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Zum Geleit…

Vor allem in den Gemeinden, in denen eine jüdische Glaubensgemeinschaft lebte, entwickelte die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in den 1930er Jahren eine eigene Dynamik. Die Vorgänge im vorliegenden Buch sind im Kern durch Schriftdokumente sowie durch Aussagen und Beobachtungen von Augenzeugen belegt, die Namenszuordnung und die Handlungsverläufe sind frei gewählt.

Die ehemalige Synagoge im Heimatdorf der handelnden Personen dient nach ihrer vollständigen Restaurierung heute als Haus der Begegnung und Besinnung sowie als historisches Zeugnis für das vierhundertjährige Bestehen einer Landjudengemeinde.

Durch die Erinnerungsarbeit soll den einst entrechteten und verfolgten jüdischen Menschen ihre Würde zurückgegeben werden.

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Anton Kapfer

Braune Hemden

Gelbe Sterne

Schwarze Spiegel

Grüne Helme

© 2016 Autor: Anton Kapfer

Titelbild: Fotolia

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback 978-3-7345-6942-5
Hardcover 978-3-7345-6965-4
e-Book 978-3-7345-6966-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Kapitel

Mit ernster, geradezu feierlich aufgesetzter Miene sitzen der Vater und die beiden Söhne der Familie beim Frühstück. Am Sonntag ist der Tisch üppiger gedeckt als an den Werktagen. Die Wohnküche duftet nach gebratenem Speck und angebräunten Zwiebeln. Am oberen Tischende thront das Familienoberhaupt, Adolf Höllerer. Mit dem gestärkten braunen Hemd, dem schwarzen Schulterriemen und dem schwarz-weiß-roten Schlips mit eingesticktem Hakenkreuz wirkt der Mann wie ein thronender Pascha. Ein exakt gezogener Mittelscheitel teilt die dünner werdende Haarpracht in zwei kongruente spitzwinklige Dreiecke. Der sorgsam gestutzte schwarze Schnurrbart verleiht dem Aussehen des Hausvaters eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem an der Wand hängenden Portrait des großen „Führers“. Unter dem Tisch lugen zwei blank polierte schwarze Stiefel hervor, in denen jeweils ein braunes Reithosenbein steckt. Schließlich bekleidet er ja das Amt des Ortsgruppenleiters.

Genauso gestriegelt mit einem exakt markierten Seitenscheitel sitzen die beiden Buben, Heinrich und Hermann, vierzehn und sechzehn Jahre alt, in einer exakt sitzenden HJ-Uniform an den Breitseiten der Tafel. Während ihre Mutter ständig zwischen Herd und Tisch hin- und herpendelt, um alle Wünsche der Herren zu erfüllen, ertönt aus dem Volksempfänger die Stimme Adolf Hitlers. Wieder einmal lässt er eine Hetztirade gegen die Juden los, die an allem Übel der Welt schuld seien und dafür einer gerechten Bestrafung zugeführt werden müssten. Schweigend kauen die Männer ihr jeweils mit Butter und Honig sorgsam bestrichenes Brot und lauschen mit leuchtenden Augen andächtig der Stimme aus dem Volksempfänger. Abrupt beendet der „Führer“ seine demagogische Hetze mit der Beschwörung des Weltfriedens durch die Vernichtung der jüdischen Rasse. Lautstarke „Heil“-Rufe ertönen und die Übertragung endet mit dem obligatorischen Badenweiler-Marsch. Mit einem lautstarken „Bravo!“ beendet der Hausherr das gemeinsame Frühstück, obwohl seine Frau noch gar nicht zum Sitzen kam. „Punkt zehn Uhr ist Abmarsch am Dorfplatz. Ich hoffe, dass Ihr sehr pünktlich da seid. Es geht schließlich um die Vorbildwirkung unserer Familie in Sachen Disziplin und Gehorsam!“ wendet er sich in schroffem Befehlston an seine Söhne.

