Arendt, Hannah; Fest, Joachim Eichmann war von empörender Dummheit

PIPER

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ISBN 978-3-492-96449-4

November 2016

© Hannah Arendt Bluecher Literary Trust

© Piper Verlag GmbH, München 2011

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Bettmann/Corbis (Hannah Arendt); Picture Alliance (Joachim Fest)

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Einleitung

 

»Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität«, erklärt Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest. Ihr Bericht von der Banalität des Bösen[1] über den Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann, der als Leiter des »Judenreferats« im Reichssicherheitshauptamt für die Deportation von Millionen Menschen in die NS-Vernichtungslager verantwortlich war, hatte gleich nach Erscheinen eine erbitterte internationale Kontroverse ausgelöst. Wie konnte das »Böse« im Zusammenhang eines derartigen Verbrechens und Täters »banal« genannt werden? Arendt antwortet im Gespräch mit Fest, indem sie eine Geschichte aus Ernst Jüngers Tagebuch Strahlungen erzählt: »Fahrt zum Friseur. Dort Unterhaltung über die russischen Gefangenen, die man aus den Lagern zur Arbeit schickt. ›Da sollen böse Brüder drunter sein. Die fressen den Hunden das Futter weg.‹« Dass diese Menschen faktisch am Verhungern waren, war dem Friseur nicht in den Sinn gekommen. »Diese Dummheit«, so Arendt, »hat etwas wirklich Empörendes.« Eichmann sei in gewisser Hinsicht »intelligent« gewesen, »aber diese Dummheit hatte er. […] Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist.«[2]


Joachim Fest stellte für Arendt einen besonders geeigneten Gesprächspartner dar, um diese kontroversen Fragen zu diskutieren. Sein Buch Das Gesicht des Dritten Reiches, wie das englische Original von Arendts Eichmann in Jerusalem 1963 erschienen, porträtierte erstmals die Führungsriege des NS-Regimes von Hitler über Himmler und Göring, von Ribbentrop und Heß bis Heydrich und Schirach. Die Geschichte jener Epoche mit Blick auf die politischen Führer zu schreiben, resümiert Fest im Schlusskapitel seines Buches, sei »nicht, wie man oft gemeint hat, eine Aufgabe der Dämonologie«. Vielmehr sei man mit dem Problem konfrontiert, wie »so viel Unvermögen, so viel Durchschnittlichkeit und charakterliche Nichtigkeit« mit den ungeheuren Verbrechen, die hiervon ausgingen, in einen begreifbaren Zusammenhang zu bringen sind.[3]


Arendt und Fest debattieren jene Fragen nicht nur im Rahmen der Radiosendung, die der Südwestdeutsche Rundfunk am 9. November 1964 ausstrahlte und die hier erstmals in Buchform dokumentiert wird,[4] sondern auch in bisher unbekannten Briefen, die beide Autoren zwischen 1964 und 1973 miteinander wechseln. Die Briefe begleiten die Jahre von Fests Zusammenarbeit als »vernehmender Lektor« mit Albert Speer[5], Hitlers vertrautem Architekten und späteren Rüstungsminister, aus der Speers Erinnerungen (1969) hervorgehen, sowie die Zeit, in der Fests Hitler-Biografie (1973) entsteht. Für Hannah Arendt markieren die Jahre nach dem Erscheinen von Eichmann in Jerusalem ebenfalls einen Wendepunkt: International angefeindet, steht sie im Mittelpunkt einer Kontroverse um die Darstellung und Bewertung der Verbrechen des NS-Regimes, in der selbst enge Weggefährten und Freunde sich von ihr abwenden. Sie wird dies zum Anlass nehmen, nicht nur über »Wahrheit und Politik« nachzudenken, sondern sich intensiv den Tätigkeiten des Denkens und Urteilens zuzuwenden. Ihre philosophische Hinterlassenschaft The Life of the Mind, an der sie während der Korrespondenz mit Fest zu arbeiten beginnt, nimmt die beunruhigende Frage aus der Konfrontation mit Eichmann wieder auf: Kann das Denken davor bewahren, Böses zu tun?[6]



