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Christian Feldmann
Adolph Kolping

topos taschenbücher, Band 1059
Eine Produktion des Verlags Butzon & Bercker

Christian Feldmann

Adolph Kolping

Ein Leben der Solidarität

Mit einem Geleitwort von Josef Holtkotte

topos taschenbücher

Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1059-6

E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5055-4

E-Pub: ISBN 987-3-8367-6055-3

2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim

Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer.

Umschlagabbildung: © Josef Albert Slominski

Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Inhalt

Zum Geleit

Josef Holtkotte

Einführung

Der verrückte Konkurrent von Karl Marx

I. Luftschlösser

Ein Schäferssohn träumt von der großen Karriere

Wunderwelt der Bücher und Träume

Als Schustergeselle auf der Walz

Mit 24 noch einmal auf die Schulbank

Studium in der Stadt der frommen Aufklärer

II. Bekehrung

Der Kaplan Kolping verliebt sich in die Menschen

Die Sklaven der industriellen Revolution

Das Leben lernt man nicht aus Büchern

Vom Handwerkerchor zum Gesellenverein

Gesellenhäuser als Heimat für die Entwurzelten

Das Programm: Veränderung durch Erziehung

Widerstände im eigenen Lager

Schikanen vom Schulkommissar

III. Kampf

Der erfolgreichste katholische Publizist seiner Zeit wirbt für die „wahre Aufklärung“

„Dr. Fliederstrauch“ und der Volksschriftsteller Kolping

„Wir müssen uns besser rühren!“

Zwischen Dialog und Ghetto

„Wer an Gott glaubt, muss auch an den Menschen glauben“

Politische Ermittlungen gegen den Gesellenpfarrer

IV. Politik

Der Sozialreformer Kolping will das Evangelium im gesellschaftlichen Leben wirksam machen

Der Kampf gegen die Gewerbefreiheit

„Es gibt keine Trennung zwischen Himmel und Erde“

Gerechtigkeit statt Gnade

V. Glaube

Der Priester Kolping lebt, was er verkündet: die Menschenfreundlichkeit Gottes

Nicht bloß von Liebe reden

„Ich bin nie ein Held gewesen“

Nur Engel haben keine Fehler

Damit das Leben nicht banal wird

Kolpings tiefstes Geheimnis

Der grausame Kampf gegen den Tod

VI. Wirkung

Was sich heute von Adolph Kolping lernen lässt

„Treu Kolping!“ statt Hitlergruß

Das Erbe: 400.000 in mehr als sechzig Ländern

Ein Bildungsangebot für alle

Die Wunden unserer Zeit bewusst machen

Anwälte der Menschenwürde sein

Das Evangelium zum Leuchten bringen

Zeittafel

Literatur in Auswahl

Zum Geleit

Ein Sozialreformer der ersten Stunde, einer der erfolgreichsten katholischen Publizisten des 19. Jahrhunderts und volksnaher Seelsorger – so lässt sich Adolph Kolping kennzeichnen, der auch als „Gesellenvater“ bekannt ist.

Christian Feldmann gelingt es, durch sein Buch eine besondere Nähe zum Menschen Adolph Kolping herzustellen. Diese Nähe spornt bis heute an, seine Ideen und Gedanken, seine Werte und Ideale in unsere Zeit hinein zu übersetzen.

Zehn Jahre arbeitet Adolph Kolping als Schuhmacher, er ringt mit der Entscheidung, sein bisheriges Leben aufzugeben, um Priester zu werden. Als Kaplan begegnet er dem Gesellenverein und findet seine Lebensaufgabe.

