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Hans-Joachim Haake

Stempelgeld

Eine Detektivgeschichte aus der Zeit, als Strickpullover und Turnschuhe salonfähig wurden

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© 2017 Hans-Joachim Haake

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback 978-3-7439-1366-0
Hardcover 978-3-7439-1367-7
e-Book 978-3-7439-1368-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Obwohl er die Räumlichkeiten der Detektei MIKOS längere Zeit nicht betreten hatte, spürte Tobias Blank sofort die ungewöhnlich bedrückende Atmosphäre. Der Ermittler hatte auf ausdrücklichen Wunsch seines Geschäftspartners Max Mikolajusewitsch die Büroräume in der zweiten Etage des Geschäftshauses in Hannover aufgesucht.

Die Männer verband nicht nur eine langjährige Freundschaft, sondern auch eine besondere Laune der Natur. Sie glichen sich, bis auf einige unwesentliche Kleinigkeiten, wie ein Ei dem anderen. Dieser Umstand traf sicherlich auf viele eineiige Zwillinge zu. Aber die beiden waren nicht miteinander verwandt. Sie wären auch nie auf die Idee gekommen, als Geschwisterpaar aufzutreten.

Allerdings hatte es sich in der Vergangenheit als nützlich erwiesen, dass die meisten Mitarbeiter der Detektei und nur sehr wenige Außenstehende von der Doppelgängereigenschaft wussten. So konnten die Männer problemlos die Rollen tauschen oder, was die Sache noch etwas reizvoller machte, scheinbar an zwei Orten gleichzeitig auftauchen. Um dieses kleine Geheimnis zu bewahren, war es unumgänglich, dass einer von beiden stets eine Verkleidung anlegen musste, wenn man sich in der Öffentlichkeit begegnete.

Der Umstand, dass die Freunde keine besonderen äußerlichen Kennzeichen besaßen, machte es relativ einfach, mit wenigen Utensilien das äußere Erscheinungsbild zu verändern. Für die Arbeit eines Detektivs ein nicht zu verachtender Vorteil. So ähnlich sie sich äußerlich auch waren, ihre Charaktereigenschaften lagen meilenweit auseinander. Vielleicht gerade deswegen ergänzten sich die Freunde so gut.

Miko, wie er von seinen Freunden genannt wurde, war der Zurückhaltende, überlegte genau, bevor er eine Entscheidung traf. Er war ein gewiefter Stratege und besaß ein ausgeprägtes Organisationstalent. Miko war ein Teamspieler. Er konnte hervorragend Aufgaben definieren und die Mitarbeiter motivieren. Wenn es für die Erledigung eines Auftrages erforderlich war, konnte er auch Verantwortung delegieren. So gesehen war Miko genau der richtige Mann, um ein Detektivbüro zu leiten.

Blank hingegen war ein Einzelgänger, der sich nicht nur vom Verstand leiten ließ, sondern mehr auf Gefühle setzte und seinem Instinkt vertraute.

Seine zuweilen unkonventionellen Einfälle hatten Blank schon öfter in Gefahr gebracht. Allerdings besaß er auch einen überdurchschnittlichen Überlebensinstinkt, der im richtigen Moment seine Handlungen zum positiven beeinflusste. Alles in allem, war Blank derjenige, der als verdeckter Ermittler in vorderster Front operierte. Zu seinen vielseitigen Talenten kam noch die besondere Gabe, im Handumdrehen das Vertrauen der Mitmenschen zu gewinnen.

Eigentlich hatte Blank nach dem letzten Einsatz ein paar Tage Ruhe eingeplant. Da sie das Detektivbüro als gleichberechtigte Partner betrieben, hatte sich Blank sofort auf den Weg gemacht. Natürlich hatte er sein äußeres Erscheinungsbild ein wenig verändert.

„Was herrscht hier für eine miese Stimmung?“, fragte Blank, als er das Büro des Freundes betrat.

Miko saß wie gewöhnlich hinter dem Schreibtisch. Er blätterte in den vor ihm liegenden Berichten der Außendienstmitarbeiter.

An dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass die Detektei überregional tätig war und Beratungen in Sicherheitsfragen aller Art anbot. Auf Wunsch konnten auch speziell geschulte Mitarbeiter, zum Beispiel als Kaufhausdetektive, engagiert werden. Im Prinzip hatte damit vor Jahren alles einmal angefangen.

„Setz dich schon mal hin, ich bin gleich so weit“, antwortete Miko ohne aufzublicken.

Die Freunde verstanden sich beinahe blind.

Obwohl Miko nicht aufgeschaut hatte, spürte Blank, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Schon auf dem Flur hatten seine feinen Antennen diese merkwürdigen Schwingungen aufgefangen und hier in Mikos Zimmer verstärkten sich diese Irritationen noch.

Jedoch wollte Blank den Partner nicht bedrängen. Er befolgte die Aufforderung und setzte sich auf einen Sessel in der Besprechungsecke.

Hier hatten sie schon so manches Mal gesessen und über Einsatzpläne diskutiert.

Vielleicht hatte Miko einen neuen Auftrag an Land gezogen, dachte Blank. Doch die bedrückende Stimmung sprach eigentlich dagegen. Es musste aber dennoch etwas Wichtiges sein, sonst hätte Miko den Partner nicht hergebeten.

Was immer auch der Grund war, Blanks innere Unruhe wuchs und er wartete gespannt auf Mikos Erklärungen.

„Ich danke dir, dass du dich gleich herbemüht hast“, sagte Miko endlich. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor und mit sehr ernstem Gesicht setzte er sich zu dem Freund.

„Da du deine tägliche Routine beibehältst, nehme ich an, dass nichts Schlimmes geschehen ist. Dein Gesicht sagt mir allerdings, dass etwas Unerfreuliches in der Luft liegt“, stellte Blank beim Anblick des Partners fest.

„Dir kann man eben nichts vormachen. In der Tat ist der Grund deiner Anwesenheit einer höchst unerquicklichen Sache geschuldet. Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, weil die ganze Angelegenheit irgendwie nicht greifbar ist. Jedenfalls für mich.“

„Willst du damit andeuten, dass du dich auf deine Gefühle besonnen hast?“, wollte Blank wissen.

„So könnte man es wohl ausdrücken“, antwortete Miko, „es ist für mich nicht so einfach. Wie du weißt, zählen für mich nur handfeste Fakten, Tatsachen und eindeutige Beweise, mit denen etwas anzufangen ist. Mit qualligen Ahnungen tue ich mich schwer.“

„Das erklärt aber noch nicht den Grund, weshalb die Büroatmosphäre von negativen Einflüssen erfüllt ist. So etwas habe ich hier noch nie gespürt“, stellte Blank fest.

„Deine Antennen sind wirklich ausgezeichnet. Verspürst du vielleicht noch etwas mehr und kannst es ungefähr beschreiben“, wollte Miko wissen.

Blank schloss die Augen, um sich besser konzentrierten zu können.

Als er die Augen wieder öffnete, schaute er den Freund direkt an.

