Inhaltsverzeichnis


Titanic

Vorwort

Der Untergang

37 Sekunden Schicksal
Was passierte in der Nacht des 14. April 1912, in der die „Titanic“ zu einem Mythos wurde?

Entdeckung des Wracks

Ragender Zahn
Unterwasserarchäologen spüren das Schiff auf
„Titanic“-Suche diente als Tarnung für Geheimmission
Wie Robert Ballard 1985 den versunkenen Luxusliner entdeckte
Schwimmende Augen
Ein Tele-Roboter liefert gespenstische Aufnahmen aus dem Wrack
Kühles Geschäft
Das Schiff wird zum Beuteobjekt von Goldgräbern der Tiefsee
Entzückend, Baby
Ein Bord-Safe soll in einer Live-Fernsehshow geknackt werden
Die Pleite
Enttäuschung bei der Öffnung des „Titanic“-Safes
Rostige Geliebte
Streit um Hebung von Fundstücken aus dem Wrack
Trip in die Tiefe
Abenteuer-Tourismus zum Meeresgrund

Der Mythos

Der magische Schiffbruch
Erik Fosnes Hansen über die „Titanic“ als Verkörperung der menschlichen Hybris im technischen Zeitalter
„Es geht um Liebe und Tod“
Interview mit dem Regisseur James Cameron über die Faszination der „Titanic“
Ein Aufstand gegen die Götter, der mißlang
Legende und Wahrheit des Untergangs
Sie schlägt noch immer Wellen
Jahrestreffen der „British Titanic Society“ in Southampton
Gespielt bis zum Untergang
Violine des „Titanic“-Kapellmeisters auf Dachboden entdeckt

James Camerons Film

Selig auf dem Wrack der Träume
James Camerons Erfolgsfilm mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet
„Dabeisein in jener Nacht“
Interview Regisseur Cameron
Apokalypse, wow!
Europa-Preview von Camerons Hollywood-„Titanic“ mit Prinz Charles

Die "Titanic" in der Literatur

Untergang und Untergänge
Der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen und sein „Titanic“-Roman
Riss im Rumpf des Fortschritts
Der Schriftsteller Nicolas Born über Hans Magnus Enzensbergers „Der Untergang der Titanic“

