Barbara Sichtermann

Pubertät

Not und Versprechen

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www.beltz.de

© 2007 Beltz Verlag, Weinheim und Basel

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe des 2002 im Rowohlt Taschenbuchverlag erschienenen Buches »Frühlingserwachen«

Lektorat: Bernhard Schön, Idstein

Umschlaggestaltung: Glas AG, Seeheim

Umschlagabbildungen: Henri Rousseau, Femme se promenant dans un forêt exotique (1905)

© akg-images, Berlin und Mauritius, Mittenwald

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 978-3-407-22416-3

 

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Für Simon, Juliana und Sascha

Vorwort

Pubertät ist wieder ein Thema geworden, seit die Jugend, um es im Jargon zu sagen, »auffällt«. Die Verbrecher werden immer jünger, die Drogendealer und -opfer desgleichen; und jene Kids, die so freundlich sind, zur Schule zu gehen und einigermaßen ansprechbar unter ihren Kopfhörern zu bleiben, geben freche Antworten, tragen Tattoos auf der Schulter und den Hosenzwickel auf Kniehöhe. Sie sind mal wieder unmöglich, die Youngsters, so wie sie es immer waren.

Sie sind es aber heute unter Bedingungen, die das Heranwachsen nicht erleichtern. Die Kindheit wird immer kürzer, die schulische Konkurrenz härter, die Verführung zum Drogenkonsum drängender; die Eltern bleiben immer länger jung, die Konsumreize werden greller, die Zukunftsaussichten diffuser. Hinter diesen zeittypischen Begleiterscheinungen ragen aus Urzeiten archaische Muster der Geschlechtercharaktere und der Initiation hervor: Hinter dem Wandel zeigt die Konstanz, dass die Geschichte des Menschen, individuell und evolutionär, nicht nur in Sprüngen verläuft, sondern auch in langen Wellen. Es gibt eine Kontinuität im Wechsel. Und so erleben Kinder, deren Pubertät beginnt, nicht nur das bestürzend Neue, sondern auch das Immergleiche.

Es gibt neuartige Phänomene, die sich bei näherem Hinsehen als scheinhaft und ephemer erweisen. Dazu gehört, meine ich, die Verwischung der Generationengrenze. Dass die »Forever young«-Eltern und die frühreifen Teenager im selben Jugendmilieu zusammengeschmolzen seien, sieht nur so aus, und wo es wirklich so ist, hat es keine tiefere Bedeutung. Dennoch werden weitreichende Schlussfolgerungen gezogen: Es scheint, als hätten sich die Übergänge bei diesen Mischungen von Jung und Alt aufgelöst, als finge das Großwerden schon in der Grundschule an und als hörte das Jungsein erst kurz vorm Greisenalter auf. Und doch gibt es diesen einen wichtigen Übergang einst wie jetzt in seiner ganzen Dramatik: die Pubertät. Wenn aber die Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenenalter nicht nur vorhanden, sondern ziemlich hoch und befremdlich auffallend ist, dann sind auch diese beiden biographischen Phasen: die Grundschulzeit und die Zeit nach der Schule, etwas ganz Verschiedenes, und die Rede von der Angleichung der Generationen ist ein Missverständnis.

Eine Studie aus den USA (McClintock, Martha K./Herdt, Gilbert: »Rethinking Puberty«) könnte zu solchen Fehlschlüssen Anlass geben. Sie weist nach, dass die Sexualhormone im Blut von sechsjährigen Kindern vorhanden und in Vermehrung begriffen sind und dass sich erotische Wünsche und Phantasien schon in Erstklässlern regen. Da mag etwas dran sein, die Konsequenz aber, die Pubertät gleichsam wegzuinterpretieren, da sie sich irgendwie schleichend von der Geburt an ereigne, sollte man keinesfalls ziehen. Sexualität ist als Himmelsmacht und Teufelswerk in jedem Lebewesen ständig wirksam; die Ausdrucksformen aber und die Intensitätsgrade, mit denen das geschieht, ändern sich drastisch im Laufe eines Lebens. Sie werden während der Pubertät besonders heftig verdichtet und verschärft – das ist der ganze Grund dafür, warum diese Zeit so krisenträchtig ist. Je mehr die Geschlechtsreife theoretisch auf die Zeit vor dem Teenageralter und auf die Jahre danach ausgedehnt wird, desto unverantwortlicher verharmlost man die Pubertät und bestreitet ihre Problematik, desto unverständlicher wird, warum Heranwachsende es in einem gewissen Alter so schwer mit sich haben. Im Übrigen nimmt die Feinverteilung der Geschlechtsreife über ein ganzes Leben nicht nur der Pubertät ihre Spitze, sondern auch der Sexualität; wenn sie immer irgendwie mit von der Partie und doch nie ganz fertig ist, übernimmt sie auch nie eigenmächtig die Regie und ist nie wirklich sie selber. Und wieder werden die Turbulenzen der Pubertät unbegreiflich, beziehungsweise sie erscheinen wie reiner Mutwillen oder schlechtes Benehmen.

Dieses Buch lässt sich auf die Verflüssigung der Pubertät im Sinne eines »lebenslangen Lernens«, was es denn wohl mit dem Sex auf sich habe, nicht ein. Es besteht darauf, dass die Geschlechtsreife ihre Zeit hat – die Jahre zwischen zwölf und siebzehn (oder zwischen zehn und fünfzehn, es gibt hier starke individuelle Unterschiede) –, eine Zeit voller unerhörter Schwierigkeiten, großer Ängste und noch größerer Erregungen und Erwartungen. Und dass die Kindheit vom Sex nicht allzu viel wissen will – es sei denn, man deutet auch die kindliche Sinnlichkeit als sexuelles Begehren, was aber ein kühnes Unterfangen ist und letztlich wenig weiterhilft.

Dass nach der Pubertät ein inneres Gleichgewicht möglich ist, an dem die Sexualität mitwirkt, ohne es zu bedrohen – auch das ist eine Voraussetzung der folgenden Kapitel. Die Phase dazwischen ist unser Thema: die Pubertät als eine Zeit, in der ein junger Mensch den Sexus körperlich-praktisch und sozial-moralisch in sein Leben einbauen muss, was ihm keineswegs »einfach so« gelingt und was meist auch kein allmählicher, glatter Reifungsvorgang ist, sondern ein diskontinuierlicher Prozess voller Komplikationen, Fallen, Fragen und Schrecken.