Miko war sichtlich bemüht, einen gelassenen Eindruck zu erwecken.Dennoch konnte Blank aus den Gesichtszügen des Gegenübers einiges ablesen. Es war fast so, als ob er in einen Spiegel blickte, denn ihre Physiognomie glich sich derart exakt, sodass ihm keine Veränderung verborgen blieb. Nicht umsonst sagt man, dass sich die Seele eines Menschen im Gesicht widerspiegelt. Wenn man es verstand darin zu lesen, war es beinahe so, als ob man die Gedanken erkannte.

„Noch kann ich es nicht genau beschreiben“, sagte Blank schließlich, „vielleicht lässt es sich in einem Wort ausdrücken: Trauer.“

Miko sah den Freund ungläubig an.

„Wer dich nicht so wie ich kennt, würde wohl unterstellen, dass dir etwas eingeflüstert wurde. Du hast den Nagel nämlich auf den Kopf getroffen.“

„Tatsächlich“, erwiderte Blank, „manchmal bin ich auch überrascht, wie mir das gelingt. Verlange jetzt bloß keine Erklärung. Die kann ich nämlich nicht geben.“

„Es war vor drei Tagen“, begann Miko zu berichten, „ganz gegen seine Gewohnheiten erschien der Kollege Klaus Wagner verspätet im Büro. Er war völlig von der Rolle. Erst nach gutem Zureden rückte er mit der Sprache heraus. Stell dir nur vor: Sein Bruder hat sich aus heiterem Himmel das Leben genommen.“

„Ach du mein Gott!“, rief Blank aus und stellte bestürzt fest: „Das ist ja schrecklich.“

„Genau das habe ich auch gesagt“, meinte Miko.

Die Bestürzung war nur zu verständlich, denn Klaus Wagner war nicht irgendein Kollege. Er war wie ein väterlicher Freund für die beiden Detektive. Was sicherlich nicht nur darin begründet lag, dass Klaus 25 Jahre älter war. Er war quasi seit der Gründung des Detektivbüros dabei. Klaus Wagner gehörte zum harten Kern der Mannschaft, zum inneren Führungskreis und manchmal übernahm er während Mikos Abwesenheit sogar die Leitung der Zentrale. Dass er dafür prädestiniert war, lag daran, dass Klaus Wagner vor vielen Jahren eine eigene Detektei betrieben hatte. Eine Einmannfirma, deren Geschäfte mehr schlecht als recht liefen. Miko hatte den Mann öfters mit kleineren Aufträgen betraut, weil Klaus Wagner über ausgezeichnete Kontakte verfügte und einen schier unerschöpflichen Pool an Informanten aufgebaut hatte. Diese Zusammenarbeit hatte schließlich dazu geführt, dass man Klaus Wagner überreden konnte, als Büroleiter in die expandierende Detektei MIKOS einzusteigen.

Eine Kooperation, die nicht zuletzt zum Erfolg der Firma beigetragen hatte. Denn für eine Detektei waren vertrauenswürdige Informationsquellen überlebenswichtig. Wann immer Hintergrundrecherchen erforderlich waren, kam Klaus Wagner ins Spiel. Vor ihm und seinem Ermittlerteam waren keine Geheimnisse sicher. Selbst Miko, der nach außen hin, als Chef der Detektei auftrat, kannte nicht alle Tricks, mit denen Klaus Wagner an seine Informationen gelangte. Und, um ganz ehrlich zu sein, wollten die beiden Freunde auch gar nicht wissen, wie es Klaus Wagner anstellte. Nur mit legalen Methoden gelang dies mit Sicherheit nicht.

Diese Erklärung sollte nur aufzeigen, wieso Blank und Miko so bestürzt darauf reagierten, dass Klaus Wagner neben der Spur lief. Er war eben nicht nur ein Freund, sondern verkörperte die gute Seele der Firma. Wenn er nicht auf dem Posten war, funktionierte das ganze Büro nur unzureichend. Ja, der tägliche Betrieb drohte sogar festzufahren, so als ob Sand, anstatt Öl in ein Getriebe gekippt worden wäre.

Nachdem Blank die erschreckende Nachricht verarbeitet hatte, brach er das Schweigen und fragte: „Hat Klaus Einzelheiten angegeben. Gab es Anzeichen dafür, dass der Bruder solch eine Kurzschlusshandlung geplant hatte?“

„Eben nicht. Wilfried Wagner war mit sich und seiner Arbeit vollauf zufrieden. Ein rundum glücklicher Zeitgenosse. Jedenfalls hat ihn Klaus so beschrieben und ich sehe keinen Grund daran zu zweifeln. Das macht die offensichtliche Verzweiflungstat auch so unerklärlich - so schrecklich und zu einer wahren Tragödie.“

Blank war nach dieser Aussage verständlicherweise noch mehr erschüttert. Schon oft hatte er mit Klaus zusammengearbeitet. Er gehörte zu den wenigen Kollegen, mit dem sich Blank ganz besonders gut verstand.

War hier womöglich der Hund begraben, dachte Blank.

Sollte er dem Kollegen auf den Zahn fühlen?

Und überhaupt. Was mochte Miko bewogen haben, ihn erst jetzt davon in Kenntnis zu setzen?

Drei Tage nach der Tat.

„Du hast mich doch nicht nur deswegen hierher zitiert, um mir persönlich von dieser tragischen Geschichte zu berichten. Da steckt doch noch mehr dahinter. Gibt es etwa Gründe an einem Selbstmord zu zweifeln?“

Miko blickte Blank nachdenklich an.

Sie verstanden sich eben ohne viel Worte.

Blank erkannte, dass er auf den richtigen Busch geklopft hatte.

Zunächst wich Miko noch aus: „Nicht wirklich. Es war eigentlich nur Klaus, der es nicht wahrhaben will, dass sein Bruder freiwillig aus dem Leben getreten sein soll.“

Blank wurde hellhörig. Er hakte nach: „Wieso war?“

„Nun ja, irgendwie hat mich Klaus mit seinen Zweifeln infiziert“, antwortete Miko zögerlich.

„Wurde die Polizei nicht hinzugezogen?“, fragte Blank weiter.

„Im Prinzip schon. Aber, da es offenkundig keine Hinweise auf ein Fremdverschulden gibt, werden die sich bestimmt kein Bein ausreißen“, unterstellte Miko grimmig.

„Dennoch sollten wir das Ergebnis der Untersuchungen abwarten“, schlug Blank vor.

Miko machte ein skeptisches Gesicht und erwiderte: „Damit habe ich Klaus auch versucht zu beruhigen. Mit eher mäßigem Erfolg. Er hat wohl kein Vertrauen zu den administrativen Ermittlungsbehörden.“

Obwohl er ahnte, worauf Miko hinaus wollte, hielt sich Blank noch zurück.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass Klaus mit dieser furchtbaren Tragödie erst einmal zurechtkommen muss. Aber die Arbeit der Polizei in Bausch und Bogen herabzuwürdigen, erscheint mir nicht gerechtfertigt.“

„Mag sein. Nur werde das Gefühl nicht los, dass Klaus recht hat und es doch Anhaltspunkte geben könnte, die einen Selbstmord zumindest zweifelhaft erscheinen lassen“, stellte Miko unsicher fest.

„So etwas sagt ausgerechnet jemand, der nur unumstößliche Tatsachen akzeptiert“, erwiderte Blank mit vorwurfsvollem Unterton.