Anhang

Impressum
Titanic • Einleitung

Vorwort

Vom Untergang einer Welt   

Die Sichel des Neumonds stand dünn am Himmel, es war finster in jener Nacht des 14. April 1912. Trotzdem pflügte das größte und luxuriöseste Schiff seiner Zeit mit etwa 21 Knoten, fast Höchstgeschwindigkeit, durch die Wellen des Nordatlantik. Es war die Jungfernfahrt der „RMS Titanic“. Weit oben im Krähennest, dem Ausguck auf dem Vorschiffs-Mast, froren die beiden Matrosen Frederick Fleet und Reginald Lee erbärmlich. Sie starrten nach vorne und versuchten, durch den ungewöhnlichen Dunst über der See irgendetwas zu erkennen.
Ungefähr 20 Minuten vor Mitternacht sah Fleet plötzlich einen schwarzen Schatten. Sehr groß. Und sehr nah. Er schlug die Glocke dreimal und brüllte ins Telefon, das ihn mit der Brücke verband: „Eisberg gerade voraus!“ 
Der Offizier auf der Brücke antwortete noch, ganz korrekt, ganz britisch: „Danke.“ Und dann begann eines der berühmtesten Dramen der Menschheit. Denn zwei Stunden und vierzig Minuten später versank die „Titanic“ im Meer, rund 1500 der etwa 2200 Menschen an Bord starben. Das Schiff wurde in den Jahrzehnten danach zu einem Mythos. Und aus dem, was sich in jenen Stunden an Deck und auf dem Atlantik abspielte, entstand eine Legende, die viele Menschen bis heute fesselt. 
Tausende von Büchern über die „Titanic“ sind bereits erschienen, ein knappes Dutzend Spielfilme, in Internet-Foren diskutieren Experten und Freaks jedes Detail dieser großen Geschichte, und immer wieder kommen neue Details ans Licht. In einem Museum in Belfast, wo die „Titanic“ gebaut wurde, können Touristen den Schauder genießen, den die Katastrophe immer noch erzeugt, nach mehr als 100 Jahren. Eine Ausstellung mit Artefakten vom Schiff zieht um die ganze Welt. Die Chinesen bauen die „Titanic“ gerade nach, in Originalgröße. Und Firmen bringen Menschen, die zu viel Geld haben, für zehntausende von Dollar mit U-Booten zum Wrack in über 3800 Metern Tiefe. 
Aber warum fasziniert die „Titanic“ so? Wie entstand diese Legende, gewoben aus vielen einzelnen Geschichten über Liebe, Mut, Verzweiflung, über Arroganz, Gier, Wahnsinn und verhängnisvolle Fehler? Denn das ist die „Titanic“ auch jetzt noch: ein Kosmos für sich, bevölkert von Wissenschaftlern, Verschwörungstheoretikern und Fans. Warum also ausgerechnet die „Titanic“? 
Es war ja bei weitem nicht das schlimmste Schiffsunglück der Neuzeit: Beim Untergang der „Wilhelm Gustloff“ 1945 starben beispielsweise etwa 9000 Menschen in der Ostsee. 1987 riss die philippinische Fähre „Dona Paz“ fast 4400 Menschen in den Tod. 
Die „Titanic“ war auch nur nominell das größte Schiff ihrer Zeit. Ihr Schwesterschiff „Olympic“ war praktisch baugleich und nur rechnerisch minimal kleiner. Und die schnellsten Schiffe waren diese beiden Luxusliner der White Star Linie schon gar nicht: Die „Mauretania“ der Konkurrenzreederei Cunard war deutlich schneller. Aber wer weiß heute schon noch, was aus der „Mauretania“ oder der „Olympic“ wurde? Die „Titanic“ wurde zu einer Menschheitslegende, weil so vieles zusammenkam. Da sind zum einen die Rätsel und Geheimnisse, die Experten teils bis heute beschäftigen: Warum ließ der Kapitän sein Schiff so schnell in ein Feld von Eisbergen hineinfahren, obwohl es Warnungen gab? Warum waren in dem Frühjahr dort viel mehr Eisberge als sonst? Konnten die Männer im Ausguck kaum etwas sehen, weil ein gespenstisches optisches Phänomen ihnen einen falschen Horizont vorgaukelte? Hatte ein geheim gehaltener Schwelbrand in einem der Kohlebunker den Rumpf fatal geschwächt? Oder hatte die Werft beim Bau gepfuscht, Nieten aus billigem Eisen verwendet? Und warum eigentlich hatten die beiden Matrosen im Ausguck keine Ferngläser – weil die Reederei den einzigen Offizier, der wusste, wo sie waren, vom Schiff beordert hatte? 
Was ist dran an der gewagtesten Theorie: Danach war die „Titanic“ nämlich gar nicht die „Titanic“ – sondern in Wahrheit das heimlich umgetaufte Schwesterschiff „Olympic“, das nach einem Unfall beschädigt war und durch einen Versicherungsbetrug beseitigt werden sollte? Die beiden Schiffe lagen schließlich nebeneinander in der Werft, nur Experten konnten sie an Details unterscheiden – es wäre möglich gewesen. 