Es liegt eigentlich nicht an den Jugendlichen, wenn sie während der Pubertät aus der Spur springen, sondern an der Sexualität, die als Naturereignis längst nicht so bruchlos in das kulturelle Miteinander unserer Gesellschaften eingebunden ist, wie es Pädagogik, Medien und populäre Anthropologie gern darstellen. Die lange Kindheit der Spezies Mensch, die so viel Zeitraum lässt für Hirnreifung und Lernen, ist auch der Ursprung eines folgenreichen Bruchs in der Entwicklung: Mädchen und Knaben richten sich in einem Körper ein, dessen Geschlechtsidentität nur in Umrissen vorliegt, aber noch nicht von dem dazu gehörenden Triebinteresse durchgeformt ist. Sie sind Wesen, denen das Geschlecht noch nichts ausmacht – wenn es sich auch hier und da schon meldet, aber indirekt und spielerisch, wie im Traum. Sie fühlen sich schon als Individuen mit Eigensinn, wenn ihnen plötzlich die Sexualität wie ein Usurpator in Leib und Seele fährt und dort die kindliche Übereinstimmung mit der Welt zum bloßen Schein erklärt und sie vernichtet. Ohne Krisen kann diese Wandlung nicht abgehen. Dafür waren die Kinder ihrer selbst schon zu sicher und als Persönlichkeiten schon zu rund. Jetzt soll auf einmal alles anders werden: der Körper, die Prioritäten, die Eigenart, die Selbst- und Fremdwahrnehmung. Verwirrt und furchtsam, doch zugleich neugierig und abenteuerlustig macht sich das pubertierende Kind auf den Weg zum Erwachsenenstatus. Es fängt noch mal ganz unten an. Hätte die Kindheit nicht so lange gewährt und eine Reifung eigener Art herbeigeführt, wäre der pubertäre Neuanfang – der mit einem Auflösungsprozess beginnt: körperliche Integrität, Weltsicht und alte Loyalitäten, alles wird umgestülpt – auch nicht so konfliktträchtig. Aber es ist nun mal so: Wir alle mussten und müssen da durch.

Ratgeber helfen, elterliche Erfahrung tut das Ihre, und so werden die Kinder schließlich groß, ohne dass allzu viele menschliche Beziehungen und moralische Werte dabei untergegangen wären. In den allermeisten Fällen aber bleiben sowohl die Erinnerung als auch das Erleben selbst mit einem Gefühl der Überforderung verbunden.

Dieses Buch ist kein Ratgeber im herkömmlichen Sinn – es offeriert keine Tipps zum Umgang mit aufmüpfigen Teenagern und führt auch keine Fallbeispiele mit Lösungen vor, das geschieht höchstens mal am Rande. Ratgeber können sehr nützlich sein, es soll nichts gegen dieses Sachbuchgenre eingewendet werden. Gerade aber weil so viele typische Pubertätsprobleme eine allgemeine Seite haben, also nicht auf die ganz besondere Unverschämtheit einer ganz besonderen Teenagergeneration zurückzuführen sind, scheint es ratsam, ein Buch über die Zeit zwischen zwölf und siebzehn vorzulegen, in dem zunächst mal erklärt wird, warum alles so schwierig ist – bevor, in einem zweiten und pragmatischen Schritt, dann über Lösungen nachgedacht werden kann. Diesen zweiten Schritt beziehungsweise seine gedankliche Fassung vernachlässigt das Buch zugunsten des ersten, der vor allem Verständnis für die Lage Pubertierender wecken soll.

Dieses Buch hat keinen optimistischen Grundton. Es bleibt bei einer einzigen Perspektive und schildert die Sexualität mal nicht als »schönste Sache der Welt«, sondern als Zerstörungswerk, das die Harmonie des kindlichen Ichgefühls und Weltverständnisses bedroht und zersetzt, was ohne Verteidigungsbemühungen des Kindes und seiner Eltern, ohne Schmerzen und Angst kaum abgeht.

Der Dichter Frank Wedekind hat Anfang des letzten Jahrhunderts das Pubertätsdrama »Frühlings Erwachen« vorgelegt, das bei seiner Veröffentlichung im Kaiserreich einen Skandal auslöste. Zu Wedekinds Zeiten galt Sexualität als schmutzig, deshalb konnte über die Pubertät nicht angemessen geredet werden. Und deshalb war allein schon die Benennung jugendlicher Sexualnöte Anlass genug, gegen den Autor einen Prozess anzustrengen. Heute gilt Sex als supersauber, was wiederum ein Grund für offene Fragen ist. Einst war sie des Teufels, heute ist sie ein himmlisches Vergnügen. Ist sie nicht noch einiges mehr? Manchmal auch die Quelle von Unglück? Und spielt nicht diese Ambivalenz in der Pubertät von Anfang an ihre Rolle?

Unsere konsumorientierte Kultur, die auf ihre eigenen Werbeversprechen hereinfällt, tut gern so, als gäbe es ein Menschenrecht auf Schmerz- und Konfliktfreiheit. Dass dem nicht so ist, vor allem nicht im Kontext von Sexualität, dass wirkliches Am-Leben-Sein unweigerlich auch Leiden heißt, muss aufgeklärten Eltern und Kindern heute eigens mitgeteilt werden. Es gibt Herausforderungen in der Entwicklung eines Menschen, die ohne Risse, Brüche und Bitternis nicht zu bestehen sind. Die Pubertät gehört dazu.

Das Gute ist: Pubertierende sind jung. Ihre Vitalität, ihre Zukunftshoffnung und ihre Courage helfen ihnen beim Erwachsenwerden, und wenn ein Sinn für das Komische gerade im Leid dazukommt, versprechen die Jahre nach dem Ende der Kindheit auch allerlei Freuden. Vielleicht kann, paradoxerweise, die Lektüre eines Buches, das eher von Lasten und Verlusten spricht, eine solche Freude bereiten. Denn die Wahrheit ist zwar oft nicht schön, aber immer eine Erfrischung für den Geist.

Kapitel 1
Von der Kindheit her

Gespräch zwischen einer Lehrerin und einer Mutter

Einige Kinder weinten: geräuschvoll und in Umarmungen versunken die Mädchen, diskret und mit Lachen vermischt die Jungen. Hübsch angezogen waren sie alle, denn es war ihre Schulabgangsfeier. In Berlin gibt es sechs Grundschuljahre. Wenn die Schülerinnen und Schüler auf die weiterführende Schule wechseln, sind sie in der Regel zwölf Jahre alt.