„Ist ja schon gut. Du hast mich durchschaut. Es gibt in der Tat noch einen triftigen Grund, wieso ich um dieses Gespräch gebeten habe. Klaus scheint im Moment nicht in der Lage zu sein, seine Aufgaben im Büro wahrzunehmen. Ich habe mir überlegt, ihm eine Auszeit zu gewähren. Ein paar freie Tage würde vielleicht helfen seine Trauer zu verarbeiten. Hier hält er nur den Betrieb auf und läuft herum wie Falschgeld“, erklärte Miko.

„Hältst du das wirklich für richtig. Ich meine, Klaus gehört schon irgendwie zum Inventar. Willst du ihn einfach so abschieben, wie einen alten Bürostuhl, dessen Beine bereits etwas wackeln. Sollte man nicht versuchen, mit ein wenig Leim die Standfestigkeit wieder herzustellen.“

Trotz des ernsten Anlasses schmunzelte Miko über Blanks bildhaftes Gleichnis.

„Genau dies ist mein Problem. Ein defektes Sitzmöbel kann man austauschen. Doch Klaus ist nicht so einfach zu ersetzen. Ich brauche aber zuverlässige Mitarbeiter und du kennst mich, wenn jemand nicht spurt, dann fliegt er. Bei Klaus geht das aber nicht. Schon allein deswegen, weil ich ihn in mein Herz geschlossen habe. Wie ich weiß, geht es dir ebenso. Denk nur nicht, dass ich nicht im Bilde bin, was ihr beide auf dem Kerbholz habt. Ich habe stets beide Augen zugedrückt, wenn ihr hinter meinem Rücken etwas ausgeheckt habt.“

„Habe schon verstanden, mein Freund. Du hättest es auch gleich sagen können, dass ich mit Klaus sprechen soll“, lenkte Blank ein.

„Genau darum möchte ich dich bitten. Aber, nur reden wird nicht ausreichen. Du musst Klaus überzeugen, dass der Bruder seinem Leben ein Ende gesetzt hat. So tragisch dieses Faktum auch ist, er muss sich damit abfinden und ...“, „halt Miko, nicht so schnell“, unterbrach Blank, „was ist mit deinem Gefühl, dass an dem Selbstmord etwas faul sein könnte.“

„Vergiss es. Ich habe mich von Klaus anstecken lassen. Du hast mich daran erinnert, dass ich mich besser an die Tatsachen halten sollte. Auf meine Gefühle ist kein Verlass. Das überlasse ich lieber dir. Also wirst du mit Klaus reden. Auf dich wird er bestimmt hören.“

„Das ist doch keine Frage. Selbstverständlich werde ich das tun. Allerdings möchte ich vorher noch wissen, was eigentlich genau geschehen ist. Wenn du mir die bisher bekannten Fakten kurz erläuterst, kann ich mir schon einmal überlegen, wie ich mich Klaus gegenüber verhalten muss.“

Miko ging zu seinem Schreibtisch und suchte die Notizen heraus, um keine Details zu vergessen.

„Die Geschwister wohnen im Haus der verstorbenen Eltern. Zwei Junggesellen, die sich gut verstanden haben, sagt Klaus jedenfalls. Soweit ich das beurteilen kann, war der Bruder, ähnlich wie Klaus, mit seinem Beruf verheiratet. Ich will es kurz machen: Vor drei Tagen, als Klaus etwas später als sonst nach Hause kam, war sein Bruder nicht da. Was eigentlich überhaupt nicht zu ihm passte, denn Wilfried Wagner war im öffentlichen Dienst tätig und die Zuverlässigkeit in Person. Wenn er wegen einer Dienstreise auswärts übernachtete, was wohl öfters der Fall war, hatte er den Bruder stets darüber informiert. Klaus machte sich also auf die Suche und fand Wilfried schließlich in der Garage: Aufgeknüpft, mit einer Wäscheleine.“

Blank konnte sich ungefähr ausmalen, was der Kollege in diesem Augenblick empfunden haben musste.

„Eine schreckliche Vorstellung“, stellte er schockiert fest.

„Das will ich meinen. So einen Schreck in der Abendstunde möchte ich lieber nicht erleben. Nach eigenem bekunden war Klaus sofort klar, dass jede Hilfe zu spät kam. So wie er die Situation geschildert hat, war die Leichenstarre schon voll ausgeprägt. Obwohl es Klaus eigentlich wusste, dass man an einem Tatort nichts verändern sollte, konnte er nicht anders. Er hat den Kopf aus der Schlinge befreit und den leblosen Körper seines Bruders auf den Boden gelegt, nachdem er die Polizei angerufen hat. Was er sonst noch getan hat, daran konnte sich Klaus nur noch bruchstückhaft erinnern. Er war wohl derart geschockt, dass er erst wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, als die Polizei eintraf. Für die Beamten schien der Tathergang wohl gleich eindeutig festzustehen. Jedenfalls machten sie keinen Hehl daraus, dass sie von einem Selbstverschulden ausgingen. Obwohl Klaus protestiert hatte, hielten es die Uniformierten nicht für notwendig den Tatort abzusperren, geschweige denn irgendwelche Spuren zu sichern. Der ebenfalls herbeigerufene Notarzt stellte den Tod fest und ohne weitere Prüfung den Totenschein aus. Die Strangulationsmale am Hals waren nicht zu übersehen. Es gab keinerlei Abwehrverletzungen und daher auch keinen Grund, an einem Selbstmord zu zweifeln.“

Blank hatte ruhig zugehört und er stellte fest: „So wie du die Sachlage schilderst, spricht in der Tat alles dafür, dass Wilfried selbst Hand an sich gelegt hat. Oder hat Klaus etwas Verdächtiges gesehen oder bemerkt? Gab es Spuren von fremden Personen im Haus?“

„Ich bezweifle, dass Klaus fähig war, etwas zu bemerken. Nach eigenen Angaben hat er nichts Ungewöhnliches festgestellt. Die Haustür war geschlossen, genau wie die Garage und Einbruchsspuren gibt es auch nicht.“

„Insgesamt keine Erfolg versprechenden Aussichten, um einen begründeten Zweifel an dem mutmaßlichen Tathergang zu untermauern“, kommentierte Blank.

„Das trifft leider zu. Dem ungeachtet möchte ich dich bitten ...“, weiter kam Miko nicht, „keine Frage! Selbstverständlich muss die Angelegenheit restlos aufgeklärt werden“, fiel Blank dem Freund ins Wort.

„Ich danke dir. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.“

„Es wäre ja noch schöner, wenn wir einen so lieben Kollegen hängen lassen würden.“

Erst als Blank es ausgesprochen hatte, wurde ihm die makabere Doppeldeutung bewusst.

Miko ging darüber hinweg und er fragte: „Möchtest du gleich mit Klaus sprechen?“

Blank überlegte kurz. Obwohl er es eben noch versprochen hatte, entschied er sich jetzt doch dagegen. Was sollte er dem Kollegen schon sagen?

In seiner momentanen Verfassung wäre jedes Wort nur ein schwacher Trost.

