Josef Giger-Bütler

»Sie haben es doch gut gemeint«

Depression und Familie

beltz.jpg

Besuchen Sie uns im Internet: www.beltz.de

© 2003 Beltz Verlag Weinheim, Basel

Umschlaggestaltung: Federico Luci, Odenthal

Umschlagfoto: © Photoalto, Schwebheim

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 978-3-407-22422-4

 

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.

Einleitung

Die grundsätzlichen Fragen, was eine Depression ausmacht, warum jemand depressiv wird und warum eine Depression kommen, vergehen und wieder auftauchen kann, haben mich während meiner gesamten therapeutischen Tätigkeit beschäftigt. Ich habe im Laufe der Jahre viele depressive Menschen therapeutisch begleiten dürfen und die folgenden Überlegungen in diesem Buch sind aus den Erfahrungen zusammen mit diesen Menschen entstanden.

Dabei verbinde ich mit einer stimmigen Theorie der Depression drei Anforderungen:

Es sollte also beim depressiven Menschen so etwas anklingen, wie »Ja, so ist es bei mir«, und dieses Wiedererkennen sollte sowohl das emotionale Erleben betreffen wie auch seine Muster des Denkens und Handelns nachvollziehbar und erklärbar machen.

Natürlich gibt es sehr viele Theorien über die Depression. Und es gibt wahrscheinlich keine, die nicht irgendetwas trifft, die nicht an irgendeinem Punkt etwas Wesentliches der Depression erfasst. Aber keine dieser Depressionstheorien befriedigte mich und gab mir (und den depressiven Menschen) einen Schlüssel zum besseren Verständnis depressiven Geschehens an die Hand, keine vermittelte mir eine klare Vorgabe, wie die Depression zu behandeln oder wie eine weitere Depression zu verhindern sei.

Vielleicht sind die diversen Theorien zu theoretisch, zu entfernt vom tatsächlichen Leben und vom Erleben der Depressiven. Vielleicht sind sie auch zu kompliziert, und das Leben und damit die Depression sind bei aller Komplexität viel einfacher, als man gemeinhin meint.

Ich bin überzeugt, dass dem so ist.

Meine Sichtweise der Depression entstand nicht auf experimentellem oder streng empirischem Weg, sondern hat sich nach und nach aus meinen Erfahrungen im Umgang mit depressiven Menschen herauskristallisiert. Es war ein fortschreitender Prozess, von allgemeinen Fragestellungen zu immer spezielleren. Es war ein Suchen und Verwerfen. Dabei standen immer das Wissenwollen, das Noch-besser-verstehen-Wollen des depressiven Menschen im Vordergrund. Diese Unruhe und dieses Getriebensein erstreckten sich über weit mehr als zehn Jahre.

So richtet sich denn dieses Buch an alle, die von einer ähnlichen Unruhe ergriffen sind, ob sie unmittelbar oder mittelbar betroffen sind. Ihnen allen möchte ich meine Sicht der Depression nahe legen, in der Überzeugung, dass sie Impulse zu geben vermag zum besseren Verständnis depressiven Erlebens und Handelns.

Ich möchte, dass dem depressiven Menschen mehr Verständnis und Wertschätzung entgegengebracht werden, dass er gesehen wird in der ganzen Tiefe und Breite seiner Empfindsamkeit und dem Reichtum seines Erlebens. Er hat es schon schwer genug in und mit seinem Leben, er trägt schon genug an seinem eigenen Leiden und Nicht-verstehen-Können.

Es geht mir in erster Linie um mehr Verständnis für den depressiven Menschen, ihm gerechter zu werden und auch vorsichtiger im Urteil über ihn. Ihn zu verstehen hilft, ihm anders zu begegnen. Den depressiven Menschen besser verstehen heißt auch, ihm mehr Achtung und Wärme geben zu können. Ich hoffe, mit diesem Buch einen wichtigen Teil dazu beizutragen. Das Verständnis des depressiven Menschen trägt, und davon bin ich überzeugt, auch zu einem besseren Verständnis aller anderen Menschen bei.