Natürlich rührte mich der Anblick der heulenden Schulwechsler. Die Lehrerin setzte sich neben mich. »Ich halte die Reform für einen Fehler«, sagte sie und schüttelte den Kopf über all die Tränen. Welche Reform? »Die sechs Grundschuljahre. Man ist hier immer noch stolz darauf. Die Kinder würden nicht vor der Zeit auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium verteilt, sie könnten sich in Ruhe entwickeln. Alles gut und schön. Aber man hat übersehen, dass Zwölfjährige schon ganz andere Persönlichkeiten sind als Zehnjährige. Nach der vierten Klasse gehen die Kinder noch an der Hand ihrer Eltern. Sie lassen sich leiten. Nach der sechsten ist das anders geworden. Jetzt wollen sie längst nicht immer, was die Eltern wollen. Sie fühlen sich ihren Kumpels, ihren Freunden, ihren Klassenkameraden zugehörig. Die Peergroup ist das neue soziale Feld. Und da ist die Schule nun mal der wichtigste Kontaktstifter. Gerade in dieser Phase: wo die ersten festen Freundschaften entstehen und die ersten kleinen Liebschaften, gerade jetzt die Kinder auseinanderzureißen, das ist eigentlich richtig grausam.«

Ich guckte zweifelnd in die Runde. Mein eigener Sohn weinte nicht. Lachend bolzte er mit einem Kameraden. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, ihm mit dem Schulwechsel einen Tort anzutun. Aber er war für sein Alter auch weit zurück in dem, was man Entwicklung nennt. Er hatte noch seine helle Stimme, spielte noch nach Kinderart und sorgte sich nicht um sein Aussehen. Die Lehrerin erriet meine Gedanken. »Bei Ihrem Jungen hat die Pubertät noch nicht eingesetzt«, sagte sie bedeutungsvoll, »ihn dürfen sie nicht zum Maßstab nehmen. Aber schauen Sie sich mal um. Schon größenmäßig …« Sie hatte Recht. Die anderen Kids waren fast alle höher aufgeschossen als Sascha, unter den Mädchen gab es schon kleine Damen, schick zurechtgemacht für die Feier mit Schmuck und ausgeschnittenem Top.

Die Lehrerin, schien mir, hatte gute Gründe für ihre Zweifel an den sechs Grundschuljahren. Warum man diese Gesichtspunkte nicht berücksichtigt habe, fragte ich, beim Entwurf der Reform? »Ach wissen Sie«, sagte sie, »über die Pubertät denkt keiner gern nach. Sie ist ja schon fast ein Tabu. Alle reden drüber, aber wirklich befassen will sich niemand mit ihr. Da gibt’s im Grunde nur eine Devise: Möglichst früh rein und möglichst früh raus.« Ich sah zu Sascha hinüber. Er saß unbeteiligt vorne auf der Bühne, baumelte mit den Beinen und machte den Eindruck, als wolle er gern nach Hause gehen. Meine Hand würde er nicht mehr nehmen. Aber er würde sich führen lassen.

»Wie denken Sie darüber, dass Sascha noch so kindlich ist?«, fragte sie und sah mich prüfend an. »Macht es Ihnen was aus?« »Nein«, antwortete ich, »mir nicht. Aber ihm vielleicht, fürchte ich.« »Sehen Sie! Und damit macht es auch Ihnen was aus. Schließlich möchten Sie, dass Ihr Kind zufrieden ist, dass es sich wohl fühlt. Also hoffen Sie doch, dass es allmählich mal losgeht mit den Hormonen.« Ich grinste und sagte ausweichend: »Man kann ja sowieso nichts machen. Die biologische Uhr ist ein ziemlich individuelles Ding. Da kann man nicht dran drehen.« Die Lehrerin ließ ein zögerliches »Ach« vernehmen. Dann sagte sie: »Wenn’s man so wäre. Ich glaube, man kann doch. Im Prinzip haben Sie Recht: Wann der Körper sich auf die Geschlechtsreife verlegt, das entscheidet er. Aber es gibt ja auch noch Geist und Seele, und die sind nicht ohne Einfluss auf den Körper. Sie können ihm zusetzen oder sie können ihn in Ruhe lassen. Sie können ihn antreiben, oder Sie können ihm Zeit geben. Heute, wo Unabhängigkeit ein so hoher Wert ist und die Familie nicht mehr zählt, glaubt man, den Kindern einen Gefallen zu tun, wenn man sie möglichst früh auf das Erwachsenenleben einstimmt. Alles arbeitet daran mit: die Medien, die Konsumgüterindustrie, die Technik, die Lehrer, die Eltern. Eben, als ich Sie fragte: ›Macht es Ihnen was aus, dass Sascha noch so kindlich ist?‹, hätte ich um ein Haar gesagt, ›dass er noch so unreif ist?‹ Aber ich habe mir auf die Zunge gebissen, weil ich Sie nicht kränken wollte. Unreife ist heutzutage ein übler Nachteil. Den will niemand für sein Kind. Aber ich sag Ihnen was: Seien Sie froh über Ihren Sohn. Drängen Sie ihn nicht! Die Zeit vor der Pubertät nämlich, die kann gar nicht lang genug sein. Sie ist wertvoll. Und sie geht immer irgendwann zu Ende, Ungeduld ist völlig überflüssig. Nie wieder sind Menschen so bildsam wie zwischen fünf und zwölf. Und so wissensdurstig.«

Die innere Uhr – Regel und Ausnahme

Auf diese Weise kam ich dazu, mir Gedanken über die Pubertät zu machen – gerade nicht, weil mein Kind in dieser Entwicklungsphase drinsteckte und außergewöhnliche Schwierigkeiten mit ihr hatte, sondern weil er sich im Gegenteil aus geheimnisvollen Gründen weigerte, in sie hineinzugehen. Die Lehrerin hatte den Punkt getroffen. Zwar machte ich mir nicht direkt Sorgen um Sascha, aber ich wunderte mich manchmal, dass er so spät dran war. Und er selbst? Ich hatte auf die Frage der Lehrerin hin eingeräumt, dass der Junge wohl gern ein wenig »weiter« wäre, aber genau genommen machte er seines Rückstandes wegen kein großes Theater. Er träumte und trödelte so vor sich hin, als Mensch, Junge und Individuum, und sowohl er als auch ich und alle anderen, die ihn kannten, empfanden das nicht als Problem.

Nun gut, man könnte sagen: Jedes Kind entwickelt sich gemäß seiner eigenen inneren Uhr. Die Lehrerin aber hatte in mir gerade ein Verständnis dafür geweckt, dass äußere Einflüsse diese Uhr in ihrem Lauf beschleunigen oder verlangsamen können. Die meisten äußeren Reize wirken heute als Beschleuniger. Selbständigkeit ist das oberste Ziel, Abhängigkeiten sollen überwunden und gemieden werden. Die Kinder vernehmen diese Message, sie atmen sie mit der Luft ein. Sie wollen groß sein, sie sehnen die ersten Anzeichen der Wachstumsphase und der Geschlechtsreife herbei – sogar Pickel werden begrüßt, als Beweis dafür, dass hormonell etwas in Gang kommt.

Warum war Sascha anders? Weil er zwei ältere Geschwister hatte, damals 16 und 21 Jahre alt, die inzwischen erwachsen sind und deshalb noch lange nicht im Paradies angelangt? Weil er fühlte, dass es an der Kindheit etwas zu verteidigen und festzuhalten gab, das er nicht opfern wollte? Aber wie sollte er so etwas spüren? Und warum war er dann eine Ausnahme, warum spürten die anderen nichts? Sascha war eben, wie er war, wahrscheinlich würde man die Gründe nie erfahren, und das war ja auch nicht weiter schlimm. Man kann ohnehin ein Phänomen wie die Pubertät nicht vom Einzelfall her verstehen, man braucht den Blick aufs Ganze, auf die gesamte Alterskohorte, auf die Zeitgeschichte, auf die Kultur. Aber das heißt nicht, dass man den Einzelfall vernachlässigen soll. Beispiele sind meistens interessant, und Ausnahmen werfen ein besonders helles Licht auf das Problemfeld.