Und selbst die Entdeckung des Wracks 1985 war geheimnisumwittert. Inzwischen weiß man: Die letztlich erfolgreiche Suche nach dem Schiff war vor allem ein Tarnmanöver. Der amerikanische Unterwasser-Experte Bob Ballard sollte im Auftrag der US-Navy vor allem zwei verschollene Atom-U-Boote aufspüren. Die Sowjets sollten davon nichts mitbekommen. Deshalb galt seine Expedition offiziell der „Titanic“. 
Zudem fuhren auf der „Titanic“ einige der berühmtesten, reichsten Menschen ihrer Zeit mit: John Jacob Astor, Isidor Strauss, Paul Guggenheim, Molly Brown waren nur einige davon. Es war fast so, als würde heute ein Flugzeug abstürzen mit Bill Gates, Warren Buffett und Jeff Bezos an Bord, dazu noch mit einigen Schauspielern, Künstlern, Schriftstellern. Und in den knapp drei Stunden des Untergangs wurde die „Titanic“ zur Bühne eines einzigartigen Dramas, das aus vielen Akten bestand. Es ging um Liebe, Tod und Verdammnis – da erschoss sich der Offizier, der in der Nacht das Kommando hatte. Da ermahnte der Kapitän seine Männer: „Be british, boys“ – und der mitreisende Konstrukteur der „Titanic“ berechnete kühl, wann genau sein Schiff bei der Geschwindigkeit, mit der das Wasser einströmte, versinken würde. Multimillionär Astor soll derweil angeblich gespottet haben: „Ich habe Eis bestellt. Aber das jetzt ist lächerlich.“ Überlebende erzählten, wie sie sich mit den viel zu wenigen Rettungsbooten von den Ertrinkenden fernhielten. Sie hatten Angst, dass hilfesuchende Hände sie selbst in den eisigen Tod ziehen würden. Dann mussten sie die Schreie der Sterbenden in jener Nacht ertragen. 
Vor allem aber wurde die „Titanic“ mit ihrem arroganten Namen deshalb zur Legende, weil sie für die Hybris des Menschen steht, der zu jener Zeit glaubte, mit Technik die Natur besiegen zu können. Und weil ihr Untergang das Ende eines Zeitalters ankündigte, den Untergang einer Epoche, einer ganzen Welt. 
1912 blühte der Westen, es sah so aus, als wäre die Menschheit auf einem grandiosen Weg in die Zukunft. Wissenschaftler und Ingenieure schufen Wohlstand für viele, ungeheuren Reichtum für manche. Es war die Zeit der Stahlbarone, der Kaufhaus-Giganten, und auch die Belle Epoque, das schöne Zeitalter, geprägt von Künstlern und Designern. Ein seltsames, fiebriges Zeitalter. Zugleich sah es in manchen Ländern so aus, als könnte der Feudalismus überleben, in Deutschland regierte noch der Kaiser. Wie ein Überbleibsel finsterer Zeiten mutete auch die tiefe Kluft zwischen den Gesellschaftsschichten an, zwischen den Reichen und jenem Millionenheer der Armen, die in den neuen Fabriken schufteten und doch ihre Kinder nicht ernähren konnten. Genau so war es an Bord der „Titanic“: Unten im Rumpf saßen jene Ärmsten Englands dicht beieinander, die keinen anderen Ausweg gesehen hatten, als nach Amerika auszuwandern. Oben über die Promenadendecks spazierten die Astors und Guggenheims. Aber gemeinsam fuhren sie nichtsahnend auf den Eisberg zu – so ahnungslos wie die Menschheit auf den Ersten Weltkrieg zusteuerte. Er begann dann zwei Jahre später. Und letztlich ist es auch ein Bild, beschrieben von den Überlebenden, das im Gedächtnis der Menschheit haften blieb und die „Titanic“ zum Mythos machte. Es ist ein Symbol für den ungeheuren und dazu noch kollektiven Opfermut, zu dem Menschen fähig sind. Denn zu den Helden dieser Geschichte gehörten auch die Maschinisten des Schiffes: Es war klar, dass es in stockfinsterer Nacht viel schwerer sein würde, die Rettungsboote ins Wasser zu lassen. Deshalb heizten die Maschinisten unten im Rumpf immer weiter die Kessel, damit die gewaltigen Generatoren Strom produzieren konnten und die Lichter der „Titanic“ nicht ausgingen. Die Männer wussten, dass sie selbst dadurch sicher sterben würden, dass sie mit ihrem Schiff untergehen würden. Trotzdem taten sie es. Und so entstand das Bild des schönen Schiffes, das sich hell erleuchtet wie bei einem großen Fest langsam dem Verderben zuneigte. Und dann für immer versank, Bug voraus, während auf dem Heck die Bordkapelle spielte.
Clemens Höges
Der Untergang
Abbildung
SPIEGEL 13/2012