Der international gesuchte NS-Verbrecher Adolf Eichmann wurde im Frühjahr 1960 in Argentinien vom israelischen Geheimdienst aufgespürt und nach Israel entführt. Zwischen April und Dezember 1961 stand der ehemalige SS-Obersturmbannführer, der die Wannsee-Konferenz mit vorbereitete sowie das Protokoll verfasste, in Jerusalem vor Gericht. Am Ende des Verfahrens wurde Eichmann zum Tode verurteilt und – nach erfolgloser Berufung sowie Ablehnung seines Gnadengesuchs – am 31. Mai 1962 hingerichtet. Hannah Arendt beobachtete das Verfahren als Berichterstatterin für die Zeitschrift The New Yorker. »An diesem Prozeß teilzunehmen ist irgendwie, so meine ich, eine Verpflichtung, die ich meiner Vergangenheit gegenüber habe«, schrieb sie vor ihrer Abreise zum Prozess nach Jerusalem.[7]


Die Jüdin Hannah Arendt hatte 1933 vor den Nazis fliehen müssen, zunächst nach Paris und 1941 weiter nach New York. Ihr Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1955 auf Deutsch und vier Jahre früher auf Englisch erschienen, war eines der ersten Bücher, die den Epochenbruch jener Zeit reflektierten. Nach dem Krieg reiste Arendt häufig nach Europa und Deutschland, erstmals 1949/50 im Auftrag der Jewish Cultural Reconstruction, um geraubte jüdische Kulturgüter aufzufinden und sicherzustellen.[8] Ihr Lebensort blieb das Exil, 1951 wurde sie amerikanische Staatsbürgerin. Ihr politisch-theoretisches Denken aber war, neben Krisenerscheinungen der amerikanischen Republik, weiterhin der Vergangenheit und den Nachwirkungen des NS-Regimes verpflichtet. Sie bedauerte, »die Nürnberger Prozesse verpaßt« und »diese Leute nie leibhaftig« gesehen zu haben – das Verfahren gegen Eichmann bot ihr dazu, wie sie schrieb, »wahrscheinlich meine letzte Chance«.[9]


Die Erfahrung »leibhaftiger« Anschauung ist Arendt eine Voraussetzung des Denkens und Urteilens. Die beunruhigende Formulierung von der »Banalität des Bösen« gewinnt sie in einem Verfahren, staunend »dabei« zu sein, Worte zu suchen, den Eindrücken nachzudenken – in einem offen bleibenden, beweglichen Prozess. Sie ist nicht der Ableitung aus einer Theorie geschuldet oder gar als Mitteilung eines Ergebnisses anzusehen. Dieses Vorgehen hat nicht zuletzt damit zu tun, dass in Gestalt von Eichmann ein Verbrechen zur Anklage stand, vor dem überlieferte Kategorien wie »Mord« oder überzeugend »motivierte Täterschaft« versagten.


Nach Arendts Ansicht stand in Jerusalem ein Angeklagter vor Gericht, an dessen Schuld kein Zweifel bestand. Die Schwierigkeit für die Richter war, »Recht zu sprechen und der Gerechtigkeit Genüge zu tun«.[10] Dies hatte vor dem Hintergrund der Schoah zu geschehen, dem »Verwaltungsmassenmord«, für den es in der Geschichte keine Vorläufer gab. Im Unterschied zu anderen Genoziden wurden hier ganze Völker und Menschengruppen vernichtet, ohne dass es eine »zweckmäßige« Begründung gab: Juden, Polen, Sinti und Roma, Homosexuelle, körperlich Behinderte oder geistig Kranke wurden nicht etwa deshalb vertrieben und massenhaft umgebracht, weil es militärisch wichtige Regionen zu besetzen oder gefährliche Regimegegner auszuschalten galt. Ihr Tod war vollkommen »sinnlos«. Ihnen wurde das Daseinsrecht als Mitglieder der Menschengemeinschaft ausgeschlagen. Aus diesem Grund spricht Arendt von beispiellosen »Verbrechen gegen die Menschheit«, indem sie sich auf den Begriff »crimes against humanity«, wie ihn die Nürnberger Prozesse geprägt hatten, beruft. Die deutsche Übersetzung als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« hält sie für eine unzulässige Verharmlosung, »als hätten es die Nazis lediglich an ›Menschlichkeit‹ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten«[11]. Seit den Nürnberger Prozessen von 1945/46 befasste sich in Jerusalem nun erstmals wieder ein Gericht mit einem Hauptverantwortlichen dieser Verbrechen.