Bei jedem Kind verläuft die Entwicklung auf besondere Weise; manche machen während der Pubertät überhaupt keine Schwierigkeiten, und sie haben auch keine. Andere wieder springen total aus der Spur und scheinen sich selbst und ihren Eltern als vollkommen veränderte, nicht wiederzuerkennende Aliens.

All diesen verschiedenen, manchmal geradezu gegensätzlichen Entwicklungsmustern liegt aber ein und dieselbe Ursache zu Grunde: die Geschlechtsreife. Und um die soll es uns gehen.

Dauerkrise Pubertät

Man kann den Entwicklungsschub, den wir Pubertät nennen, von zwei Seiten her betrachten: zum einen von der Kindheit her, die jetzt zu Ende geht, zum anderen vom Erwachsenenstatus her, den der Körper verschärft anstrebt. Eltern, als Pragmatiker, denken an die Zukunft. Außerdem sind sie selbst erwachsen und haben die eigene Kindheit meist vergessen. Kinder, als gehorsame Söhne und Töchter, möchten gern wie die Eltern denken und kommen mit sich selbst in Konflikt, wenn sie zu Beginn der Pubertät die Lust zum Widerspruch verspüren. Beim Nachdenken über die eigene Entwicklung aber folgen sie meist ihren Eltern und denken von deren Ziel her: dem Erwachsenenstatus. Pädagogen müssen die problembeladenen Klienten da abholen, wo sie stehen, also bleibt ihnen meist auch nichts anderes übrig, als die Denkweise von Eltern und Kindern zu übernehmen und die Vergangenheit zugunsten der Zukunft zu vernachlässigen.

Und was tun »die Gesellschaft«, die öffentliche Meinung, der große Chor der Medien, wenn sie mal wieder die Pubertät als Thema entdecken? Kümmern sie sich um die Kinderzeit der Jugendlichen, versuchen sie die Umbrüche der Jahre zwischen zwölf und sechzehn von der Kindheit her zu verstehen? Kaum. Zwar vergisst keiner zu erwähnen, dass Pubertierende im Grunde noch Kinder sind, die Geborgenheit und vor allem Verständnis brauchen, aber sie reden von der Kindlichkeit der Heranwachsenden doch eher wie von einer abgestorbenen, schon fast leeren Puppe, aus der sich der schöne, reife Schmetterling mit zitternden Flügeln gerade herausarbeitet.

Der Blick der allermeisten Beteiligten, die von Pubertät betroffen sind, ob nun als Jugendliche, Eltern oder Erziehungsberater, ist nach vorne gerichtet. Die Reife wird als Endpunkt der Entwicklung in der Betrachtungsweise vorweggenommen. Um sie geht es ja schließlich auch. Irgendwann ist die Pubertät durchgestanden, der junge Mensch steht selbstverantwortlich und zukunftsmächtig da, und all die Krisen und Konflikte der Adoleszenz haben sich glücklich gelöst. Ende gut, alles gut.

Nur: So ist es ja in Wirklichkeit nicht. Die Pubertät und die üblichen Erschütterungen des Familienfriedens, die weitergehenden Trübungen des gesellschaftlichen Konsenses über gutes Benehmen, Sinn des Daseins, Rausch und Gewalt – all diese Fragen und Schieflagen bleiben bestehen und vertiefen sich. Die Betroffenen wursteln sich irgendwie durch, aber alles in allem hat man den Eindruck, dass Pubertät als Krise ein Thema ist, das einfach nicht zur Ruhe kommt, ja, das sogar immer neue Implikationen sprich Problemzonen in seinen Geltungsbereich hineinzieht. Könnte diese Hilflosigkeit damit zu tun haben, dass unsere Gesellschaft sich weigert, die Krisen der Jugend von der Kindheit her, also sozusagen historisch zu betrachten? Dass sie durch ihr Beharren auf dem Fernziel: 18 Jahre, mündig und groß, nur den Übergang an der Pubertät sieht, das Phasenhafte, das »Zwischen« an dieser Zeit, und sie deshalb auch gar nicht wirklich analysieren kann? Man versteht es ja, dass die meisten in einem Pubertierenden nur den jungen Mann, der er einmal sein wird, sehen und in der Jugendlichen die erwachsene Frau, die man schon ahnt, und deshalb das unreife Gehabe, das grüne Getue, das kindische Aus-der-Reihe-Tanzen nur als Abirrung auffasst, mit der es bald vorbei sein wird.

Die Pubertät ist ein Übergang, in dem man sich nicht einrichten kann und in dem die meisten Jugendlichen sich nicht wohl fühlen. Man kann und darf diese Zeit auch nicht schönreden und muss sich damit abfinden, dass sie immer problemträchtig bleiben wird. Aber man kann versuchen, alles, was in diesen krassen Jahren passiert, besser zu verstehen. Denn dann wird man auch besser damit fertig. Das schafft man nur, wenn man sich nicht scheut zurückzublicken. Ohne Überlegungen zur Kindheit und zur Bedeutung ihres Verlusts für die Heranwachsenden wird Pubertät immer nur halb begriffen, und es wird allen Beteiligten höchstens einfallen, sie als eine Art peinlichen Zwischenfall möglichst rasch zu entsorgen. Ich möchte deshalb in »Pubertät. Not und Versprechen« die Perspektive umkehren und von der Kindheit her auf das schauen, was man Geschlechtsreife nennt.

Die großen Chancen der Latenz

Die Kindheit, das sind die ersten zehn oder zwölf Jahre des menschlichen Lebens, und sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die Sexualität keine entscheidende Rolle im körperlichen, seelischen und praktischen Leben spielt. Man könnte den Akzent auch anders setzen und die Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern oder sonstigen Erziehungspersonen in den Mittelpunkt stellen, aber für unseren Zusammenhang ist das Fehlen der Sexualität wichtiger.

Stimmt es denn, dass Kinder keine sexuellen Strebungen kennen? Seit Freud reden wir von frühkindlicher Sexualität, wir unterscheiden Entwicklungsstufen der Libido, die sich gleich nach der Geburt etablieren und ablösen, bis schließlich beim circa fünfjährigen Kind die genitale Stufe erreicht ist, auf der die Geschlechtsorgane entdeckt und auch ausprobiert werden wollen. Der Junge kämpft aggressiv gegen den Vater um die Mutter, er verfällt dem Ödipuskomplex, und das Mädchen, das den Vater für sich beansprucht, einem für weibliche Kinder vorgesehenen Äquivalent. Inwiefern sich mit diesen freudschen Modellen heute noch arbeiten lässt, sei dahingestellt.