37 Sekunden Schicksal

Was passierte in der Nacht des 14. April 1912, in der die „Titanic“ zu einem Mythos wurde? Neue Theorien legen nahe, dass eine seltene astronomische Konstellation und ein optischer Effekt zu dem Unglück führten. Von Clemens Höges
Schicksal ist nur ein Wort dafür, dass man nicht weiß, warum etwas passiert und wann eigentlich alles bereit ist für die Tragödie. Und natürlich konnte William McMaster Murdoch in jener Nacht vor 100 Jahren nicht wissen, dass sich sogar Mond und Sonne gegen ihn gedreht hatten.
Der Erste Offizier der „Titanic“ war ein brillanter Nautiker, mit einem kühlen Kopf und einem erstklassigen Auge für Distanzen, Geschwindigkeiten und Winkel. Am 14. April gegen 23.30 Uhr Bordzeit stand er auf der Brücke, er hatte in diesen Stunden das Kommando über das gewaltigste Schiff der Welt, über die größte Maschine, die Menschen bis dahin erschaffen hatten: 269 Meter lang und „praktisch unsinkbar“, wie damals Experten schrieben.
Die „Titanic“ sollte das berühmteste Schiff aller Zeiten werden, ihre Jungfernfahrt eine Legende: Mit gut 21 Knoten rauschte sie über den Atlantik, fast Höchstgeschwindigkeit, der Kapitän hatte es so befohlen. Das Licht auf Brücke und Vorschiff war ausgeschaltet, Murdoch starrte nach vorn in die Schwärze der Neumondnacht.
Am 4. Januar war der Mond der Erde so nahe gekommen wie seit rund 1400 Jahren nicht mehr. Zudem standen Sonne, Erde und Mond genau in einer Linie. Die Konstellation habe die „Gezeitenkraft maximiert“, sagt Donald Olson, Professor für Astrophysik an der Texas State University.
Normalerweise bleiben viele jener Eisberge, die im Winter von den Gletschern Grönlands abbrechen, in den flachen Gewässern vor Neufundland und Labrador stecken. Auf dem Meeresgrund dort kann man die Furchen erkennen, die sie ziehen. Viele kommen erst wieder frei, wenn sie abschmelzen oder zerbrechen.
Aber im Frühjahr 1912, so die Theorie, die Olson und sein Team jetzt in der April-Ausgabe der US-Zeitschrift „Sky & Telescope“ publizieren, hoben wohl außerordentlich starke Gezeiten auch riesige Brocken über die Untiefen. Deshalb hätten mehr und viel größere Eisberge viel weiter nach Süden treiben können als sonst.
Auf rund 42 Grad nördlicher Breite kreuzten viele in jener Nacht den Kurs, den Murdoch auf der Brücke der „Titanic“ hielt. Das Schicksal ließ ihm dann noch 37 Sekunden. Zu wenig, um die Jahrhundertkatastrophe zu verhindern.
Wie konnte es so kommen? Die versunkenen Geheimnisse der „Titanic“ faszinieren Wissenschaftler seit Jahrzehnten. Aber jetzt lösen die Forscher Stück um Stück jene Rätsel, die noch geblieben waren: Amerikanische Experten haben zum Jahrestag die entscheidenden Minuten rekonstruiert, Metallurgen fanden heraus, dass Rumpfnieten aus zu sprödem Material mit Schuld am Untergang seien.
Die Smithsonian Institution in Washington veröffentlichte vor wenigen Tagen Teile einer Untersuchung, die etwas gespenstisch anmutet: Danach könnte ein seltenes optisches Phänomen – die sogenannte Super-Refraktion – den Eisberg beinahe unsichtbar gemacht haben. Und das amerikanische Meeresforschungsinstitut Woods Hole hat in einer mehrere Millionen Dollar teuren Operation das Wrack so präzise vermessen, wie das bislang unmöglich war.