Gedacht habe ich beim Schreiben dieses Buches auch an jene Menschen, die gar nicht in Situationen hineingeraten wollen, in denen sich die depressiven Menschen befinden, die also Hilfestellungen erwarten, um schon frühzeitig Warnsignale zu erkennen und daran arbeiten zu können. Das Thema von Forderung und Überforderung, das, wie ich im Folgenden genauer darstellen werde, eng mit der Herausbildung einer Depression verknüpft ist, ist ja nicht das Problem einiger weniger Menschen, sondern jedes Einzelnen von uns. Forderungen wird es immer geben, und Wege zwischen dem Erfüllen von Erwartungen und dem Abgleiten in die Spur permanenter Selbstüberforderung muss jede und jeder von uns finden. Aber noch nie war der Pfad zwischen Pflichterfüllung und zwanghafter Unfreiheit so schmal wie heute, noch nie waren die Forderungen von außen wie von innen so stark und nachhaltig und der Verlust der persönlichen Selbstbestimmung so nahe. Die Welt von heute macht nicht an sich depressiv, sondern nur unsere Art, damit umzugehen, und die Bilder, nach denen wir glauben uns richten zu müssen.

Nehmen wir ein Beispiel: Ferien sind etwas Erholsames und Beglückendes. Wenn wir uns aber leiten lassen vom »Diktat des Müssens« werden sie zu einem Fiasko. Der Imperativ, der Ferien zum Stress und den Menschen zum Sklaven macht, könnte etwa so lauten:

»Du musst die Ferien vom ersten Tag an genießen, du musst Sonne und Meer immer und jederzeit als etwas Erholsames empfinden, du musst glücklich sein und dich erholen können, es muss dir einfach gut gehen, du musst auftanken fürs ganze Jahr, jetzt oder nie hast du die Chance dazu, du musst ein anderer Mensch sein in den Ferien, du musst alles nachholen, was du während des vergangenen Jahres verpasst hast, und dich rüsten für die trockene und unmenschliche Zeit, die nachher kommen wird, sonst … ja sonst liegt es an dir, dann bist du unfähig, zu genießen, loszulassen und dich zu entspannen, dann darfst du dich nicht beklagen, dann bist du daneben, dann stimmt etwas mit dir nicht.«

Unter solchen Bedingungen, die keinen Raum lassen für individuelle Rhythmen und Vorlieben, für Stimmungsschwankungen, für persönliche Formen der Feriengestaltung, werden solche Ferien zur Überforderung. Je mehr jemand solche Vorstellungen zum eigenen Maßstab des Genießens und der Fähigkeit zum Ausspannen macht, desto eher läuft er oder sie in eine Überforderung hinein, die der depressiven Überforderung sehr nahe kommt, die ein ähnliches Bild vermittelt wie eine Depression.

Die Gefahr, überfordert zu werden, ist überall sehr präsent. Man wird von der Arbeit überfordert, die wenig Spielraum lässt für eine individuelle Gestaltung; der materielle Druck wird immer größer, die Konkurrenz unmenschlicher und der Mensch zählt immer weniger. Wenn dann noch im Privaten und in der Freizeit solche Forderungen kommen, die man meint erfüllen zu müssen, um dazuzugehören, um »in« oder »hip« zu sein, um respektiert zu werden, wenn man anziehen muss, was man anzieht, und dorthin geht, wo man hingehen muss, dann bleibt kein Platz mehr für persönliche Entscheidungen, dann verliert sich der Mensch. Er läuft in eine Lebensform hinein, in der er sich ständig überfordert. Man wird deshalb nicht unbedingt depressiv, aber man distanziert sich von sich selbst, übergeht sich, überfordert sich, was lähmt und unzufrieden macht.

Doch auch wenn der betreffende Mensch sich noch so mies, leer und ausgequetscht fühlt, handelt es sich um keine Depression. Er befindet sich zwar in einem Zustand, der demjenigen der depressiven Menschen sehr nahe kommt, nach außen so wirken mag und vom Erleben her nicht unähnlich dem depressiven Erleben ist, aber eine Depression hat andere Voraussetzungen, zu ihr bedarf es depressiver Verhaltensmuster und depressiver Wurzeln, sie setzt eine depressive Persönlichkeitsstruktur voraus.

Wächst das gleiche Verhalten nun auf dem Boden solch depressiver Strukturen, auf die wir in diesem Buch eingehen werden, dann ist der Mensch noch anfälliger auf den gesellschaftlichen Imperativ des Müssens, noch beeindruckbarer durch Normen und durch die Forderungen des Zeitgeistes.