Wichtig für uns ist festzuhalten, dass kindliche Sexualität existiert und dass sich Vorschulkinder für den geheimnisvollen, lustträchtigen Unterleib brennend interessieren. Sie zeigen sich gegenseitig ihre Organe, schauen einander beim Pinkeln zu und werden von ersten Liebesgefühlen ergriffen. Aber dann setzt irgendwann eine Hemmung ein. Die Kinder verlieren das Interesse an Po, Penis und Vagina, sie lernen lesen, sie stellen Fragen nach Sternen und Blumen. Die ehedem so unablässig herausfordernden Lustzonen der Körpermitte werden (mehr oder weniger) gleichgültig und undeutlich. Es ist fast so, als hätten die Kinder enttäuscht und sogar ein wenig beschämt erkannt, dass sie hier nicht weiterkommen und sich deshalb, ganz nach Art eines abgewiesenen Bewerbers vom Hauseingang der Angebeteten, traurig und möglichst unauffällig verkrümelt. Wie um sich von dem Fehlschlag abzulenken, fahren sie darauf hin erst mal – geistig, virtuell, in der Phantasie und fragend, lesend, lernend – neugierig um die Welt, bevor sie es dann, sieben Jahre später, noch einmal versuchen. Und diesmal klappt es.

Freud hat einmal spekuliert, dass die Menschen von einer höheren Affenart abstammen könnten, die mit fünf Jahren geschlechtsreif wurde. Dann aber hat die Evolution, die für die Spezies Homo sapiens eine differenziertere Gehirnentwicklung vorgesehen hatte und dafür ontogenetisch Zeit brauchte, bei den Fünfjährigen sozusagen den Schalter noch mal umgelegt und sich sieben Jahre ausbedungen, um die geistigen Kapazitäten aufzubauen, die den Menschen zum Menschen machen sollten. Danach, also etwa in seinem zwölften Jahr, durfte sodann die Sexualität das Menschenwesen wiederhaben und mit ihm dort weitermachen, wo sie es in seinem fünften Jahr hatte verlassen müssen. Diese freudsche Idee findet jede Menge Bestätigung in der Realität. Er hatte wahrscheinlich völlig Recht. Aber es wird kaum möglich sein, seine These objektiv zu beweisen. Das ist auch nicht nötig. Ich habe sie hier nur der Veranschaulichung halber aufgeführt: um deutlich zu machen, was ich mit Kindheit meine beziehungsweise wie es zu verstehen ist, wenn ich sage, dass die Kinderzeit eine Zeit ohne Sexualität ist – egal, wie viele Hormone schon ausgeschüttet werden und wie viel Vorbereitung auf sexuelle Aktivität der Körper schon durchspielt.

Freud nannte die Phase zwischen fünf und zwölf Jahren die Latenzzeit. Sexualität wird unsichtbar, sie geht auf Tauchstation. Das bedeutet nicht, dass ein Kind von zum Beispiel acht Jahren sexuellen Fragen und Reizen keine Aufmerksamkeit mehr schenkt, dass es überhaupt nicht mehr weiß, was Sex ist, und quasi geschlechtslos durchs Leben läuft. Es gibt Kinder, bei denen die »Latenz« sehr schwach ausfällt und die Lockungen, Drohungen und Verwirrungen durch sexuelle Assoziationen stets akut bleiben. Die meisten aber sind durch die Welt der Erotik in jenen Jahren nicht sonderlich und nicht langfristig irritierbar.

Nun hat man aber den Eindruck, dass sich für die Kindergeneration am Beginn des dritten Jahrtausends doch etwas ändert. Die Angebote an achtjährige Mädchen, Bikinis und Stöckelschuhe zu tragen, und an gleichaltrige Jungen, sich mit Szene-Jeans und Hightech-Sportschuhen in die Pose des Mackers zu werfen, werden angenommen, und es sieht nicht so aus, als gingen Kinder dieses Alters noch gerne an der Hand der Mutter. Die Chatrooms im Internet verlocken schon Zehnjährige, sich auf laszives verbales Hin und Her einzulassen; die Geschichte einer Dreizehnjährigen, die offenbar freiwillig Fotos ihres nackten Körpers für einen Verehrer ins Netz gestellt hatte, ging durch die Medien. Für die Erwachsenen ist es erschreckend, für die Kinder aufregend, dass ihnen so früh schon eine Partizipation an der Welt der Großen zugetraut wird. Woher diese »Angebote« kommen? Von den großen Konsumgüterindustrien inklusive der Medien, von den Klamotten-Ketten über die Sportgeräte- und Bekleidungsshops, das Kino und die Internet-Chatrooms bis hin zu den Fanzines, TV-Magazinen und Computerspielen. Diese häufig für den Weltmarkt konzipierten Konsumangebote locken freimütig mit erotischen Anspielungen, sie wissen, dass sie damit Anklang finden, und scheren sich in ihrem Heißhunger nach dem Taschengeld der Kids weder um Geschmacks- noch um Moralfragen. Musterbeispiel für diese Strategie ist die Barbiepuppe mit ihrem unverhohlenen Sexappeal, die erstmals in der Besitzerin nicht die Puppenmutter, sondern das künftige Weibchen anspricht.

Es ist nun die Frage, wie wirksam diese frühe Auftakelung der kindlichen Erscheinung und des kindlichen Lebensgefühls mit erotischen Accessoires, von der ja auch die Lehrerin aus dem ersten Abschnitt dieses Kapitels sprach, tatsächlich ist. Zweifellos greifen die Gören gern nach Zubehör, das sie irgendwie größer, wichtiger und auf dem Markt der erotischen Begegnungen als dazugehörig qualifizieren kann. Aber man darf vermuten, dass sich diese Identifikation der Kinder mit ihrem wie auch immer entwickelten sexuellen Ich meistens auf bloße Äußerlichkeiten beschränkt, dass sie also gar nicht wissen, was sie tun, und dass letztlich ihre Persönlichkeit nicht tiefgreifend durch verfrühte sexuelle Reifung verändert oder gar verbogen wird. Hier kann wieder die Barbiepuppe als Beispiel dienen. So manches achtjährige Mädchen nimmt die tolle Figur dieser Puppe zwar zur Kenntnis; sie ahnt, dass die Wünsche, die so ein Körper weckt, später auch von ihr in der Erwachsenenwelt befriedigt werden sollen. Aber sie behandelt die Barbie dann doch wie eine Babypuppe, gibt ihr aus einer Miniflasche zu trinken, legt sie des Abends in das kleine Puppenbett und singt sie in den Schlaf. Mit einem Wort: Das Erotische an Bikinis und Mackerposen wird häufig von den Kids weder erfühlt noch verstanden; es ist bloß ein vages Empfinden des Dazugehörenwollens, das sie dazu treibt, hier mitzumachen und sich die hippen Sachen zuzulegen.