Die letzten Worte spricht er sehr akzentuiert in Anlehnung an sein großes Vorbild, knallt die Hacken zusammen und salutiert mit der rechten erhobenen Hand. Die beiden Jungs tun es ihm gleich und mit einem lautstarken „Heil Hitler!“ wird das sonntägliche Morgenritual beendet. Die Hausfrau scheint dieses Gehabe nicht sonderlich zu interessieren, schließlich hat sie ihr Mann in seinem Parteiwahn wie gewöhnlich wieder einmal übersehen. Sie räumt in Ruhe das Geschirr beiseite und dreht das lästige Radio ab. Insgeheim hatte sie schon tags zuvor ihr Sonntagskleid zurecht gelegt, um rasch und unauffällig aus dem Haus entschwinden zu können, wenn die Männer zum Exerzieren außer Haus sind. Denn genau zum gleichen Zeitpunkt wie das Ritual der HJ auf dem Dorfplatz beginnt der Sonntagsgottesdienst in der Pfarrkirche.

Jeden Sonntag trommeln die braunen Antichristen die gesamte männliche Dorfjugend zusammen, um eine Geländeübung abzuhalten oder zur nächst gelegenen Kreisstadt zu marschieren. Mitzumachen bedeutet quasi Pflicht für jeden männlichen Jugendlichen aus dem Dorf. Heute steht eine besondere Übung auf dem Plan. Pünktlich um zehn Uhr formieren sich auf dem Dorfplatz die jungen Braunhemden in Reih‘ und Glied. Der Anführer macht eine zackige Meldung und brüllt die Worte lautstark an die Adresse des Ortsgruppenleiters. Zu den auf dem angrenzenden Gehweg zur Kirche eilenden Gottesdienstbesuchern, vornehmlich älteren Menschen und Kleinkindern, stellt die braune Marschformation einen befremdenden Kontrast dar. Die „SA- Hymne“ „Die Fahne hoch…“ klingt unter dem Geläut der Kirchenglocken heiser, kratzig und nicht sehr klangrein.

Mit kritischem Blick führt der Ortsgruppenleiter die heutige Marschformation an. Ziel ist die benachbarte Kreisstadt. Geckenhaft schwenkt er auch öfter seitlich aus, um einen eventuell aus dem Gleichmaß kommenden Schritt lautstark zu korrigieren. Seine beiden Söhne marschieren in der ersten Reihe. Sie sollen den anderen zeigen, dass die Familie des örtlichen Parteiführers, was zumindest die männliche Fraktion betrifft, den Vorgaben des „Führers“ mit größtem Eifer folgt. Bei sengender Hitze dürfen die Hitlerjungen zwar ihre Hemdsärmel hochkrempeln, der Kragen jedoch muss geschlossen und die Mütze auf dem Kopf bleiben gemäß dem vom „Führer“ ausgegeben Motto „Zäh wie Leder, flink wie Windhunde und hart wie Kruppstahl!“

Auf dem Hauptplatz ihres Marschziels, der drei Kilometer entfernten Kreisstadt, treffen sie auf die Gruppen, die aus den umliegenden Dörfern anmarschiert kommen. Eine Musikkapelle, die die eintreffenden Gruppierungen mit dem „Badenweiler Marsch“ begrüßt, intoniert unsauber, doch sehr lautstark, wobei der Trommlergruppe die Bläsermelodie bei weitem übertönt.