Das vorliegende Buch hilft uns, mit der Sichtweise Adolph Kolpings in die Welt zu schauen. Was sind seine Grundlagen, was sind seine Ziele? Lassen wir Adolph Kolping selbst sprechen. Er schreibt 1848 an seinen Lehrer Professor Döllinger: „Unser Verein ist bürgerlicher Art. Indem wir in dem Verein mitten unter das Volk treten und durch die Tat beweisen, dass alle seine Angelegenheiten unserer Aufmerksamkeit wert sind, ziehen wir den halb abgewandten Teil des Volkes wieder an uns heran. Die Herzen sind bald wieder unser. Ich brenne vor Verlangen, diesen Verein doch im ganzen katholischen Deutschland eingeführt zu sehen.“ Vier Sätze Originalton Kolping, und es wird sofort klar: Kolping verhält sich anders als die vielen Zuschauer, als bloße Beobachter seiner Zeit oder auch unserer Zeit. Er will Menschen gewinnen. Er handelt. Er setzt sich ein. Sein Herz brennt für die Menschen. Etwas weiter schreibt Kolping in dem gleichen Brief: „In unserer Zeit, wo die soziale Frage sich mit der religiösen entschieden in den Vordergrund drängt, wo die Umstände uns gewissermaßen mit Gewalt ins Volk werfen, ist der Verein ein herrliches Mittel, an Lösung obiger Fragen tätig zu arbeiten, uns zugleich als wahre Volksfreunde zu zeigen.“ (Adolph Kolping, Ausgewählte pädagogische Schriften, 161)

Was wollte Adolph Kolping? Er wollte Religion in die Öffentlichkeit bringen, um Christen Mut zu machen, von ihrem Glauben zu sprechen und aus ihrem Glauben heraus zu leben und zu handeln. Er bestärkte die Menschen, ihre persönliche, gesellschaftliche und politische Verantwortung gegenüber Gott zu sehen. Er unterstützte die Menschen in ihrem Handeln aus christlichen Wurzeln heraus. In all dem ist Adolph Kolping ein mutgebendes Vorbild. Das verdeutlicht sich in den Nöten der Zeit, die er erkannte, das zeigt sich in den Zeichen der Zeit, die das Zweite Vatikanische Konzil benannte, das wird sichtbar in Papst Franziskus, der authentisch in Wort und Tat zur Christus-Begegnung einlädt und Glauben vorlebt. Was wir daraus lernen können? Wir brauchen solchen Mut in unserer Gesellschaft und in unserer Kirche, und wir sind gefragt, solchen Mut anzustiften. Der eigentliche Reichtum in unserem Kolpingwerk sind die Menschen. Es gibt so viele Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche, die Kraft, Fantasie und Zeit einbringen. Die Inhalte, für die die Arbeit des Kolpingwerkes steht, sollen in die Gesellschaft transportiert werden. Zum Beispiel, dass der Mensch als Geschöpf Gottes eine besondere Würde hat, die ihn auch zu besonderer Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen verpflichtet, oder dass die Mitglieder befähigt werden, durch eine umfassende Bildungsarbeit zur Entfaltung ihrer Anlagen und Fähigkeiten und zu christlich verantwortlichem Handeln im Beruf, in Ehe, Familie, Kirche und Gesellschaft beizutragen, oder dass der Lebensschutz ein wichtiges Thema bleibt und Menschenwürde eine Grundüberzeugung – denn „der geheimnislose Mensch ist der verfügbare Mensch“ –, oder dass Lebenshilfen geboten werden für Mitglieder und Familien durch Beratung und konkrete soziale Aktionen, oder dass Gesellschaft mitgestaltet wird im Sinne des Gemeinwohls, oder dass Verantwortung übernommen wird in gesellschaftlichen Aufgaben, oder dass Eigenverantwortung gelebt und damit die Zivilgesellschaft gestärkt wird. Dieses breite Spektrum greift Christian Feldmann im vorliegenden Buch auf. Es gelingt ihm, die Anliegen Adolph Kolpings für die Fragen der Zukunft zu erschließen.