Eichmann erklärte dem Jerusalemer Gericht, er habe sich mit der Geschichte des Zionismus beschäftigt und bei der Organisation der »Ausreise [sic] vieler Juden« mit Vertretern von deren Organisationen am selben »Strang gezogen«[12]. Sich vor Gott schuldig zu fühlen, zog er in seinen Aussagen in Erwägung, nicht aber vor dem Gesetz: Er habe lediglich getreu seinem Amtseid gehandelt, als kleines Rädchen im großen Getriebe, dessen Mahlwerk auch ohne ihn funktioniert hätte. Arendt nimmt Eichmanns Selbsteinschätzung insofern ernst, als sie sein Tun nicht als das Handeln eines Judenhassers oder ideologischen Fanatikers bewertet. »Tatsache war ja, daß er ›normal‹ und keine Ausnahme war«, so Arendt, »unter den Umständen des Dritten Reiches.«[13] Umstände, unter denen Adolf Hitler das Gesetz »Du sollst töten!« erlassen hatte. Eichmanns Gerede vom Handeln auf höheren Befehl indes enthüllt Arendt als simple Ausflucht vor der Verantwortung. Der »leibhaftige« Angeklagte in Jerusalem, so zeigten die Indizien inklusive seiner Aussagen, hatte bis hin zu konkreten Tötungsmechanismen in den Lagern »mit eigenen Augen gerade genug gesehen, um genau Bescheid zu wissen, wie die Vernichtungsmaschinerie funktionierte«[14]. Warum befolgte er dennoch die offensichtlich verbrecherischen Befehle seiner Vorgesetzten?


Statt Eichmanns Verhalten mit Geltungsbedürfnis, Triebhaftigkeit, Gruppendynamik oder anderen (sozial-)psychologischen Theoremen zu erklären oder wegzuerklären, lenkt Arendt das Augenmerk auf ein grundsätzliches und politisches Problem: das Funktionieren der menschlichen Urteilskraft. Eichmann habe sich gegen die Wirklichkeit abgedichtet, indem er für jede Erfahrung ein Klischee oder eine Sprachschablone bereithielt: »Amtssprache ist meine einzige Sprache.« In dieser Unfähigkeit sich auszudrücken erkennt Arendt eine Unfähigkeit zu denken und zu urteilen: Eichmann war nicht in der Lage, eine Angelegenheit von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu betrachten, sich die Konsequenzen seines Tuns vorzustellen, die Wahrnehmung von Wirklichkeit auf diese Weise rückwirken zu lassen und zu einem unabhängigen Urteil zu kommen. Dass die schiere »Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen«, betrachtete Arendt als die wichtigste Lektion aus dem Prozess.[15] In jener abgrundtiefen Oberflächlichkeit Adolf Eichmanns – er sei kein »Ungeheuer«, sondern eher ein »Hanswurst«[16] – manifestierte sich für Arendt etwas, das sie in die Formulierung »Banalität des Bösen« brachte.


Zeigte sich hier ein neuer Tätertyp? Eine Kombination aus Wirklichkeitsverweigerung, Erfahrungsverlust, Pflichttreue und Verantwortungslosigkeit, die auch ein Paradigma der Moderne bildet? In welchem Verhältnis stehen in dieser Hinsicht Eichmann, Hitler, Speer? Hannah Arendt und Joachim Fest werden diese Fragen in ihren Gesprächen und Briefen diskutieren.