Positiv formuliert: Wichtig ist, dass der Mensch sich spürt und ernst nimmt, was er will und braucht, dass er spürt, was ihm gut tut, wo seine Vorlieben und Grenzen, seine Möglichkeiten und Schwächen liegen, dass er sich wahrnimmt und respektiert, dass er von sich ausgeht, sich in seinen Entscheidungen mitberücksichtigt und sich als der sieht, der entscheiden kann, der gefragt werden will. Dann kann er etwas verändern, kann er seine Erwartungen zurückschrauben, wieder zu Kräften kommen und sich erholen, dann bleibt er gesund und kann sich entwickeln, dann kann er ja und nein sagen, läuft nicht Gefahr, ausgebrannt, leer und unzufrieden zu werden. Zusammenfassend meint das, dass der Mensch die Möglichkeit und die Fähigkeit hat, sich zu verändern, sein Leben zu überdenken und sein Handeln zu reflektieren.

Natürlich wird es für den Menschen mit jedem Lebensjahr schwieriger, die Weichen anders zu stellen, wenn er die ganze Zeit auf einem Gleis gefahren ist, das ihn ständig überfordert. Denn die Erwartungen an sie oder ihn werden größer, man glaubt, so handeln zu müssen und nicht anders zu können, weil man annimmt, dass es von einem erwartet wird, oder weil man glaubt, dass man zu viel verlieren würde, wenn man sich anders verhalten würde.

Je länger jemand auf diesem Gleis fährt, umso schwieriger wird es, unabhängig, frei und selbstbestimmt sein eigenes Leben zu gestalten. Aber unmöglich ist es nie. Und hier kann jedem von uns das Verständnis der depressiven Menschen helfen. Wir können sehen, wie sich der depressive Mensch überfordert, wie er sich in eine Falle begibt und wie solche Verhaltensweisen der Überforderung sich auf sein Denken, Fühlen und Handeln auswirken können. Das Verständnis der Depression zeigt aber auch die Wege, die er gehen kann, um sich zu schützen oder sich zu befreien.

In diesem Buch geht es mir auch darum, zu zeigen, wie vielfältig die Möglichkeiten sind, sich zu überfordern, wie groß die Gefahr ist, sich zu übergehen und in Zustände zu geraten, in denen Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht von uns Besitz nehmen. Aber solche Zustände dürfen nicht einfach als Ausdruck einer Depression bezeichnet werden. Eine Depression ist viel einschneidender, grundsätzlicher und dramatischer. Es ist ein wichtiges Ziel dieses Buches, das deutlich zu machen, aber auch aufzuzeigen, wie viel wir für uns vom Verhalten depressiver Menschen lernen können. Es soll dazu beitragen, hellhöriger zu werden, um zu erkennen, wenn solche Verhaltens- und Denkmuster beginnen, unser Lebens zu bestimmen, so dass wir schneller merken, wenn wir von solchen Denk- und Verhaltensmustern geleitet werden. Wir alle sind Forderungen und Erwartungen ausgesetzt, fühlen uns häufig unfrei, zu entscheiden, nein zu sagen, uns abzugrenzen und das zu tun, was wir wirklich wollen.

Wir erleben uns häufig so, wie depressive Menschen sich fühlen und wie sie leben – und das soll und kann uns helfen, die Depression zu verstehen und einzusehen, dass depressives Erleben und Handeln gar nicht so abwegig und fremdartig ist, wie wir häufig meinen. Wobei gleich angefügt werden muss, dass der Zugang zum depressiven Menschen über das eigene Erleben auch gefährlich und trügerisch ist. Denn depressives Erleben ist schmerzvoller, auswegloser und hoffnungsloser als jedes noch so tiefe und verzweifelte Gefühl der Traurigkeit und Niedergeschlagenheit. Um in eine Depression zu geraten, braucht es mehr, braucht es Muster, die schon sehr früh angelegt sind und die starr und unflexibel sind.