Seriöse Untersuchungen zeigen eindeutig, dass sich anderslautenden Meldungen zum Trotz das Alter, in dem der erste Koitus stattfindet, in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hat. Einen großen Einschnitt gab es zu Beginn der 70er-Jahre, also in den Ausläufern der so genannten sexuellen Revolution. Damals sprang die sexuelle Initiation drei bis vier Jahre zurück auf ein Alter von circa fünfzehn. Seither haben nur die Mädchen aufgeholt, die einstmals später begannen als die Jungen, heute aber früher dran sind. Beide Geschlechter suchen keineswegs schon vor der Pubertät nach Gelegenheit zu sexueller Praxis, und die Pubertät beginnt (von Ausnahmen abgesehen) immer noch mit zehn bis zwölf Jahren. Im letzten Jahrfünft hat sich außerdem der Druck, möglichst früh Sexerfahrungen zu sammeln, um in der Peergroup etwas zu gelten, zugunsten einer neuen Rücksicht auf die »Eigenzeit«, auf das Bedürfnis, erst dann mit Sex loszulegen, wenn man wirklich selber will, verschoben. Es fand eine Aufwertung der Innensteuerung zu Ungunsten der Außensteuerung statt, jedenfalls in den aufgeklärten Mittelschichten.

Kinderbikinis, Jungmacker-Klamotten und Barbiepuppen haben doch gewisse Grundrhythmen der menschlichen Entwicklung nicht außer Kraft setzen können. Vor wie nach dem Angriff der Welt-Konsumgüterindustrie und des Internets auf die kindliche Unschuld können wir daran festhalten, dass Säuglinge und Kleinkinder polymorph-perverse Triebbündel sind, größere Kinder ab sechs Jahren in die Latenz eintreten und Jugendliche ab circa zwölf es lernen müssen, sich von der Kindheit zu verabschieden. Dieser Abschied interessiert uns hier. Man sollte nicht versuchen, ihn durch Einschmuggeln dezidierter sexueller Interessen in die Latenz wegzuschwindeln.

Dass Kinder in der Zeit nach Abebben der frühkindlichen sexuellen Stürme in die Schule kommen, ist kein Zufall. Die Gehirnsentwicklung, die kraftvoll und stetig verläuft, gestattet ihnen ein neues Entzücken am Leben des Geistes. Auf die »Warum-Phase« der Dreijährigen folgt die »Warum-Phase« der Siebenjährigen, die naturgemäß sehr viel differenzierter ausfällt. Alles will erforscht sein – nicht nur mit den Sinnen, auch mit dem Verstand. Die Kinder lernen es, Begriffe zu bilden, Schlüsse zu ziehen und Abstraktionen zu vollziehen. Später, mitten in der Pubertät, werden die Jugendlichen einem weiteren, nachhaltigen Entwicklungsschub ausgesetzt sein, der bei manchen mit einem diebischen Vergnügen an Gehirnakrobatik, insbesondere an logischen Operationen einhergeht. Planmäßig wird der gesunde Menschenverstand ausgehebelt, Kompromisse sind verboten, und waghalsige Extrapolationen, ergänzt um akribische Haarspaltereien, beschäftigen die Jugendlichen und ihre entnervten Lehrer.

Die geistigen Abenteuer der Latenzzeit sind weniger bizarr. Sie finden meistens in einer Atmosphäre heiterer Gelassenheit statt. Selbst außergewöhnlich eigenwillige Kinder öffnen sich in dieser Zeit den Einflüssen und Angeboten der Großen, sie entwickeln Geduld, hören gerne zu und tragen eigene Ideen mit Ernst und Feuer vor. Man kann mit einem neunjährigen Kind über alles reden, seine Aufnahmebereitschaft ist erstaunlich, sein Lerneifer – ist erst das Interesse geweckt – mit Ausdauer gepaart und sein Horizont unermesslich. Es ist, als hätte eine weltweise, uralte, zugleich sanftmütige und liebevolle Fee die Regie über das Kinderleben übernommen, entschlossen, dem Kind in diesen gesegneten sieben Jahren so viel von der Welt des Geistes und des Wissens zu vermitteln wie irgend möglich. Als wüsste sie: Jetzt und nur jetzt ist die Zeit dafür da, dem kleinen Menschen jene Potenzen in Kopf, Herz und Sinn zu pflanzen, die es später durchs Leben tragen sollen: Neugier, Kreativität, Selbstvertrauen, Forscherdrang. Und die Fee macht es richtig, wenn sie ihre knappe Zeit gut nutzt. Denn nachdem die sieben Jahre, in denen sie herrschen darf, verstrichen sind, richtet die Pubertät auf den Feldern, die die Fee einst zärtlich bestellt hatte, ein Trümmerfeld an. Trotzdem war die Arbeit der Fee keineswegs umsonst. Denn die Trümmer werden später neu geordnet und bilden dann das Fundament der erwachsenen Persönlichkeit. Je mehr also die Fee angesetzt und aufgebaut hat, desto besser. Sie weiß, dass ihr Werk, so, wie sie es normalerweise abschließt, nicht bestehen kann. Die Geistigkeit eines Zehnjährigen oder die forscherische Leidenschaft einer Elfjährigen ist in der Regel genauso dem Untergang geweiht wie ein Knabensopran oder die burschikose Keckheit einer Achtjährigen. Dennoch bleiben die Elemente dieser Ausdrucksformen kindlicher Selbstdarstellung bestehen und bilden sich in verwandelter Form beim Erwachsenen neu aus.

Ist die Latenzzeit wirklich so harmonisch? Nicht immer, es gibt Kinder, die sich über ihr erstes Lebensjahrzehnt hinwegquälen, die Pubertät irgendwie durchstehen und sozusagen aufatmen, wenn sie als junge Erwachsene endlich ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Viel hängt von den äußeren Bedingungen ab. Lieblose, herrschsüchtige Eltern oder enge, bedrohliche Lebensumstände können bei jedem Kind die Daseinsfreude trüben. Es gibt auch Kinder, deren Persönlichkeit so spannungsreich zusammengesetzt ist, dass sie sich selbst bei bester Betreuung immer unglücklich in ihrer eigenen Haut fühlen. Aber außerhalb von solchen sicher nicht seltenen Fällen ist doch die Latenz von ihren Bedingungen her zur Harmonie veranlagt. Wenn Erwachsene in späteren Jahren verschämt gestehen, sie hätten eigentlich eine glückliche Kindheit gehabt, denken sie an diese Zeit. Die Sinne sind so frisch. Nie wieder werden Sommertage, Blumendüfte, Herbstwinde, Schneedecken so genussvoll und so unmittelbar, so wenig überlagert und uminterpretiert von Erinnerungen und vergangenen Stimmungen wahrgenommen wie in dieser Zeit. Das Herz ist so leicht. Stürme und Ängste hat das Kind schon kennen gelernt – die Mutter ging fort, die Puppe ging verloren, der Bauch tat schrecklich weh – aber jetzt ist es schon stärker. Es weiß, wann es bangen, wann es aushalten, wann es kämpfen muss, und traut sich zu, in der Welt zu bestehen. Der Geist ist mit Wissen voll gesogen und von einer ersten dünnen Kruste beglückender Selbstsicherheit überzogen. Schließlich liefert er täglich neue Proben seiner Leistungsfähigkeit. Später wird diese Kruste brechen, aber einstweilen stellt sie eine vorzügliche Lernmotivation dar: Ich habe schon so viel begriffen – was soll mir verborgen bleiben? Und die Seele ist zufrieden. Die einst so verwirrende Vielfalt der Außenwelt fügt sich ersten Ordnungsvorstellungen; das Kind geht allein zur Schule, zur Oma und zu seinen Freunden, es kommt zurecht. Es kann schon auf sich aufpassen, darf sich aber noch selbst vergessen. Ach, das Spielen, das endlose vertiefte Spielen.