Den Anlass für die Gespräche liefert Hannah Arendts Prozessbericht. Um Eichmann in Jerusalem fertigzustellen, hat sie sich viel Zeit genommen bzw. nehmen müssen. Zwei Schicksalsschläge haben sie nach dem Beginn der Arbeiten zurückgeworfen: eine ernste Erkrankung ihres Mannes Heinrich Blücher und ihr Unfall in einem Taxi im Central Park (am 19. März 1962), dessentwegen sie längere Zeit im Krankenhaus verbringen muss. Dann wartet sie auf das Urteil, das am 29. Mai 1962 ergeht und kurz darauf vollstreckt wird. »Ich bin froh, dass sie Eichmann gehängt haben«, schreibt sie an Mary McCarthy: »Nicht dass es etwas ausmachen würde. Aber sie hätten sich, nach meinem Gefühl, völlig lächerlich gemacht, wenn sie die Sache nicht zum einzig logischen Abschluss gebracht hätten.«[17] Der Freundin berichtet sie regelmäßig vom Fortgang der Arbeit: »Ich bin mitten im Eichmann und ziemlich verzweifelt, weil ich es nicht so kurz machen kann, wie ich wollte.« Der Umgang mit Tatsachen und konkreten Dingen aber mache Spaß; ihr Zimmer sehe aus »wie ein Schlachtfeld, mit den Papieren und den kopierten Seiten des Prozessmaterials, die überall verstreut sind«; dann schließlich, der Eichmann-Artikel sei ein »Buch« (von 312 Seiten in der ersten englischen Ausgabe) geworden, der New Yorker habe es angenommen.[18] Es folgen Monate, in denen sich das Manuskript den die Tatsachen und den Sprachstil prüfenden Blicken der Mitarbeiter des New Yorker zu stellen hat. Gleichzeitig wird die Buchausgabe vorbereitet. Die Phase des Korrigierens dauert bis zur letzten Minute, bevor am 16. Februar 1963 die erste der fünf Folgen von »Eichmann in Jerusalem« erscheint. Als begeisterte Leserin meldet Mary McCarthy aus Paris zu den »Eichmann pieces«: »This is a real victory of spirit over matter, an exemplary victory, and I think it’s a splendid thing that they’re published in a popular magazine. […] As a fellow-contributor, I can assure you that you’ve not been in any way New Yorkerized. This is quite an accomplishment.«[19] Als McCarthy ihren Brief schreibt, ist Hannah Arendt bereits in Europa. Sie hatte am 19. Februar New York verlassen, vier Tage später in Basel an den Feiern zu Karl Jaspers’ 80. Geburtstag teilgenommen und war dann nach Deutschland weitergereist. Ende März bricht sie zusammen mit ihrem Mann zu einer langen Urlaubsreise nach Griechenland und Italien auf (mit Abstecher nach Israel). Erst Anfang Juli kehren beide per Schiff nach New York zurück. Was sich dort während ihrer Abwesenheit abgespielt hatte, holt sie nun unaufhaltsam ein: »Die ganze Wohnung [war] buchstäblich voll mit ungeöffneter und nicht nachgeschickter Post.«[20] Was war geschehen?


Arendts Prozessreportage löste, wie Fest rückblickend feststellt, »den zweifellos größten Skandal« aus, den »ein Buch in Jahrzehnten hervorgerufen hat«.[21] Kaum ist die fünfte und letzte Folge von »Eichmann in Jerusalem« im New Yorker vom 16. März 1963 erschienen, beginnt die »Kontroverse« oder auch »Arendt-Kontroverse«[22]. Den ersten Vorstoß unternimmt der Council of Jews from Germany, der am 22. März die in deutscher Sprache verfasste Erklärung »Die Reaktion der Juden auf die Verfolgungen der Nazizeit« veröffentlicht.[23] Der Council, 1945 als Zusammenschluss der aus Deutschland ausgewanderten Juden gegründet, war von Anfang an eine in Israel und den USA einflussreiche Gruppe. In seiner Erklärung wendet er sich mit Nachdruck gegen das »verfälschte Geschichtsbild«, wie es Arendts »Eichmann in Jerusalem« (damals noch nicht als Buch auf dem Markt) und Raul Hilbergs The Destruction of the European Jews[24] zeichnen: Über jenes »furchtbare Kapitel« – die Lage der Juden und insbesondere der Judenräte unter der Naziherrschaft – »moralisch zu urteilen, steht denen nicht zu, die nicht dabei gewesen sind«. Der Council bereite seinerseits eine Reihe von Veröffentlichungen vor, die zeigen werden, »wie die deutschen Juden sich in äußerster Anspannung aller moralischen und materiellen Kräfte zu gegenseitiger Hilfe organisiert und wie sie unter schwierigsten Umständen Selbstbesinnung und Selbstachtung aufrecht erhalten haben«.[25] Damit ist ein Grundthema der Kontroverse formuliert: Es geht um nichts Geringeres als »Um Ehre und Rettung«[26]. Man wolle »der Kontroverse um die Haltung der Juden die Richtung dadurch weisen«, so Siegfried Moses, der Präsident des Council, »dass sie jene sachlich und menschlich nicht verantwortbaren Publikationen« – wie vor allem die von Hannah Arendt – »analysiert«. Dies geschieht zunächst im Mitteilungsblatt des Council, kurz darauf werden die entsprechenden »Analysen« in einer Broschüre gesammelt veröffentlicht.[27]