„Still gestanden!“ brüllt eine hohe Stimme über die versammelte Menschenmenge hinweg und eine Vielzahl genagelter Schuhe ordnet sich nach stren ger ritueller Vorgabe in jeweils einer Linie. Der jeweilige Anführer wird aufgerufen, Meldung über seinen Trupp zu machen. Nach dem erlösenden „Rührt euch!“ geht ein Raunen durch die Reihen der jungen Menschen, die allerdings unter den strengen Blicken ihrer Truppführer aufmerksam den Worten des auf einer Rednertribüne krakeelenden und gestikulierenden Gauleiters folgen müssen. Mit den gewohnten Phrasen des „Führers“ versucht er Eindruck zu schinden, bis vor Heiserkeit die Stimme versagt. Sofort setzt wieder die Musikkapelle ein und intoniert den Marsch „Preußens Gloria“. „Still gestanden!“ dröhnt es unmittelbar danach wieder aus den Lautsprechern. Mit einem ohrenbetäubenden nachgebrüllten „Heil Hitler!“ stehen die Marschkolonnen wieder stramm und singen nach kurzem Vorspiel der Trompeten mehr schreiend als klingend das Horst-Wessel-Lied. Mit der erlösenden Ankündigung „Die Kundgebung ist beendet: Rührt euch!“ durch eine sich überschlagende Männerstimme bekommen jetzt die jungen Braunhemden endlich Gelegenheit, sich etwas lockerer geben zu dürfen. An mehreren Stationen werden nun Getränke und kleine Essensrationen ausgegeben. Während die Führungsfunktionäre den Gauleiter „umschleimen“, machen es sich die Hitlerjungen gemütlich und erwecken den Eindruck, froh zu sein, dass das anstrengende Ritual zu Ende ist.

Der Weg zurück ins Dorf führt den HJ-Trupp über den Burgberg, wo Napoleon im Jahr 1805 einst die Österreicher besiegt hatte. Trotz der sengenden Hitze lässt der Ortsgruppenleiter den Marschtrupp auf der Anhöhe anhalten. Mit feurigen Worten ermahnt er seine Untergebenen, sich an der Tapferkeit und dem Siegeswillen der Franzosen zu jener Zeit ein Beispiel zu nehmen, wenn Deutschland einst neuen Lebensraum im Osten erobern wird. „Wir werden aber dort nicht scheitern wie einst dieser Dummkopf Napoleon. Wir werden den Russen zeigen, was deutscher Siegeswille vermag!“ brüllt er mit sich überschlagender Stimme den fanatisierten Jugendlichen entgegen.

Auf dem Dorfplatz angekommen, werden die Hitlerjungen entlassen mit der Maßgabe, ihren Familienangehörigen von dem Großereignis in der Kreisstadt zu erzählen und immer wieder den absoluten Glauben an den „Führer“ in die familiäre Diskussion einzubringen. Mit leuchtenden Augen erzählen Heinrich und Hermann ihrer Mutter von dem tollen Gemeinschaftserlebnis, können aber auf Nachfrage des stolzen Vaters sehr wenig Substantielles über die Ansprache des Gauleiters berichten. Mit hochrotem Gesicht und bebender Stimme schreit er die beiden Buben an mit der rhetorischen Frage, was sie sich überhaupt erlaubten. Wenn ein Vorgesetzter spreche, habe jeder zuzuhören und dessen Gedanken zu verinnerlichen. „Hausarrest für den Rest des Tages und als Pflichtlektüre zwanzig Seiten des vierten Kapitels von ‚Mein Kampf‘ und spätere Abfrage!“ lautet die häusliche Parole als interne Erziehungsmaßnahme. Jedes Intervenieren der Mutter hilft nichts. „Alle, ob Jung oder Alt, stehen in der bedingungslosen Pflichterfüllung und Hochachtung dem „Führer“ gegenüber!“ brüllt der Hausvater. Er ist ziemlich genervt, dass gerade in seiner Familie kein absoluter Kadavergehorsam herrscht.

Plötzlich fällt sein Blick auf die Bücherablage in der Wohnstube. Das kirchliche Gesangs- und Gebetbuch, das sogenannte „Laudate“, liegt an einem anderen Platz als er es vor einigen Tagen mit dem „Gesicht“ nach unten hingelegt hatte. „Warst du heute wieder bei den Pfaffen, die die Botschaft dieses Juden verbreiten? Ich habe dir verboten, in die Kirche zu gehen. Wo kämen wir denn hin, wenn wir nicht diese Frömmler ignorieren würden. Unsere Religion heißt: An den „Führer“ glauben und ihm und Deutschland allein zu dienen!“ brüllt der Hausvater an die Adresse seiner Frau, „ab sofort hast auch du Hausarrest und wage es nie mehr, mich zu hintergehen und diesen pfaffigen Volksverrätern hinterher zu laufen!“ Mit einem lauten Knall wirft er die Türe ins Schloss und stolziert in Richtung Dorfwirtshaus davon. Dort erwartet ihn bereits eine Gruppe Gleichgesinnter. Die Männer hecken soeben einen Plan aus, wie dem „Judenpack“ im Dorf beizukommen sei.