Wir alle haben unfreie Seiten in uns, wollen geliebt und akzeptiert werden und sind immer gefährdet, uns so zu verhalten, dass es uns nicht gut geht, aber depressiv werden wir deshalb noch nicht, auch wenn wir in einen Zustand kommen können, der einer Depression sehr ähnlich ist und mit einer Depression verwechselt werden kann. Wer ab und zu unter Kopfweh leidet, muss deswegen auch noch keine Migräne haben, und wer oft nach dem Essen Magenschmerzen hat, leidet noch unter keinem Magengeschwür.

Wer sich ständig überfordert, wer immer wieder über seine Verhältnisse lebt, kann in ein Loch fallen, die Orientierung und den Lebenssinn verlieren. Dann geht es ihm schlecht, ist er niedergeschlagen, lustlos, ohne Initiative, ohne Kraft, aber wirklich depressiv ist er nicht.

Aber er ist in seinem Verhalten und in seinem Erleben sehr nahe an einer Depression. Ich schlage vor, solche Zustände als »emotionale Verstimmungen« zu bezeichnen. Eine wirkliche Depression ist etwas anderes, hat eine andere Geschichte und einen anderen Verlauf, ist komplexer, gewachsener und tragischer, umfasst die ganze Person und bestimmt über eine sehr lange Zeit bis ins Letzte hinein ihr Verhalten und Empfinden. Vor allem aber ist eine Umkehr oder ein Aussteigen sehr viel schwieriger und mühsamer.

Ich möchte all den depressiven Menschen danken, die mir geholfen haben, sie, die Depression und das Leben besser zu verstehen. Ich möchte ihnen danken, dass sie mir erlaubten, mit ihnen zusammen den Weg durch Verzweiflung und Angst zu gehen und damit erleben zu dürfen, wie sich ein solcher Weg öffnen kann. Ich durfte aber auch miterleben, wie sie allmählich freier, lebensbejahender und stärker wurden. Ich durfte mich mitfreuen, wenn sie ihr Leben wieder in die Hand nahmen und als selbstbewusste, kritische Menschen in ihr wirklich gelebtes Leben zurückkehrten.

Diese Erfahrungen waren für mich oft erschütternd: Ich sah Menschen leiden, ich sah, wie sie sich wehrten und sich verzweifelt gegen dieses Leben voller Angst und Unfreiheit aufbäumten. Sie ließen mich Einblick nehmen in ein Leben voller Kampf, Einsamkeit und des ständigen Bemühens, ohne ständige Selbstzweifel und Abwertung auszukommen.

Ich konnte sehen, wie ein anfängliches Verhalten, um zu »überleben«, sich im Laufe der Zeit gegen sie richtete, wie Versuche, einen tragfähigen Boden zu finden, ihnen zunehmend gerade diesen Boden entzogen, wie ihr Bemühen, sich zu schützen und leben zu wollen, zu einem Gefängnis wurde und wie ihr stetes Ringen um ein würdiges Leben sie zunehmend vom Leben fern hielt und an sich und am Leben leiden ließ.

Leiden soll uns aber helfen, das Leiden anderer zu mindern, vielleicht gar zu verhindern, auf jeden Fall aber kann und soll es mithelfen, depressiven Menschen mit mehr Verständnis, Wertschätzung und Respekt zu begegnen. Verstehen wollen ist immer der erste Schritt hin zum Mitmenschen.

Teil 1
Annäherung an die Depression

1. Kapitel
Überforderung und Depression – eine unheilvolle Allianz

Erste Fragestellungen, erste Antworten

Von Depression hört und liest man heute fast täglich. Depressive Menschen bevölkern die Literatur ebenso wie die Klatschspalten der Tagespresse und das »Interesse« ist groß – ganz im Gegensatz zur Anteilnahme an den gelebten Depressionen im Alltag. Dort nämlich sind sie verpönt und gefürchtet. Auch von Überforderungen liest und hört man ständig – wer schon ist heute nicht überfordert?

Woran liegt es, dass sich heute so viele Menschen so sehr überfordert fühlen? Und vor allem, wo führt das hin, wenn dem so ist? Waren denn die Menschen früher weniger überfordert oder fühlten sie sich zumindest weniger überfordert? Oder sprach man nur weniger davon? Waren die Umstände und die Anforderungen an den einzelnen Menschen anderer Natur, so dass sie sich tatsächlich weniger überfordert fühlen mussten? Oder gingen sie anders mit sich um, hatten sie andere Bilder von ihrem Menschsein, andere Erwartungen an sich und das Leben, dass sie sich gar nicht so überfordert fühlen konnten oder mussten? Leben wir in einer Welt und in einer Zeit, auf die die Menschen gar nicht anders als mit Überforderung antworten können?