Parallel dazu wird Hannah Arendt ab Ende März in der New Yorker deutsch-jüdischen Wochenzeitung Aufbau scharf angegriffen.[28] Mehr als zehn Einzelbeiträge erscheinen in den nächsten acht Wochen, dazu unzählige Leserbriefe. In der Ausgabe vom 29. März 1963, die den Auftakt hierzu macht, titelt die Redaktion »Der Sturm um Hannah Arendts ›Eichmann‹« und bringt als Erstes die Erklärung des Council of Jews from Germany, diesmal in englischer Sprache. Zwei Themen werden in den Vordergrund gerückt: die Frage des jüdischen Widerstands und des Verhaltens der Judenräte während der Nazizeit sowie die Ehrenrettung von Leo Baeck (»So war Rabbiner Leo Baeck«). Obwohl Arendt in den Jahren 1941 bis 1945 regelmäßig Artikel im Aufbau geschrieben hatte, verweigert man ihr die Möglichkeit einer Stellungnahme.[29] Erst im Dezember 1963 druckt man auszugsweise ihre Antwort auf einen Brief Gershom Scholems ab, die zuvor zusammen mit Scholems Brief in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen war.[30] In dieselbe Nummer wird außerdem »eine in dieser Form bisher im ›Aufbau‹ nicht vertretene Stellungnahme« – eine Richtigstellung im Sinne von Arendt – aufgenommen.


»Was hat Hannah Arendt eigentlich gesagt?«, fragt Joseph Maier, einstiger Kollege beim Aufbau, der schon in den 1920er-Jahren aus Deutschland nach Amerika kam und als vernehmender Offizier der US Army bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen eingesetzt war. In seinem angesichts des hitzigen Tons der Kontroverse ungewöhnlich sachlichen Beitrag stellt Maier klar: »Das Buch von Hannah Arendt […] ist in der Hauptsache ein auf den Prozessakten und den Polizeiverhören basierender Bericht über Eichmann. Es berührt nichts, was nicht im Prozess selbst vorkommt. Es ist kein Buch über die Juden und die jüdische Geschichte. In seinem Mittelpunkt steht, wer hingehört: Adolf Eichmann. Vielleicht war es vorauszusehen, dass es mit seiner These von der Banalität des Bösen von vielen missverstanden und falsch gedeutet werden würde. Die Behauptungen aber, dass es sich hier um eine pauschale Verwerfung des Prozesses, eine selbstbewußte, herzlose, taktlose, seelenlose Anklage gegen die Opfer und weiss der Himmel was noch handle, sind offensichtlich böswillige Unterstellungen.« Dann wendet sich Maier dem Prozessgeschehen als solchem zu und schreibt: »Den Prozess vornehmlich als politische, nicht als juristische Aktion zu führen«, war zwar die Absicht des Premierministers David Ben Gurion und des Staatsanwalts Gideon Hausner, aber dem vorsitzenden Richter Moshe Landau »sei es gelungen, ihn in eine juristische Aktion zu wenden. Hannah Arendt lässt keinen Zweifel daran, dass in Jerusalem Recht gesprochen wurde.«


»Warum ist das Establishment nun so aufgebracht?«, fragt Maier weiter. Hannah Arendt in ihrer »völligen Unabhängigkeit« habe es gewagt, in ihrem Bericht über das Verhalten von Personen und Völkern »nebenbei etwas zu erwähnen, was lieber verdrängt, vergessen oder im Auftrag und mit Billigung des Establishments umzuschreiben wäre«. Die Frage nach dem Verhalten der Opfer innerhalb des »monströsen Mordplans«, genauer gesagt der Judenräte in der Zeit der »Endlösung«, sei es, die das Establishment so empört habe. Es beharre auf einer einzigen Version: »Alle Opfer, die Judenräte eingeschlossen, standen im Zeichen des kiddusch haschem (Heiligung des Namens)«, »als chillul haschem (Entweihung des Namens) und Vorwurf« empfinde es, »was in Wahrheit nur Bericht ist«. Und so lautet Maiers Fazit: »Auch bei uns gibt es ein Stück ›unbewältigter Vergangenheit‹, das noch zu bewältigen ist.«[31]


Während die vom Council initiierten Auseinandersetzungen in deutscher Sprache in vollem Gange sind, setzt eine erkennbar neue Phase der Kontroverse in englischer Sprache ein, als der amerikanische Richter Michael Musmanno am 19. Mai 1963 seine Besprechung von Arendts Buch in der New York Times Book Review veröffentlicht.[32] Musmanno ist Nichtjude, aber insofern auch persönlich betroffen, als er, ehemals Richter bei den Nürnberger Prozessen, als Zeuge im Eichmann-Prozess ausgesagt hatte. Hannah Arendt bescheinigt ihm in ihrem Buch schlicht die Unkenntnis der Herrschaftsmechanismen des Naziregimes, die für seine – der Jerusalemer Staatsanwaltschaft willkommene – Überschätzung von Eichmanns Rolle im System verantwortlich sei.[33] Im Unterschied zum Aufbau bittet die Redaktion der New York Times Book Review Hannah Arendt um eine Stellungnahme. Arendt schickt ein handschriftliches »statement« aus Rom, in dem sie den Redakteuren mitteilt, dass Musmanno ein Buch kritisiert habe, »which, to my knowledge, was never written or published«. Mit Beispielen belegt sie ihren Vorwurf, die Redaktion habe einen voreingenommenen und inkompetenten Rezensenten beauftragt.[34] Musmanno antwortet öffentlich und verfolgt seine Kritik in Briefen und Telefonaten an die Adresse von William Shawn, dem Herausgeber von The New Yorker, sowie den Verleger Denver Lindley (The Viking Press) weiter.[35]