Denn der Untergang der „Titanic“ beschäftigt die Menschen bis heute wie kein anderes Unglück, obwohl es in den 100 Jahren seither unendlich viel Leid gab. Obwohl Millionen Menschen in zwei Weltkriegen und im Holocaust starben, obwohl die Raumfähre „Challenger“ auseinanderflog und die Havarien von Tschernobyl und Fukushima die moderne Technik in Frage stellten.
Auch in der Geschichte der Seefahrt gab es schlimmere Katastrophen: 1987 kamen fast 4400 Menschen beim Untergang der philippinischen Fähre „Doña Paz“ um. Rund 1500 Menschen ertranken in jenen knapp drei Stunden, in denen die „Titanic“ sank, ungefähr 700 überlebten. Aber in diesen Stunden entstand der Mythos „Titanic“.
Dabei wäre die „Titanic“ nicht einmal lange das größte Schiff der Welt geblieben: Fünf Wochen nach ihrem Untergang lief in Hamburg die viel größere „Imperator“ vom Stapel.
Trotz alledem sind über die „Titanic“ bislang mehr als 3000 Bücher erschienen, mindestens zehn Spielfilme gibt es, unzählige Dokumentationen. „Titanic“-Gesellschaften in Großbritannien, den USA oder sogar der Schweiz bringen Fachzeitschriften heraus.
Zum Jahrestag werden Fernsehstationen in 86 Ländern eine neue britische Serie über die „Titanic“ ausstrahlen. Am 5. April wird James Camerons Kino-Klassiker „Titanic“, einst der teuerste und erfolgreichste Film der Kino-Geschichte, weltweit neu anlaufen, diesmal in 3-D-Technik.
In den USA, England und Irland sind Gedenkfeiern geplant, große Kreuzfahrtschiffe werden „Titanic“-Freaks an die Stelle des Untergangs bringen. Serviert wird abends das letzte Menü, das es in der ersten Klasse gab: Austern, Filet Mignon, Gänseleberpastete. Und die Firma Deep Ocean Expeditions will mindestens 80 besonders harte Fans mit U-Booten zum Wrack bringen. 60 000 Dollar kostet ein Ticket für den Trip in die Tiefe.
Die „Titanic“ sei „das ultimative Symbol des Desasters“, sagt der irische Marine-Historiker Michael McCaughan. Eine Schlüssel-Ikone der Kultur sei sie „und eine der großen Metaphern unserer Zeit“. Sie habe den „Hochmut der Menschen“ entlarvt, die glaubten, mit Technik könnten sie die Natur unterwerfen.
Und die „Titanic“ war eine Welt für sich, sie trug Glanz und Elend der Menschheit, auf ihren Decks verteilten sich die sterbende europäische Feudalgesellschaft und der aufstrebende amerikanische Kapitalismus wie im wahren Leben: Oben in der ersten Klasse reisten einige der reichsten Männer ihrer Zeit, unten im Rumpf bitterarme Auswanderer mit nichts als der Hoffnung auf eine Zukunft.
In den zwei Stunden und 40 Minuten dieser Tragödie entfalteten die Menschen an Bord ihre Charaktere, als hätte ein Profi das Drehbuch geschrieben: Feiglinge versuchten sich in Sicherheit zu bringen, und Menschen, von denen man es vielleicht nicht erwartet hätte, zeigten Größe. Sinnlos, aber immerhin.
Manche Szenen wurden zu Arabesken der Geschichte: Kapitän Smith soll seine Leute vor dem Untergang ermahnt haben: „Be british, boys, be british.“ Der amerikanische Multimillionär und Playboy Benjamin Guggenheim ging in den Tod mit den Worten: „Wir haben uns bestens angezogen und sind bereit unterzugehen wie Gentlemen.“