Der fortschreitende Alkoholkonsum in Form von reichlich Bier und etlichen Schnäpsen heizt die Stimmung zusehends an. „Wir überfallen heute Nacht den Viehhändler Isaak Feigenbaum und verpassen ihm eine Tracht Prügel. Dann werden schon die anderen zu Hause bleiben und nicht mehr die Atemluft in unserem Dorf verpesten!“ brüllt mit heraustretenden Augen und anschwellenden Stirnadern ein fanatischer, reichlich alkoholisierter SA-Mann. Die einsetzenden Hurra-Rufe münden im lautstarken Absingen derber Trinklieder. Zumindest erreicht dadurch die Nazitruppe, dass einige Nichtsympathisanten das Wirtshaus nach und nach verlassen.

*

Die Kirchturmuhr vollendet gerade den achten Glockenschlag, als das abendliche Gebetläuten einsetzt. Isaak Feigenbaum tritt soeben aus dem Haus seines Freundes Jakob Rosenzweig, der mit Nutzvieh handelt. Beide haben in den zurückliegenden zwei Stunden den Pferdetransport von einem im Dorf lebenden „christlichen“ Bauern zur Bahnstation in die benachbarte Kreisstadt besprochen. Feigenbaum ist ein erfolgreicher Pferdehändler, der auf Grund seiner reellen Geschäfte im Dorf und in den umliegenden Gemeinden sehr geschätzt wird. Er zündet sich eine Zigarre an und zieht genüsslich den Duft, vermischt mit der frischen Abendluft, in die Nase. Plötzlich hält er inne, denn irgendein sonderbares Geräusch dringt aus der Hecke, die das Nachbargrundstück umfriedet. Ein sonderbares Gefühl legt sich ihm schlagartig auf den Magen. Ehe er etwas erkennen kann, stürzen mit lautem Gebrüll vier uniformierte, vermummte Gestalten aus dem Gebüsch, ziehen ihm einen Leinensack über den Kopf und treten mit ihren derben Stiefeln brutal gegen seinen Körper, bis er sich nicht mehr rührt. Sogleich kommen die alarmierten Nachbarn, Juden und Nichtjuden, an die Haustüren und können nur hilflos zusehen, wie die braunen Wüteriche auf die vermummte, wehrlose Gestalt eintreten.

Als einige zivil gekleidete Jugendliche die Judengasse heraufkommen, lassen die Schläger von ihrem Opfer ab und machen sich unter großem Gelächter in Richtung Hauptstraße davon. Sofort rennen einige mutige Nachbarn zum Opfer, befreien es aus der „Zwangsjacke“ und müssen zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sich Isaak nicht mehr rührt. Noch während dieser Aktion haben einige jüdische Augenzeugen klammheimlich einen jüdischen Arzt verständigt, der sich unmittelbar auf den Weg machte und gerade noch rechtzeitig eintrifft. „Stabile Seitenlage!“ ruft der Mediziner noch im Gehen den Umstehenden zu. Nach einigen Wiederbelebungsversuchen kommt plötzlich wieder Leben in den geschundenen Körper. Blut und einige eingeschlagene Zähne ausspuckend beginnt Isaak zu stöhnen und versucht vergeblich aufzustehen. Vier umstehende Männer tragen ihn behutsam unter ärztlicher Anweisung in sein naheliegendes Haus. Die entsetzte Gattin und die die vier Kinder stehen weinend am eilends hergerichteten Krankenbett. Der Arzt verabreicht dem Kranken einige Medikamente und gibt der fürsorglichen Gattin noch ein paar wertvolle Hinweise für die Pflege ihres Gemahls.