Musmannos Besprechung in der New York Times hatte eine enorme Wirkung. Die Kontroverse wird nun auch zur Angelegenheit der New Yorker Intellektuellen. Viele Monate sind Arendt und Eichmann Thema der »dinner talks«, bei denen heftig gestritten wird.[36] Kenner und Beteiligte der Szene finden für das, was sich abspielt, starke Worte: »Bürgerkrieg« (Irving Howe), »Pogrom« (Mary McCarthy), die Spaltung geht »quer durch die Familien«, berichtet Arendt an Jaspers[37]. Retrospektiv stellt der Zeithistoriker Anson Rabinbach fest, dass Arendts Buch eine Provokation darstellen »mußte«: Die Eichmann-Kontroverse habe »über tausend Publikationen hervorgebracht«. Dieser »bitterste öffentliche Disput […], der jemals über den Holocaust geführt wurde«, werde bei den NewYorker Intellektuellen zum »Wendepunkt in der Weise, wie über das Gedächtnis des Holocaust öffentlich diskutiert wurde«.[38] Auch hier gibt es, wie Rabinbach darlegt, eine Vergangenheit, deren Aufarbeitung bedacht oder unbedacht versäumt worden war.


In der Bundesrepublik erreicht die Kontroverse 1964 mit einem Artikel von Golo Mann, den Die neue Rundschau sowie auszugsweise Die Zeit abdruckt, eine breite Öffentlichkeit.[39] Golo Mann beendet seine Ausführungen, die später in dem Band Die Kontroverse aufgenommen und im Anhang der vorliegenden Edition abgedruckt sind, mit zwei Einwänden gegen Arendt und ihr Buch: »daß es in seiner überklugen Dialektik eine Nacht macht, in der alle Katzen grau sind; in der die Guten nicht gut sind und die Schlechten nicht schlecht, die Guten nichts besser machen konnten, die Schlechten kaum etwas schlechter; daß die Autorin verdreht, was sie mit einem Schein von Richtigkeit verdrehen kann aus Freude an der Verdrehung, und mit ihrer Klugheit über allem sein will und nirgends ist. Was hilft uns Klugheit, wenn sie mit zwei stärkeren Kräften, Originalitätssucht und Arroganz, so unzertrennlich zusammengeschirrt bleibt?«[40] Mit solcher Attacke auf Person und Werk erteilt Mann einer mit Argumenten geführten Debatte eine deutliche Absage. Zudem stellt er sich an die Spitze derjenigen, die das Erscheinen von Arendts Buch in deutscher Sprache verhindern wollen.[41]


Zwischen der Veröffentlichung von »Eichmann in Jerusalem« und Arendts Treffen mit Joachim Fest liegen eineinhalb Jahre. Die Arbeiten an der deutschen Übersetzung sind zu jener Zeit bereits in vollem Gang, und die Veröffentlichung in einer nicht zuletzt durch Die Kontroverse aufgeheizten Öffentlichkeit wird vom Piper Verlag sorgfältig vorbereitet.[42] Arendts Leben war in dieser Zeit von der Kontroverse bestimmt. Sie hat auf verschiedene Weise – privat und öffentlich – reagiert. Anfangs noch bereit, sich öffentlich zu äußern[43], erkennt sie bald, dass die Debatte in den USA und in Israel eine Form angenommen hat, in der es nicht mehr um Meinungs- und Gedankenaustausch geht. An die Freundin Mary McCarthy schreibt sie im Oktober 1963: »Ich bin der Überzeugung, dass ich einzelnen Kritikern nicht antworten sollte. Wahrscheinlich werde ich schließlich etwas schreiben, keine Antwort, aber eine Art Einschätzung dieser ganzen merkwürdigen Angelegenheit. Das, meine ich, sollte erst dann passieren, wenn die Aufregung sich gelegt hat […] Ich beabsichtige auch einen Essay über ›Truth and Politics‹ zu schreiben, der eine implizite Antwort sein würde. Wenn Du hier wärst, würdest Du verstehen, dass diese ganze Angelegenheit, von ein paar Ausnahmen abgesehen, absolut nichts mit Kritik oder Polemik im üblichen Sinne des Wortes zu tun hat. Es ist eine politische Kampagne, geführt und in allen Einzelheiten geleitet von Interessengruppen und Regierungsstellen. […] Die Kritik richtet sich gegen ein ›image‹, und dieses Image ist an die Stelle des Buches getreten, das ich geschrieben habe.«[44] So sieht Arendt vorerst von weiteren öffentlichen Stellungnahmen ab,[45] bis sie das Vorwort zur deutschen Ausgabe ihres Buches im August 1964 zum Anlass nimmt, ihre Sicht darzulegen.[46]