Und der Immobilien-Magnat John Jacob Astor, nach heutigen Werten wohl einige Milliarden Dollar schwer, soll an der Bar gespottet haben: „Ich habe Eis bestellt, aber das jetzt ist lächerlich.“
In den Originalquellen findet sich das Zitat nicht, aber als sicher gilt, dass Astor nicht nur seiner jungen, schwangeren Frau, sondern auch einem Auswandererkind in ein Rettungsboot half. Dann steckte er sich an Deck eine Zigarette an und wartete mit seinem Airedale-Terrier Kitty auf das Ende.
Die „Titanic“ stehe für „Liebe, Tod“ und „all das Wichtige, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen“, sagt Regisseur Cameron. 33-mal tauchten er und seine Crew in winzigen U-Booten auf 3800 Meter Tiefe ab, der Bug der „Titanic“ ragt dort so gerade hoch wie damals, am 8. April an der Pier in Southampton.
Klar zum Ablegen ist sie an jenem Tag noch nicht. Ihre 29 Dampfkessel können 46 000 PS auf die Wellen der drei Propeller wuchten. Dafür müssen die Heizer 850 Tonnen Kohle pro Tag in die Öfen schaufeln. Aber in England streiken die Bergarbeiter. Mühsam kaufen White-Star-Mitarbeiter auf anderen Schiffen Kohle zusammen, Träger schaffen Sack um Sack in die Bunker der „Titanic“. Zugleich versuchen Hunderte Besatzungsmitglieder, sich auf dem neuen Schiff zurechtzufinden.
Kapitän Edward John Smith ist noch an Land, William Murdoch hat also das Kommando, ein zierlicher Mann, ernst und ruhig.
Im Trubel von Southampton setzt Murdoch sich hin und schreibt an seine Schwester: „Meine liebe Peg, ich verbringe all die Zeit damit, Männer für die Arbeit zu finden, auch wenn wir Überstunden bezahlen müssen. Aber jetzt sind wir fast fertig für die Reise.“
Murdoch schreibt auch darüber, dass die White-Star-Manager unbedingt noch einmal die Offiziersstellen umbesetzen wollen. Er ahnt nicht, welche Folgen das haben wird. Denn der bisherige Zweite Offizier David Blair lässt die beiden Ferngläser wegschließen, die die Matrosen auf See im Ausguck tragen sollen. Das gehört zu seinen Pflichten, die Gläser sind teuer und wichtig, sie dürfen auf keinen Fall im Chaos vor dem Ablegen verschwinden. Sie landen in einem Schrank in Blairs Kajüte.
Als die Manager entscheiden, dass Blair nicht mehr gebraucht wird, schreibt der eine Postkarte an seine Schwägerin: „Ich fürchte, ich werde hier Platz machen müssen. Dies ist ein großartiges Schiff. Ich bin sehr enttäuscht, dass ich die erste Reise nicht mitmachen kann.“
Es ist ziemlich hektisch, als er von Bord geht. Wahrscheinlich vergisst er es einfach: Auf jeden Fall sagt Blair weder Murdoch noch seinem Nachfolger Charles Lightoller, wo die Ferngläser liegen. Schicksal.
Lightoller ist 38, ein erfahrener Seemann, ein Abenteurer. Er hat schon nach Gold gegraben am Klondike, er war Cowboy in Kanada, jetzt ist er für die Gläser zuständig, neben vielem anderen. „Ich war absolut vertraut mit so ziemlich jeder Art Schiff“, wird er später schreiben, „aber ich brauchte 14 Tage, um sicher von einem Trakt in einen anderen zu finden. Es gab zum Beispiel eine gewaltige Gangway-Tür an Steuerbord achtern, groß genug, um mit einer Pferdekutsche durchzufahren. Aber drei Offiziere versuchten einen ganzen Tag lang, sie zu finden.“