„Nein. Nicht sofort“, erwiderte Blank und er begründete den Sinneswandel damit: „Ich möchte mir erst ein eigenes Bild vom Tatort und dem möglichen Tathergang machen. Spricht etwas dagegen, dass ich mich im Haus umsehe.“

Miko schien nicht überrascht zu sein. Er hatte wohl mit so einem Ansinnen gerechnet. Er überreichte Blank den Schlüssel für das Haus des Kollegen mit den Worten: „Klaus hat sich vorübergehend in einem Hotel eingemietet.“

Durchaus nachvollziehbar dachte Blank. In dem Haus, wo ein naher Angehöriger gestorben war, würde er sich auch nicht wohlfühlen.

„Ist gut, ich mache mich sofort an die Arbeit“, versprach Blank und er steckte den Schlüssel ein.

„Ich hätte mich selbst darum gekümmert. Aber wenn bei der Sache etwas nicht ganz koscher sein sollte, dann bist du der bessere Mann, um es herauszubekommen“, meinte Miko noch.

„Egal was dabei herauskommt?“, fragte Blank nach.

„Völlig wurscht. Nur finde irgendetwas, damit wir Klaus beruhigen können.“

So mutlos hatte Blank seinen Freund lange nicht erlebt.

Miko hatte den Partner schon öfters auf scheinbar aussichtslose Fälle angesetzt. Allerdings hatte es im Vorfeld begründete Zweifel gegeben. Bei dieser Geschichte erschien es auch Blank mehr als fraglich, ob sich die Arbeit lohnen würde.

Doch er wollte den Partner nicht enttäuschen und es mag etwas zwielichtig erscheinen, irgendwie reizte den Ermittler der Freitod dieses Menschen.

Was mochte Wilfried Wagner dazu getrieben haben, freiwillig aus dem Leben zu scheiden?

Selbst wenn es gelang, den Motiven näherzukommen. So ganz begreifen, konnte man es wohl nicht. Dennoch war es den Versuch wert, sich eingehender damit zu befassen und schließlich war man es dem Kollegen schuldig.

„Hast du schon einen Plan, wie du anfangen willst?“, fragte Miko plötzlich und er riss Blank aus seinen Gedanken.

„Nicht die Bohne. Ist wohl auch etwas verfrüht“, meinte Blank.

„Ich hätte einen Vorschlag. Wie wäre es, wenn sich unsere Labortechniker den Tatort näher ansehen?“

Auf Blanks Stirn bildeten sich Falten und nachdenklich antwortete er: „Ja, vielleicht sollte man das tun. Aber ich befürchte, dass Klaus schon alles umgekrempelt und dadurch eventuelle Spuren unbrauchbar gemacht hat.“

„Eben nicht!“, rief Miko hoffnungsfroh aus, „Klaus hat es nicht übers Herz gebracht und das Haus bisher nicht wieder betreten.“

„Na umso besser. Dann kann ich mich ergebnisoffen im Haus umsehen“, stellte Blank klar.

Einer unvoreingenommenen Ortsbesichtigung stand nichts mehr im Wege.

Ohne weiteren Kommentar stand Blank auf.

Im Grunde war alles besprochen. Soeben hatte er einen neuen Auftrag, quasi in eigener Sache angenommen.

Miko griff in seine Hosentasche und legte einen Autoschlüssel auf den Tisch.

„Ich schätze, du brauchst einen fahrbaren Untersatz. Der Wagen steht vollgetankt in der Tiefgarage.“

******

Die Siedlungshäuser sahen irgendwie alle gleich aus und hatten wohl schon etliche Jahre auf dem Dachfirst. Nach Blanks Schätzung dürfte die Siedlung Anfang der 50er Jahre errichtet worden sein. Damals lag Bothfeld noch außerhalb der heutigen Stadtgrenze von Hannover.

Aus Erzählungen der Eltern wusste Blank, dass sich einige Jahre nach dem Krieg viele Bauwillige zu Siedlungsgemeinschaften zusammengeschlossen hatten. Am Rande der oftmals zerstörten Städte entstanden Neubausiedlungen. Die Häuschen wurden größtenteils in Eigenarbeit errichtet. Da die Auswahl des Baumaterials begrenzt war, konnten nur bescheidene Baupläne umgesetzt werden. Erst in den Jahren danach, als das deutsche Wirtschaftswunder für mehr Wohlstand sorgte und es der Bevölkerung finanziell besser ging, wurden nach und nach bauliche Veränderungen durchgeführt.

So offensichtlich auch bei dem Haus der Wagners. Man hatte das Dachgeschoss ausgebaut und eine Garage hinzugefügt. Das für heutige Verhältnisse eher kleine Grundstück war somit fast vollständig bebaut.

Blank stellte seinen Wagen, ein dunkelroter Renault 12, unmittelbar vor der Garage ab. Auf der ruhigen Wohnstraße gab es sonst keine freien Stellplätze.

Vor 35 Jahren dürfte das noch anders gewesen sein, dachte Blank, da waren fehlende Parkplätze kein Thema. Vielleicht war deswegen diese als Sackgasse ausgewiesene Straße so schmal gebaut worden, dass nur auf einer Seite geparkt werden konnte. Doch da es keinen Durchgangsverkehr gab, schien es den Anwohnern auszureichen. Der gut erhaltene Straßenbelag sprach zudem dafür, dass Autos eher selten unterwegs waren.

In Gedanken versunken, verharrte Blank hinter dem Lenkrad.

Ein mulmiges Gefühl überkam ihn, als er auf das Haus des Kollegen schaute. Eigentlich wusste Blank kaum Privates von Klaus Wagner. Ihre Gespräche hatten sich stets auf berufliche Dinge beschränkt und nun wollte er in die Privatsphäre des Kollegen eindringen.

Zwar hatte Blank im Zuge von Ermittlungen schon öfters fremde Wohnungen, mitunter auch ohne Einladung aufgesucht. Aber das war doch irgendwie anders, unpersönlicher gewesen.

Er musste sich von dem Gedanken lösen, gleich das Haus eines Bekannten zu betreten.

In Anbetracht der Umstände, die den Ermittler hierher geführt hatten, war das jedoch nicht ganz einfach.

Blank stieg aus dem Fahrzeug.

Dabei schaute er sich die Nachbarschaft an, um etwas von der Atmosphäre dieser Siedlung aufzunehmen.

Alles wirkte so friedlich.

Eigentlich kaum vorstellbar, dass sich in einem der Häuser eine schreckliche Tragödie abgespielt hatte. Aber, so war es nun einmal. Niemand konnte hinter die Fassaden blicken und wer weiß, welche düsteren Geheimnisse im Verborgenen schlummerten.

Blank streifte diese trüben Gedanken ab und er konzentrierte sich auf den Grund, der ihn hierher geführt hatte.

Vor der Haustür schaute er sich nochmals um.

Keine Menschenseele war auf der Straße unterwegs.

Ob er aus einem der Nachbarhäuser beobachtet wurde, konnte Blank nicht sehen, aber er spürte es irgendwie. Hinter den Gardinen eines der gegenüberliegenden Häuser würde bestimmt jemand herüberschauen.