Unabhängig davon steckt Hannah Arendt viel Zeit und Energie in Vorträge vor und Diskussionen mit amerikanischen Studenten.[47] In einem Brief an Karl Jaspers berichtet sie von einer Veranstaltung der Columbia University am 23. Juli 1963, zu der sie der Rabbiner der Universität eingeladen hatte: »Der Saal für dreihundert enthielt fünfhundert, und über fünfhundert wurden von der Polizei daran gehindert, den Saal zu stürmen. Ich wurde sofort von einer Ovation empfangen, sprach kurz, hielt eine lange ausführliche Diskussion […].«[48] In Arendts Nachlass befindet sich zu dieser Veranstaltung ein zweiseitiges Typoskript, in dem sie – wie später im Oktober desselben Jahres auch für eine vergleichbare Diskussion an der University of Chicago – als erstes »rules« in Stichworten festhält.[49] Sie sind im Zusammenhang der Gespräche und Briefe mit Fest insofern von Interesse, als sie bereits zu diesem frühen Zeitpunkt Arendts grundsätzliche Haltung in der Kontroverse verdeutlichen. Arendt rechnet bei der Veranstaltung mit zwei Gruppen (»circles«), einer Innen- und einer Außengruppe. Zu Ersterer zählt sie diejenigen, die das Buch gelesen haben, zur Letzteren alle anderen, die nur etwas darüber gelesen oder gehört haben. Sie wolle keine außeruniversitäre öffentliche Veranstaltung und keine Presseberichterstattung. Ihre Gründe hierfür, so heißt es weiter, seien einfach: Sie habe kein schriftliches »statement« vorbereitet, und wenn sie sich in die Diskussion, die gegenwärtig geführt wird, einschalten wollte, hätte sie ein anderes Forum gewählt. Aber sie könne auch nicht den Leuten hinterherlaufen oder nachträglich Leserbriefe schreiben, um sicherzustellen, dass sie nicht falsch zitiert, falsch verstanden werde. Ihr komme es darauf an, Fragen zu beantworten und auf Argumente einzugehen. Die Studenten haben diese Regeln offenbar akzeptiert, es wird eine Debatte ohne Polemik. Keine der schriftlich auf Karten eingereichten Fragen, so Arendt an Jaspers, »enthielt auch nur eine Provokation«. Nach ihrem Deutschlandbesuch wird Arendt ähnliche Erfahrungen mit Studenten anderer amerikanischer Hochschulen machen. Die Universitäten haben sie »gerettet«, schreibt sie an Jaspers.[50]


Die hochschlagenden Wellen um Arendts Prozessbericht bestimmen auch die Vorbereitung der deutschen Buchausgabe. Pipers Zögern bei den Vertragsverhandlungen um Eichmann in Jerusalem führen beinahe zu einem Verlagswechsel Hannah Arendts.[51] Zudem dauert es eine Weile, bis eine geeignete Übersetzerin gefunden ist, nachdem Arendts – wie sie in einem Brief an Klaus Piper schrieb – »ganz und gar wilde Idee«, Ingeborg Bachmann hierfür zu gewinnen, sich nicht realisieren ließ.[52]


Der im Dezember 1963 beginnende Frankfurter Auschwitz-Prozess brachte das Problem von NS-Verbrechern, die unbescholten in Nachkriegsdeutschland lebten, ins tägliche Bewusstsein. Als schließlich der Erscheinungstermin von Eichmann in Jerusalem zur Frankfurter Messe im Herbst 1964 bevorstand, kurbelte Piper eine »große Propaganda« für Arendts Buch an, wie Karl Jaspers der Freundin nach New York berichtete.[53] Umfangreiche Vorveröffentlichungen erschienen im Merkur und in der Zeit;[54] in der Welt organisierte man einen Abdruck des später auch in den USA einflussreichen Essays von Mary McCarthy, der im Anhang dieses Bandes dokumentiert ist.[55] Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse lud der Verlag zur exklusiven Pressekonferenz[56] mit der Autorin, bemühte sich um ein Spiegel-Interview und arrangierte ein ZDF-Fernsehgespräch mit Günter Gaus, das berühmt werden wird[57].