Adolph Kolping hat aus seinen geistlichen Wurzeln heraus gehandelt. Wie selbstverständlich wurden Glaube und Leben, Frömmigkeit und Alltag miteinander verbunden. Auch heute gilt, was Adolph Kolping sagte: „Ohne Glaube und Vertrauen hält die Welt nicht zusammen.“ Es geht um den Sinn unserer Existenz. Kolping wollte durch sein Werk am Reich Gottes mitbauen, aber nicht abstrakt, theoretisch, fern der Menschen, in einer Oase oder auf einer Insel, sondern mitten unter den Menschen, konkret und lebendig.

Es liegt an uns, in der Spur Adolph Kolpings zu bleiben und seine Gesichtszüge auch in Zukunft deutlich werden zu lassen.

Bundespräses
Josef Holtkotte

Einführung

Der verrückte Konkurrent von Karl Marx

Die Straßen um den Kölner Gürzenich sind an diesem Abend im Frühjahr 1849 wieder einmal schwarz von Menschen. Fabrikarbeiter, blasse Handwerksburschen, ausgemergelte Erwerbslose, ein paar Studenten – erwartungsvoll, lärmend, aufgeregt miteinander diskutierend strömen sie zum Vortrag eines Mannes, der all ihre Wut über die himmelschreiende Kluft zwischen Reich und Arm, all ihre Schmerzen und enttäuschten Hoffnungen, ihre Zukunftsängste und ihre brennende Sehnsucht nach einer gerechteren Welt in eine einzige zündende politische Idee bündelt: Dr. Karl Marx, Chefredakteur der Neuen Rheinischen Zeitung. Ein Jahr zuvor hat er das Manifest der Kommunistischen Partei veröffentlicht.

Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, sagt Marx seinen atemlos lauschenden Zuhörern. Längst sei der Arbeiter zum Sklaven seines Fabrikherrn geworden, ja zur Ware, zur Sache: „Es gibt nur noch Arbeitsinstrumente, die je nach Alter und Geschlecht verschiedene Kosten machen.“ Fremd steht der Arbeiter dem Produkt seiner Mühen gegenüber, er schuftet nur noch für den Profit der wenigen Glücklichen, die seine Arbeitskraft gekauft haben. „Die Arbeit“, ruft Marx in den Saal, „produziert Wunderwerke für die Reichen, aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie produziert Schönheit, aber Verkrüppelung für den Arbeiter.“

Ausgerechnet in diesen aufgewühlten Tagen will gar nicht so weit vom Gürzenich entfernt ein unbekannter junger Priester einen merkwürdigen Verein gründen. Einen „Gesellenverein“ für junge Handwerker, die etwas für ihre Bildung tun und sich besser über ihren Glauben informieren wollen. Wer sich einbildet, mit so einer langweiligen Abendunterhaltung den berühmten Dr. Marx ausstechen zu können, muss verrückt sein. Adolph Kolping hat mit seinem sturen Gottvertrauen allerdings immer schon als etwas verrückt gegolten. Exakt sieben Zuhörer verirren sich in die Kolumbaschule, wo er ihnen erstaunlicherweise eine ganz ähnliche Einschätzung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorträgt wie sein prominenter Konkurrent:

„Unsere heutige Industrie“, stellt Kolping fest, „ist raffinierter kalter Egoismus, wie er kaum schlimmer in der Welt gewesen, und dieser übt maschinenartig eine Tyrannei auf Herren und Knechte aus …“ Hörige und Sklaven ihrer Fabrik seien die Arbeiter geworden, die das große Kapital „kaum am Leben nippen“ lasse: „Das Kapital errichtet Magazine, deren Inhaber nie im Schweiße des Angesichtes ihr Brot verdient, das Geld hat’s getan für sie, und in diesen Magazinen liegen Tausende verarmter Bürger aufgestapelt, die vom Kapital so abhängig sind, dass unter Umständen ihr Los noch schlimmer ist als das Los des Sklaven …“

Die Schlussfolgerungen, die beide Redner aus dieser Lagebeschreibung ziehen, sind allerdings grundverschieden. „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern!“, ruft Karl Marx in die begeisterte Menge im Gürzenich. Man müsse den ausgebeuteten Proletariern nur endlich ihre Situation bewusst und sie zu einer schlagkräftigen Truppe machen, um das Werk der Befreiung in Szene setzen zu können. Das Ziel: „Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist!“