Ein achtjähriges Kind scheint zu ahnen, dass das Spielendürfen ein Privileg ist, welches ihm seiner jungen Jahre wegen zusteht. Es nutzt diesen Vorteil glücklich und selbstbewusst. So mischen sich Spielen und Erkennen, das Die-Dinge-auf-denKopf-Stellen und Sie-Durchschauen, und das Dasein gewinnt mit dem Herstellen von Zusammenhängen und der Teilnahme an praktischen Vollzügen eine beglückende Qualität. Ängste ebben ab, und es werden ihrer weniger. Die anderen Kinder sind nicht mehr nur Rivalen oder Sklaven, sondern Spiegel, Partner und interessante Fremdlinge. Die Kinder erkennen sich in anderen wieder oder lernen, erstaunt und ergriffen, wie verschieden die Menschen sind. Die Phantasie erwacht und erzeugt eine Gegenwelt. Alles ist möglich, vieles Seltsame wirklich. Es ist die Zeit des Höhlenbauens, Schatzsuchens, Spiele-Erfindens, der ersten Gedichte, Kompositionen und genialen Gemälde. Das ästhetische Vermögen ist außerordentlich. Aber auch das kognitive. Mit Leichtigkeit lernen Kinder in dieser Zeit Fremdsprachen.

Natürlich gibt es auch Leid. Den gewachsenen sozialen Kompetenzen entspricht vertiefte Trauer, wenn Freundschaften in die Brüche gehen und erste Erfahrungen mit Verraten- und Verlassenwerden über das Kind kommen. Aber die Empfänglichkeit für Trost und Ablenkung ist noch sehr groß. Es ist, als würde jede Leidenschaft einem dominanten Programm untergeordnet, das da heißt: Entwicklung des Verstandes, der Gefühle und des schöpferischen Vermögens. Alles andere kann warten. Und so gleiten die kleinen Jungen von ihrem ersten Schultag bis zum zwölften oder dreizehnten Geburtstag und die kleinen Mädchen vom Ende des Kindergartenalters bis zu ihrem elften oder zwölften Jahr wie auf Schlittschuhen durchs Leben: leicht, fröhlich, graziös, voller guter Einfälle und komplizierter Gedanken, beunruhigt manchmal dadurch, dass niemand ihnen genau sagen kann, wie die Welt entstand, und dann wieder heilfroh und tief zufrieden, dass sie im Sommer hitzefrei bekommen und gut in Sport sind … Die Latenz hat auch für schwierige oder im Unglück lebende Kinder Phasen reinen, selbstvergessenen Glücks – so als übte die Seele ihre Glücksfähigkeit, die sie nach der Symbiose mit der Mutter aufs Spiel setzen musste, neu ein.

Unbedingt hat dieses Glück damit zu tun, dass die Sexualität nicht über die kindlichen Individuen herrscht. Sie zeigt hin und wieder eines ihrer verführerischen oder frivolen Gesichter, aber sie macht sich die Kinder nicht untertan. Diese mit Freiheit von der Sexualität verbundene Chance zu einer besonderen Art kindlichen Friedens in der Latenz – als Bedingung für ein folgenreiches und fruchtbringendes Lernen – bedeutet im Umkehrschluss, dass der Beginn der Pubertät auch als Verlust erfahren wird. Plötzlich ist es vorbei mit lauter unschuldigen Freudenquellen, vom Murmelspiel bis zum Auf-Bäume-Klettern, vom Schiffchen- und Hütefalten bis zur Kindervorstellung im Kino, vom heimlichen Fingern mit Feuerwerk bis zu den Animationsserien im Fernsehen mit Zwergen und Tieren. Das Leben wird befremdlich ernst. Deshalb zögern Kinder immer oder besser: Etwas in ihnen zögert, wenn sie groß werden sollen. Oft wird dieses Zögern von niemandem bemerkt. Nicht einmal von den Kindern selbst. Es nützt ihnen ja auch nichts. Denn sie haben keine Wahl.

Ein »monokausales« Erklärungsmodell

Alles, was jetzt kommt, jede »Veränderung«, jede Verwandlung, jeder Bruch, jede Wende – alles hat mit dem Geschlecht zu tun. Es ergibt wenig Sinn, die Konfliktzonen, die in der Pubertät aufbrechen, nach Aufmüpfigkeit, Peergroup-Zwängen, Modediktaten, lauter Musik, Liebäugelei mit Drogen, Magersucht und Ausreißerei zu sortieren und dann noch ein paar Kapitel über Sexualität, erste Menstruation und ersten Samenerguss dranzuhängen. So verfahren die meisten Ratgeber, und so hinterlassen sie Leser, die vor der Lektüre genauso schlau waren wie hinterher. Man muss versuchen, die ganze Inszenierung der Pubertät mit all ihren Bizarrerien und Exzessen von der erwachenden Sexualität her zu verstehen, nur dann kommt man dahinter, wie alles zusammenhängt. Nur dann bringt das Nachdenken über diese Zeit mehr hervor als ein paar brüchige Faustregeln und rasch entwertete Rezepte.

Die Sexualität sollte als eine Macht angesehen werden, welche die geistige Ordnung und die körperliche Integrität der kindlichen Persönlichkeit zerstört und die deshalb in dieser biographischen Epoche eine psychophysische »Baustelle« ausrichtet, deren Anblick und Ausstrahlung einfach nicht friedlich und harmonisch sein kann. Man darf sich im Gegenteil die Verwüstungen, die von der Libido in die meist sorgfältig gepflegten Gärten der kindlichen Seelenlandschaft hineingetragen werden, gar nicht wild und abschreckend genug vorstellen. Natürlich gibt es immer die Ausnahmen von erstaunlich glatt durch die Turbulenzen der Pubertät hindurchgleitenden Kindern. Aber die meisten werden von starken inneren Spannungen hin- und hergeschleudert, und selten gehen diese Kämpfe ohne Wunden, auch auf Seiten der Begleitpersonen, also der Eltern und Pädagogen, ab.