Es war nicht nur die Neugier, sondern sicherlich auch nachbarschaftliche Fürsorge. Die Leute, die hier wohnten, dürften sich seit vielen Jahren kennen. Dass in dieser ruhigen Siedlung ein Mensch auf so spektakuläre Weise gestorben war, muss hier eingeschlagen sein, wie eine Bombe.

Mit einer erwartungsvollen, inneren Anspannung öffnete Blank die Haustür.

Sofort empfing ihn der individuelle Geruch, der sich in jeder Wohnung aus anderen Molekülen zusammensetzte. Mit seinen feinen Sinnen nahm Blank die Aromen auf. Er versuchte daraus einen ersten Eindruck über die Bewohner zu entwerfen.

Eine Person kannte Blank und er vermochte authentische Düfte dem Kollegen zuzuordnen. Bis auf die Tatsache, dass in diesem Haus kein Raucher wohnte, halfen die Geruchsempfindungen aber nicht weiter.

Blank schloss die Tür und schaute sich den Flur an.

Auf den ersten Blick schien alles ordentlich aufgeräumt. Bei allein lebenden Männern war das nicht unbedingt zu erwarten.

Ohne Eile ging Blank weiter.

Gleich neben der Eingangstür führte eine gewundene Holztreppe in den oberen Bereich. Im weiteren Verlauf des Flurs gab es drei Türen. Sie waren nur angelehnt und eine, mit geriffelter Glasscheibe in der Mitte des Türblattes, führte in die Küche. Drei Schritte weiter stieß Blank eine schmale Tür auf und fand die Toilette vor. Blieb noch die letzte Tür, welche in ein geräumiges Wohnzimmer führte.

Dieser Raum entsprach schon eher den Vorstellungen von einer typischen Männerwohnung. Was sich nicht auf die Sauberkeit bezog, sondern vielmehr auf die Einrichtung. Es gab keinerlei Schnickschnack. Die Möbel waren funktionell zusammengestellt.

Zwei bequeme Polstersessel, ein farblich dazu passendes Sofa, mit Glastisch davor. Dem Doppelfenster gegenüber nahm eine Schrankwand die ganze Fläche ein. Dominiert wurde das wuchtige Möbelstück von einem Fernsehapparat in der Mitte. In den teilweise offenen Regalen standen exakt ausgerichtete Bücher. Soweit es an den Buchrücken abzulesen war, durchweg Unterhaltungsliteratur.

Oberhalb der Glotze standen einige gerahmte Fotografien, die sich Blank etwas genauer ansah. Ein älteres Ehepaar lächelte den Betrachter an.

Das mussten die Eltern sein, konstatierte Blank und auf älteren Schwarz-Weiß-Bildern waren auch Aufnahmen der Söhne aus Kindertagen zu sehen.

Der offensichtlich ältere Knabe musste Klaus Wagner sein. Es schien sich schon damals abzuzeichnen, dass er zu einer gewissen Körperfülle neigte, dachte Blank, denn bis heute hatte Klaus noch einige Kilos zugelegt, was wohl auf seine überwiegend sitzende Tätigkeit zurückzuführen war.

Der Bruder entsprach dem genauen Gegenteil. Obwohl jünger, war er als Kind schon einen Kopf größer. Wilfried Wagner fiel durch seine schlaksige Gestalt, im wahrsten Sinne des Wortes, aus dem Rahmen, denn auch die Eltern waren eher klein und ein wenig übergewichtig.

Leider stand hier kein aktuelles Foto, stellte Blank fest. Er konnte daher nicht überprüfen, inwieweit Wilfried sich weiterentwickelt hatte. Aber, so wie sich die Tendenz bei Klaus bereits früh abgezeichnet hatte, dürfte das vermutlich auch auf den Bruder zutreffen.

Was dem Betrachter der nostalgischen Fotografien jedoch sofort auffallen musste, war die harmonische Ausstrahlung der Familienaufnahmen. Dass die so unterschiedlich veranlagten Geschwister diese Bilder für Besucher sichtbar aufgestellt hatten, verstärkte bei Blank den Eindruck, dass die Brüder ein sehr enges Verhältnis gehabt haben mussten. Somit war es nur zu verständlich, dass Klaus am Boden zerstört war.

Noch eine vorläufige Erkenntnis zog Blank aus den Bildern: Sie vermittelten eine sympathische, fröhliche Grundstimmung, der man sich nicht entziehen konnte. Wenn es bei Wilfried Wagner Tendenzen zu Depressionen gegeben haben sollte, dann müssen die sich erst wesentlich später entwickelt haben. Falls überhaupt, denn Blank spürte, noch immer eine positive Energie in diesem Zimmer. In dieser Umgebung war es kaum vorstellbar überhaupt auf den Gedanken zu kommen, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Hier würde er nichts weiter finden, dachte Blank und ging zurück in den Flur.

In einem wildfremden Haus hätte Blank nicht lange gezögert und sämtliche Schränke durchsucht, doch diesmal lag der Fall eben anders. Irgendwie fühlte sich Blank nicht wohl dabei, in den Sachen des Kollegen herumzuschnüffeln. Zudem schien alles so akkurat und aufgeräumt zu sein, dass man befürchten musste, jeden Moment den Hausbesitzern zu begegnen.

Dennoch musste sich Blank weiter umsehen.

Es war unumgänglich, damit er sich ein klareres Bild von Wilfried Wagners Persönlichkeit machen konnte.

Die obere Etage dürfte dafür besser geeignet sein, denn Blank vermutete, dass sich die Brüder getrennte Arbeitszimmer eingerichtet hatten. Den Ersten, der drei Räume, welchen Blank oben betrat, war das gemeinsam benutzte Badezimmer. Auch hier fiel sofort die penible Sauberkeit auf.

Einer der Brüder schien einen Putzfimmel zu haben. Dass ein weibliches Wesen die Hände im Spiel hatte, schloss Blank aus, denn die Bewohner waren ledig.

Möglicherweise beschäftigten die Brüder eine Haushaltshilfe, überlegte Blank. Immerhin gingen die Männer einer geregelten Beschäftigung nach und finanziell dürfte es ihnen nicht schlecht gehen.

Blank verließ das Bad und öffnete die nächste Tür.

Sofort war klar, dass er den Privatbereich seines Kollegen vor sich hatte. Neben dem Bett und einem Kleiderschrank stand direkt vor dem Fenster ein wuchtiger Schreibtisch. Die Unordnung und die forensischen Fachbücher auf dem Wandregal ließen keinen anderen Schluss zu. Zudem passte es zu dem Eindruck, den Blank bei den Besuchen in Klaus Wagners Büro gewonnen hatte. Irgendwie wirkte der Schreibtisch des Kollegen stets ein wenig schluderig.

Allerdings war Blank der Letzte, der sich ein Urteil darüber erlauben durfte, denn er besaß keinen eigenen Schreibtisch und wer weiß, wie es darauf aussehen würde.

Wie dem auch sei, der Kollege war ganz bestimmt kein Ordnungsfanatiker, womit jetzt schon feststand, wer im Haus die ordnende Hand führte – beziehungsweise geführt hatte.

Ohne weiter in die Intimsphäre einzudringen, verließ Blank das Zimmer von Klaus Wagner.

Blieb noch der letzte Raum, dem Blank mit gespannter Erwartung entgegen ging.

