinsam geleitet wurde, war IIA das Einfrauprojekt der adrenalinsüchtigen und outdoorbegeisterten Natalie Adams.

Natalie war eigentlich ganz nett. Sie und Jakes Gruppen waren sich in den letzten paar Jahren einige Male über den Weg gelaufen.

Jetzt stand Natalie hinter dem Tresen und das dunkelblonde Haar fiel ihr in die Stirn, während sie eine Broschüre betrachtete. Ein geöffneter Karton mit Flyern stand neben ihr auf der Ladentheke.

Das Geschäft war von der Größe her dem der McKennas durchaus ähnlich und bot ähnliche Ausrüstungsgegenstände an: Neoprenanzüge, Sauerstoffflaschen, Schnorchelutensilien, Ski- und Snowboard-Ausrüstungen und alles Nötige für Kayak- und Wildwassertouren. Allerdings fehlten Natalies Laden die spielerischen tropischen Elemente – die Blumenketten, die über die Vitrinen drapiert waren, die Poster von Surfern an den Wänden und die hawaiianischen Melodien, die aus den Lautsprechern drangen. Natalies Laden war typisch für Alaska, während Last Frontier Adventures in Hawaii oder Kalifornien hätte sein können.

„Hallo, Natalie“, sagte Kayden.

Natalie blickte auf und pustete sich die Haare aus den Augen. „Hi, Kayden, Jake.“

„Wie geht’s?“, fragte Jake.

Natalie zuckte mit den Schultern. „Kann nicht klagen.“ Ihr Blick wanderte zu Kayden. „Habe gehört, dass du eine gruselige Entdeckung gemacht hast.“

Kayden schob die Hände in die Hosentaschen. „Ich fürchte, da hast du recht.“

„Tut mir leid, das mit Conrad. Es ist immer schlimm, einen Kletterer zu verlieren.“

Oder irgendeinen Menschen. Jake verstand die Kameraderie innerhalb der Sportlergemeinschaft, aber Mord war Mord. Er war immer schrecklich.

Kayden kam gleich zur Sache. „Wir haben gehört, dass Conrad seine Kreide hier gekauft hat.“

„Stimmt.“ Natalie legte die Broschüre in die Kiste zurück und beugte sich vor.

„Wann war das? An welchem Tag?“

„Am Nachmittag vor seiner Klettertour am Stoneface.“

„Bist du sicher, was die Zeit betrifft?“

„Absolut. Er kam nach der Arbeit vorbei. Ich habe eine neue Packung geöffnet. Die eine Hälfte habe ich ihm gegeben, die andere habe ich für mich selbst behalten. Wir wollten beide am nächsten Tag klettern gehen.“

„Wo bist du geklettert?“

„Auch drüben auf Tariuk, aber auf der Ostseite.“

„Und hattest du Probleme mit deiner Kreide?“

„Nein.“

„Hast du von der Packung noch etwas?“, fragte Jake.

„Bestimmt ist noch ein bisschen übrig. Ich gehe gleich nachsehen. Mein Kreidebeutel ist im Schließfach.“

Jake sah zu, wie Natalie in den hinteren Teil des Ladens ging. „Wenn sie noch etwas von der Kreide hat, ist das ein Riesenschritt in den Ermittlungen, denn dann können wir nämlich bestimmen, wann das Dodecanol hinzugefügt wurde – bevor oder nachdem die Kreide Natalies Geschäft verlassen hat“, sagte er leise zu Kayden.

„Wie können wir sicher sein, dass das, was sie uns zeigt, wirklich aus derselben Packung stammt? Vor allem, wenn kein Dodecanol drin ist?“

„Booth kann überprüfen, ob die anderen Komponenten übereinstimmen.“

Natalie kam mit einem Kreidebeutel vom Büro zurück. „Tut mir leid, es ist kaum noch was drin.“

Jake betrachtete den feinen Staub im Innern des Beutels. Er lächelte. Das reichte. „Du würdest staunen, was der Gerichtsmediziner selbst mit einer so geringen Menge anfangen kann.“

„Oh. Das heißt, ihr wollt es mitnehmen?“

„Ja, auf jeden Fall“, sagte Jake.