Was mich an einen möglichen Zusammenhang zwischen Überforderung und Depression denken ließ, waren in erster Linie Beobachtungen aus meiner Praxis als Psychotherapeut und die berufliche Begegnung mit depressiven Menschen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil ich die depressiven Menschen als in jeder Beziehung überforderte Menschen erlebte, die, wie ich immer mit Erstaunen feststellte, gar nicht mehr aus ihrer Überforderung herauskamen und mit ihrer Überforderung auch alle um sich herum überforderten. Zunehmend wurde mir klar, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Überforderung und Depression bestehen müsse: einerseits aus der Erfahrung heraus, wie sich die depressiven Menschen überfordern, und andrerseits, weil ich darin etwas ganz Wesentliches der depressiven Zustände erkannte. Meine anfänglichen Überlegungen liefen demnach auf Folgendes hinaus:

Diese noch ganz vagen Formulierungen setzten dann eine ganze Lawine weiterer Fragen in Gang, die in irgendeiner Form immer schon bruchstückhaft und zusammenhangslos im Raume gestanden hatten:

Weitere Fragen kamen hinzu:

Mit diesen Fragestellungen, die bald immer zielgerichteter verliefen, hatte ich nun, ohne mir dessen wirklich gewahr zu werden, eine erste Definition der Depression gefunden. Sie sollte sich nicht mehr wirklich ändern. Sie wurde weiter ausgebaut, abgerundeter, abgesicherter, aber nicht mehr wirklich anders:

1. Depressiv ist, wer sich im Teufelskreis der Überforderung befindet.

2. Der depressive Umgang mit Überforderung zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht zu einer Auflösung, sondern im Gegenteil zu einer neuen Überforderung kommt.

Wenn sich nun aber jemand permanent überfordert, dann muss es doch einmal zu viel sein, überlegte ich mir. Man kann sich doch nicht dauernd überfordern, das heißt ständig physisch und psychisch über seine Verhältnisse leben, ohne dass es sich einmal rächt? Könnte es also nicht sein, dass der depressive Mensch mit seiner ständigen Überforderung einmal zusammenbricht und dieser Zusammenbruch nichts anderes ist als die Depression selbst?

Deshalb formulierte ich eine weitere Definition:

3. Die Depression ist Ausdruck des Zusammenbruchs einer depressiven Überforderungsstrategie.

Depression hat also mit Überforderung und mit einem speziellen Umgang mit dieser Überforderung zu tun, und zwar in der Art, dass sich die oder der Depressive immer wieder neu überfordert und sich damit im Netz der Überforderung verstrickt, bis es für sie oder ihn auf diesem Weg nicht mehr weitergeht und es zum Zusammenbruch kommt. Das zeigt sich deutlich im Versuch des Depressiven, sich zu heilen. Er gerät immer tiefer in die Depression hinein, wehrt sich verzweifelt, wird immer kraftloser und kann doch nicht anders, als in der gewohnten Weise zu reagieren. Der depressive Mensch hat sich also eine Art der Problemlösung zugelegt, ist in Mustern des Umganges mit sich verhaftet, die ihn viel Kraft kosten und die ihn immer wieder neu überfordern.

Die drei Definitionen gaben mir damals schon ein ziemlich klares und eindeutiges Bild der Depression, vermochten aber unzählige Fragen, wie zum Beispiel die folgenden, nicht zu beantworten:

Wie auch für den depressiven Menschen selbst, so war auch mir nicht ersichtlich, wie die Depression im Einzelfall zustande kam. Natürlich konnten wir fast immer irgendwelche Gründe aufzählen, mehr oder weniger plausible: zum Beispiel Versagen im Beruf, Enttäuschung in der Beziehung, wobei wir uns meist glücklich schätzten, scheinbar so klare Erklärungen zu finden. Häufig aber waren die Gründe für die Entstehung oder das, was wir für eine mögliche Erklärung hielten, viel unklarer, viel weniger fassbar – alle möglichen Begründungen ließen zu viele Fragen offen. Im Beantworten der Fragen entstanden immer wieder neue, vor allem aber war alles, was wir zusammen, die Klienten und ich, herausfanden, zu wenig einleuchtend, zu wenig griffig und nur auf den ersten Blick einleuchtend. Die Klienten spürten zutiefst, dass alle diese Erklärungen ihnen nicht das sichere Gefühl vermittelten: »Ja, das ist es, ja, so ist es bei mir.« Mit anderen Worten, die Erklärungen überzeugten nicht und wir waren so gescheit wie zuvor.