Kolping hingegen erläutert dem armseligen Häuflein seiner Zuhörer mit ruhiger Stimme, mit einem bloßen Auswechseln der herrschenden Schicht und politischen Maßnahmen allein sei gar nichts gewonnen. Statt der Strukturen müsse man die Menschen ändern, ihr Verhalten, ihren Lebensstil. „Der rechte Geist“, sagt Kolping, „lässt sich aber nicht dekretieren, mit Gesetzesparagrafen herbeizitieren, der lässt sich überhaupt nicht machen.“ Geduldige Erziehungsarbeit sei nötig – und ein unbändig starker Glaube an den Gott, der das Glück aller seiner Menschen will.

Ganz anders Marx, der skeptische Freigeist; er überschüttet im Gürzenich eine Religion, die sich allzu oft als zäher Kitt menschenunwürdiger Strukturen erwiesen hat, mit beißendem Spott: „Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Feigheit, die Selbstverachtung, die Erniedrigung, die Unterwürfigkeit, die Demut, kurz alle Eigenschaften der Kanaille, und das Proletariat, das sich nicht als Kanaille behandeln lassen will, hat seinen Mut, sein Selbstgefühl, seinen Stolz und seinen Unabhängigkeitssinn noch viel nötiger als sein Brot.“

Adolph Kolping, der junge Feuerkopf in der Kolumbaschule, hält die sozialen Probleme nur auf der Basis des „alten, guten, katholischen Christenglaubens“ für lösbar. Die Gesellschaft sei so elend dran, weil es so wenig richtige Christen gebe. Für ihn ist das kein Anlass, zum Kreuzzug gegen die schlimmen Heiden zu blasen, sondern die Trägen im eigenen Lager aus den Kirchenbänken zu rütteln: Das Christentum sei nicht bloß „für die Betkammern“ gedacht, sondern für den Alltag und die Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Von den beiden Versammlungen im Gürzenich und in der Kolumbaschule gibt es keine Protokolle. Wir wissen nicht, ob die zitierten Sätze – zentrale Gedanken, die bei Marx und Kolping in jenen Jahren immer wiederkehren – dort tatsächlich so gefallen sind. Ein wenig Fiktion sei dennoch gestattet, um deutlich zu machen, dass in jenen ereignisreichen Tagen in Köln zwei Welten aufeinanderprallten, zwei Menschenbilder, zwei Zukunftsentwürfe, die Geschichte machen sollten.

Für die Forschung steht längst fest, dass sich Marx und Kolping niemals als Konkurrenten betrachtet, ja einander zeitlebens so gut wie nicht zur Kenntnis genommen haben. Aber auf christlicher Seite gab es wohl keine soziale Initiative, die dem marxistischen Entwurf so gekonnt Paroli hätte bieten können wie die Idee des jungen Hitzkopfs, dem damals in der Kolumbaschule lediglich sieben Mann zuhörten. Sein Freund Vosen verriet sechzehn Jahre danach an Kolpings Grab: „Einer dieser ersten Teilnehmer äußerte sich später darüber, dass sie anfangs an dem ihnen fremden, sonderbar auftretenden Manne irre geworden und nicht begriffen hätten, was ihn denn bewegen möge, Gesellen zusammenzurufen; er schien ihnen ein unter den Geistlichen beiseite gesetzter Sonderling zu sein, der seine Zeit nicht totzuschlagen wisse.“

Ein knappes halbes Jahr nach der Gründungsversammlung waren aus den sieben Vereinsmitgliedern bereits 550 geworden. Als der „beiseite gesetzte Sonderling“ 1865 starb, gehörten 24.600 Gesellen zum Kolpingwerk. Heute sind es 400.000 in mehr als sechzig Ländern der Erde.