Natalie schluckte. „Ist gut. Das dürfte kein Problem sein.“

„Super.“ Er nahm ihr den Beutel ab, bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte, und schob ihn in eine Asservatentüte. „Danke.“

Natalie nickte, die Hände fest gefaltet.

„Wie gut hast du Conrad gekannt?“, fuhr Kayden mit der Befragung fort. Jake lächelte. Sie war nicht gerade subtil, doch das mochte er an ihr.

„Einigermaßen gut, würde ich sagen.“ Natalie trat hinter ihren Tresen und brachte so eine wirkungsvolle Barriere zwischen sie. „Ich habe Conrad das Klettern beigebracht.“

„Ach ja?“ Kayden schob sich die Haare hinters Ohr. „Ich dachte, er hätte es drüben in Brodys Halle gelernt.“

„Hat er auch. Ich war dort Trainerin.“

Kayden lehnte sich an die Ladentheke und ihr Knie lugte zwischen den Fäden ihrer fadenscheinigen Jeans hindurch. „Du gibst bei Brody Unterricht?“

„Ich gab – bis ich anfing, in meinem Laden Kletterausrüstung zu verkaufen.“

Kaydens braune Augen verengten sich zu Schlitzen. „Willst du damit sagen …?“

„Brody hat mich gefeuert, so schnell konnte ich gar nicht gucken.“ Natalie schob den Karton mit den Flyern beiseite und stützte die Arme auf die Tischplatte aus Granit. Dann nahm sie einen Stift, der dort lag, und drehte ihn zwischen den Fingern.

„Wow. Das ist hart.“

„Bei Brody dreht sich alles um Loyalität. Wenn er beschließt, dass du ihm gegenüber loyal bist, tut er alles für dich. Wenn er findet, dass es dir an Loyalität mangelt, wendet er sich ohne jeden Skrupel gegen dich.“

„Und Conrad?“, fragte Jake. Er war neugierig geworden.

„Was ist mit Conrad?“

„Er hat angefangen, seine Ausrüstung bei dir zu kaufen. Würde Brody das nicht als mangelnde Loyalität betrachten?“

„Das hat er sicherlich, aber es war nur Kreide.“

Natalie hatte recht – es schien kaum ein Grund, jemanden umzubringen, obwohl es vielleicht nicht Absicht gewesen war, jemanden zu töten. Vielleicht hatte es nur ein Racheakt sein sollen, der schrecklich schiefgegangen war. „Könntest du dir vorstellen, dass er Conrad und dir vielleicht eins auswischen wollte?“

Natalie riss die Augen auf. „Indem er die Kreide manipuliert hat, die ich Conrad verkauft habe?“

Jake nickte.

Sie schwieg einen Augenblick. „Nein“, sagte sie kopfschüttelnd. „Brody kann echt ein Idiot sein, aber einen Kletterkollegen in Gefahr zu bringen, widerspricht allem, was ihm wichtig ist.“

„Fällt dir jemand anders ein, der möglicherweise mit Conrad noch eine Rechnung offen hatte?“, erkundigte sich Jake, während er sich fragte, ob das die Richtung war, in der die Ermittlungen führten – dass jemand Conrad eine Lehre erteilen wollte. Eine Lehre, die aus dem Ruder gelaufen war.

„Oh ja.“ Natalie lächelte. „Versucht es mal mit seiner Frau oder seiner Geliebten.“

„Geliebten?“ Vivienne hatte nichts von einer Geliebten erzählt, aber vielleicht wusste sie nichts davon.

„Patty Tate“, sagte Natalie.

„Du meinst die unglaubliche Kletterin und zweimalige Wettkampfbeste auf Bundesstaatebene?“ Kayden hatte Jake bei ihrer letzten Klettertour auf Patty aufmerksam gemacht. Patty hatte durchaus den Ruf, ehrgeizig und eine leidenschaftliche Sportlerin zu sein.

Natalie klopfte mit dem Stift auf ihre Handfläche. „Genau die.“

„Wie in aller Welt haben die beiden denn …?“ Nach allem, was Jake über sie wusste, schienen sie ein merkwürdiges Paar.

„Sie haben sich vor einer Weile in Brodys Halle kennengelernt. Und seitdem sind sie unzertrennlich.“

„Was heißt ‚vor einer Weile‘?“, wollte Kayden wissen.

Natalie zuckte mit den Schultern. „Mindestens zwei Jahre.“

Jahre?“, wiederholte Kayden.