Vielleicht werden Sie als Leser jetzt fragen: Warum soll Widerspruchsgeist etwas mit Sexualität zu tun haben? Warum Hang zur Einsamkeit, zur Melancholie, zum Selbstmord? Sie wehren sich womöglich dagegen, ein Erklärungsmodell für die Pubertät akzeptieren zu sollen, das sich vorsätzlich als monokausal ausgibt. Monokausal, das haben wir alle gelernt, ist meistens verkehrt. Aber Vorsicht. Es gibt Rätsel, für die nur eine einzige Lösung zutrifft. Für die Pubertät gilt, dass das ganze Chaos, welches diese Zeit in Körper, Seele und Umgebung des jungen Menschen anrichtet, restlos aus des »Frühlings Erwachen«, aus der keimenden Sexualität erklärt werden kann – und muss. Man darf natürlich zusätzliche Erklärungsmuster heranziehen und zum Beispiel den Widerspruchsgeist aus dem intellektuellen Autonomiestreben dieser Phase erklären. Bloß hat man dadurch nichts erklärt, sondern lediglich denselben Sachverhalt noch mal mit anderen Worten beschrieben. Und sich vom Kern des Problems entfernt. Intellektuelle Autonomiebestrebungen gibt es im Laufe eines Lebens immer wieder, keineswegs nur während der Pubertät. Der Widerspruchsgeist in jener Zeit aber ist mit der libidinösen Entwicklung legiert und nur insofern typisch pubertär.

Das Unbehagen, das monokausale Erklärungen auslösen, wird vielleicht am besten dadurch vertrieben, dass der Assoziationsraum »Frühlings Erwachen« als besonders groß und weitläufig vorgestellt wird. Sexualität ist mehr als nur der Trieb oder der Akt – nicht nur wegen des mit ihr verbundenen Gefühlslebens, sondern vor allem wegen des Reichtums an symbolischen Bezügen, den Sexualität herstellt und der das gesellschaftliche Leben durchzieht. Es kennzeichnet die Jugendlichen in der Pubertät, dass sie alle gesellschaftlichen Bezüge uminterpretieren in Richtung auf eine sexuelle Semiotik und umgekehrt, dass sie ihr Dasein und Sosein schlagartig von sexueller Symbolhaftigkeit geradezu umstellt sehen. Jede Bedeutung ist sexuell konnotiert, und von jedem Sinnbild führt irgendeine Brücke zu sexuellen Phänomenen. Die Monokausalität der Schwierigkeiten in und mit der Pubertät ist deshalb von der Sache gerechtfertigt. Aber monoton wird es deshalb nicht, keine Sorge.

Der Erlkönig

Auf der Schulentlassungsfeier meines zwölfjährigen Sohnes Sascha gab es ein kleines Programm: Schülerinnen und Schüler führten Tänze auf, spielten Lieder auf dem Xylophon und trugen Gedichte vor. Zum Abschluss sagte ein schüchterner, aber liebenswürdig um Ausdruck bemühter Junge Goethes »Erlkönig« auf. Umgeben von lauter aufgewühlten Kindern, die sich ähnlich aus dem Klassenverband herausgerissen fühlten wie der kranke Knabe in der Ballade von der Brust seines Vaters, offenbarte mir Goethes an den Schulen – vielleicht wegen seiner relativen Kürze – so gern behandeltes Gedicht eine ganz neue Dimension der Deutung.

Der Erlkönig ist eine Fieberphantasie. Der Junge fürchtet sich, weil er fühlt, dass es mit ihm zu Ende geht. Seine Ängste nehmen die Gestalt von Dämonen an, die nach ihm greifen und ihn in ihr dunkles Reich zerren wollen. Das Kind wehrt sich, es kämpft gegen die ungerufenen Mächte – und unterliegt. »Erlkönig hat mir ein Leids getan«, stöhnt der Knabe, und da ist es auch schon aus mit ihm. Doch gibt es in seinen Phantasien neben der Not und dem Schrecken noch eine andere emotionale Farbe: die Verlockung. Der Erlkönig selbst umwirbt sein Opfer. Er macht dem Kind eine Liebeserklärung und sagt geradezu: »Mich reizt deine schöne Gestalt.« Er spricht von seinen Töchtern, die vor dem Knaben tanzen werden, und zwar des Nachts. Das erotische Motiv wird kraftvoll angeschlagen. Schließlich droht er mit Notzucht. »Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.« Eine seltsame Sprache für den Tod. Ist er etwa verführerisch? Für unglücklich Liebende und Lebende manchmal schon – aber für ein Kind?

Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mich immer schon über die Verknüpfung von Verlockung und Drohung gewundert hatte, die im »Erlkönig« mittels der erotischen Tonart hergestellt wird – weil sie zur Sterbestunde eines Kindes einfach nicht passt. Zugleich aber scheint mir, dass just diese Tonart das Gedicht so überaus beliebt gemacht hat – und nicht nur seine Kürze. Wie, wenn ganz etwas anderes gemeint ist als die letzte Vision eines Kindes, das auf dem Wege zum Doktor sein Leben aushaucht? Wenn es nicht um das Ende eines jungen Menschen geht, sondern um das Ende der Kindheit? So kann man den »Erlkönig« ebenfalls interpretieren. Die Anspielung auf die Töchter, die dem Jüngling aufwarten werden, bekäme endlich einen Sinn. Und die Einladung: »Willst, schöner Knabe, du mit mir gehen?«, wäre ein echtes Versprechen. Das Entsetzen des Vaters, sein Versuch, den Erlkönig und seine Einflüsterungen zu leugnen, wäre zwar weniger plausibel, wenn es statt um den Tod des Kindes nur um den Tod der Kindheit ginge – aber ein Schrecken und ein Bedauern wären immerhin angebracht. Auch die Ängste, die das Kind durchleidet und die heute in der einschlägigen Literatur als eine Art Realitätsverlust abgewertet werden, sofern sie überhaupt vorkommen und nicht hinter den Abwehrzaubern Größenwahn, Gruppenzwang oder Einsamkeitskoller vollkommen verkannt werden, sind im »Erlkönig« als existenzbedrohende Urängste trefflich bebildert worden. Die Fieberphantasie im »Erlkönig« wäre dann die zutreffende Diagnose des (kranken, aus der Bahn geworfenen) Kindes, dass da jemand kommt, den es nicht gerufen hat, und es in ein Reich entführt, das ihm erst einmal nur unheimlich vorkommt.

Sexualität als Zumutung also. Soll man so weit gehen? Empfinden Kinder so? Fürchten sie sich wirklich vor der Macht der Erotik? Ist nicht alles, was von Seiten dieser Macht schon in ihr Leben hineinscheint, eher eine Verheißung? Freuen sie sich nicht auf ihr Liebesleben und üben sie dafür nicht mit Träumen, Texten und Verkleidungen, sobald ihr Geschlecht sie erste Zeichen seines Vorhandenseins und seiner künftigen Dominanz verspüren lässt?

Einer der gröbsten Irrtümer unserer Alltagskultur ist die Charakterisierung der Sexualität als bruchloses Glücksversprechen, ist die Verharmlosung der sie begleitenden Gefühle als »schön« oder romantisch. Nichts davon trifft die Wirklichkeit. Die Geschlechtlichkeit der Menschen ist für sie auch eine schwere Last und ein Alptraum, insofern sie nicht