Wie erwartet, herrschte in Wilfrieds Zimmer eine penible Ordnung, welche Blank schon fast als steril empfand.

Selbst das Bett war gemacht und die Tagesdecke darüber war akkurat ausgerichtet.

Neben dem Kleiderschrank hatte auch Wilfried einen Schreibtisch vor dem Fenster stehen. Allerdings machte der einen so aufgeräumten Eindruck, dass man meinen könnte, dieses Möbelstück wäre noch nie benutzt worden.

Blank setzte sich an den Schreibtisch.

Was ihn dabei beschäftigte, war die Frage: War es hier immer so aufgeräumt oder hatte Wilfried Wagner vor seinem Freitod extra für Ordnung gesorgt?

Falls diese Vermutung zutreffen sollte, dann müsste der gewissenhafte Wilfried sein Vorhaben genau geplant haben, mal ganz unabhängig davon betrachtet, welches Motiv den Ausschlag gegeben hatte.

Sogleich stellte sich Blank die nächste Frage: Hatte Wilfried daran gedacht, was er mit so einer Tat seinem Bruder antun würde?

Ausgerechnet hier, in dem gemeinsam bewohnten Haus.

Oder hatten sich die Brüder am Ende doch nicht so nahe gestanden, wie von Klaus propagiert.

Wollte Wilfried den Bruder absichtlich verletzen?

Hatte es doch Streitereien zwischen den ungleichen Brüdern gegeben?

Wenn man so viele Jahre unter einem Dach zusammenlebt, waren Unstimmigkeiten nicht ganz auszuschließen.

Blank hatte noch keine brauchbaren Antworten auf seine Fragen. Nur eines war sicher. Ohne die Beweggründe zu kennen, war es verdammt schwierig nachzuvollziehen, wieso jemand beschloss, seinem Leben ein Ende zu machen.

Für so eine endgültige Tat musste es einen Auslöser geben. Etwas so Ungeheuerliches, das keinen anderen Ausweg zuließ.

An diesem Punkt seiner Überlegungen musste sich Blank eingestehen, dass er mit Vermutungen und Hypothesen nicht weiter kommen würde.

Ohne weitere Einzelheiten über Wilfrieds Charaktereigenschaften und Lebensumstände zu kennen, war es unmöglich dessen Gemütszustand zu beurteilen.

Vielleicht wäre es doch besser gewesen, erst mit Klaus zu sprechen. Aber das Gespräch musste noch warten, überlegte Blank und er kam zu der vorläufigen Erkenntnis, dass er zum jetzigen Zeitpunkt der Nachforschungen keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen durfte. Nur die Fakten zählten und dafür war eine objektive Betrachtung der Umstände erforderlich.

Im Grunde war Wilfried Wagner ein Fremder und fest stand eigentlich nur, dass er tot war.

Dass der Schreibtisch so penibel aufgeräumt war, lag einfach an dem ausgeprägten Ordnungssinn des Besitzers, dachte Blank und er setzte seine Untersuchungen fort.

Die Annahme bestätigte sich sofort, als er die oberste Schublade öffnete. So ein sortiertes Schubfach hatte Blank bisher noch nie gesehen. Selbst die Notizzettel waren auf Kante ausgerichtet und die Arbeitsutensilien, bis hin zur letzten Büroklammer, lagen exakt sortiert an ihrem Platz. Diese Ordnungsliebe kam Blank schon fast krankhaft vor. Das war jedoch eine rein subjektive Feststellung und musste noch nichts bedeuten.

In den restlichen Schubladen sah es genauso aus. Kaum zu glauben, dass hier jemals etwas benutzt worden war. Alles war so sauber, wie soeben erst gekauft.

Ohne etwas Bestimmtes zu suchen, wandte sich Blank der rechten Seite des Schreibtischuntergestells zu. Auf dieser Seite gab es eine Tür. Nach dem Öffnen blickte Blank auf zwei Ablagefächer mit Ordnern. Alle in der gleichen Größe und man muss es wohl nicht extra betonen, penibel ausgerichtet und akribisch mit schablonengenauen Buchstaben beschriftet.

Der Ordner mit der Bezeichnung „Dienstlich“ stach Blank besonders ins Auge. Er griff in das Loch im Aktenrücken und zog den Ordner heraus.

Es hätte Blank nicht gewundert, wenn auf dem ersten Blatt ein Inhaltsverzeichnis aufgelistet worden wäre. Doch dem war nicht so. Die Akte war nur zur Hälfte gefüllt. Die ersten, bereits vergilbten Seiten, gehörten zu einem Arbeitsvertrag. Daraus ging hervor, dass Wilfried Wagner vor über dreißig Jahren in den öffentlichen Dienst eingetreten war.

Blank blätterte die chronologisch abgehefteten Papiere durch. Neben Beurteilungen, die durchweg sehr positiv ausgefallen waren, fand er die Ernennungsurkunde zum Beamten bei der Bundesanstalt für Arbeit. Wilfried war die Karriereleiter innerhalb der Behörde stetig nach oben geklettert. Das ging aus den Ernennungsurkunden hervor. Vom Inspektor hatte er es bis zum Oberverwaltungsrat gebracht.

Das letzte Schreiben besagte, dass Herr Wagner vor drei Jahren zum Leiter einer internen Prüfgruppe der Bundesanstalt für Arbeit ernannt worden war.

Zunächst konnte Blank nicht viel damit anfangen, da er die Organisationsstruktur der größten deutschen Sozialbehörde nicht kannte. Die Vermutung lag jedoch nahe, dass die genannte Position relativ weit oben in der Hierarchie angesiedelt sein dürfte.

Blank schloss den Ordner und schaute sich die übrigen Akten an. Es war kein Zufall, dass Klaus seinem Bruder die Verwaltungsangelegenheiten überlassen hatte. Neben den Steuerbescheiden, Wartungs- und Reparaturabrechnungen für Haus und Grundstück, hatte sich Wilfried wohl auch um die persönlichen finanziellen Dinge der Geschwister gekümmert. Penibel getrennt enthielten zwei der Ordner die jeweiligen Gehaltsabrechnungen und Kontoauszüge des laufenden Jahres.

Offensichtlich waren die Brüder sparsam, denn die Konten zeigten ein nicht unerhebliches Guthaben an und wie Blank weiter feststellen konnte, verfügten die Geschwister über ein beträchtliches Vermögen in Form von Sparbüchern und einem Aktiendepot.

Insgeheim addierte Blank die Beträge und er kam zu dem Ergebnis, dass Geldprobleme als Motiv für einen Selbstmord auszuschließen waren.

Allerdings gab es noch genug andere Beweggründe, denen man nachgehen musste. Deshalb setzte Blank seine Durchsuchung fort.

Als Nächstes weckte das Bücherregal neben dem Kleiderschrank die Aufmerksamkeit des Ermittlers.

Wie nicht anders zu erwarten herrschte auch hier eine beeindruckende Ordnung. Was jedoch auffiel, war die Tatsache, dass einige Bücher abgegriffen aussahen. Der Grund wurde sogleich deutlich, als sich Blank die Buchtitel anschaute. Es handelte sich um Gesetzessammlungen und Ausführungsbestimmungen zum Arbeitsförderungsgesetz.