„Tragt Holz bei und lasst Gott kochen!“, pflegte der ins Risiko verliebte und fromme Sprüche nicht sonderlich schätzende Menschenfreund zu antworten, wenn man ihn fragte, woher er denn den Mut zu seinen verrückten Plänen nehme.

I. Luftschlösser

Ein Schäferssohn träumt von der großen Karriere

„Erst will ich mich bestreben, Mensch zu sein […],
der Wahrheit ein Zeuge, dem Mitmenschen ein Bruder.“
„Lass mich ganz das werden, was ich soll.“

Eigentlich ist er ein waschechter Franzose gewesen, der deutsche Gesellenvater Kolping. In seiner Geburtsurkunde heißt es, der Gemeindeschäfer „Pierre Külping“ sei beim Standesbeamten erschienen, um die Geburt eines Sohnes „Adolphe“ anzuzeigen. Tatsächlich gehörte der kleine Ort Kerpen, zwischen Köln und Aachen links des Rheins gelegen, zum französischen Kaiserreich, als Adolph Kolping dort am 8. Dezember 1813 zur Welt kam. Der Eroberer Napoleon, wenige Wochen vorher in der Leipziger „Völkerschlacht“ geschlagen, war zwar schon auf der Flucht, aber die Wunden der Besatzungsjahre wollten nicht so schnell heilen.

Krieg und Brand und Tod hatten eine schreckliche Spur durch das Rheinland gezogen. Der an chronischem Geldmangel leidende Napoleon war es gewohnt gewesen, seine Armee vom Feindesland ernähren zu lassen. Die „Franzmänner“ hatten ihre Kavallerie in den Städten und Dörfern einquartiert, herrisch Futter für die Pferde, Brot und Fleisch und Wein für die Reiter verlangend. Auf den Straßen zogen Scharen von Obdachlosen ins Elend.

Es war eine verwirrende Umbruchzeit, in der sich das kurze, aber dichte Leben des Adolph Kolping abspielte. Napoleon hatte den Völkern ihre Freiheit genommen, aber die Rechtsgrundsätze der Französischen Revolution eingepflanzt und die bürgerliche Gesellschaft gegen die alte Ordnung durchgesetzt. Es war freilich ein militaristisch eingefärbter Nationalismus, ein System von Polizeistaaten. Eine kleine privilegierte Schicht sicherte sich immer mehr Besitz und politische Mitspracherechte, während die Masse des Volkes nach wie vor herzlich wenig zu sagen hatte.

Das Bürgertum begann sich zur politisch bestimmenden Größe zu entwickeln. Die nichts hatten, blieben draußen vor der Tür. „Freiheit“ hieß der zentrale Gedanke dieser Jahrzehnte und „Verfassung“ das Zauberwort, mit dem man den Schutz der individuellen Bürgerrechte durchzusetzen hoffte.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es dem vom gebildeten Bürgertum getragenen Liberalismus tatsächlich, parlamentarische Volksvertretungen und Parteien zu etablieren. Aber noch 1847 schrieb der württembergische Liberale Julius Holder einem Gesinnungsgenossen resigniert, die kleinen Leute hätten vom vorpreschenden Bürgertum nicht viel zu erwarten: „Der ,Pöbel‘ erhielt harte Strafen, das Bürgertum neue Freiheiten.“

Wunderwelt der Bücher und Träume

Adolphs Vater, der Schäfer und Kleinlandwirt Peter Kolping, war ein Analphabet, aber ein selbstbewusster und couragierter Mann: Als einer von Adolphs Schulfreunden, der Sohn eines großmächtigen Domänenrats, in seinem Haus geringschätzig über den Pfarrer zu reden wagte, setzte er das arrogante Knäblein einfach vor die Tür.