*

Am nächsten Tag tritt der Rat der jüdischen Gemeinde zusammen und verfasst ein Protestschreiben an die Adresse des Bürgermeisters. Das Gemeindeoberhaupt, ein glühender Anhänger der „braunen“ Lehre, verspricht zum Schein schnelle Aufklärung, gibt aber unmissverständlich zu verstehen, dass eigentlich für die Juden ein nächtliches Ausgangverbot bestehe und er für weitere unangenehme Überraschungen nicht garantieren könne.

Damit ist klar: Kein Jude ist sich künftig mehr seines Lebens sicher. Die „braunen“ Schläger haben endgültig das Sagen im Dorf. Dies wird am übernächsten Tag nochmals sehr deutlich, als ein bewaffneter SA-Mann aus dem südlichen Nachbardorf vor dem Spezereiengeschäft der jüdischen Familie Baldauf auf und ab patroulliert und jedem Kunden den Zutritt verwehrt. Erst auf den Zuruf eines älteren Mannes hin „He, was willst denn Du verkrachte Existenz bei uns im Dorf? Scher‘ dich am besten wieder heim zu Deiner Xantippe und lass‘ dir von der den Marsch blasen!“ blickt der SA-Wachmann vorsichtig um sich. Da unmittelbar ein größerer Menschenauflauf in der nächsten Umgebung droht, eilt er zu seinem Fahrrad und fährt mit kräftigen Tritten in die Pedale zum Dorf hinaus. Den Ruf „Ich werde wieder kommen!“ quittieren die mutigen Zuschauer mit höhnischem Gelächter.

Nach einer Woche erzwungenen Aufenthalts im Krankenbett macht Isaak Feigenbaum wieder erste Gehversuche und kehrt im Lauf einer weiteren Woche so langsam wieder in den Alltag zurück. Sein Gesicht trägt noch deutliche Spuren des nächtlichen Überfalls, zum Gehen stützt er sich auf eine hölzerne Krücke. Noch während der erzwungenen Bettruhe reifte in ihm der feste Entschluss, so schnell wie möglich mit der ganzen Familie die Heimat zu verlassen und nach Palästina auszuwandern. Sein Bruder und dessen Frau, die schon vor vier Jahren, als der braune Spuk begann, Deutschland verlassen und sich in einer kleineren Siedlung in der Nähe von Tel Aviv angesiedelt hatten, könnten ihnen eine wertvolle Hilfe sein und wohl zu einem Neustart verhelfen können.

Den Entschluss in die Tat umzusetzen, entpuppt sich als gar nicht so einfach. Noch ist es möglich, einen sogenannten Auswanderungsantrag zu stellen. Diesem würde auch unmittelbar durch die Kreisbehörde entsprochen, doch die Veräußerung des Eigentums bedeutet, wie in bekannten Fällen beobachtet, eine immense Hürde. Isaak stellt nach vorgegebenem Formblatt den „Ausreiseantrag ins Ausland“. Die Genehmigung erfolgt binnen einer Woche mit der Anweisung, die weiteren „Bestimmungen bei der „Ausreise“ zu beachten.

Wie gut das braune Netzwerk mittlerweile funktioniert, beweist die Tatsache, dass sofort nach der Ausreisegenehmigung drei „arische“ Interessenten bei ihm auftauchen und das Haus sowie den angrenzenden Pferdestall kaufen wollen. Feigenbaum verweist auf den Termin der öffentlichen Versteigerung, der vom Bürgermeister bereits angesetzt ist. Selbstverständlich wollten sich die drei Interessenten „an Gesetz und Ordnung halten“, denn sie haben die Gewissheit, dass sie ihr Ziel erreichen werden. Der Trick jeder dieser „Versteigerungen“ war bisher, dass sich die Interessenten im Preisgebot jeweils unterboten, so dass die Immobilie schließlich zu einem Spottpreis den Besitzer wechselte.