Wilfried Wagner beschäftigte sich offensichtlich auch in der Freizeit mit seinem Fachgebiet.

Vielmehr hatte er sich damit beschäftigt, müsste man wohl feststellen, dachte Blank. Dabei fiel ihm eine Bemerkung seines Freundes Miko ein, nämlich das die Brüder mit ihrer Arbeit verheiratet seien.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, so war der hier im Bücherregal zu finden.

Es schien aber noch etwas zu geben, für das sich Wilfried interessierte. Neben der speziellen Fachliteratur entdeckte Blank auch Bücher eines völlig andersgearteten Themenbereiches: Wanderführer.

Ohne Zweifel war der Bruder gerne zu Fuß unterwegs gewesen. Den sportlichen Eindruck hatten auch schon die Familienbilder vermittelt. Demnach war der jüngere Spross der agilere Typ der Familie.

Das Bild von Wilfried Wagner wurde allmählich deutlicher und Blank schloss gleich zwei weitere Aspekte auf seiner imaginären Liste der Selbstmordgründe aus: gesundheitliche Probleme und Misserfolg im Beruf.

Unterstellte man weiter, dass Frauen keine wesentliche Rolle spielten und es auch im Zusammenleben der Brüder keine nennenswerten Konflikte gab, waren die klassischen Motive fast alle abgehakt.

Die Zweifel, dass Wilfried Selbstmord begangen hatte, wuchsen langsam aber sicher. Es wäre an der Zeit, den eigentlichen Tatort näher anzuschauen, dachte Blank.

Um dorthin zu gelangen, musste er das Haus verlassen, denn das nachträglich angebaute Nebengebäude hatte keine direkte Anbindung zum Wohnhaus.

Auch jetzt konnte Blank niemanden auf der Straße sehen.

Er ging zielstrebig zur Garage.

Das Tor war verschlossen.

Am Schlüsselbund, das er von Miko erhalten hatte, suchte Blank nach einem passenden Schlüssel. Wie nicht anders zu erwarten, waren sie mit Anhängern gekennzeichnet.

Nach einer halben Umdrehung des Türgriffs konnte das Schwingtor nach oben gedrückt werden. Die Fertiggarage bot Platz für einen PKW, war aber leer. Das heißt nicht ganz, denn an der rechten Wand hing ein Regal und an der Rückseite stand ein Fahrrad. In der linken hinteren Ecke sah Blank zudem noch einen Blechspind.

Es lag auf der Hand, wie die Transportmittel verteilt waren. Klaus hatte den Wagen in Gebrauch und Wilfried schien sich auf das zweirädrige Gefährt beschränkt zu haben.

Blank betrat die Garage.

Er schaute sich das Rad etwas genauer an. Es war blitzblank geputzt.

Schien aber dennoch oft benutzt worden zu sein, wie an dem abgewetzten Sattel zu erkennen war. Ein weiteres Indiz dafür, dass Wilfried der Benutzer gewesen war.

Was Blank darüber hinaus sofort auffiel, war der insgesamt unaufgeräumt wirkende Zustand der Garage. Es schien so gar nicht zum übrigen Haushalt zu passen. Möglicherweise war Wilfried nur selten hier drin gewesen - doch dagegen sprach der saubere Drahtesel an der Wand. Dann musste Klaus oder die Polizisten diese Unordnung hinterlassen haben.

Unwillkürlich nahm Blank die beklemmende Atmosphäre in sich auf und er spürte instinktiv, dass hier etwas nicht zu stimmen schien.

Das war eigentlich auch kein Wunder, wenn er daran dachte, dass hier ein Mensch ums Leben gekommen war. Doch da war noch so ein unbestimmbares Gefühl, welches Blank nicht genau beschreiben konnte.

Ein paar Sekunden vergingen und er hatte sich wieder gefangen.

Blank stand vor dem Blechschrank, dessen Tür nicht ganz geschlossen war. Mit einer zaghaften Handbewegung öffnete er die Tür und sah darin auf mehrere Fächer verteilt: Werkzeug, Putzmittel und Fahrradersatzteile. Auf dem Boden des Spinds lag ein zusammengeknülltes Seil, welches gemeinhin als Wäscheleine bezeichnet wird.

Blank überlief ein kalter Schauer, als er sich danach bückte. War dieser Strick das Tatwerkzeug?

Erst zögerte der Ermittler. Dann nahm er das Seil doch in die Hände und versuchte die verschlungenen Enden zu entflechten.

Plötzlich warf er den Strick erschrocken zurück auf den Boden.

Was Blank als Knoten angesehen hatte, war bei genauer Betrachtung als Schlinge zu erkennen. Ohne jeden Zweifel hatte diese Schlaufe den Hals des Opfers umschlungen. Es war schon ein denkbar bedrückendes Gefühl diesen Gegenstand in der Hand zu halten.

Blank trat einen Schritt zur Seite.

Er befand sich jetzt mitten in der Garage.

Hier sollte sich Wilfried also aufgehängt haben, dachte Blank, was reflexartig eine Kopfbewegung nach oben auslöste.

An der Garagendecke, genau über sich, entdeckte Blank einen Haken.

Rostspuren deuteten darauf hin, dass dieser Haken schon länger dort hing. Zu welchem Zweck vermochte Blank allerdings nicht zu erkennen. Auf keinen Fall, um sich daran aufzuhängen, konstatierte er.

Unwillkürlich streckte Blank seine Hand aus.

Mit seiner Körpergröße von 175 Zentimetern konnte er mit den Fingerspitzen gerade so die Garagendecke berühren.

Nachdenklich ging Blank zum Eingang der Garage und er betrachtete den Tatort aus dieser Perspektive. Einen ungünstigeren Ort, um sich aufzuknüpfen, konnte er sich kaum vorstellen.

Wie hatte Wilfried das nur angestellt?

Auf den Fotos überragte der schlaksige Junge seine ganze Familie um Haupteslänge. Demnach dürfte Wilfried mindestens um die 1,85

Meter groß gewesen sein. Diese Garage war vielleicht zwei Meter hoch. Das würde bedeuten, dass nur ungefähr 15 Zentimeter Spielraum zwischen Kopf und Decke zur Verfügung standen. Das reichte vielleicht gerade für eine Halsschlinge. Aber wohin mit dem übrigen Seil? Irgendwo hätte man das andere Ende befestigen müssen.

Blank hätte brennend interessiert, wie Klaus Wagner seinen Bruder vorgefunden hatte. Eigentlich gab es nur eine Möglichkeit. Die Schlinge um den Hals musste unmittelbar mit dem Haken in der Decke verknotet werden. Um sich so zu strangulieren, hätte der lange Kerl die Knie anwinkeln und die Füße anheben müssen. Sich auf solch umständliche Weise die Luft abzuschnüren setzte einen unbändigen Willen voraus. Der menschliche Selbsterhaltungstrieb musste buchstäblich ausgeschaltet werden, was viel Mut und Entschlossenheit erforderte. Den wollte Blank Wilfried Wagner zwar nicht absprechen, aber nach allem, was er bisher über den Mann herausgefunden hatte, waren zumindest Zweifel angebracht.