Vater Kolping hatte überhaupt keinen Grund, sich minderwertig zu fühlen. Heute gibt ein Schäfer bloß noch ein wehmütig belächeltes Kameramotiv ab: heile Welt von anno dazumal. Anfang des 19. Jahrhunderts war das anders. Als Lieferant von Milch, Käse und Wolle war das Schaf ein hoch geschätztes Haustier, anspruchslos war es auch, mit kargen Grasböden im Tiefland ebenso zufrieden wie mit Bergalmen, und den Mann, der die zahllosen Schafe einer Dorfgemeinschaft auf der Weide zusammenhalten, vor dem Wolf schützen und ihre Krankheiten heilen konnte, behandelten die Bauern mit sachkundigem Respekt.

Nie sei er glücklicher gewesen, wird Adolph Kolping später berichten, „als wenn ich bei meinem alten, steinalten Großvater saß, die Mutter neben ihm mit dem Spinnrad, der Vater, der den Tag über tüchtig schaffen musste, hinter dem Ofen saß, sein Pfeifchen rauchte, meine Geschwister um mich herum spielten und der alte Großvater Stückchen und Märchen erzählte“.

Ob die dick aufgetragene Idylle nicht täuscht? Es wird den Eltern in kargen Zeiten nicht immer leicht gefallen sein, mit ein paar eigenen Schafen, einem Gemüsegärtlein und ein bisschen Ackerland fünf Kinder satt zu bekommen. Und wenn auch der kleine „Dölfes“ als vierter in dieser Reihe verhältnismäßig behütet aufgewachsen sein mag, während sich die älteren Geschwister schon in der Küche und im Stall abrackerten – irgendwann wird ihn der Vater auch zum Hüten abkommandiert haben, und so angenehm war es nicht, die Herde bei Wind und Wetter über die Äcker und Wiesen zu treiben, immer wachsam, immer auf dem Sprung.

Aber dass er nie mehr im Leben so eine Herzlichkeit und Geborgenheit fand, dass er dort im Elternhaus lernte, alles – das Kleine und das Große – mit Gott zu beginnen, das dürfen wir dem Gesellenvater schon glauben. Seiner Familie, die ihn die Dorfschule ohne Unterbrechung besuchen ließ und ihn nicht, wie es üblich war, immer wieder zum Helfen nach Hause und aufs Feld holte, verdankte der Dölfes auch eine für seine ärmlichen Verhältnisse ungewöhnlich gute Schulbildung. Und die auffallenden – und anstößigen – „höheren“ Interessen des Knirpses kamen wohl auch nicht von ungefähr: Lediglich „wegen meiner Leselust, die ich in jedem freien Augenblicke zu befriedigen suchte“, habe er später Verweise von seinem Meister bekommen.

Doch in die Wunderwelt der Bücher und Träume brach die harte Realität ein, als er seinen zwölften Geburtstag gefeiert hatte. Die Schule war zu Ende, und der Schäfer Kolping hatte kein Geld, sein lesewütiges Söhnchen auf eine höhere Bildungsanstalt zu schicken. 1826, der „Dölfes“ war noch keine dreizehn Jahre alt, trat er als Lehrbub beim Schuhmachermeister Meuser in der Kerpener Mähnstraße an.

Als Schustergeselle auf der Walz

In den nächsten elf Jahren war die enge Schusterstube Adolphs Welt. Der Rücken schmerzte vom ständigen unbequemen Sitzen auf dem Dreifuß. Knie und Schenkel taten weh, wenn sie stundenlang als Unterlage für den Leisten gedient hatten, auf den der „Dölfes“ manchmal so wütend losschlug, als gelte es einen tückischen Kobold zu verprügeln. Tatsächlich erschienen ihm die beinharten Lederstücke und die Holznägel, die sich so schwer in das widerspenstige Leder treiben ließen, oft genug wie Marterinstrumente, von einem bösen Dämon bloß für ihn ersonnen. Dann betrachtete er traurig seine schwieligen, vom Schusterpech geschwärzten Hände und sehnte sich nach den Abenteuergeschichten, in die er sich spät nach Feierabend vergrub, bis ihm die Augen zufielen.