Und auch die Literatur zum Thema der Depression, von der es nun wirklich nicht gerade wenig gibt, konnte mich nicht restlos überzeugen. Die Antworten auf alle meine Fragen, die ich dort las, ermutigten mich, so einleuchtend ich sie im Moment fand und so logisch sie mir im jeweiligen Kontext erschienen, nicht, das Gelesene auf den je einzelnen und einmaligen Klienten zu übertragen. Es ging einfach nicht auf. Jede der Theorien vermochte die je spezielle Situation der Depressiven nicht zu erklären oder zu erfassen, die Raster waren entweder zu eng oder zu weit, wie Kleidungsstücke, die nicht passten, schon ein bisschen, aber doch nicht wirklich und nicht exakt.

Was mir die Fachliteratur hergab, waren viele Einblicke in Zusammenhänge depressiven Verhaltens und Erlebens, viele Aha-Erlebnisse beim Lesen über depressive Prozesse. Auch und vor allem bezüglich der Symptome depressiver Zustände habe ich viel gelernt und profitiert. Aber auf meine Fragen, die bei allen Autoren trotz aller Erklärungsversuche offen blieben, bekam ich keine Antworten:

Und womit haben folgende Erfahrungen zu tun:

Aus meinem jahrelangen Umgang mit depressiven Menschen habe ich gelernt, die depressiven Menschen besser zu verstehen, mich in ihr Erleben und Fühlen hineinzuversetzen und nicht zuletzt dank des Buches von Aaron Beck auch ihr Denken besser nachzuvollziehen. Aber auch viele andere Fachleute haben mir geholfen, die Depression besser zu erfassen. Nennen möchte ich hier: Nicolas Hoffmann, Daniel Hell und Fritz Riemann.

Doch auf die Frage nach dem Eigentlichen der Depression, nach dem, was das Depressive ausmacht und bestimmt, habe ich keine für mich wirklich befriedigende Antwort bekommen. Es war, als blickte ich auf eine Mauer, eine Mauer mit zunehmend mehr Profil und Formen, aber was dahinter stand oder, anders gesagt, wie diese Mauer zustande kam, blieb mir ein Rätsel.

Dieses Nichtwissen und »Nicht-alles-verstehen-Können« haben mich traurig und trotzig gemacht. Dies umso mehr, wenn ich bei verschiedenen Autoren las, wie sie sich die Depression erklären und mit diesen Erklärungen zufrieden geben können. So einfach wollte oder konnte ich es mir nicht machen: Wenn ich z.B. die Zusammenfassung eines Präventivmediziners las, erschien zwar alles ganz plausibel, es erklärte mir aber nicht im Geringsten die Ursachen und erhellte in keiner Weise das »Wie« der depressiven Zustände. Der Autor führte zum Beispiel die vermehrte Zunahme der Depression auf folgende Gründe zurück:

Was kann man damit anfangen? Es handelt sich um Scheinerklärungen, die man genauso gut heranziehen könnte für die zunehmende Erhöhung der Scheidungsraten, die Zunahme des Alkoholismus, der Betriebsunfälle, Kirchenaustritte oder der persönlichen finanziellen Verschuldungen. Und doch beinhalteten diese Erklärungen viel von dem, was ich bei depressiven Menschen antraf. Dass diese Aufzählung etwas über die Depression aussagt, ist nicht von der Hand zu weisen, aber auf die Frage nach dem »Warum« und dem »Wie« der Depression geben sie nicht wirklich Auskunft.