Je länger Blank über das mögliche Szenario nachdachte, desto deutlicher zeichnete sich der Verdacht ab, dass hier jemand nachgeholfen haben könnte.

Da keine Tatortaufnahmen zur Verfügung standen, musste Blank wohl oder übel mit Klaus Wagner sprechen. Er war der Erste vor Ort gewesen. Nur er konnte über die Fundsituation Auskunft geben.

Aber war der Bruder dazu imstande?

Noch dürfte das Bild frisch in Erinnerung sein. Was zur Ermittlung wichtiger Details durchaus von Vorteil war. Auf der anderen Seite war es aber auch eine schreckliche Erfahrung, an die man lieber nicht erinnert werden wollte.

In Anbetracht der momentanen Gemütslage sollte man die Befragung noch etwas hinauszögern, dachte Blank.

Zwar hatte er sorgsam darauf geachtet keine zusätzlichen Spuren zu hinterlassen, doch kam Blank diese Vorsichtsmaßnahme ziemlich überflüssig vor. Wenn es am Boden noch irgendwelche verräterischen Fußspuren gegeben hätte, waren diese von Klaus Wagner, den Polizisten und dem Notarzt verwischt worden. Ein Spurensicherungsteam hierher zu schicken, wie es Miko vorgeschlagen hatte, erschien Blank daher aussichtslos zu sein.

Was jedoch noch übrig blieb, war herauszufinden, ob sich neben Wilfried noch jemand Zutritt zur Garage verschaffen konnte. Laut den Angaben von Klaus Wagner war das Garagentor bei seiner Ankunft verschlossen gewesen. Falls also noch jemand hier gewesen war, musste diese Person nicht nur hineingekommen sein, sondern das Tor auch wieder verriegelt haben.

Diese äußerst wichtige Frage beschäftigte Blank, als er die Garage verließ, um das Tor zu schließen. Mit einer Hand zog der Ermittler die Tür nach unten und er war überrascht, wie leicht das ging. Die einfache Sperrverriegelung rastete in einer kleinen Vertiefung am Boden ein, doch erst mit einer halben Drehung am Türgriff, schien das Garagentor fest geschlossen zu sein. Zur Kontrolle versuchte Blank das Tor zu öffnen, doch ohne einen Schlüssel war da nichts zu machen.

Diese Feststellung ließ eine erste Alarmglocke erklingen.

Um den sich abzeichnenden Verdacht zu überprüfen, benutzte Blank erneut den Garagentorschlüssel. Er öffnete den Eingang und ging in die Garage hinein. Nun versuchte er von innen das Tor zu verriegeln – aber, hier gab es keinen Türgriff, den er hätte drehen können.

Obwohl er es bereits geahnt hatte, traf Blank die Erkenntnis wie ein Blitzschlag aus einem wolkenlosen Himmel.

Zwar gab es noch viele unbeantwortete Fragen, was beispielsweise den eigentlichen Tathergang betraf. Aber da man das Garagentor unmöglich von innen verriegeln konnte, musste zwangsläufig noch jemand am Tatort gewesen sein.

In diesem Moment war sich Blank so gut wie sicher, dass Wilfried Wagner nicht selbst Hand an sich gelegt hatte, sondern das Opfer eines Verbrechens geworden war.

Trotz dieser wichtigen Erkenntnis war Blank nicht sicher, ob er sich jetzt erleichtert fühlen sollte. Zwar konnte er Klaus Wagner, der einen Freitod von vornherein ausgeschlossen hatte, insofern beipflichten. Jedoch bedeutete das auch, dass man nunmehr nach einem heimtückischen Mörder suchen musste.

So hin und hergerissen stand Blank in der Garagenzufahrt und er dachte darüber nach, welche Konsequenzen seine Beurteilung im Büro der Detektei auslösen würden.

Nicht auszudenken, was die Kollegen, allen voran Klaus Wagner, für Rachepläne aushecken könnten und noch schlimmer: was wäre, wenn sich Blanks Hypothesen möglicherweise doch als Irrtum herausstellen würden?

Es wäre wohl das Beste, überlegte Blank weiter, dass er zunächst nur Miko Bericht erstattete. Gemeinsam konnten sie die bisherigen Indizien nochmals prüfen, gegebenenfalls die nächsten Schritte planen und falls Blank mit seiner Einschätzung falsch liegen sollte ...

Wie bereits bei seiner Ankunft fühlte sich der Ermittler erneut beobachtet.

Er brach seine Überlegungen ab.

Da auf der Straße keine Anwohner zu erblicken waren, überquerte Blank kurz entschlossen die Fahrbahn. Er ging zu dem gegenüberliegenden Grundstück, öffnete die Gartenpforte und marschierte weiter zur Haustür. Aus den Augenwinkeln sah Blank eine Bewegung hinter der Gardine am linken Fenster. Er tat so, als ob er nichts bemerkt hatte und drückte auf den Klingelknopf. Dem Namensschild entnahm Blank, dass hier die Familie Schünemann wohnte.

Es dauerte geraume Zeit, bis die Haustür einen Spalt weit geöffnet wurde.

„Ja, bitte?“, fragte eine weibliche, zaghaft klingende Stimme.

„Entschuldigen Sie die Störung, Frau Schünemann. Hätten Sie vielleicht einen Moment Zeit. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten“, antwortete Blank höflich.

„Aber ich nicht mir Ihnen“, kam prompt die ablehnende Antwort und eine Drohung schloss sich an: „Verschwinden Sie von meinem Grundstück oder ich rufe die Polizei.“

„Das hätten Sie besser vor drei Tagen tun sollen“, erwiderte Blank vorwurfsvoll.

„Wie bitte! Was erlauben Sie sich! Das ist eine bodenlose Frechheit!“

Die Stimme der allem Anschein nach schon älteren Frau klang hysterisch und überschlug sich beinahe.

Eigentlich erwartete Blank, dass die Tür unverzüglich geschlossen wird. Doch die Bewohnerin fühlte sich wohl hinter der mit einer Sperrkette gesicherten Tür einigermaßen sicher.

Blank nahm das als Indiz, die Neugier der Frau geweckt zu haben.

„Verzeihen Sie. Ich habe das nicht so gemeint“, entschuldigte er sich und startete einen neuen Gesprächsversuch: „Bestimmt haben Sie davon gehört, was sich vor drei Tagen gegenüber zugetragen hat. Ich dachte, dass Sie selbstverständlich rein zufällig, etwas beobachtet haben könnten.“

Obwohl sich Blank höflich und zurückhaltend ausgedrückt hatte, reagierte die Nachbarin immer noch ungehalten: „Wollen Sie damit etwa behaupten, ich spioniere meinen Nachbarn hinterher?“

„Oh, keineswegs. Ich dachte mir nur, dass es Ihnen bestimmt seltsam erschienen sein mag, dass ein Fremder das Haus der Wagners betreten hat.“

„Junger Mann, es geht mich nichts an und interessiert mich auch nicht, wer dort drüber ein und aus geht“, stellte die Frau rigoros fest.

Blank konnte sich trotz der eindeutigen Abfuhr des Eindrucks nicht erwehren, dass die Nachbarin kurz davor stand, vor Neugier zu platzen.