„Wusste Vivienne davon?“, fragte Jake, weil er wissen wollte, ob Conrads Witwe absichtlich wichtige Informationen zurückgehalten hatte oder wirklich nichts von der Affäre wusste.

„Oh ja, sie weiß Bescheid.“

„Das klingt so, als wärest du dir ziemlich sicher.“

„Weil ich es selbst miterlebt habe.“

„Was hast du miterlebt?“

„Wie Patty und Vivienne sich vor ein paar Monaten in die Haare gekriegt haben.“

Vivienne wusste also Bescheid. Interessante Auslassung ihrerseits. „Was heißt das genau?“, hakte er nach.

„Vivienne ist nicht dumm. Ich bin mir sicher, dass sie es schon länger wusste, aber nichts unternommen hat.“

„Wie kann eine Frau so etwas einfach hinnehmen?“, fragte Kayden.

„Sie sind schon lange verheiratet. Vielleicht hatte sie selbst etwas davon, vielleicht dachte sie, es sei vorübergehend, oder sie hat sich zu sehr an ihren Lebensstil gewöhnt. Wer weiß.“

„Wieso sollte Vivienne dann ihre Meinung ändern? Ich meine, warum Patty zur Rede stellen, wenn sie es schon länger wusste?“ Etwas musste die Veränderung bewirkt haben.

„Weil Conrad nicht mehr diskret war. Er hat Patty zum Frühlingsfestival mitgenommen. Vivienne tauchte auch dort auf, und wenn Conrad nicht dazwischengegangen wäre, hätte sie Patty die Augen ausgekratzt.“

„Ich bin ziemlich sicher, dass Patty Tate sich selbst verteidigen kann“, sagte Kayden.

„Jedenfalls war es laut und hässlich und sehr öffentlich.“

„Mit wem ist Conrad am Ende weggegangen?“ Daran konnte man sehen, wem letzten Endes seine Loyalität galt.

„Vivienne.“ Natalie lächelte, wandte aber den Blick schnell von Jake ab und starrte stattdessen auf ihren abblätternden Nagellack.

„Wie hat Patty das weggesteckt?“, fragte Kayden.

Natalie ließ den Stift fallen und holte eine Flasche Nagellack unter dem Tresen hervor. „Ich habe sie letzte Woche zusammen gesehen, also schien alles beim Alten zu sein.“

Kayden schüttelte den Kopf. „Ich kann mir immer noch nicht Conrad Humphries und Patty Tate als Paar vorstellen.“

„Warum nicht?“, fragte Jake und nahm seine Asservatentüte.

Natalies Blick blieb eine Weile darauf liegen, dann wandte sie sich wieder der Nagellackflasche zu. Sie schien sich eindeutig Sorgen zu machen wegen der Kreide, die sie ihm gegeben hatte.

Kayden zuckte mit den Schultern. „Patty ist etwa zehn Jahre jünger und eine erfolgreiche Sportlerin. Sie wirkt so selbstsicher. Warum sollte sie sich für einen verheirateten Mann interessieren … ich verstehe das nicht.“

„Sicher nicht das offensichtlichste Paar“, sagte Natalie und öffnete das Fläschchen.

Kayden sah Jake an. „Ich denke, wir wissen, wen wir als Nächstes besuchen werden.“

„Wenn du Patty meinst“, sagte Natalie und trug den korallenroten Lack mit gleichmäßigen Pinselstrichen auf, „dann habt ihr Pech. Jedenfalls bis morgen.“

Kayden runzelte die Stirn. „Warum das?“

„Sie ist beim Wettrennen auf den Mount Marathon drüben in Seward.“

Dann würden sie morgen nach Imnek zurückkommen.

Jake streckte die Hand aus. „Danke für deine Hilfe.“

„Kein Problem.“ Natalie hielt ihm die Hand hin, deren Nägel noch nicht frisch lackiert waren, und warf einen schrägen Blick auf die Tüte mit dem Kreidebeutel, während ihre Schultern sich strafften. Seit sie ihm den Beutel gegeben hatte, war sie ihm ein wenig geistesabwesend erschienen und darauf bedacht, Blickkontakt zu vermeiden. Was hatte sie? Jake konnte es kaum erwarten, Booth die Kreideprobe zu bringen.