Dass die drei Bieter diesmal in SA-Uniform auftreten, soll der Verkaufsverhandlung lediglich etwas Nachdruck verleihen. Die gesamte Einrichtung mit dem Mobiliar, den Schmuckgegenständen, dem Geschirr und der gesamten Ausstattung sieht der Käufer im Preis jeweils inbegriffen. Was nicht versteigerungsfähig ist und im Eigentum der bisherigen Besitzerfamilie bleiben darf, regelt die Bestimmung aus dem Jahr 1935. Darunter fallen persönliche Gegenstände wie Toilettenartikel, Kleidung sowie persönliche Dokumente.

Noch am Sonntag der folgenden Woche fährt die gesamte Familie Feigenbaum auf einem Leiterwagen ihres Nachbarn Rosenzweig neben ihrer wenigen Habe sitzend zum Bahnhof der Kreisstadt, um möglichst rasch per Bahn über München nach Hamburg zu kommen, wo in zwei Tagen ein englisches Auswandererschiff für eine Passage nach Palästina vor Anker liegt. Der Bruder Isaaks und dessen Frau, trotz aller Bemühungen kinderlos geblieben, erwarten die Familie des Bruders und Schwagers sehr sehnsüchtig, denn die Kunde von Hitlers Rassenwahn ist auch in der Heimat der „Kinder Israels“ bereits in aller Munde.

Die Bahnreise gestaltet sich nicht sehr angenehm, denn in jeder größeren Stadt werden die Insassen des Zuges streng kontrolliert. Vor allem bahnreisende jüdische Staatsbürger müssen nicht selten besondere Schikanen über sich ergehen lassen. In Hannover heißt es wieder einmal: „Sämtliche Juden haben sofort aus dem Zug auszusteigen und sich mit dem ganzen Gepäck am Bahnsteig in einer Reihe aufzustellen. Sie müssen warten, bis deutsche Staatsbürger ihre Plätze eingenommen haben und dürfen erst nach einem Signal aus einer Trillerpfeife wieder einsteigen und die restlichen Plätze belegen! Zuwiderhandlung hat eine sofortige Verhaftung zur Folge. „Welche Schizophrenie des Schicksals! Auch wir sind doch deutsche Staatsbürger“, raunt Feigenbaum einem mitreisenden Schicksalsgenossen zu. Apathisch lassen die Rosenzweigs die Demütigungen über sich ergehen. Der einzige Hoffnungsstrahl: die Heimkehr in das „Land der Väter“.

Nach einer zweitägigen Bahnfahrt steigen die verängstigten jüdischen Passagiere im Hauptbahnhof Hamburg aus dem Zug. Die Feigenbaums schließen sich dem großen Menschenstrom an, der sich in Richtung Hafen bewegt. Mächtige Ozeandampfer,deren Fracht mit riesigen Kränen entladen wird, liegen vor Anker. Endlich kommt die „Hope“ in Sicht, ein gigantisch wirkender englischer Passagierdampfer, der zweitausend Menschen, meist jüdischer oder überhaupt nichtarischer Abstammung, aufnehmen und durch die Meerenge von Gibraltar übers Mittelmeer nach Palästina bringen soll. An Deck herrscht ein Riesengedränge, doch die engen Kojen vermitteln ein Gefühl von Sicherheit, aber auch ungewisser Zukunft. Überhaupt ist die Gefühlslage der gesamten Familie sehr gespalten. Einerseits konnten sie dem Terror und der ständigen Angst entfliehen, andererseits haben sie ihre Heimat, ihre Freunde und auch die persönlich aufgebaute Existenz hinter sich gelassen. Ihr größtes Kapital aber ist die Zuversicht, eine neue angstfreie Zukunft wagen und in Frieden leben zu dürfen. Doch noch steht den Passagieren der „Hope“ eine lange Reise bevor. Die deutschen und „feindlichen“ U-Boote laueren auf dem Atlantik und im Mittelmeer.

*

Nach Allerheiligen beginnt im Dorf gewöhnlich eine ruhige Zeit. Die Arbeit auf den Feldern ist getan, lediglich die Dreschmaschinen laufen in manchen Scheunen, um die eingelagerten Getreidegarben auszudreschen. Ansonsten treffen sich die Bauern am Vormittag beim Raiffeisen-Lagerhaus zum