Zu viele Beobachtungen und Erfahrungen mit depressiven Menschen ließen mich in ganz andere Richtungen fragen und nach anderen Antworten suchen. Und es waren gerade ganz einfache Beobachtungen, die mir weiterhalfen, ganz nahe liegende und alltägliche, die ich für wesentlich im Zusammenhang mit der Depression erkannte, mit denen alle konfrontiert sind, die mit depressiven Menschen zu tun haben, die aber kaum in der Fachliteratur zu finden waren. Sie brachten mich weiter.

Einige dieser elementaren Beobachtungen, die für mich wegweisend wurden und die ich als wesentlich für die Depression erachte, möchte ich nachfolgend aufzählen:–

Es ist mir klar, dass es mühsam ist, sich durch eine solche Liste hindurchzukämpfen. Die gemachten Beobachtungen aber sind mir zu wichtig, als dass ich sie hier nur verkürzt darstellen möchte. Sie zeigen Haltungen, Einstellungen und Bilder depressiven Verhaltens, die mir für meine gewonnene Sicht der Depression sehr maßgebend erschienen und die man sonst in der Literatur nicht oder nicht so zentral im Zusammenhang mit der Depression findet.

Alle diese Beobachtungen führten mich in die Richtung einer schlüssigeren Erfassung der Depression. Erste Erklärungen in diese Richtung fasste ich in folgende Formulierungen:

2. Kapitel
Die Depression als Resultat einer depressiven Überforderungs- und Lebensstrategie

Mit der Zeit zentrierten sich meine Überlegungen auf ein Grundmuster depressiven Erlebens und eine bestimmte Dynamik des Depressivseins. Ich erkannte also spezifische Muster, die sich bei all meinen mir bekannten depressiven Menschen und parallel dazu in jeder Phase ihres Lebens feststellen ließen. Die wesentlichsten Feststellungen, die ich machte, und damit komme ich wieder auf meine Eingangsdefinitionen zurück, waren folgende:

Die Depression hat mit Überforderung zu tun. Diese Überforderung führt zu immer neuen Überforderungen und schlussendlich ist das Umfeld ebenfalls überfordert.

Der Kreis wird also geschlossen, in dem das überforderte Umfeld des Depressiven den Depressiven wiederum überfordert, oder, mit anderen Worten, die Überforderung des Depressiven überfordert sein Umfeld, dieses reagiert und überfordert von neuem den depressiven Menschen und hält damit seine Überforderung in Gang.

Dem Begriff des depressiven Kreises werden wir im Laufe der Ausführungen noch häufig begegnen. Mit dieser Formulierung möchte ich den Zusammenhang zwischen der depressiven Überforderung des Einzelnen und seinem sozialen Umfeld betonen. In ihm kommen das Zusammenspiel, die gegenseitige Abhängigkeit und Interaktion zwischen depressiver Überforderung des Individuums und seiner Umwelt zum Ausdruck.

Der Begriff des depressiven Kreises soll deutlich machen, wie der depressive Umgang mit Überforderung kein isoliertes und individuelles Phänomen bleibt, sondern sich auswirkt auf das Umfeld und dieses ebenso in den Zustand der Überforderung versetzt und gleichzeitig hilflos und ohnmächtig macht. Ein so überfordertes Umfeld – seien es nun der Lebenspartner, Eltern, Nachbarn oder Kollegen – wirkt bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt auf den depressiven Menschen zurück. Das setzt ihn noch mehr unter Druck und macht auch sein Bemühen um das Lösen der Überforderung noch hektischer und erfolgloser.

Wir sehen, dass die soziale Dimension der depressiven Überforderung ganz wesentlich zum Bild der Depression gehört. Ich möchte zur Erinnerung und zur Verdeutlichung des hier Gesagten einige der aufgezählten Beobachtungen noch einmal kurz nennen:

Die soziale Dimension der Depression ist also bedeutend, um die ganze Komplexität der depressiven Überforderung zu beschreiben. Der depressive Kreis der Überforderung als ein Motor, der die Depression in Schwung hält, ist sicher ein ganz wesentlicher Teil der depressiven Dynamik. Er kann aber noch nicht erklären, weshalb der Depressive überhaupt in die Überforderung hineingerät, in ihr gefangen bleibt und beim Versuch, sich zu helfen, sich stets erneut überfordert. Wir sehen, ich spreche jetzt von der depressiven Überforderung und nicht einfach mehr von Überforderung überhaupt. Denn die depressive Überforderung meint ganz wesentlich den oben genannten Teufelskreis der Überforderung: wie aus einer Überforderung immer neue Überforderungen entstehen und wie im ständigen Versuch, diese abzubauen, der Depressive sich in der Überforderung verstrickt.