Staunend wandert auch Violet Jessop durch die Gänge, eine der 18 Stewardessen an Bord, sie soll Damen der oberen Decks bedienen. Jessop ist 24 Jahre alt, sie liebt das Leben auf Schiffen, die weite Welt. Sie ist wohl auch ein wenig schlicht, die Schule musste sie abbrechen, und sie findet alles hinreißend: die Holzschnitzereien überall, den Luxus. Über dem großen Treppenhaus wölbt sich ein Glasdach,
Liftboys fahren mit ihren Fahrstühlen auf und ab, auf den Böden liegen feine Teppiche, in Ecken stehen Statuen. Schuhputzer, Stewards und Bademeister kümmern sich um die feineren Passagiere, ein Trompeter bläst zum Essen mit der Melodie des Stücks „The Roast Beef of Old England“.
Jessop, eines von neun Kindern armer irischer Auswanderer, geht all die berühmten Namen auf der Passagierliste durch, und sie staunt, als John Jacob Astor IV seine neue Frau an Bord bringt, jünger als sein Sohn aus erster Ehe. Seit Monaten schrieben die Zeitungen schon über den Skandal in höchsten Kreisen, und natürlich las Jessop solche Sachen: „Aber statt der strahlenden Dame meiner Träume sah ich eine blasse Frau mit traurigem Gesicht im Arm ihres Gatten. Und es dämmerte mir, dass aller Reichtum der Welt innere Zufriedenheit nicht ersetzen kann.“
Am 10. April, es ist ein Mittwoch, soll es losgehen. Am Morgen kommt Kapitän Smith an Bord, groß, mit weißem Bart, der erfahrenste Kommandant der Reederei. Dies soll sein letzter Törn vor dem Ruhestand werden.
„Jeder Offizier würde sich die Ohren abschneiden lassen, um einmal unter ihm fahren zu dürfen“, wird Lightoller später sagen. „Man lernte schon, wenn man nur zusah, wie er ein Schiff mit voller Kraft voraus durch die vertrackten Fahrwasser vor New York zirkelte – manchmal nur mit ein paar Fuß Wasser zwischen dem Schiff und den Sandbänken.“
Smith lässt seine Crew antreten, dann gibt es eine kurze Einweisung in die Rettungsboote. Der erste Designer der „Titanic“ hatte 48 Stück eingeplant, genug Plätze für alle 2200 Menschen an Bord. Doch der Vorstand der White Star Line entschied, die „Titanic“ sei sicher, so viele Boote würden nur die Promenadendecks für die Passagiere versperren. 16 feste Rettungsboote und 4 Faltboote mussten reichen. Neumodische Korkwesten hatten die Manager immerhin noch für alle an Bord gekauft, sinnlos, denn im Nordatlantik tötet die Kälte des Wassers innerhalb von Minuten.
Kurz nach dem Appell fährt ein Chauffeur eine Daimler-Limousine an die „Titanic“ heran. Ein feiner Herr steigt aus, mit einem Schnurrbart wie Kaiser Wilhelm: Joseph Bruce Ismay wird vielen später als der Schurke der Tragödie gelten.
Ismay hat die Reederei White Star von seinem Vater übernommen und dann an den amerikanischen Eisenbahn-Magnaten und Bankier John Pierpont („J. P.“) Morgan verkauft. Ismay ist noch Vorstandschef, er hat eine der beiden besten Suiten auf der „Titanic“ für sich reserviert.
Der Reeder bringt nur einen Sekretär und einen Diener mit, angeblich winkt er seiner Frau und den Kindern nicht einmal mehr hinterher, als der Daimler wieder von der Pier rollt – so ergriffen ist er offenbar von seinem neuen Schiff. Die vier riesigen Schornsteine der „Titanic“ überragen die Häuser der Stadt. Die modernen Dampfmaschinen brauchen zwar nur drei, aber die Schiffe der Konkurrenzlinie Cunard haben vier. Also ließen Ismays Leute noch eine Attrappe hintendran stellen.