Im August 1964 nimmt Joachim Fest mit Hannah Arendt Kontakt auf. Vermittelt durch den gemeinsamen Verleger, soll er ein Gespräch im Südwestdeutschen Rundfunk mit der Autorin führen. Arendt steht dem medialen »Brimborium«, wie sie an Jaspers schreibt, skeptisch gegenüber.[58] Sie hat kein Interesse, sich auf die strategischen Spiele einer geschickten Positionierung ihres Buches einzulassen. Dennoch reist sie auf Pipers Bitten zur Buchvorstellung nach Deutschland und stimmt dabei auch der Radiosendung mit Joachim Fest zu. Sie kennt und schätzt Fests 1963 erschienene Porträtsammlung Das Gesicht des Dritten Reiches: »Sie wissen, wie gut mir Ihr Buch gefällt.«[59]


Fests Buch korrespondiert mit Arendts Schriften zum NS-Totalitarismus vor allem in der Unabhängigkeit des Urteilens und der präzisen Freihändigkeit der Sprache. Kenntnisreich, scharfzüngig, ironisch skizziert Fest die »Gesichter« des NS-Regimes und setzt sie ins Verhältnis zur Heimatlosigkeit, Selbstentfremdung und dem Hunger nach »Weltanschauung« im 20. Jahrhundert: »Elemente für die Beantwortung der Frage nach der totalitären Anfälligkeit des Menschen unserer Zeit.«[60] Leitmotivisch spricht Fest davon, »Elemente des Nationalsozialismus« mit seinem Buch zutage fördern zu wollen, und verweist damit auf Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – an einigen Stellen explizit. Im ersten Brief an Arendt bekennt Fest, sein Buch verdanke »Ihren Arbeiten außerordentlich viel«[61]. Umgekehrt erkannte Arendt bei Eichmann, wie Fest bei Hitler und anderen Führern des Regimes – trotz der Ungeheuerlichkeit ihrer Verbrechen –, kein Ungeheuer, sondern »die Inkarnation des Durchschnitts«[62]. In der Vorrede zur deutschen Ausgabe von Eichmann in Jerusalem hebt sie Fests Personenstudien als besonders erhellende Lektüre hervor. »Ich freue mich also, Sie kennen zu lernen, mich mit Ihnen zu unterhalten«, lässt sie ihn im Vorfeld des Rundfunkgesprächs wissen.[63]


Doch dann tritt etwas Unerwartetes ein. »Wie Herr Piper mir mitteilte, wünschen Sie möglichst bald schon die Fragen übermittelt zu bekommen«, kündigt Fest eine die Radiosendung vorbereitende Liste an. Kurz darauf schickt er sie an Arendt. »Im Ganzen«, kommentiert er die vierseitige, einzeilig getippte Aufstellung, »bieten die Fragen Gelegenheit, alle teils hierzulande schon geäußerten beziehungsweise zu erwartenden Einwände abzuwehren.«[64] Hier liege offenbar ein »Mißverständnis« vor, antwortet Arendt: »[I]ch hatte niemals die Absicht, mich zu verteidigen.«[65] Sie habe dem »Gespräch mit Ihnen« zugestimmt, weil sie nach der Lektüre von Fests Buch der Überzeugung war, »es sollte Sachen geben, über die wir uns mit Gewinn unterhalten können«. Arendt schwebt keine Inszenierung vorformulierter Fragen und Antworten vor. Auch will sie ihr Reden nicht an die polemische Kritik an ihrem Buch binden. Wenn dies nicht möglich sei, müsse man die Sache abblasen, meint sie.


Dieses »tatsächlich sehr dumme Mißverständnis« erklärt Fest mit dem Anliegen, das der Verlag hinsichtlich der Radiosendung an ihn herangetragen habe: Missverständnisse gezielt und vorab auszuschalten.[66]beide [67]