Mit dem Begriff der depressiven Überforderung soll aber auch die Gefahr angesprochen werden, die in dieser Überforderung steckt, die Gefahr nämlich, dass ein solcher Umgang, eine solche Art des Lebens ihren Preis haben und früher oder später ihren Tribut fordern.

Niemand kann sich über längere Zeit unbeschadet so schaden. Irgendwann einmal bekommt jede und jeder die Quittung für ein solches Verhalten.

Unter depressiver Überforderung verstehe ich somit nicht den Zustand eines einmaligen, kurzzeitigen oder lang andauernden Überfordertwerdens durch äußere Ereignisse, mögen diese noch so gravierend sein. Depressive Überforderung meint das spezifische Muster des Umganges mit Überforderung, meint eine spezielle Dynamik der Überforderung und damit eine spezielle Überforderung über eine längere Zeitspanne hinweg. Die depressive Überforderung hält den betreffenden Menschen in der Überforderung gefangen und das wirkt sich auf sein soziales Umfeld aus. Es handelt sich um ein Muster, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Eine solche Überforderung löst sich nicht auf oder vergeht einfach. Das Muster der Überforderung, nicht zuletzt, weil es sich um ein altes, scheinbar langjährig gelerntes und bewährtes handelt, bleibt wirksam. Es geht hier um eine bestimmte Lebensstrategie.

Diese Betrachtungsweise erklärt zum Beispiel, weshalb bei gleichen äußeren Überforderungen im Sinne von schwerwiegenden Lebensereignissen, wie etwa dem Tod eines Angehörigen oder Prüfungsversagen, jemand nach einer kürzeren oder längeren Trauerphase darüber hinwegkommt, während andere darin stecken bleiben, sich quälen und nicht loskommen. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass der depressive Mensch sich offenbar immer und immer wieder neu mit dem schmerzlichen Ereignis beschäftigt, dass er sich buchstäblich um sich selbst dreht. Nicht das Ereignis überfordert ihn, sondern er sich selbst. Nicht der Verlust ist sein Problem, sondern er ist sich selbst zum Problem geworden.

Sein Bemühen gilt nur noch vordergründig der Verarbeitung des Ereignisses. In Wirklichkeit ist er schon lange im Muster der Überforderung gefangen. Für den Außenstehenden hörbar wird das in Äußerungen wie »Warum geht es mir so schlecht, warum komme ich nicht los, warum geht es mir nicht besser, warum schaffe ich es nicht, loszukommen? Andere Menschen wären schon weiter als ich!«.

Depressive beklagen ihren eigenen Schmerz und die eigene Unzulänglichkeit. Sie bejammern ihre Unfähigkeit, den Schmerz und die Trauer in normaler Zeit zu überwinden. Sie sorgen sich um sich, dass sie so trauern und wie schlecht es ihnen dabei geht. Sie machen sich Vorwürfe und machen sich klein. Ihre Unfähigkeit im Zusammenhang mit dem spezifischen Ereignis nehmen sie zum Anlass, um über ihre eigene Unfähigkeit, ihre Unzulänglichkeit zu jammern und sich als minderwertig zu erleben und sich auch so darzustellen.

Die Verlagerung der Trauer über das Ereignis auf die eigene Person wird häufig vom Umfeld nicht erkannt, was dazu führt, dass sich Begleit- oder Bezugspersonen dabei ohnmächtig und hilflos fühlen. Man möchte helfen und kann nicht bzw. verändert nichts. Man hat Mitleid mit der Depressiven und allmählich schleichen sich Ungeduld, Ärger, Unverständnis ein, was sie sehr schnell wahrnimmt und was sie in ihrem Schmerz verstärkt. Äußerungen wie »Ich weiß, mir kann man nicht helfen« schaffen auf der einen Seite immer mehr Ungeduld und Unverständnis und führen andererseits beim Depressiven zu der Meinung, nicht verstanden zu werden. Wir sehen, er oder sie ist sich Problem und wird zum Problem für das Umfeld. Der depressive Kreis ist geschlossen.